Flüchtlinge unterstützen Diskriminierung entgegentreten - Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
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Flüchtlinge unterstützen Diskriminierung entgegentreten Grundlagenwissen zu Flucht und Grundlagenwissen Asyl in Niedersachsen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 1
Flüchtlinge unterstützen Diskriminierung entgegentreten Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Inhaltsverzeichnis Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen Wozu und für wen ist dieses Heft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .6 Wer ist ein Flüchtling? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .8 Wie viele Flüchtlinge gibt es weltweit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .9 Woher kommen Flüchtlinge, wohin gehen sie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Wie kommen Flüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland? . . . . . . . . . . . . . . 11 Aus welchen Ländern kommen Flüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland und wie viele? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Alltagsrassismus I – und was Sie tun können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Wie läuft das Asylverfahren ab? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Wer erhält Schutz als Flüchtling? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Relikt aus vergangener Zeit: Der Begriff „Rasse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 Was passiert bei einer Ablehnung des Asylantrages? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Alltagsrassismus II - und was Sie tun können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Wie kommen Flüchtlinge nach Niedersachsen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 Aus welchen Ländern kommen Flüchtlinge nach Niedersachsen und wie viele? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Zahlen hinterfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Wie wohnen Flüchtlinge in Niedersachsen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Alltagsrassismus III - und was Sie tun können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Welche sozialen Leistungen erhalten Flüchtlinge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Warum es keinen Abschnitt zur Kriminalität gibt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Wie ist die medizinische Versorgung von Flüchtlingen geregelt? . . . . . . . . . . . . 31 Was sind „Residenzpflicht”und „Urlaubsscheine”? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Gibt es Sprach- und Integrationskurse für Flüchtlinge? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 4 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Wie ist der Zugang zu Kindergärten und Schulen für Flüchtlingskinder in Niedersachsen geregelt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Unter welchen Voraussetzungen dürfen Flüchtlinge in Deutschland arbeiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Arbeitsmarktzugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Weitere Handlungsempfehlungen – Das können Sie tun . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Weiterführende Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 5
Wozu und für wen ist dieses Heft? Vor dem Hintergrund schwerer Kri- leistungen als Propaganda entlarvt und sen und weltweit steigender Flücht- auch klar gemacht, dass eine frühzeiti- lingszahlen fliehen vermehrt Asylsu- ge Aufnahme und Integration von Asyl- chende auch nach Deutschland. Die suchenden im öffentlichen Interesse Aufnahme der Flüchtlinge wird be- liegt. Im Hinblick auf den furchtbaren gleitet von öffentlichen Diskussionen, Bürgerkrieg in Syrien hat die Landes- Protesten gegen die Unterbringung regierung mehrfach erklärt, dass eine von Flüchtlingen in Deutschland und Aufnahme weiterer Flüchtlingskontin- Polemiken von Politiker_innen ge- gente auch bei uns eine humanitäre gen das vermeintliche Ausnutzen der Verpflichtung darstellt. Sozialsysteme. Während neue Initia- tiven zur Anwerbung ausländischer Wir möchten Interessierten am Thema Arbeitskräfte ersonnen werden und Asyl und Flucht einen kurzen und mög- “Willkommenscenter” aus dem Boden lichst leichten Einstieg in die Sachlage sprießen, werden zeitgleich populis- geben und sie mit Fakten und Argu- tische Kampagnen gegen bestimmte menten versorgen. Für diejenigen, die Gruppen von Flüchtlingen – etwa aus bereits einige Informationen haben, den Balkan-Staaten – gestartet und bietet die Broschüre einen schnellen fortlaufend Menschen in Deutschland Überblick über die aktuelle (Rechts-) – tätlich und verbal – angegriffen, weil Lage und deren Veränderungen der sie „ausländisch“ aussehen. letzten Jahre in Niedersachsen. Darüber hinaus geben wir einige Hin- Auch das Thema Asyl wird dabei aufge- weise dazu, wie in einer kontroversen griffen. Neonazistische und rechtspo- Diskussion zum Thema Asyl argumen- pulistische Gruppierungen und Parteien tiert bzw. wie rassistischen und diskri- – aber auch eine Vielzahl von Personen minierenden Übergriffen im Alltag be- und Gruppen aus der so genannten gegnet werden kann. Damit wollen wir „bürgerlichen Mitte der Gesellschaft“ all diejenigen stärken, die sich in der - hetzen mit entsprechenden Slogans öffentlichen, oft aufgeheizten Debatte gegen alles „Ausländische“ bzw. um Flucht, Asyl und Rassismus in unse- Nicht-Deutsche“. Die niedersächsische rer Gesellschaft für eine sachliche Aus- Landesregierung hat hier in wohltuen- einandersetzung zugunsten von Flücht- der Weise eindeutig Position ergriffen, lingen und gegen Rassismus einsetzen rassistische Kampagnen gegen einen möchten. angeblichen Missbrauch von Sozial- 6 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Alle angesprochenen Themen werden von uns nur angerissen und bieten eine weitaus größere Komplexität, als wir sie in diesem Heft behandeln können. In- haltliche Positionierungen spiegeln die Meinung der Herausgeber_innen wider und decken sich mit denen zahlreicher Flüchtlings- und Menschenrechtsorga- nisationen. Wir laden alle Leser_innen zu einer weiteren Beschäftigung mit den Themenfeldern ein: durch zusätz- liche Broschüren, durch Seminare und Veranstaltungen sowie gemeinsame Diskussionen. Eine Linkliste für weitere Informationen findet sich am Ende die- ses Heftes. Flüchtlingsrat Niedersachsen e. V. Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 7
Wer ist ein Flüchtling? Flüchtlinge sind Menschen, die auf- Artikel 16a des Grundgesetzes formu- grund von politischer, religiöser oder liert ein Recht auf Asyl für politisch ethnisch begründeter Verfolgung, Verfolgte. Dieses zunächst umfas- Folter, häuslicher Gewalt, Krieg und send gewährte Recht auf Asyl wurde Bürgerkrieg, drohender Todesstrafe, 1993 im sogenannten „Asylkompro- Zerstörung der Existenzgrundlagen, miss” deutlich eingeschränkt. Seitdem Naturkatastrophen oder anderweitig wird denjenigen der grundgesetzliche drohender Gefahren und menschen- Schutz verweigert, die über ein siche- rechtswidriger Behandlung ihre Her- res europäisches Land („Drittstaaten- kunftsregion verlassen und in anderen regelung“) nach Deutschland einrei- Gebieten des Landes oder in einem an- sen. Aufgrund der geografischen Lage deren Land Schutz suchen. Flüchtlinge Deutschlands hat dieser Schutz damit müssen auf der Suche nach Sicherheit massiv an Bedeutung verloren. Der meist eine ungewisse und oft lebens- „Asylkompromiss” stellt damit fak- gefährliche Reise auf sich nehmen. tisch nahezu eine Abschaffung des all- gemeinen Grundrechts auf Asyl nach Im Rahmen des Asylverfahrens wird dem Grundgesetz dar. Durch die Genfer festgestellt, wer als Flüchtling Schutz Flüchtlingskonvention, die Europäische erhält. Dabei führen nicht alle Gründe, Menschenrechtskonvention und weite- die einen Menschen zur Flucht veran- re völkerrechtlich verbindliche Abkom- lasst haben, nach den geltenden Geset- men werden viele Flüchtlinge dennoch zen und Konventionen zu einer rechtli- auch in Deutschland geschützt. Im Rah- chen Anerkennung als Flüchtling. men der sog. Dublin III-Verordnung ent- ledigt sich Deutschland - durch die Ab- Wenn wir in der Broschüre den Be- schiebung der Zuständigkeiten an die griff „Flüchtling“ verwenden, meint europäischen Nachbarstaaten - jedoch dies nicht den Rechtsstatus des aner- auch in etlichen Fällen (derzeit sind es kannten Flüchtlings, sondern umfasst nahezu ein Drittel aller Verfahren) sei- all jene, die um einen solchen Schutz ner Verantwortung. nachgesucht haben. 8 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Wie viele Flüchtlinge gibt es weltweit? Nach Angaben des Hohen Flüchtlings- onen zunächst in anderen Regionen kommissars der Vereinten Nationen ihres Herkunftslandes Schutz gesucht (UNHCR) befanden sich 2013 über 51,2 und die Landesgrenzen nicht über- Millionen Menschen weltweit auf der schritten (sogenannte Binnenvertrie- Flucht. Davon haben etwa 33,3 Milli- bene). 1 Nur wenige Flüchtlinge kommen nach Europa. 2013 baten lediglich knapp 435.000 Menschen in den 28 Mitglied- staaten der EU um Asyl.2 50 Prozent aller Flüchtlinge weltweit sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren.3 1 UNHCR: Global Trends 2013, www.unhcr.org 2 Eurostat: Asyl in der EU 28, http://epp. eurostat.ec.europa.eu/cache/ITY_PUB LIC/3-24032014-AP/DE/3-24032014-AP-DE.PDF 3 UNHCR: Global Trends 2013, www.unhcr.org Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 9
Woher kommen Flüchtlinge, wohin gehen sie? Aufgrund der kritischen Lage in ihren Herkunftsländern machen Menschen aus Afghanistan, Syrien und Somalia mehr als die Hälfte der weltweit Flüch- tenden aus. Etwa 86 Prozent von ihnen leben nach ihrer Flucht in Ländern wie z.B. Pakis- tan, dem Iran oder dem Libanon, Län- dern also, die selbst von Krisen und Un- sicherheit geprägt sind. Häufig handelt es sich hierbei um Nachbarstaaten der Krisengebiete, aus denen die Flüchtlin- ge kommen.4 Viele Menschen wollen oder können keine weiten Fluchtwege zurücklegen. Hinzu kommt, dass die Flucht nicht nur ungewiss und oft le- bensgefährlich, sondern auch teuer ist. Menschen aus armen Verhältnissen ha- ben kaum eine Chance, nach Europa zu fliehen. 4 UNHCR: Global Trends 2013, www.unhcr.org4 10 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Wie kommen Flüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland? Legale Möglichkeiten, nach Europa zu und das Antrags- und Auswahlverfah- gelangen, gibt es für Flüchtlinge kaum. ren an viele Bedingungen geknüpft ist, Zudem werden die Land- und Luftwe- erleichtert diese Regelung nur für einen ge sowie die Küsten überwacht. Auf- Bruchteil der vertriebenen Menschen grund dieser Abschottungspolitik der aus Syrien die Flucht in ein Land, in dem Europäischen Union sind Flüchtlinge in sie vor Verfolgung sicher sind und eine der Regel auf Fluchthelfer_innen oder Lebensperspektive vorfinden. „Schlepper_innen” und auf oft gefähr- liche Fluchtwege angewiesen. Daher Mit der sogenannten Dublin-Verord- kommt es immer wieder zu Todesfällen, nung haben sich die EU-Staaten sowie beispielsweise im Mittelmeer vor der Norwegen, Island, Liechtenstein und italienischen Insel Lampedusa oder in die Schweiz auf Zuständigkeitsprinzi- der Ägäis. Die Zielländer der Flüchtlin- pien für die Prüfung eines Asylantra- ge innerhalb Europas sind unterschied- ges verständigt. Im Wesentlichen ist lich. Wenn Flüchtlinge in die Bundes- danach der Staat für die Prüfung des republik Deutschland kommen, haben Asylantrages zuständig, welcher dem sie in der Regel einen langen Weg von Flüchtling die Einreise nach Europa er- den EU-Außengrenzen hinter sich. Nur möglicht hat. Dies führt im Ergebnis zu wenige Flüchtlinge gelangen über den einer Abschiebung der Verantwortung Luftweg nach Deutschland. an die Staaten, die an den Grenzen Eu- ropas liegen. Vor allem Italien, das im Anders verhält es sich bei Flüchtlingen, Rahmen der „Mare nostrum“-Aktion die im Rahmen von Resettlement- oder seit Oktober 2013 viele Flüchtlinge sonstigen Aufnahmeprogrammen nach aus Seenot gerettet hat, und Bulgarien Deutschland kommen. Damit sind Pro- sind gegenwärtig überfordert. Dennoch gramme gemeint, die ausgewählten werden Flüchtlinge auch aus Deutsch- Flüchtlingen aus Krisenregionen im land in diese Staaten abgeschoben. Rahmen humanitärer Hilfsaktionen die Die Folge ist, dass Flüchtlinge keine Einreise nach Deutschland ermöglichen. Mitsprachemöglichkeiten über ihren zu- Derzeit betrifft das vor allem Menschen künftigen Lebensort haben. Freunde und aus Syrien. Sie erhalten vorab die Auf- Verwandte (über die Kernfamilie hinaus) nahmezusage und können legal einrei- in dem eigentlichen Zielland, Sprach- sen. Da aber das Kontingent begrenzt kenntnisse, Anerkennungschancen der Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 11
Fluchtgründe o. Ä. spielen keine Rolle. Auch in der Bundesrepublik Deutschland wird bei einem Asylantrag zunächst ge- prüft, ob eventuell ein anderes Land für das Verfahren zuständig ist. Europa ist damit zu einem großen Verschiebebahn- hof für Flüchtlinge geworden. Flüchtlings- und Menschenrechtsor- ganisationen fordern, dass Flüchtlinge selbst bestimmen können sollen, in welchem Land der EU sie den Asylan- trag stellen und das Verfahren durch- laufen möchten. 5 5 Memorandum Flüchtlingsaufnahme in der Europäischen Union: Für ein gerechtes und solidarisches System der Verantwortlichkeit, www.proasyl.de 12 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Aus welchen Ländern kommen Flüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland und wie viele? 2013 kamen die meisten Asylantrag- Deutschland hat im EU-Vergleich zwar steller_innen in Deutschland aus der in absoluten Zahlen die meisten Asyl- Russischen Föderation, Syrien, Serbien, anträge, jedoch müssen die Zahlen ins Afghanistan, Mazedonien, dem Iran, Verhältnis zur Bevölkerungsgröße ge- dem Irak, Pakistan, Eritrea und Soma- setzt werden, um ein sinnvolles Bild lia.6 2013 stellten ca. 110.000 Men- zeichnen zu können: Mit knapp 16 Asyl- schen einen Asylerstantrag in Deutsch- anträgen pro 10.000 Einwohner_innen land. Damit bewegen sich die Zahlen lag Deutschland 2013 auf Platz 7 der in etwa auf dem Niveau von 1996. Im EU-Staaten.8 ersten Halbjahr 2014 wurden bereits 67.000 Asylerstanträge gestellt.7 Daher gehen die Prognosen von einem An- stieg der Zahlen gegenüber 2013 aus. Flüchtlingszahlen schwanken. 1992 war mit rund 438.000 Asylanträgen ein Höchststand erreicht. 2007 gab es mit 19.164 Anträgen einen Tiefpunkt bei den Asylantragszahlen in der Bundes- republik Deutschland. Daraufhin wur- den in den einzelnen Bundesländern Unterbringungsplätze abgebaut. Erst in den letzten Jahren stieg die Zahl der Flüchtlinge in Deutschland aufgrund neuer Krisen und Kriege oder zuneh- mender Diskriminierung in verschiede- nen Regionen der Welt wieder an. 6 BAMF: Das Bundesamt in Zahlen 2013 (Asyl), www.bamf.de 7 BAMF: Schlüsselzahlen Asyl 1. Halbjahr 2014, www.bamf.de 8 Eurostat, Asyl in der EU28, http://epp. eurostat.ec.europa.eu/cache/ITY_PUBLIC/3- 24032014-AP/DE/3-24032014-AP-DE.PDF Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 13
Alltagsrassismus I - und was sie tun können Vorurteile, Alltagsrassismus, Diskriminierungen Neulich an der familiären Kaffeetafel „Nicht mehr lange und wir haben hier in Deutschland die Scharia und nur noch verhüllte Frauen.” Neulich in der Betriebskantine „Ich würde von einem Schwarzen kein Auto kaufen.” Neulich in der Straßenbahn „Wenn dieses Asylheim hierhin kommt, ist es vorbei mit dem Frieden in unserem Ort.” 14 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Machen Sie sich und anderen die Macht der Worte bewusst. Klären Sie, welche Grundannah- me hinter mancher Bemerkung steht und welche Bilder hervor- gerufen werden. (Die Angst vor einer Übermacht des Islam in Deutschland entbehrt jeglicher Fakten und seriösen Prognosen.) Rassistische Aussagen sind zu- meist Pauschalisierungen oder Einzelerfahrungen. Erfragen Sie Setzen Sie Vorurteilen und ab- Hintergründe oder Belege, aber wertenden Bemerkungen etwas immer auf sachlicher Ebene. entgegen! Rückfragen helfen. Was hat die Widerspruch ist wichtig, auch Hautfarbe eines Menschen mit wenn keine direkt Betroffenen der Seriosität des Verkäufers zu anwesend sind. Bleiben rassis- tun? Woher kommt diese Annah- tisch diskriminierende Bemer- me? Warum sollte es mit dem kungen unwidersprochen stehen, Frieden im Ort vorbei sein, wenn entsteht der Eindruck von Zu- Flüchtlinge dort wohnen? stimmung und gesellschaftlichem Konsens. Entgegnen Sie Fakten, hinter- fragen Sie, verdeutlichen Sie Zu- sammenhänge oder wechseln Sie einfach mal die Perspektive (Was würden Sie eigentlich als Roma in einem Armutsviertel in Südosteu- ropa tun, wenn Sie in einer Bara- cke ohne Strom und Wasser leben müssten, eine durchschnittliche Lebenserwartung von 48 Jahren hätten und sich Ihnen die Mög- lichkeit böte, diesen Lebensver- hältnissen zu entfliehen?) Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 15
Wie läuft das Asylverfahren ab? Für das Vorbringen der Asylgründe und gerichte entschieden werden. Auch das zur Klärung, ob ggf. ein anderer Staat Auftreten oder Bekanntwerden neuer für die Prüfung zuständig ist, wird beim oder veränderter Gefährdungssituatio- Bundesamt für Migration und Flüchtlin- nen und Sachlagen kann sich auf die ge (BAMF) eine Anhörung des Flücht- Verfahrensdauer auswirken. lings durchgeführt. Auf der Grundlage Zur Vorbereitung auf die Anhörung dieser persönlichen Angaben und wei- erhalten Flüchtlinge Informationsblät- terer spezifischer Informationen zu den ter zum Asylverfahren in einer ihnen Herkunftsländern trifft das BAMF dann verständlichen Sprache. Darüber hin- eine Entscheidung, ob Asyl nach dem aus haben sie allerdings nicht ausrei- Grundgesetz, nach der Genfer Flücht- chend Zugang zu Rechtsbeistand und lingskonvention oder anderer Schutz in ausführlicher Beratung im Vorfeld der Deutschland gewährt wird. Anhörung, obwohl ihre Aussagen dort eine elementare Bedeutung für die Während der Zeit des Verfahrens be- Bewertung ihrer Asylanträge und da- kommen Flüchtlinge die „Aufenthalts- mit für die mögliche Anerkennung als gestattung“ als Aufenthaltspapier. Flüchtling und für ihren zukünftigen Diese bleibt als Bescheinigung über die Lebensort haben. Rechtmäßigkeit des Aufenthalts erhal- ten, solange das BAMF noch nicht über den Asylantrag entschieden hat, bzw. solange ein Rechtsmittel gegen die Ab- lehnung des Asylantrags aufschieben- de Wirkung entfaltet. Das Asylverfahren kann innerhalb we- niger Wochen entschieden werden oder sich über einen längeren Zeitraum bis zu mehreren Jahren hinziehen. Je nach Herkunftsland und Zahl der an- hängigen Fälle ist die Entscheidungs- dauer über Asylanträge beim BAMF oder den Gerichten unterschiedlich lang. In manchen Fallkonstellationen stellen sich grundsätzliche Fragen, die erst nach vielen Jahren durch die Ober- 16 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Wer erhält Schutz als Flüchtling? Das Bundesamt für Migration und Verbot der Abschiebung bei drohender Flüchtlinge (BAMF) und ggf. die Gerich- Todesstrafe, Folter oder unmenschlicher te (in der Überprüfungsinstanz) ermit- Behandlung, oder bei einer erheblichen teln, ob nach den geltenden Regelun- konkreten Gefahr für Leib, Leben oder gen Asyl gewährt wird. Freiheit im Herkunftsland. Man spricht Neben dem Artikel 16a (1) Grundge- hier von sogenanntem „subsidiären setz – „Politisch Verfolgte genießen Schutz“. Asylrecht“ – ist v.a. die Genfer Flücht- Mit der Entscheidung des BAMF er- lingskonvention ein wichtiges Doku- hielten 2013 rund 1 Prozent einen ment zum Schutz von Flüchtlingen. Sie Schutzstatus nach dem Grundgesetz, besagt, dass eine Person nicht in einen 12 Prozent nach der Genfer Flüchtlings- Staat abgeschoben werden kann, in konvention und rund 12 Prozent nach dem sein Leben oder seine Freiheit we- nationalen und internationalen Schutz- gen seiner ethnischen Herkunft, Religi- kriterien. Insgesamt wurde damit 2013 on, Nationalität, seiner Zugehörigkeit in 25 Prozent aller Asylentscheidungen zu einer bestimmten sozialen Gruppe des BAMF Flüchtlingen ein Schutz- oder wegen seiner politischen Überzeu- status zugesprochen. 38 Prozent aller gung bedroht ist. Asylanträge wurden durch das BAMF Über die Schutzkriterien nach dem abgelehnt. Die restlichen Anträge (37 Grundgesetz oder der Genfer Flücht- Prozent) wurden inhaltlich nicht ge- lingskonvention hinaus werden noch prüft, da beispielsweise ein Dublin-Ver- weitere nationale und internationale fahren zur Zuständigkeit eines anderen Schutzkriterien geprüft; wie z. B. ein EU-Mitgliedstaates eingeleitet wurde. 13,5 38,5 11,4 Abbildung 1 - Entscheidungen 36,7 des BAMF (über 80.978 Anträge) in % Quelle: Pro Asyl (2014): Die Zahlen und Fakten 2013. In: Pro Asyl (Hrsg.): Gemeinsam gegen Rassismus! Tag des Flüchtlings 2014. Frankfurt am Mai: Pro Asyl. Ablehnungen Subsidiärer Schutz Nicht inhaltlich geprüft Anerkennung nach 9 Genfer Flüchtlingskonvention, www.unhcr.de (z.B. Dublin- der Genfer 10 BAMF: Das Bundesamt in Zahlen 2013 (Asyl), Verfahren) Flüchtlingskonvention www.bamf.de Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 17
Rechnet man diese Anzahl an Verfah- ren heraus, die inhaltlich gar nicht ge- Relikt aus vergangener prüft wurden, so ergibt sich ein noch höherer Anteil an Menschen, denen Zeit: Der Begriff „Rasse“ Schutz zugesprochen wurde. 2013 hat das BAMF danach in knapp 40 Prozent Es gibt keine menschlichen Rassen. der Verfahren, in denen es überhaupt Die ursprünglichen auf den Phänoty- inhaltlich entschieden hat, Schutz ge- pen basierenden Einteilungen haben währt. Im ersten Quartal 2014 lag die sich seit dem Aufkommen der Mikro- bereinigte Gesamtschutzquote bei biologie als falsch herausgestellt.11 43,5%, im zweiten Quartal 2014 bei Der Grund: Die genetischen Variationen 46,4%. Im Jan.-Mai 2014 waren 11% innerhalb eines Phänotyps sind größer aller Gerichtsentscheidungen positiv. als der Abstand zu einem beliebigen anderen Phänotyp.12 Hinzu kommt, dass im Rahmen der Überprüfung einer ablehnenden Ent- Die Einteilung von Menschen in ver- scheidung des BAMF durch die Verwal- schiedene „Rassen“ diente und dient tungsgerichte noch weiteren Flücht- lediglich zur Zuschreibung von soge- lingen Schutz zugesprochen, also die nannter (Un-)Wertigkeit und ist damit Entscheidung des Bundesamtes aufge- ausschließlich ein Machtinstrument. hoben wird. Von Januar bis Mai 2014 Dies ist immer die Grundlage von Ras- endeten immerhin 11% aller Gerichts- sismus: Abwertung anderer zur Auf- entscheidungen mit einer Schutzgewäh- wertung seiner selbst. rung. Gut die Hälfte der Asylsuchenden Wer heute noch von menschlichen Ras- wird also dauerhaft bleiben können. sen spricht, muss sich den einen oder anderen (wenig schmeichelhaften) Vor- Wem Schutz durch das BAMF oder wurf gefallen lassen. Innerhalb unserer das Verwaltungsgericht zugesprochen Spezies gibt es allenfalls unterschiedli- wird, erhält eine Aufenthaltserlaub- che Ethnien. nis. Diese ist zunächst immer befristet, wird aber verlängert, wenn die Gründe weiterhin vorliegen. Mit der Aufent- 11 Lexikon der Biologie in 15 Bänden, Band 11, haltserlaubnis erhalten die Flüchtlinge Heidelberg 2003, S. 422 (Spektrum akademischer Verlag) uneingeschränkten Zugang zum Ar- 12 Horst Seidler: Die biologi(sti)schen beitsmarkt, zu Integrationskursen und Grundlagen des Rassismus. In: Justin Stagl, Wolfgang Reinhard (Hrsg.): Grenzen des zu regulären Sozialleistungen. Menschseins: Probleme einer Definition des Menschlichen. Böhlau 2005 sowie Robert Miles, Rassismus. Einführung in die Geschichte und Theorie eines Begriffs. Hamburg 1992 18 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Was passiert bei einer Ablehnung des Asylantrages? Bei Ablehnung des Asylantrags be- Flüchtlinge mit Duldung leben mit der kommt der Flüchtling in der Regel eine ständigen Ungewissheit über ihre nä- „Duldung“, solange eine Ausreise oder here Zukunft. Die Duldung ist zeitlich Abschiebung nicht möglich ist. Diese kurz bemessen, gewöhnlich wird sie ist mit vielen Auflagen und Einschrän- für einen Zeitraum von drei Monaten kungen verbunden. erteilt, selten länger als sechs Mona- Eine „freiwillige Ausreise“13 ist für die te, oft auch nur für einen Monat. Sie Betroffenen oft alles andere als frei- muss dann jeweils verlängert werden, willig; sie wird vielmehr von den Aus- was immer wieder neue Ungewissheit länderbehörden mit der Drohung einer bedeutet. Manche Flüchtlinge leben anderweitigen Abschiebung erzwun- schon seit vielen Jahren mit einer sol- gen. Abschiebungen sind massive Ein- chen „Kettenduldung“ in Deutschland. griffe in das Selbstbestimmungsrecht Eine humanitäre Bleiberechtsregelung der Menschen, es sind Zwangsmittel ist dringend notwendig, um Flüchtlin- der Verwaltung, die eine Wiederein- gen eine Aufenthaltsperspektive zu reisesperre nach sich ziehen sowie die geben, die längst ihren Lebensmittel- Abgeschobenen zur Begleichung der punkt in Deutschland haben, aber noch entstandenen Abschiebungskosten immer kein Aufenthaltsrecht besitzen.15 verpflichten (sollten sie wieder einrei- sen dürfen bzw. wollen). 14 Es kann passieren, dass Flüchtlinge jahrelang im Status der Duldung le- ben. Gründe für die Duldung können beispielsweise folgende sein: Fehlen- de Pässe, fehlende Reiseverbindun- gen in vom Krieg zerstörte Länder, medizinische Gründe oder noch nicht 13 Unwort des Jahres 2006, www.spiegel.de/ abgeschlossene aufenthaltsrechtliche kultur/gesellschaft/unwort-des-jahres- Folgeverfahren beim BAMF oder dem freiwillige-ausreise-a-460881.html 14 Siehe auch: Gemeinsames Heft der Verwaltungsgericht. Landesflüchtlingsräte: Abschiebung, 2012, www.hinterland-magazin.de/ausgabe19.php 15 Mehr Informationen unter: www.proasyl.de/de/themen/bleiberecht/ Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 19
Alltagsrassimus II - und was Sie tun können „Ich gehe durch die Einkaufspassage mit einer Freundin. Viele Leute sind dort unterwegs. Uns kommen ein Mann und eine Frau entgegen. Die Frau sagt, wir sollten abhauen und dorthin zurückgehen, wo wir herge- kommen seien. Der Mann hebt dro- hend seine Hand und ich habe Angst, dass er meine Freundin schlagen wird.” „Ich stehe in der Klassentür, um mein Kind abzuholen. Da kommt die Lehre- rin vorbei, begrüßt mich und fragt ne- benbei, warum ich ein Kopftuch trage; ob wir zu Hause Läuse hätten?” „Ich gehe auf der Straße. Mir kommt ein Mann entgegen. Als er auf meiner Höhe ist, spuckt er mir genau vor die Füße. Sein stechender Blick in meine Augen sagt mir, wie ich das Spucken zu verstehen habe.” 20 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Mischen Sie sich ein! Wenn Sie ZeugIn von Alltagsras- sismus werden, versuchen Sie zunächst, die Bedrohlichkeit der Situation einzuschätzen. Nie- mand muss sich selbst in Gefahr bringen, jede_r kann aber Auf- merksamkeit erzeugen und Hilfe holen. Machen Sie verbal deutlich, dass Sie die Bemerkung oder Geste für Ergreifen Sie sichtbar Partei für inakzeptabel halten und benen- die beleidigte und diskriminierte nen Sie klar die Diskriminierung. Person. Sprechen Sie die beläs- tigten Personen an, zeigen Sie ihnen, dass sie diese Situation nicht allein bewältigen müssen. Solidarisieren Sie sich. Sollte Ihnen die Situation bedroh- lich erscheinen, sprechen Sie kon- kret andere Zeug_innen an und treten Sie gemeinsam der diskri- minierten Person zur Seite. Organisieren Sie ggf. weitere Hilfe oder rufen Sie die Polizei. Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 21
Wie kommen Flüchtlinge nach Niedersachsen? Wenn Menschen in Deutschland Asyl In Braunschweig, Friedland und Bram- beantragen, werden sie nach dem sche befinden sich die Erstaufnahme- sogenannten Königsteiner Schlüssel einrichtungen der Landesaufnahmebe- prozentual auf die Bundesländer ver- hörde für Flüchtlinge in Niedersachsen. teilt. Ein weiteres Kriterium ist das Her- Dort verbringen sie die erste Zeit ihres kunftsland, da die Bundesländer un- Aufenthaltes. Nach maximal drei Mona- terschiedliche Zuständigkeiten haben. ten werden sie dann auf die jeweiligen Niedersachsen nimmt rund 9,3 Prozent Landkreise bzw. kreisfreien Städte ver- aller Asylsuchenden in Deutschland teilt und dort untergebracht. Aufgrund auf. Keine Rolle bei der Verteilung spie- der gestiegenen Flüchtlingszahlen und len Wünsche der Flüchtlinge oder die der begrenzten Unterbringungskapazi- Frage, ob schon Verwandte (über die tät in den Erstaufnahmeeinrichtungen Kernfamilie hinaus) oder Freund_innen erfolgt eine Verteilung der Flüchtlinge irgendwo in Deutschland leben. derzeit schon nach wenigen Wochen. 22 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Aus welchen Ländern kommen Flüchtlinge nach Niedersachsen und wie viele? Die zuständige Behörde für die Prü- Ende Februar 2014 (Stichtag 28.02.14) fung der Asylanträge ist – wie gesagt hielten sich 10.352 Personen im lau- – das Bundesamt für Migration und fenden Asylverfahren (mit dem Aufent- Flüchtlinge (BAMF). In Niedersachsen haltspapier „Aufenthaltsgestattung“) in gibt es Außenstellen auf dem Gelän- Niedersachsen auf. Darüber hinaus leb- de der Erstaufnahmeeinrichtungen in ten zu dem genannten Zeitpunkt 10.918 Braunschweig, Friedland und Bramsche Flüchtlinge mit einer „Duldung“ als Auf- (sowie eine Nebenstelle in Oldenburg, enthaltspapier, d. h. einer Aussetzung die aber keine Asylanhörungen durch- der Abschiebung – über wenige Wochen führt). Nicht jede Außenstelle bearbeitet oder auch viele Jahre – meist nach ne- Asylanträge aus allen Herkunftsländern. gativ abgeschlossenem Asylverfahren. In Friedland werden derzeit nur Anträge 22.255 Flüchtlinge halten sich mit einer von Menschen aus Afghanistan, Syrien, Aufenthaltserlaubnis nach völkerrecht- dem Irak, der Russischen Föderation, der lichen, humanitären und politischen Türkei, dem Libanon, Eritrea, Pakistan Gründen in Niedersachsen auf.16 und Vietnam bearbeitet. Da die Außen- stellen des Bundesamts in Friedland, Braunschweig und Bramsche derzeit z. B. nicht für die Republik Tschad zustän- dig sind, werden Flüchtlinge aus diesem Land nicht Niedersachsen zugewiesen. 16 Nach einer Anfrage an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 23
Zahlen hinterfragen In Niedersachsen leben circa 7,8 Milli- onen Menschen, davon rund 450.000 Menschen mit ausländischer Staats- angehörigkeit (Stand 2012). Ihr Anteil liegt damit bei 5,8 Prozent der Gesamt- bevölkerung.17 Damit liegt Niedersach- sen bundesweit auf Platz 10 und unter dem deutschen Durchschnitt von 8,2 Prozent. Der Anteil der Bevölkerung mit ausländischer Staatsangehörigkeit ist also in nur sechs Bundesländern niedriger. Die Diskussion um die „Ausländer_in- nenquote” verschleiert die falsche Grundannahme einer homogenen Be- völkerung in Niedersachsen. Sie fes- tigt die Einteilung in „wir“ (die Nie- dersachsen) und „die“ (die als fremd Empfundenen). Eine Einteilung, die ein falsches Bild ergibt: Migration und Wanderungen gibt es schon immer. Und ab wann ist eigentlich jemand ange- kommen und gilt als „alteingesessen“? 17 http://www.statistik-portal.de/statistik- portal/de_jb01_jahrtab2.asp 24 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Wie wohnen Flüchtlinge in Niedersachsen? Die in Niedersachsen aufgenommenen Wo sich Kommunen aufgrund der ge- Flüchtlinge werden den Landkreisen stiegenen Zahl der Asylsuchenden ge- bzw. kreisfreien Städten prozentual un- zwungen sehen, Flüchtlinge (vorüber- ter Berücksichtigung der Bevölkerungs- gehend) in Gemeinschaftsunterkünften zahl zugewiesen.18 Die großen Städte unterzubringen, drängt der Flüchtlings- in Niedersachsen nehmen prozentual rat auf die Entwicklung und Umset- erheblich mehr Flüchtlinge auf als die zung kommunaler Aufnahmekonzepte, ländlichen Gebiete. Die Standpunk- welche eine begleitende Beratung und te der Landesaufnahmebehörde für Unterstützung der Betroffenen und Flüchtlinge in Braunschweig, Friedland ein „Auszugsmanagement” in eige- und Bramsche verfügen aktuell über ne Wohnungen zum frühestmöglichen rund 500 Plätzen je Einrichtung. Die Zeitpunkt vorsehen20. Flüchtlinge leben hier in der Regel bis zu 3 Monate und werden im Anschluss Die Gemeinschaftsunterbringung führt auf die Landkreise bzw. kreisfreien nämlich zu einer Reihe von Proble- Städte „verteilt“. men.21 Der Wohnort und auch die Art der Unterbringung wird den Flüchtlingen Hinsichtlich der Form der Unterbrin- meist ohne eigenes Mitspracherecht gung macht das Land den Kommunen zugewiesen. In Gemeinschaftsunter- keine Vorschriften. Das Innenministeri- künften sind Privatsphäre oder Rück- um hat jedoch an die Kommunen ap- zugsmöglichkeiten selten bzw. aus- pelliert, Flüchtlinge nach Möglichkeit geschlossen. Außerdem befinden dezentral unterzubringen19. Die meis- sich mehrere der niedersächsischen ten Kommunen in Niedersachsen haben Gemeinschaftsunterkünfte in Stadt- sich entsprechend entschlossen, auf randlage oder kleineren Orten mit Massenlager und Gemeinschaftsunter- unzureichender Anbindung an den öf- künfte nach Möglichkeit zu verzichten. fentlichen Nahverkehr. 18 § 1 AufnG; http://www.nds-voris.de/jportal/? quelle=jlink&query=AufnG+ND&psml=bsvo risprod.psml&max=true&aiz=true#jlr-AufnG 20 Die Städte Osnabrück, Hannover und NDV3P1%20jlr-AufnGNDV2P1 Göttingen haben bereits entsprechende 19 Siehe HAZ 22.08.2013: „Landesinnenminister Konzepte entwickelt. Boris Pistorius (SPD) rät dringend dazu, keine 21 Siehe auch: Gemeinsames Heft der Landes- Massenquartiere für ausländische Flüchtlinge flüchtlingsräte: AusgeLAGERt (2011), einzurichten. Das Land bemüht sich im www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/fm_ Zusammenwirken mit den Kommunen um redakteure/Broschueren_pdf eine dezentrale Unterbringung der /AusgeLAGERt.pdf Asylbewerber.“ Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 25
Abgeschottet von der Gesellschaft, Nach dem niedersächsischen Aufnah- räumlich sehr beengt und oft ohne jeg- megesetz erhalten die Landkreise und liche Aufgabe müssen Flüchtlinge einen kreisfreien Städte vom Land pro auf- tristen Alltag leben, weshalb viele psy- genommenem Flüchtling und Monat chisch und physisch krank werden oder Pauschalen in Höhe von 5 932 Euro pro nicht genesen können. Zudem bieten Person für die Unterbringung, soziale Gemeinschaftsunterkünfte einen An- Leistungen und Sozialbetreuung so- griffspunkt für rassistische Übergriffe. wie medizinische Leistungen.22 Zurecht monieren kommunale Sozialverbände, Viele dieser Probleme können mit ei- dass der Satz zu niedrig ist. ner Unterbringung in städtischen Woh- nungen mit guter Erreichbarkeit und Infrastruktur (Ärzt_innen, Einkaufs-, Freizeit-, Bildungsmöglichkeiten, Be- ratungsangebote) gelöst werden bzw. entstehen erst gar nicht. Um eine ge- sellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, sind Flüchtlinge besonders auf solche Strukturen angewiesen. Es bedarf da- rüber hinaus eines tragfähigen und menschenwürdigen Unterbringungs-, Beratungs- und Unterstützungskon- zeptes für die Flüchtlinge im jeweiligen Landkreis oder in der jeweiligen kreis- freien Stadt. 22 § 4 AufnG; http://www.nds-voris.de/jportal/ ;jsessionid=A8DA8E54B6682325229618BC05 FE1420.jpf4?quelle=jlink&query=AufnG+ND &psml=bsvorisprod.psml&max=true&aiz=true #jlr-AufnGNDrahmen 26 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Alltagsrassismus III - und was Sie tun können Schuhladen „Ich schaue nach Schuhen, als eine Verkäuferin zu mir kommt und sagt, ich solle meine Tasche öffnen. Ich fra- ge, wieso. Sie sagt, dass ein Kunde ge- sehen habe, wie ich ein paar Schuhe dort hineingesteckt hätte. Ich erwidere, dass ich keine Schuhe in meiner Tasche habe und wer mich denn beschuldige. Das könne sie nicht sagen und ich sol- le die Tasche aufmachen. Mittlerweile schauen einige andere Kunden zau uns Diskothek herüber. Mir ist die Situation unange- „Letzte Woche war ich zu Besuch bei nehm und ich zeige den Inhalt meiner Freunden. Wir wollten am Abend zu- Tasche. Damit ist die Sache für die Ver- sammen in einer Diskothek feiern ge- käuferin erledigt. Unter den Blicken der hen. Ich war noch nicht richtig an der anderen Kunden gehe ich aus dem La- Tür, da hat mich die Security schon den. Ich bin wütend. Und traurig.” nach meinem Pass gefragt. Ich habe ihm meine Papiere und meinen „Ur- laubsschein“ gezeigt. Er hat vermutet, dass ich betrüge und mir unterstellt, dass das kein richtiger Ausweis, son- dern nur eine Kopie sei. Der Abend mit meinen Freunden hat dort an der Tür schon geendet. Ich wollte die Polizei Bahnhof rufen, weil ich dachte, sie können mir vielleicht helfen. Aber ich hatte Angst, „Am Bahnhof komme ich mir oft schon dass die Security recht hat und mit vor wie ein guter Bekannter der Polizis- meinen Papieren wirklich etwas nicht ten. Ständig halten sie mich an und fra- stimmt. Ich habe mich so geschämt. gen mich nach dem Ausweis. Sie fragen Alle haben mich angestarrt.” nur mich und keine Leute mit weißer Hautfarbe.” Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 27
Der erste Schritt ist das Wahr- nehmen einer solchen Situation. Sehen Sie, dass dunkelhäutige oder schwarzhaarige Menschen in solch „offiziellen“ Situationen angesprochen werden, vergewis- sern Sie sich kurz durch Hinsehen und Hinhören über die Art des Gespräches und ob alles in Ord- nung ist. Handelt es sich um ei- nen normalen Vorgang oder um eine Diskriminierungssituation? Werden beispielsweise nur dun- kelhäutige oder schwarzhaarige Menschen nach ihrem Ausweis gefragt, ist dies bereits eine nicht begründete Ungleichbehandlung, sogenanntes „racial profiling“. Haben Sie den Eindruck, es han- delt sich um eine ungewöhnliche Handelt es sich um eine Situati- Situation, die eine Diskriminie- on, in der jemand diskriminiert rung darstellen könnte, bleiben wird, schalten Sie sich in das Sie in der Nähe und beobachten Gespräch ein. Fragen Sie, warum Sie das Geschehen. diese Person „besonders“ be- handelt wird. Machen Sie deut- lich, dass Sie das Vorgehen für nicht akzeptabel halten, dass Sie diese Art der Sonderbehandlung ablehnen, und benennen Sie die Diskriminierung. Stärken Sie die diskriminierte Person. Sprechen Sie nicht anstelle der Betroffenen, sondern bleiben Sie die Unterstützung. Agieren Sie nicht ohne Einverständnis der Be- troffenen und nehmen sie ihnen nicht ihre eigene Stimme. 28 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Welche sozialen Leistungen erhalten Flüchtlinge? Mit der Einschränkung des Asylrechts stände – in der Regel als Sachleistung in Deutschland 1993 („Asylkompro- zur Verfügung gestellt bekommen. miss“) trat gleichzeitig das Asylbewer- Der §1a AsylbLG stellt jedoch eine er- berleistungsgesetz (AsylbLG) in Kraft. hebliche Einschränkung der Sozialleis- Flüchtlinge erhielten danach bis zu tungen für Asylbewerber_innen und 40% niedrigere Sozialleistungen als Flüchtlinge dar. Nach diesem Paragra- andere Sozialleistungsberechtigte. phen dürfen soziale Leistungen z.B. gekürzt werden, wenn sie nicht aktiv Sozialleistungen orientieren sich am mithelfen, den zur Abschiebung erfor- Existenzminimum, das ein menschen- derlichen Pass aus dem Herkunftsland würdiges Leben ermöglichen soll. Das zu besorgen. Entsprechend erhalten Bundesverfassungsgericht entschied im Geduldete und sonstige vollziehbar Juli 2012 mit den Worten „Die Men- ausreisepflichtige Ausländer_innen oft- schenwürde ist migrationspolitisch mals nur eingeschränkte Leistungen. nicht zu relativieren“, dass die Men- Der Paragraph wurde unter anderem schenwürde nicht mit dem Ziel einge- als „Abschiebung durch Aushungern“23 schränkt werden darf, Zuwanderung zu kritisiert. begrenzen. Das Urteil besagt zudem, Über den Bundesrat forderten Flücht- dass die Leistungshöhe des AsylbLG lings- und Menschenrechtsorganisa- verfassungswidrig und umgehend eine tionen die Abschaffung des § 1a. In Neuregelung zu treffen ist. Die ange- vielen Bundesländern wird der Para- ordnete Neuregelung des AsylbLG wur- graph heute nicht mehr angewandt. de bisher jedoch noch nicht umgesetzt. In Niedersachsen ist dies jedoch nicht der Fall. Der Paragraph findet weiterhin Seit der Entscheidung des Bundesver- Verwendung. fassungsgerichtes erhalten Flüchtlinge Da das Asylbewerberleistungsgesetz im Grunde dieselbe Höhe an Sozial- ein diskriminierendes Sondergesetz ist, leistungen wie andere Menschen auch. fordern Flüchtlings- und Menschen- Allerdings liegt der ausgezahlte Re- rechtsorganisationen dessen Abschaf- gelsatz weiterhin etwas niedriger, weil fung und die Leistungsgewährung nach Flüchtlinge bestimmte Leistungen – z.B. den bestehenden Sozialgesetzbüchern. Möbel und andere Einrichtungsgegen- 23 Siehe Berliner Zeitung (07.02.1998); http://www.berliner-zeitung.de/archiv/abschie bung-durch-aushungern,10810590,9394690. html Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 29
Warum es keinen Abschnitt zur Kriminalität gibt Auch wenn es immer wieder behauptet angezeigt werden. Dies ist aber vor wird: Hinweise darauf, dass Flüchtlin- allem ein mögliches Indiz für “racial ge öfter straffällig werden als andere profiling“, also die Verdächtigung von Menschen, gibt es nicht. Menschen vermeintlich ausländisch aussehenden nichtdeutscher Herkunft generell sind Menschen. Nicht zuletzt die Ermittlun- nicht krimineller als die Durchschnitts- gen zu den NSU-Morden haben das bevölkerung und die Kriminalitätsrate erschreckend deutlich gemacht: Zehn im Umfeld von Asylunterkünften ist Jahre lang wurden die Angehörigen nicht höher als anderswo.24 Die Krimi- der Opfer von der Polizei als mutmaß- nalstatistik der Polizei, die immer wie- liche Täter_innen behandelt, während der als Argument für eine angeblich tatsächlich deutsche Rassist_innen die höhere Kriminalität von Migrant_in- Täter_innen waren – sie aber blieben nen und Flüchtlingen herangezogen von der Polizei unbehelligt. wird, ist irreführend.25 Ein wichtiger Ein weiteres Problem: Die Arten der Grund: Die Polizei-Statistik erfasst Tat- Straftaten werden nicht unterschieden, verdächtige, und nicht Täter_innen. obwohl manche Verstöße, beispielswei- Daraus kann man lediglich schließen, se gegen das Aufenthaltsgesetz, von dass (vermeintliche) „Ausländer_in- deutschen Staatsangehörigen gar nicht nen“ häufiger unter Verdacht gera- begangen werden können.26 ten und polizeilich kontrolliert oder 24 Taz vom 2.7.2013, fr-online.de vom 11.7.2013, berliner-zeitung.de vom 11.7.2013 und „Zahl der Diebstähle in Greiz nicht höher“, Thüringer Allgemeine vom 14.11.2013 25 Bundeszentrale für Politische Bildung: „Ausländerkriminalität“ – statistische Daten und soziale Wirklichkeit. (2012), www.bpb.de 26 Pro Asyl/Amadeu-Antonio-Stiftung: pro menschenrechte. contra vorurteile. (2014), www.proasyl.de 30 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Wie ist die medizinische Versorgung von Flüchtlingen geregelt? Flüchtlinge sind nicht in der in Deutsch- Die Vergabepraxis dieser Behand- land üblichen Form per Chipkarte lungsscheine und somit der Zugang krankenversichert. Ihre medizinische zu Allgemein- und Fachärzt_innen für Versorgung regelt das Asylbewerber- Flüchtlinge ist niedersachsenweit sehr leistungsgesetz (AsylbLG). Daraus ent- unterschiedlich. stehende Einschränkungen gelten für In der Praxis führt diese Regelung zu die ersten 4 Jahre des Aufenthaltes in vielen Problemen. Bestimmte Medika- Deutschland, ggf. aber auch darüber mente, Heil- und Hilfsmittel wie Brillen hinaus. oder orthopädische Einlagen, Psycho- Nach dem AsylbLG sind Kosten zur therapien für traumatisierte Flücht- Behandlung akuter Erkrankungen und linge oder aber auch Überweisungen Schmerzzustände zu gewähren. Dies zu Fachärzt_innen werden Flüchtlin- schließt die Versorgung mit Arznei- gen oft verweigert. Ein Beispiel: Bei und Verbandmitteln sowie sonstiger der Zahnbehandlung werden akute zur Genesung, zur Besserung oder zur Schmerzbehandlungen von den Sozial- Linderung von Krankheiten oder Krank- ämtern getragen. Das umfasst oft aber heitsfolgen erforderlichen Leistungen nicht die Kosten für eine Zahnfüllung, mit ein. Dazu zählen auch die amtlich sondern nur das Ziehen des Zahnes. empfohlenen Schutzimpfungen und die Dadurch werden Flüchtlingen oft er- medizinisch gebotenen Vorsorgeunter- haltbare Zähne gezogen, was einen suchungen. massiven Eingriff in die körperliche Un- versehrtheit darstellt. Allerdings müssen die Flüchtlinge vor jeder Behandlung einen Krankenschein Das AsylbLG macht eine solche un- beantragen und damit die Zustimmung haltbare Praxis erst möglich. Auch für die Übernahme der anfallenden Be- deswegen fordern Flüchtlings- und handlungskosten beim örtlichen Sozial- Menschenrechtsorganisationen dessen amt einholen. Dies führt zu umständ- Abschaffung und die Leistungsgewäh- lichen Wege- und Wartezeiten - und rung nach den bestehenden Sozialge- dazu, dass die behördlichen Sachbear- setzbüchern. beiter_innen entscheiden (müssen), ob der Krankenschein und damit die medi- zinische Behandlung gewährt wird. Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 31
Ein ungehinderter Zugang zu medizini- scher Versorgung ist dringend notwen- dig. Ein gutes Beispiel – auch unter dem bestehendem AsylbLG – sind Bremen und Hamburg: In beiden Stadtstaaten wurde mit der AOK Bremen ein Vertrag geschlossen, nach dem Flüchtlinge eine Chipkarte erhalten und sich wie andere Krankenversicherte auch medizinisch behandeln lassen können. Die Landes- regierung prüft derzeit, ob ein solches Modell auch in Niedersachsen funktio- nieren kann. 32 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Was sind „Residenzpflicht” und „Urlaubsscheine”? Die „Residenzpflicht“ ist eine bundes- fen, dann drohen ihnen Geld- oder im rechtliche Regelung, welche Flüchtlin- Wiederholungsfall sogar Haftstrafen. gen mit einer „Aufenthaltsgestattung“ An Bahnhöfen oder anderen öffent- oder „Duldung“ ein bestimmtes Ge- lichen Orten kontrolliert die Polizei biet zuweist, in dem sie sich aufhalten immer wieder Menschen, die „auslän- müssen bzw. „erlaubnisfrei aufhalten disch“ aussehen, u. a. wegen möglicher dürfen“. Eine solche einschränkende Verstöße gegen die Residenzpflicht. Regelung kennt kein anderes EU-Land. Die Bundesländer haben die Möglich- Häufig wird die Residenzpflicht mit der keit, diesen „Bewegungsraum“ vom „Wohnsitzauflage“ verwechselt. Diese Landkreis/der kreisfreien Stadt bis meint die Zuweisung des Wohnortes. zum ganzen Bundesland auszudehnen Auch wenn sich Flüchtlinge in Nieder- und auch bundeslandübergreifend zu sachsen ohne Genehmigung frei bewe- regeln. Davon hat Niedersachsen Ge- gen dürfen, bleibt diese Wohnsitzauf- brauch gemacht: Seit 2012 können sich lage davon unberührt, d. h. Flüchtlinge Asylsuchende im gesamten Bundesland können nicht selbstbestimmt umziehen Niedersachsen frei bewegen. Flüchtlin- bzw. einen anderen Wohnsitz wählen, ge mit einer „Aufenthaltsgestattung“ sondern müssen dies beantragen. Ein dürfen sich ohne behördliche Erlaubnis Umzug in einen anderen Landkreis oder grundsätzlich auch in Bremen aufhalten, in ein anderes Bundesland wird nur bei jedoch nicht in weiteren Bundesländern. Vorliegen eines Rechtsanspruchs (Zu- sammenleben mit Frau und minderjäh- Wenn Flüchtlinge den ihnen zugewie- rigen Kindern), zur Ermöglichung einer senen Bereich verlassen wollen, weil Erwerbstätigkeit oder bei Vorliegen sie zum Beispiel Freunde oder Verwand- gravierender Härten (z.B. Pflege eines te außerhalb Niedersachsens besuchen nahen Verwandten) genehmigt. möchten, brauchen sie eine schriftliche Genehmigung (einen „Urlaubsschein“) Für deutsche Staatsbürger_innen ist es der Ausländerbehörde. Überschreiten normal, sich in Deutschland, der EU und Flüchtlinge die Bundeslandgrenzen vielen weiteren Ländern frei bewegen ohne vorherige Erlaubnis, weil ihnen zu können. Flüchtlinge sind durch die der „Urlaubsschein“ versagt wurde, Residenzpflicht stark in ihrer Bewe- und werden von der Polizei aufgegrif- gungsfreiheit eingeschränkt und wer- Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 33
den durch diese Ungleichbehandlung diskriminiert. 27 Auch für Flüchtlinge muss eine un- eingeschränkte Bewegungsfreiheit in Deutschland gelten. Außerdem müssen die grund- und menschenrechtswidrigen Kontrollen nach äußeren Merkmalen, wie z. B. Hautfarbe oder Gesichtszüge (auch als „Racial Profiling“ bezeichnet) flächendeckend in der polizeilichen Pra- xis ausgeschlossen werden. 28 27 Siehe auch: www.residenzpflicht.info 28 Institut für Menschenrechte: „Racial Profiling“ – Menschenrechtswidrige Personenkontrollen nach § 22 Abs. 1 a Bundespolizeigesetz (2013), www.institut-fuer-menschenrechte.de 34 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
Gibt es Sprach- und Integrationskurse für Flüchtlinge? Flüchtlinge mit den Aufenthaltspa- In manchen niedersächsischen Orten pieren „Aufenthaltsgestattung“ oder werden von einigen Beratungsstellen „Duldung“ haben bislang keinen An- oder ehrenamtlichen Mitarbeiter_in- spruch auf Integrationskurse zum Erler- nen kleinere Sprachkurse angeboten, nen der deutschen Sprache – unabhän- um überhaupt ein Erlernen der Sprache gig davon, wie lange sie schon hier sind. zu ermöglichen. Erstorientierungshilfen Flüchtlinge mit „Aufenthaltsgestat- in der deutschen Sprache gibt es auch tung“ und Duldung dürfen nach 9 bzw. bei der Landesaufnahmebehörde (LAB) 12 Monaten Aufenthalt in Deutsch- in Friedland, Braunschweig und dem- land grundsätzlich arbeiten – und er- nächst auch in Bramsche. halten auf dieser Basis ggf. auch die Ohne Deutschkenntnisse ist es schwie- Möglichkeit, Kurse zur berufsbezoge- rig, sich auf Behörden, bei Ärzt_innen, nen Deutschförderung zu besuchen.29 im Kindergarten, der Schule oder im In welchem Ausmaß Flüchtlinge Alltag zu verständigen. Die Bedeutung ab 2015 zu derartigen Sprachkur- von Sprache zur gesellschaftlichen Teil- sen zugelassen werden, stand bei habe wird immer wieder betont. Des- Redaktionsschluss noch nicht fest. halb ist es notwendig, dass Flüchtlingen Allerdings ist der Arbeitsmarktzugang Zugang zu Integrationskursen gewährt eingeschränkt. 30 wird – von Beginn ihres Aufenthaltes in Deutschland an und unabhängig von ihrem konkreten Aufenthaltsstatus.31 29 Für 2014 ist eine Verkürzung des 31 Siehe auch: Beschluss der Integrationsmini- Arbeitsverbots auf 3 Monate geplant. sterkonferenz, März 2013, www.sms.sachsen. Das Gesetzgebungsverfahren dazu läuft de/download/Verwaltung/Ergebnisprotokoll_ derzeit noch in Bundestag- und -rat. Band_I_Beschluesse.pdf 30 Näheres zum so genannten nachrangigen Arbeitsmarktzugang für diese Personen- gruppen unten unter dem Kapitel „Unter welchen Voraussetzungen dürfen Flüchtlinge in Deutschland arbeiten?“. Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen 35
Wie ist der Zugang zu Kindergärten und Schulen für Flüchtlingskinder in Niedersachsen geregelt? Alle Kinder in Niedersachsen haben ab Je nach seinen Deutschkenntnissen dem ersten Geburtstag Anspruch auf kann das Kind in eine sogenannte einen Platz in einer Kindertageseinrich- Sprachlernklasse überwiesen werden. tung. Da aber in einigen Regionen nur Die Schulpflicht gilt bei jeder Art von sehr begrenzt freie Plätze vorhanden Aufenthalt – die Kinder müssen ledig- sind, ist es vor allem für Menschen, die lich gemeldet sein. Jedoch kann die sich nicht mit den Zugängen und Forma- Schulpflicht auch ruhen, wenn bei nicht litäten auskennen, schwierig, einen Be- ausreichenden Deutschkenntnissen ein treuungsplatz zu bekommen. Um diesen Sprachkurs besucht wird. Rechtsanspruch wahrnehmen zu kön- Nach den Erlebnissen im Herkunftsland nen, sind sie oft auf Hilfe angewiesen. und der Flucht stehen Flüchtlingskin- der vor vielen Herausforderungen: Eine Nach 3 Monaten Aufenthalt in Deutsch- neue Umgebung, eine fremde Sprache, land unterliegen Flüchtlingskinder in viele neue Regeln. Zudem haben einige Niedersachsen der 12-jährigen Schul- von ihnen aufgrund der Flucht lange pflicht (mindestens 9 Jahre lang in Zeit keine Schule besuchen können. Schulen der Primarstufe und der Se- Um festzustellen, ob sie eine beson- kundarstufe I und anschließend in der dere Förderung benötigen, können die Sekundarstufe II, entweder durch den Kinder – meist im Alter von 5 Jahren Besuch einer allgemein bildenden oder – an einem „Verfahren zur Feststellung einer berufsbildenden Schule). Sie be- Sonderpädagogischen Förderbedarfs“ ginnt mit Vollendung des sechsten teilnehmen. Ein solches Verfahren muss Lebensjahres oder, wenn das sechste von den Eltern oder der Schule bean- Lebensjahr bis zum 30.09. vollendet tragt werden. In dem Verfahren wird werden wird, zum Schuljahresbe- geprüft, ob eine besondere Förderung ginn des jeweiligen Jahres. Wenn ein für das Kind nötig ist. Je nachdem kann Kind erst nach diesem Zeitpunkt nach das Kind auf eine allgemeine oder auf Deutschland kommt, kommt es in die eine Förderschule überwiesen werden. 32 jeweilige Klasse analog zu seinem Alter. 32 BAMF, http://www.bamf.de/DE/Willkommen/ Bildung/Schulsystem/schulsystem.html? nn=1367904 36 Grundlagenwissen zu Flucht und Asyl in Niedersachsen
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