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Relevanz der Kernwaffenthematik anlässlich des russischen Überfalls Wolfgang Liebert Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften (ISR) Universität für Bodenkultur (BOKU) Wien „Kernkraftwerke in Kriegsgebieten“ BOKU Wien, 28.4.2022
Anlass Am 27. Februar 2022 (am 4. Tag des Krieges gegen die Ukraine) erklärt Putin „besondere Alarmbereitschaft“ für die „Abschreckungskräfte“ Russlands → Aufschrecken in Europa (und anderswo in der Welt) Was heißt das? Sind nicht ständig Kernwaffen in den größeren Kernwaffenstaaten in höchster Alarmbereitschaft („hair-trigger alert“) ? Ja. US-amerikanische, russische, britische, französische Atom-U-Boote patrouillieren ständig in den Weltmeeren; amerikanische nuklearwaffenfähige B-52 Bomber hatten 127 sog. „Bomber Task Force missions“ Richtung Europa und die Pazifik-Region im Jahr 2021 …. 28.04.2022 Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert 2
Relevanz der Kernwaffenthematik anlässlich des russischen Überfalls Kernwaffenarsenale (Russland und anderswo) Einsatzfolgen und nukleare Abschreckung Völkerrecht und Kernwaffenabrüstung 28.04.2022 Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert 3
Russisches Kernwaffenarsenal 2022 (Trägersysteme/Sprengkörper/Sprengkraft) ( nach H.Kristensen und M.Korda) Interkontinentalraketen (in Silos oder mobil): 306 mit 1.185 Sprengköpfen (~ 450.000 kt TNT) Unterseeboote (10 Stück): 160 mit 800 Sprengköpfen (~ 80.000 kt TNT) Schwere Bomber 68 mit 580 Kernwaffen (~ >60.000 kt TNT) strategische Kernwaffen-Triade: 534 Trägersysteme 2.565 Sprengkörpern (> 590.000 kt TNT) Luftabwehr und Anti-Raketensysteme: ~ 900 mit ~ 390 Sprengköpfen (~ 3.000 kt TNT) Bomber/Kampfflugzeuge: ~ 300 mit ~ 500 Sprengköpfen ( ??? kt TNT) auf Schiffen (Torpedos etc.): ?? mit ~ 935 Kernwaffen ( ??? kt TNT) bodengestützt kürzerer Reichweite: 164 mit 90 Sprengköpfen (~ 9.000 kt TNT) nicht-strategisches und Abwehr-Arsenal 1.915 Sprengkörper (> 20.000 kt TNT) ~ 1.500 ausgemusterte Sprengköpfe (auf Demontage wartend) ((> 150.000 kt TNT ??)) ~ 4.480 Kernsprengkörper mit >> 600.000 kt TNT Sprengkraft (1.590 im Dienst / 2.890 in Reserve) 28.04.2022 Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert 4
US - Kernwaffenarsenal 2021 (Trägersysteme/Sprengkörper/Sprengkraft) ( nach H.Kristensen und M.Korda) Interkontinentalraketen 400 mit 800 Sprengköpfen (~ 260.000 kt TNT) Unterseeboote (12 + 2 Stück): 240 mit 1920 Sprengköpfen (~ 310.000 kt TNT) Schwere Bomber ~ 60 mit 850 Kernwaffen (~ 200.000 kt TNT) strategische Kernwaffen-Triade: ~ 700 Trägersysteme 3.570 Sprengkörpern (~ 770.000 kt TNT) B61-x (freifallende Bombe): mit 230 Sprengköpfen (~ 25.000 kt TNT) nicht-strategisches Arsenal 230 Sprengkörper (~ 25.000 kt TNT) ~ 1.750 ausgemusterte Sprengköpfe (auf Demontage wartend) ((> 150.000 kt TNT ??)) ~ 3.800 Kernsprengkörper mit ~ 800.000 kt TNT Sprengkraft (1.800 im Dienst / 2.000 in Reserve) 28.04.2022 Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert 5
l 12.700 Kernsprengkörper > 9.400 in Arsenalen ~ 3.730 „im Dienst“ ~ 2.000 jederzeit einsetzbar (US, R, UK, F) Sprengkraft in den Arsenalen: > 1.600.000 kt TNT > 120.000 Hiroshima- Bomben In Summe ??: > 2.500.000 kt TNT ??? > 180.000 Hiroshima- 28.04.2022 Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert Bomben ?? 6
„Nukleare Teilhabe“ der NATO In den 5 NATO-Staaten Belgien, Deutschland, Italien, Niederlande und Türkei (bei Kleine Brogel, Büchel, Aviano und Ghedi, Volkel, Incirlik) lagern 100-150 US-Kernwaffen (B61-3/4 freifallende Bomben für Flugzeuge) Einsatz-Planung mit Trägersystemen (Kampfflugzeuge) und Truppen aus den Mitgliedsländern Modernisierung dieser Atombomben (zu lenkbaren B61-12) und der Kampfflugzeuge ist vorgesehen ab 2022-2024 (Produktion der Bomben läuft bereits) Seit Jahrzehnten Debatten über die Sinnhaftigkeit der „nuklearen Teilhabe“ bzw. sogar Vorwurf der Verletzung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (1968/1970) Am 14. März 2022 gibt die Deutsche Bundesregierung bekannt: amerikanische F-35 Kampfbomber werden rasch gekauft, um die nukleare Teilhabe nach Ausmusterung der Tornados 2025 fortzusetzen 28.04.2022 Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert 7
Hiroshima - 6. August 1945 90% aller Gebäude im Umkreis von 13 Quadratkilometern zerstört ~ 140.000 Tote (Ende 1945) plus ~ 60.000 durch “Spätfolgen” Sprengkraft: entsprach ~ 13 000 t TNT = 13 kt TNT (“Kilotonnen”) (TNT: (TNT: gewöhnlicher gewöhnlicher Sprengstofl) Sprengstoff Trinitrotoluol) Sprengstoff Trinitrotoluol) 28.04.2022 Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert 8
Wirkungen (und Schrecken) der Kernwaffen Wirkung auf Menschen: 10 Kilotonnen (kt) 1 Mt = 1000 kt Druckwelle zerstört Häuser > 1 km Umkreis 5 km Umkreis Druckwelle tötet Menschen > 2 km Umkreis >10 km Umkreis Verbrennungen 3. Grades > 1 km Umkreis 10 km Umkreis 50% Todesrate d. Strahlung 1,5 km Umkreis 3 km Umkreis Zusätzlich: - Feuerstürme – Infrastruktur funktionsuntüchtig etc. - Medizinische Hilfe für Verletzte nahezu aussichtslos - Radioaktiver Fallout (+ längerfristig über Nahrungskette) ABER: Große Unterschiede der kurzfristigen und langfristigen Folgen bei Zündung in der Atmosphäre oder in Bodennähe ! 28.04.2022 Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert 9
„Nuklearer Winter“ Erste Simulationen (Stratosphärenmodelle): Crutzen et al. 1982, Turco et al. 1983 → erhebliche klimatische Konsequenzen: weltweiter Temperatursturz über viele Jahre (dramatische Ernteausfälle, insbes. in der nördlichen Hemisphäre) Aktualisierte Simulationen (Modelle inkl. Thermosphäre und Ozeane): Robock et al. 2007 - A: Einsatz 95% der damaligen Arsenale (5000 Mt TNT): 150 Mio. t Smog - B: Einsatz 1/3 der damaligen Arsenale (1700 Mt TNT): 50 Mio. t Smog - C: regionaler Atomkrieg (1,5 Mt TNT): 1-5 Mio. t Smog Tagesminimaltemperatur in den ersten drei Jahren für Ukraine bzw. Iowa. Schwarz: 28.04.2022 Referenzfall, violett: Szenario B, rot: Szenario A Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert 10
Simulationsergebnisse „Nuklearer Winter“ (Robock et al. 2007) Veränderungen der globalen Temperatur und der Niederschläge in den ersten zehn Jahren nach C: 5 Mio t Kernwaffeneinsatz für Szenarien A, B, C B: 50 Mio t A: 150 Mio t 28.04.2022 Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert 11
Nukleare Abschreckung Nukleare Abschreckung bedeutet: - Anhäufung enormer Zerstörungspotenziale (im Rüstungswettlauf mit Konkurrenten) – stetes Risiko der nuklearen Eskalation bis zum umfassenden Nuklearkrieg Glaubwürdigkeit der Abschreckung heißt: - Atomwaffen stets bereit halten (& weiterentwickeln) - Willen zum tatsächlichen Einsatz - tatsächliche Anwendung im „Ernstfall“ ?! Aufrechterhaltung der nukleare Abschreckung bedeutet aber auch: - gegenseitige Geiselnahme der Bevölkerungen - Ununterscheidbarkeit von taktisch-strategisch, nuklear begrenzt, z.T. auch konventionell - massive Folgen für Unbeteiligte und tendenziell die ganze Welt - multipolare statt bipolare nukleare Abschreckung (alter „Kalter Krieg“) kaum stabilisierbar 28.04.2022 Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert 12
Fortschritte bei nuklearer Abrüstung – oder enttäuschte Hoffnungen Nukleare Mittelstreckensysteme in Europa: Nichtverbreitungsvertrag (NVV) (seit 1970 in Kraft – 1995 unbefristet verlängert) ̴ 1980 bis zu ̴ 7.000 Kernsprengköpfe stationiert in Westeuropa (+ vermutlich 4.000 in Osteuropa) Artikel VI 1987 Treaty on Intermediate-range Nuclear Forces (INF) „Jede Vertragspartei verpflichtet sich, in redlicher (SU-US Gorbatschow-Reagan): Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Verbot des Besitzes, des Tests, der Produktion Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen landgestützter Mittelstreckensysteme Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen (Reichweite 500 – 5.500 km) Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allg. u. → weitgehende Entschärfung des nuklearen vollst. Abrüstung unter strenger und wirksamer Pulverfasses Europa bis 1991 internationaler Kontrolle.“ Seit spätestens 2018 massiver Streit über Vertragserfüllung Überprüfungskonferenzen (alle 5 Jahre) 1./2. Feb. 2019: Kündigung durch USA / und Russland fordern stets solche Schritte → ohne Erfolg Auslaufen des INF-Vertrags zum 1. August 2019 → Neustationierung landgestützter Mittelstreckensysteme ?? 28.04.2022 Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert 13
„Strategische Abrüstung“ seit 1990 (nur zwischen USA und Russland) 1990: je 12.000 strateg. Sprengköpfe im aktiven Arsenal 1991: START I (Strategic Arms Reduction Treaty): detaillierte Begrenzung auf je 7 – 8.000 (Laufzeit 5.12.2009) 1993: START II sollte auf je 3.500 reduzieren + MIRV auf ICBM bannen (Ratifikation 1996 bzw. 2000) 2002 US-Aufkündigung des ABM-Vertrags → Austritt Russlands 2002: SORT (Strategic Offensive Reduction Treaty): Begrenzung auf 1.700 bis 2.200 (Laufzeit 31.12.2012) 2010: New START (Laufzeit 5.2.2021): Begrenzung 1.550 Sprengköpfe / 700 interkontinentale Trägersysteme Völlig offen: Art der Arsenale (Mehrfachsprengköpfe!), Reserven, nicht-strateg. Arsenale, Materialien Große Sorgen in der Trump-Zeit: Ende der Rüstungskontrolle und Abrüstung in Sicht! Jan. 2021: „Neue“ US-Administration im Amt: rasche Einigung zwischen Biden und Putin, den Vertrag zunächst einmal fortzuführen. ??? Wie wird es / kann es überhaupt weiter gehen ??? 28.04.2022 Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert 14
Weg in die nuklearwaffenfreie Welt (NWFW) ? „Nicht- „Nicht- Weiterverbreitungs- Verbreitungs- Regime“ (NV-Regime) Regime“ (NWFW) ……. TRAFO ……. ……. NVV START ……. NWK …… Nicht- Nuklear- verbreitungs- waffen- Export- vertrag Cutoff konvention kontrolle LTBT …… Schrittweiser BWC CWC Tansformationsprozess CTBT ZBM unter Beibehaltung des NVV auf Zeit 28.04.2022 (IANUS- und INESAP-Vorschlag 1994/1995) Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert 15
„Humanitäre Konsequenzen eines Kernwaffeneinsatzes“ als neuer Impuls Internationaler Prozess von drei internationalen Konferenzen (vorbereitet in Staatentreffen und UN-Voten seit 2012) in Norwegen (2013), Mexiko (Feb. 2014) und Österreich (Dez. 2014) Zuvor jeweils Konferenzen internationaler zivilgesellschaftlicher Akteure organisiert durch International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (ICAN) → Dez. 2014 »Austrian Pledge«: Versprechen der Staaten, sich für ein umfassendes Verbot von Kernwaffen einzusetzen. Immer mehr Staaten schließen sich an (Kernwaffenstaaten und NATO-Staaten bleiben abseits) In der Folgezeit: jeweils mehrwöchige Diskussionen in einer Arbeitsgruppe der UN (Open-Ended Working Group on Nuclear Disarmament) in Genf (Sitz der Conf. on Disarmament (CD) der UN) Dezember 2016 – Mehrheitsbeschluss der UN-Mitgliedstaaten: 2017 konkrete Verhandlungen über ein vollständiges Verbot von Atomwaffen zu führen. 28.04.2022 Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert 16
Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons („Atomwaffenverbotsvertrag“) 7. Juli 2017: 122 Staaten (≈ ⅔ der UN-Mitglieder) beschließen nach halbjährigen Verhandlungen Vertrag: - kein(e) Entwicklung, Test, Produktion, Herstellung, in Besitz bringen, Besitz von Kernwaffen (oder dem ähnlichen) - kein Transfer zu anderen / keine Annahme von anderen - keine Drohung mit Kernwaffen - Annahme vollständiger IAEO-Safeguards (INFCIRC 153) - Eliminierung von Kernwaffen und irreversibler Abbau der Infrastruktur (180 Tage nach Beitritt Verhandlungen darüber und Vertrag dazu) - Inkrafttreten sobald 50 Staaten Mitglieder sind (nach Ratifizierung) „Aktueller“ Stand (23. März 2022): 86 Unterschriften, 60 Mitgliedsstaaten (Österreich seit Mai 2018) → Vertrag trat am 22. Jan. 2021 in Kraft → 1. Vertragsstaatenkonferenz 21.-23. Juni 2022 in Wien 28.04.2022 Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften I Wolfgang Liebert 17
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