RISIKOVORSORGE UND UMWELTHAFTUNG- EINE RECHTLICHE ANALYSE AM BEISPIEL VOM FRACKING - JKU ePUB
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RISIKOVORSORGE UND UMWELTHAFTUNG- EINE RECHTLICHE ANALYSE AM BEISPIEL VOM FRACKING Diplomarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Magister der Rechtswissenschaften im Diplomstudium der Rechtswissenschaften Eingereicht von: Bernhard Walch Angefertigt am: Institut für Umweltrecht, Johannes Kepler Universität, Linz BeurteilerIn: Univ.Prof.in Dr.in Erika Wagner Bings, Juni 2016
Eidesstattliche Erklärung Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbständig und ohne fremde Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt bzw die wörtlich oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument identisch. Bings, Jänner 2016 __________________________ Bernhard Walch
Inhaltsverzeichnis 1 Vorwort............................................................................................................................................6 2 Das Vorsorgeprinzip.......................................................................................................................7 2.1 Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht............................................................................................7 2.1.1 Entwicklung in der Umweltpolitik.....................................................................................7 2.1.2 Entwicklung im Umweltrecht............................................................................................9 2.1.3 Rechtsprechung und Vorsorge..........................................................................................10 2.2 Grundbegriffe...........................................................................................................................14 2.3 Anwendungsbereich.................................................................................................................17 2.4 Funktionen des Vorsorgeprinzips.............................................................................................19 2.4.1 Ermächtigungsfunktion....................................................................................................19 2.4.2 Legitimationsfunktion......................................................................................................20 2.4.3 Verpflichtungsfunktion.....................................................................................................20 2.4.4 Leitfunktion und Rechtfertigungsfunktion.......................................................................21 2.4.5 Interpretationsfunktion.....................................................................................................21 2.4.5.1 Freiraumtheorie........................................................................................................22 2.4.5.2 Eingriffsschwellen....................................................................................................22 2.4.5.3 Beweislaständerungen..............................................................................................23 2.5 Risikoanalyse und Erlass von Vorsorgemaßnahmen...............................................................23 2.5.1 Risikobewertung..............................................................................................................23 2.5.2 Risikomanagement...........................................................................................................26 2.5.3 Verfahrensvorgaben..........................................................................................................28 2.6 Beweislast................................................................................................................................29 2.7 Temporärer Charakter..............................................................................................................31 2.8 Fazit.........................................................................................................................................32 3 Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP)......................................................................................34 3.1 Systematischer Aufbau des UVP-Gesetz.................................................................................35 3.2 Wann kommt es zu einer UVP?...............................................................................................35 3.2.1 Zuständigkeit....................................................................................................................36 3.3 Bedeutende Elemente eines UVP-Verfahrens..........................................................................37 3.4 Materiengesetze.......................................................................................................................40 3.5 Ladung der Parteien.................................................................................................................44 3.6 Öffentliche Auflage..................................................................................................................44 3.7 Umweltverträglichkeitsgutachten............................................................................................46
3.8 Mündliche Verhandlung...........................................................................................................46 3.8.1 Ladung der Parteien zur mündlichen Verhandlung..........................................................47 3.9 UVP-Entscheidung..................................................................................................................47 3.10 Änderung des UVP-Bescheides.............................................................................................48 3.10.1 Nachträgliche Änderungen.............................................................................................48 3.11 Rechte der Öffentlichkeit.......................................................................................................49 3.11.1 Rechte für jedermann (Öffentlichkeit)...........................................................................49 3.11.2 Rechte der Parteien.........................................................................................................49 3.11.3 NGOs und Bürgerinitiativen..........................................................................................50 3.11.4 Exkurs Bürgerinitiativen und NGOs..............................................................................51 3.11.5 Nachbarn........................................................................................................................52 3.12 Rechtsmittel...........................................................................................................................52 4 Umwelthaftung.............................................................................................................................53 4.1 Umwelthaftung im weiteren Sinn............................................................................................53 4.2 Bestimmungen des B-UHG.....................................................................................................56 4.2.1 Zuständigkeit....................................................................................................................61 4.2.2 Grenzüberschreitende Umweltschäden............................................................................61 4.2.3 Die Umweltbeschwerde...................................................................................................62 4.2.3.1 Inhalt der Umweltbeschwerde..................................................................................62 4.2.4 Parteistellung im Sanierungsverfahren............................................................................63 4.2.5 Rechtsschutz.....................................................................................................................64 4.3 Landes-Umwelthaftungsgesetze..............................................................................................64 4.3.1 Die Umweltbeschwerde im Landesrecht.........................................................................65 4.4 Umwelthaftung im engeren Sinne...........................................................................................66 4.4.1 Haftung nach WRG..........................................................................................................69 4.4.2 Nachbarrechtlicher Unterlassungsanspruch (Haftung für unzulässige Emissionen).......70
Abkürzungsverzeichnis ABGB Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch ABl Amtsblatt Abs Absatz AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union Art Artikel AtG Atomgesetz (Deutschland) AVG Allgemeines Verwaltungsverfahrensgesetz BBodSchG Bundes-Bodenschutzgesetz (Deutschland) Bd Band BGBl Bundesgesetzblatt BM Bundesminister BT-Drs Drucksachen des Deutschen Bundestages BVerWG Bundesverwaltungsgericht (Deutschland) bzw beziehungsweise ChemG Chemikaliengesetz EBRV Erläuternde Bemerkung zur Regierungsvorlage EFTA European Free Trade Association; Europäische Freihandelsassoziation EGV Vertrag über die Europäische Union EKHG Eisenbahn- und Kraftfahrzeughaftpflichtgesetz endg endgültig EUDUR Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht EuG Gericht der Europäischen Union EuGH Europäischer Gerichtshof EWR Europäischer Wirtschaftsraum ff fortfolgende GenTG Gentechnikgesetz (Deutschland) GewO Gewerbeordnung GVO gentechnisch veränderte(r) Organismen hL herrschende Lehre Hrsg Herausgeber idR in der Regel iVm in Verbindung mit Jud Judikatur KOM Kommissionsmitteilung L-UHG Landes-Umwelthaftungsgesetz(e) lit littera m Meter MinroG Mineralrohstoffgesetz mwN mit weiteren Nachweisen Nr Nummer NVwZ Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht QZV Chemie GW Qualitätszielverordnung Chemie Grundwasser RdU Recht der Umwelt REACH Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals RFG Recht & Finanzierungspraxis der Gemeinden RL Richtlinie Rn Randnummer Rs Rechtssache Rsp Rechtsprechung S Satz Slg Sammlung der Rsp des Gerichtshofes und des Gerichts Erster Instanz sog sogenannte Spstr Spiegelstrich stRsp ständige Rechtsprechung SUP Strategische Umweltprüfung TE Teilerkenntnis u.a. und andere UAbs Unterabsatz UH-RL Umwelthaftungsrichtlinie UmwGB Umweltgesetzbuch (Schweden) UVE Umweltverträglichkeitserklärung UVG Umweltverträglichkeitsgutachten UVP Umweltverträglichkeitsprüfung VbVG Verbandsverantwortlichkeitsgesetz verb verbunden(e) VerwArch Das Verwaltungsarchiv (juristische Fachzeitschrift in Deutschland) vgl vergleiche VO Verordnung VwGH Verwaltungsgerichtshof WK Wiener Kommentar WRG Wasserrechtsgesetz Z Ziffer zB zum Beispiel ZustellG Zustellgesetz
1 Vorwort In den Jahren 2013 und 2014 beschäftigte sich eine große Tageszeitung in meiner Heimat Vorarlberg mit dem Thema „Fracking am See“. Es ging die Angst um, dass im und am Bodensee bald Bohrtürme zur Förderung von Schiefergas mittels Fracking errichtet werden und dadurch unsere Natur einer Gefahr ausgesetzt ist. Diese Kampagne brachte dem Medium viele Unterschriften gegen solche Vorhaben und mich zu Überlegungen für die vorliegende Diplomarbeit. Risikovorsorge und Umwelthaftung stellen dabei einen Betrachtungsbogen über die Querschnittsmaterie Umwelt dar, wobei das Fracking den Bezugspunkt zu den einzelnen Gebieten bildet. Die Abhandlung ist keine Beschreibung des technischen Verfahrens der Schiefergasgewinnung, und sie beschreibt auch nicht, wem das unkonventionell geförderte Gas gehört oder wer Lizenzen zur Förderung hat oder vergeben darf. Es geht vielmehr darum, was vor solchen Projekten im rechtlichen Bereich möglich ist und nach deren Umsetzung zur Absicherung der Umwelt(schäden) machbar bleibt. Die Politik und damit auch die Gesetzgebung haben in der Zwischenzeit Werkzeuge zur Hand, um nicht Getriebene oder gar Opfer einer notwendigen Anlassgesetzgebung zu werden. Die Arbeit beginnt mit dem Vorsorgeprinzip in der Europäischen Union. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Entstehung und die Funktionen auf europäischer Ebene gelegt. Im nächsten Kapitel geht es um die Umweltverträglichkeitsprüfung. Sie ist die primäre Möglichkeit, das Vorsorgeprinzip auf nationaler Ebene umzusetzen. Der letzte Teil beschäftigt sich mit der Umwelthaftung, sowohl im öffentlich-rechtlichen als auch im zivilrechtlichen Bereich. Die Überlegungen sind dabei theoretischer Natur, da in Österreich im Jahre 2015 keinerlei Bohrtürme zu Fracking-Vorhaben aufgestellt sind. 6
2 Das Vorsorgeprinzip Das Vorsorgeprinzip ist Ergebnis einer langen Entwicklung. Je nach Definition und Anwendungsbereich hat die Menschheit schon seit langer Zeit vorsichtig und nachhaltig gegenüber der Ressource Umwelt gehandelt, ohne dabei konkret die Idee der Vorsorge zu verfolgen. Erst durch die aufkommenden Umweltprobleme Mitte des letzten Jahrhunderts veränderte sich der Fokus hin zum komplexeren Nachdenken im Zusammenhang mit der Umweltpolitik. Zu Beginn der 1970er Jahre wurden dazu auch erste umweltpolitische Grundsätze formuliert, welche sich bis heute zu einem rechtlichen Grundsatz in Form des Vorsorgegedankens ausgewachsen haben. Das Prinzip ist rechtlich nicht genau definiert, darf aber als allgemeingültiger Grundsatz im Bereich Umwelt und Gesundheit gesehen werden, wobei die Grenzen der Anwendung hauptsächlich über die Rsp gesetzt werden. Ins Primärrecht wurde der Vorsorgegedanke mit dem Maastrichter Vertrag in Form einer recht allgemeinen Formulierung aufgenommen („Die Umweltpolitik der Union… beruht auf den Grundsätzen der Vorsorge...“)1, welche die Weiterverwendung in den einzelnen Rechtskulturen in unterschiedlichem Ausmaß und unterschiedlicher Intensität ermöglicht. Folglich geht es im nächsten Kapitel darum, Fragen zum Vorsorgeprinzip auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts zu klären. Dazu gibt es Details zum Vorsorgeprinzip im EU-Recht, Grundbegriffe betreffend der Vorsorgeidee, Informationen über den Anwendungsbereich und die Funktionen. Danach geht es weiter mit der Risikoanalyse bzw dem Risikomanagement, folgend von der Beweislast und dem temporären Charakter der Maßnahmen. 2.1 Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht 2.1.1 Entwicklung in der Umweltpolitik Nach der ersten Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Stockholm im Juni 1972 ermöglichten der Rat und die EU-Kommission durch das erste Umweltaktionsprogramm2 einen Start in eine eigenständige europäische Umweltpolitik. Die zuständigen Umweltminister der Mitgliedsstaaten erarbeiteten auf der Bonner Konferenz am 31.10.1972 eine Schlusserklärung, welche in Gestalt einfacher umweltpolitischer Grundsätze in das erste Umweltaktionsprogramm aufgenommen wurden. Inhaltlich sind dabei vor allem der Schutz einzelner Umweltmedien wie Wasser, Luft und Boden zu finden, nicht jedoch das Vorsorgeprinzip. Das für die damalige Zeit modern wirkende Werk beinhaltet zwar Begriffe wie Biosphäre oder Qualitätsziele und stellt auch auf Termini wie wissenschaftliche Kenntnisse ab, nur den Bogen zur wissenschaftlichen Unsicherheit schafft es 1 Art 191 AEUV Abs 2 UAbs 1 S 2 AEUV. 2 ABl EG 1973 C112. 7
noch nicht.3 Diese Unsicherheit wird im Mainstream des Forschungsjahrzehnts lediglich als temporärer Wissensmangel gesehen. Ähnliches gilt für das zweite Umweltaktionsprogramm (1977– 1981)4, welches eigentlich eine Verlängerung durch Wiederholung in vielen Punkten des Vorgängerprogramms darstellt. Das dritte Umweltaktionsprogramm (1982 – 1986)5 ist zum einen neuerlich eine Fortschreibung der alten Programme – um offene Punkte abzuschließen – und zum anderen eine Erweiterung zur schonenden Nutzung natürlicher Ressourcen der Umwelt.6 Es ist zudem aber auch im Angesicht der Krise ein klarer Ausdruck der Prioritäten pro Wirtschaft und pro Binnenmarkt. Generell verfestigt sich der Eindruck, dass die frühen Umweltaktionsprogramme eher von der Politik getrieben und anlassbezogen sind, als dass sie eine dynamische Umweltidee verfolgen. Die erstmalige Verwendung von Begriffen wie Vorsorgepolitik und Vorsorgeprinzip7 im Programm ist dabei nicht mit dem heutigen Verständnis gleichzusetzen und beinhaltet auch keinesfalls die Thematik der wissenschaftlichen Unsicherheit. Das vierte Umweltaktionsprogramm (1987 – 1992)8 ist in seiner Gesamtheit betrachtet nicht bloß eine nächste Fortschreibung bekannter Punkte. Durch komplexere Ansätze wird Umweltpolitik zunehmend als eigenständiger Teil des sich entwickelnden Binnenmarktes gesehen. Ein solcher Ansatz etwa ist dabei im Bereich der Biotechnologie zu finden. Hier werden Ideen des Vorsorgeprinzips dem Wesen nach in das Programm integriert.9 Mit dem fünften Umweltaktionsprogramm (1993 – 2000)10 erfolgt im Zusammenspiel des Vorsorgeprinzips ein wichtiger Schritt. Erstmals werden Wörter wie Vorsorge bzw Vorbeugung (precaution, prevention) im Dokument dem Sinn entsprechend verwendet, ohne aber deren genaueren Bedeutungsgehalt zu erklären.11 Ungeachtet dessen erscheinen die zwei Begriffe aber weiterhin oft als Paar, etwa im sechsten Umweltaktionsprogramm (2002 – 2012)12 und im siebten Umweltaktionsprogramm (2014 – 2020).13 Der Höhepunkt der Entwicklung liegt aber eindeutig im fünften Programm mit der tatsächlichen Aufnahme in den Text. Seither wirkt der Grundsatz in der Umweltpolitik bzw in den Umweltaktionsprogrammen auch vermehrt als angekommen und angenommen. Größere politische Aufmerksamkeit bekam das Vorsorgeprinzip jedenfalls genau zu der Zeit, als die BSE-Krise ihren Lauf nahm. Mit ihrer Aufarbeitung wurde der Kommission vorgeworfen, dass der Vorsorgeansatz eben gerade nicht richtig angewendet wurde. 3 ABl EG 1973 C 112 4 ABl EG 1977 C 139/1. 5 ABl EG 1983 C 46/1. 6 ABl EG 1983 C 46/2. 7 ABl EG 1983 C 46/5. 8 ABl EG 1987 C 328/1. 9 Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, S 75f; ABl EG 1987 C 328/26, 27. 10 ABl EG 1993 C 138/1. 11 Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, S 77. 12 Beschluss Nr. 1600/2002/EG, 22.07.2002. 13 Beschluss Nr. 1386/2013/EG, 20.11.2013. 8
Die Gemeinschaftsorgane haben ihre Handlungen damals mit dem Fehlen von stichhaltigen Beweisen dafür, dass die Tierseuche vom Tier auf den Mensch überspringen kann, begründet.14 Obwohl der Ansatz im Umweltaktionsprogramm enthalten war, gelang die praktische Umsetzung im notwendigen Ausmaß nicht wirklich. Im Nachhinein darf das Handeln wohl als Lernphase bezeichnet werden.15 Ein Handbuch für den Inhalt und die Anwendung des Vorsorgeprinzips gab es erstmals im „Grünbuch der Kommission über die allgemeinen Grundsätze der Lebensmittelsicherheit“16 und in ihrer Publikation „Gesundheit der Verbraucher und Lebensmittelsicherheit“17 vom 30.04.1997.18 Diese Bereiche sind zwar nicht unmittelbar dem Umweltrecht zuzuordnen, dennoch sind sie für die Entstehung und das Anwendungsfeld des Vorsorgeprinzips von großer Bedeutung. Denn auch hier werden Handlungsstrategien unter Unsicherheitsbedingungen zum Schutz von Rechtsgütern benötigt, wobei die Themenverwandtschaft der Gebiete die Entwicklung des Vorsorgegedankens erleichtert hat.19 Ein umfassenderes Handbuch gab es im Jahr 2000 mit der Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips.20 Es beinhaltet vor allem gemeinsame Leitlinien – ausgedrückt über fünf allgemeine und drei spezifische Grundsätze. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der Grundsatz der Abwägung des Tätigwerdens, der Grundsatz der zeitlichen Überprüfung der Maßnahmen, das Diskriminierungsverbot und das Kohärenzgebot fallen dabei unter die allgemeinen Vorgaben.21 Die möglichst umfassende wissenschaftliche Bewertung, die Risikobewertung und die Einbeziehung aller Betroffenen in die Untersuchung bei Vorsorgemaßnahmen fallen unter die spezifischen Grundsätze. Die Grundsätze dienen dabei als allgemeiner Orientierungsrahmen. Ziel der Mitteilung ist die Information darüber, in welcher Weise das Vorsorgeprinzip in Situationen zur Risikobegrenzung anzuwenden ist und auch unter welchen Umständen.22 2.1.2 Entwicklung im Umweltrecht Das Abbild einer Gesellschaft findet man unter anderem in der Politik und ein Abbild der Politik ist 14 Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, S 77f. 15 Ergebnis des temporären Untersuchungsausschusses, ABl EG 1996 C 239/1; vgl auch Arndt, Das Vorsrogeprinzip im EU-Recht, S 78 f. 16 KOM (97) 176 endg. 17 KOM (97) 183 endg. 18 Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, S 79. 19 KOM (97) 176 endg, KOM (97) 183 endg. 20 KOM (2000) 1 endg. 21 KOM (2000) 1 endg, S 21. 22 KOM (2000) 1 endg, S 9f. 9
das sich ständig verändernde Recht. Sobald sich also die (Umwelt)Politik zu neuen Grundsätzen hin bewegt, bewegt sich auch das (Umwelt)Recht. Folglich ist neben dem Blick auf die Umweltpolitik auch ein Blick auf die Entwicklung im Umweltrecht wichtig. Vom Primärrecht in der Europäischen Union ausgehend wurde der Vorsorgegrundsatz erstmals in den Maastrichter Vertrag aufgenommen. Mangels Veröffentlichung der Materialien kann aber über das Warum nur gerätselt werden. Gerüchte besagen, dass die Einführung von einzelnen Ländern wie Belgien gefordert wurde oder auch dass der von den Niederlanden übermittelte Vertragsentwurf bereits den Grundsatz enthielt. Plausibel kann auch sein, dass die um diesen Zeitpunkt abgehaltenen Umweltkonferenzen einen Teil dazu beigetragen haben, denn Anfang der 1990er Jahre war das Vorsorgeprinzip ein ernsthaftes Thema. Ebenso könnten die weit fortgeschrittenen Vorbereitungen zur Rio-Deklaration die Aufnahme des Grundsatzes begünstigt haben. Im Ergebnis bleibt es aber eben nur Spekulation.23 Die Vorsorgeidee selbst ist nicht erst mit der Aufnahme ins Primärrecht oder der Umsetzung ins Sekundärrecht entstanden, sie wurde schon früher der Charakteristik nach umgesetzt, ohne aber namentlich genannt zu werden. Einzige ausdrückliche Erwähnung der Vorsorge im Primärrecht bleibt aber Art 191 AEUV. Aus dieser Basis heraus werden dann zahlreiche Rechtsvorschriften über alle (auch nationalen) Ebenen hinweg erlassen. 2.1.3 Rechtsprechung und Vorsorge Die Umweltpolitik und das Umweltrecht werden durch die Rechtsprechung komplettiert. Durch die Vielzahl an Urteilen lässt sich die Entwicklung der Vorsorgeidee gut darstellen. In nur wenigen Jahrzehnten wurde dabei aus Lösungsansätzen ein komplexes Rechtsprinzip. Der Plan der Vorsorge ist rasch und umfassend in viele Bereiche hineingewachsen und wird fortlaufend auf europäischer Ebene, auch von der Rechtsprechung, schärfer definiert und neu angepasst. Inzwischen ist gut erkennbar, dass das Vorsorgeprinzip über den Bereich der Umwelt hinaus gilt und daher sind diejenigen Urteile interessant, welche das Wesen des Prinzips darstellen. Um etwas Ordnung in die einzelnen Urteile zu bringen, eignet sich eine Zweiteilung. Und zwar in Urteile vor und nach den BSE-Fällen. Aus Platzgründen werden hier aber nur die wichtigsten Urteile wiedergegeben. Rein numerisch gesehen stößt man bei der Suche nach Urteilen mit Bezug auf das Vorsorgeprinzip und dessen direkte Nennung auf 50 Dokumente, bei der Suche nach 23 Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, S 84 f. 10
Rechtssachen inklusive der Urteile auf 161 Nennungen.24 Auf Gemeinschaftsebene wird das Urteil Kommission/Deutschland25, welches auch unter dem Namen „Urteil über das deutsche Reinheitsgebot für Bier“ bekannt ist, als Start angesehen. Damals ging es um ein in Deutschland herrschendes Einfuhrverbot von mit bestimmten Zusatzstoffen versehenem Bier. Die Kommission beschäftigte den EuGH in einem Vertragsverletzungsverfahren damit, ob ein in einem anderen Mitgliedsstaat rechtmäßig hergestelltes und in den Verkehr gebrachtes Produkt, bei der Einfuhr in ein anderes Mitgliedsland Beschränkungen unterworfen werden darf. Der EuGH argumentierte im Urteil dann damit, dass Unsicherheit in Bezug auf den jeweiligen Stand der Forschung in Kombination mit mangelnder Harmonisierung des freien Warenverkehrs, den Mitgliedsstaat dazu berechtigt, den Umfang des Schutzes der Gesundheit und des menschlichen Lebens selbst zu bestimmten.26 Bei diesem Argument bezieht sich der EuGH auf die stRsp und nennt das Sandoz-Urteil27 als Beispiel.28 Weiters statuiert der Gerichtshof, dass im konkreten Fall die meisten Zusatzstoffe bereits zugelassen sind und ein nur allgemeiner Hinweis auf potentielle Gefahren bei der Aufnahme von Zusatzstoffen nicht ausreichend ist.29 Vorsorgemaßnahmen sind gem EuGH dann zulässig, wenn sie die Regeln des freien Warenverkehrs berücksichtigen und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen. Abermals wird mit dem Urteil „Sandoz“ begründet, dass Verkehrsverbote mit Erzeugnissen, die im Einfuhrmitgliedsland verbotene Stoffe enthalten, auf das Maß dessen zu beschränken sind, was für den Gesundheitsschutz tatsächlich notwendig ist.30 Das Urteil Kommission/Deutschland ist deswegen der Start, weil hier schon 1987 strukturell so argumentiert wurde, wie es später auch in der Kommissionsmitteilung über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips31 enthalten ist. Es braucht dazu die wissenschaftliche Unsicherheit über die Folgen bzw Gefahren, es ist eine Analyse der Risikosituation notwendig und es bedarf einer Überprüfung der anzuwendenden Maßnahmen in Bezug auf die Verhältnismäßigkeit. Nicht notwendig ist dabei die direkte Erwähnung des Vorsorgeprinzips.32 Das Sandoz-Urteil ist zwar in verschiedenen Bereichen als richtiger Ansatz zu sehen, nur erfüllt es eben nicht die komplette formale Struktur, 24 Stand von Ende Oktober 2015 25 EuGH, Rs 123.1987. Rs 178/84, Slg 1987, I-1227 – Kommission/Deutschland. 26 EuGH, Rs 123.1987. Rs 178/84, Slg 1987, I-1227 – Kommission/Deutschland. 27 EuGH, Rs 174/82, Slg 1983, 2245 – Sandoz. 28 EuGH, Rs 123.1987. Rs 178/84, Slg 1987, I-1227, RN 41 – Kommission/Deutschland. 29 Ebenda, RN 49. 30 Ebenda, RN 41f. 31 KOM (2000) 1 endg. 32 KOM (2000) 1 endg. 11
wie sie aus der Mitteilung der Kommission bekannt ist. Eine weitere wichtige Entscheidung ist der Mondiet-Fall33. Hier geht es um eine Vorabentscheidung im Zuge des Kaufs von Treibnetzen. Mit der VO über technische Maßnahmen zur Erhaltung von Fischbeständen34 wurde die Länge von Treibnetzen zu Fischzwecken oder auch nur deren Lagerung in den Fischereibooten über einer Netzlänge von 2,5 km untersagt. Bei der Rechtssache wurde der EuGH mit der Frage nach der Gültigkeit der betreffenden Rechtsvorschrift konfrontiert. Neben der Frage nach der Zuständigkeit bezüglich der Regelung wurde auch über das Ausmaß der Vorschrift diskutiert. Bezeichnend ist hier sicherlich, dass der Kläger die Gültigkeit angezweifelt hat, weil Ausnahmen nur „aufgrund wissenschaftlicher Nachweise, dass hiermit kein Umweltrisiko verbunden ist“35, gültig wären. Der EuGH löst diese strenge Haltung damit, dass er dem Gesetzgeber die jederzeitige Änderung der Rechtsvorschriften zugesteht und folglich Maßnahmen, die nicht auf absolut sicherer wissenschaftlicher Basis (wissenschaftlichen Gutachten) beruhen, dennoch gültig sein können.36 Er gestand in diesem Urteil dem Gesetzgeber zudem einen weiten Ermessensspielraum zu. Diese Differenzierung von wissenschaftlichen Gutachten und insbesondere der Ermessensfreiheit aus dem Mondiet-Urteil wird auch später zum Urteil Artegodan beim Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften verwendet.37 Hier wird, wie dann auch im Rechtsmittelverfahren, der Vorsorgegrundsatz am Beispiel des Widerrufs von bestimmten zugelassenen Arzneimitteln in seinen Grenzen beleuchtet.38 Im Ergebnis ist eine Schärfung des Anwendungsprofils beim Vorsorgeprinzip zu erkennen, wobei zwei Aussagen für die beteiligten Parteien (Artegodan u.a. und Kommission) zu erkennen sind. Zum einen, dass das Vorsorgeprinzip als Rechtsinstrument angekommen ist und zum anderen, dass es nicht wie eine schlechte Pauschalausrede missbräuchlich verwendet werden darf. Das Resultat im Jahre 2003 ist nicht ein Urteil gegen den Vorsorgegedanken, sondern ein Hinweis zur richtigen Verwendung dieser Idee. Wie bereits weiter oben erwähnt, zählen die BSE-Urteile39 zu den bedeutenden Entwicklungen in der Rsp der europäischen Gerichte bezüglich der Vorsorgeidee. Beim Streit um das Exportverbot von Rindern und Rindfleisch bzw dessen Erzeugnisse hat der EuGH die Entscheidung der 33 EuGH, Rs C-405/92, Slg 1993, I-6133 – Mondiet. 34 VO (EG) 3094/86, nun ersetzt durch VO (EG) 894/97. 35 EuGH, Rs C-405/92, Slg 1993, I-6133, RN 52 – Mondiet. 36 ebenda, RN 53 und RN 31 in Bezug auf wissenschaftliche Gutachten und die Exaktheit bei Umsetzungen. 37 EuG, verb Rs Rs T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 und T-141/00, Slg 2002, II-4945, RN 186, 201 – Artegodan u.a. - Kommission. 38 EuG, verb Rs Rs T-74/00, T-76/00, T-83/00 bis T-85/00, T-132/00, T-137/00 und T-141/00, Slg 2002, II-4945, RN 186, 201 – Artegodan u.a. - Kommission. 39 EuGH, Rs C-157/96, Slg 1998, I-2236 – National Farmers Union (BSE I); EuGH, Rs C-180/96, Slg 1998, I-2269 Vereinigtes Königreich (BSE II). 12
Kommission für gut geheißen.40 Mit den Erkenntnissen des BSE I und BSE II Urteils stellt der EuGH grundsätzlich klar, dass das Vorsorgeprinzip nicht nur exklusiv der Umweltkompetenz zuzurechnen ist, sondern dass Maßnahmen, die dem Umweltschutz oder auch dem Gesundheitsschutz dienen, andere Kompetenztitel, insbesondere auch aus der Agrarpolitik, als Basis haben können. Im Detail werden die Rügen um Befugnisüberschreitung der Kommission, Verstoß gegen den Grundsatz des freien Warenverkehrs, Ermessensmissbrauch, Begründungsmängel und Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit abgehandelt. Die BSE-Urteile aus 1998 ermöglichen als Einzelbaustein die Verbreiterung der Anwendungsbasis und damit eine Stärkung der Vorsorgepolitik.41 Später werden die BSE-Urteile in der Rechtssache Pfizer42 in der Art zitiert, dass vorbeugende Maßnahmen getroffen werden können, ohne dass zugewartet werden muss, bis das tatsächliche Vorliegen oder die Schwere in vollem Umfang nachgewiesen wird.43 Inhaltlich beschäftigt sich das Gericht dabei mit der Entscheidung des Rates44, die Verwendung bestimmter Antibiotika als Zusatzstoffe zu verbieten. Dabei werden im umfangreichen Urteil vom 11.11.02 neuerlich die (technischen) Voraussetzungen zur Anwendung des Vorsorgeprinzips erörtert, speziell die Risikoanalyse. Die Formulierung in der Rechtssache Pfizer bezieht sich thematisch auf das Thema Gesundheit, stellt gleichzeitig aber auch wichtige Erkenntnisse für den Bereich Umwelt dar. Es darf für das Fracking in Erinnerung gerufen werden, dass eben Maßnahmen getroffen werden können, ohne dass zugewartet werden muss, bis die Schwere von Umweltauswirkungen exakt wissenschaftlich nachgewiesen werden kann. Diese noch theoretische Bewertung könnte fragwürdigen bzw gefährlichen und trotzdem bereits genehmigten Projekten bei neuerlichen Umweltbedenken entgegenstehen. Das kurz zuvor erwähnte BSE I-Urteil (National Farmers) ist in einem weiteren Aspekt interessant. Es wird häufig zitiert. Bei der Recherche im Herbst 2015 fanden sich über 100 Zitationen auf europäischer Ebene, viele davon mit Bezug auf RN 64. Diese Stelle sagt aus, dass „die Umweltpolitik der Gemeinschaft auf ein hohes Schutzniveau abzielt; sie beruht auf den Grundsätzen der Vorsorge und Vorbeugung; die Erfordernisse des Umweltschutzes müssen bei der Festlegung und Durchführung anderer Gemeinschaftspolitiken einbezogen werden“45. Mit dieser 40 EuGH, Rs C-157/96, BSE I, RN 24. 41 EuGH, Rs C-157/96, Slg 1998, I-2236 – National Farmers Union (BSE I); EuGH, Rs C-180/96, Slg 1998, I-2269 Vereinigtes Königreich (BSE II). 42 EuG, Rs T-13/99, Slg 2002, II-3305, Pfizer Animal Health / Rat. 43 ebenda, RN 139. 44 RL 70/524/EWG – VO über den Widerruf der Zulassung eines Zusatzstoffes in der Tierernährung. 45 EuGH, Rs C-157/96, BSE I, RN 64. 13
Feststellung und der häufigen Berufung darauf zementiert die Rsp das Vorsorgeprinzip als allgemeines Rechtsprinzip.46 Allgemein betrachtet ist die Rsp im Zusammenhang mit dem Vorsorgegedanken immer noch in der Entwicklung. Es gibt einige wenige Urteile, die, wie oben dargestellt, häufig zitiert werden, und zwar zum einen, um die Existenz des Prinzips festzuhalten und zum anderen, um die Anwendung in ihren verschiedensten Aspekten zu argumentieren, wobei Letzteres offensichtlich immer noch Schwierigkeiten macht. Die Berufung auf das Vorsorgeprinzip reicht auch heute beim Umweltschutz nicht grundsätzlich zum Prozessgewinn,47 dennoch ist das Potential mit dem Bezug auf das Fracking erkennbar. 2.2 Grundbegriffe Das Vorsorgeprinzip gilt nach wie vor als undefiniertes Rechtsprinzip. Es gibt keine Legaldefinition davon, was unter dem Begriff zu verstehen ist.48 In solchen Fällen hängt das Verständnis von den politischen Entscheidungsträgern und auch von der Rsp ab, die diesen Grundsatz über die letzten Jahrzehnte vorwärts entwickelt haben. Gemäß der Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips ist ein Rückgriff auf das Konzept dann möglich, wenn bei Produkten, Verfahren oder Phänomenen mit dem Eintritt gefährlicher Folgen gerechnet werden muss und das entsprechende Risiko durch eine wissenschaftliche Bewertung nicht genau zu bestimmen ist.49 Folglich muss der Begriff Vorsorgeprinzip in die Bereiche Risiko bzw Gefahr (gefährliche Folgen) und wissenschaftliche Unsicherheit (keine genaue wissenschaftliche Bewertung) unterteilt werden, um hier zumindest aus der Perspektive der Politik und der Rsp Klarheit zu gewinnen. Die Politik drückt sich mit Hilfe des Gesetzgebers über einzelne Rechtsvorschriften aus, die Rsp über Urteile. Auf der Suche nach einer Definition für Risiko bzw Gefahr im Zusammenhang mit dem Vorsorgeprinzip wird man dabei in den vorliegenden Urteilen nicht sehr erfolgreich sein. Eine Suche ergibt lediglich die häufige und differenzierte Verwendung des Begriffes und bestenfalls eine Bezeichnung eines Sachverhaltes als Risiko bzw Gefahr50, aber keine brauchbare Erklärung. In 46 Vgl dazu EuGH, Rs C-127/07 – Arcelor Atlantique u.a. / Frankreich; EuGH, Rs C-77/09 – Gowan / Ministero della Salute. 47 Vgl dazu EuGH, Rs C-360/14 P – Deutschland / Kommission. 48 Vgl dazu OSPAR – Das Oslo-Paris-Übereinkommen zum Schutz der Meeresumwelt des Nordostatlantik, 22.09.`92. Im Übereinkommen wird das Vorsorgeprinzip kurz umschrieben. Vergleichbare Ausführungen sind in aktuellen nationalen und europäischen Rechtstexten nicht zu finden. 49 KOM (2000) 1 endg, S 4. 50 Vgl zuletzt C-446/08, Rz 3 – Solgar Vitamin`s France u.a. 14
seltenen Fällen nimmt sich die Jud heraus, das Risiko als Statut einer unbestimmten Wahrscheinlichkeit anzugeben.51 Das ungenaue Verwenden der Begriffe ist zudem generell als sprachliches Problem zu betrachten und macht eine klare Zuordnung nicht einfacher. In den englischsprachigen Fassungen einzelner Urteile oder Rechtsvorschriften werden häufig „danger“ oder „risk“ synonym verwendet und die Bedeutung in der deutschen Sprache fälschlicherweise, mitunter auch absichtlich, für einen größeren Handlungsspielraum als gleichwertig angenommen.52 Eine der wenigen vorhandenen Definitionen des Begriffes Risiko im Zusammenhang mit dem Vorsorgeprinzip ergibt sich indirekt über das Umweltaktionsprogramm. Indirekt deswegen, weil das Vorsorgeprinzip erstmals im dritten Umweltaktionsprogramm53 erwähnt wurde und eine Definition des Wortes Risiko (engl. Fassung „risk“) nur im ersten Umweltaktionsprogramm54- also bereits vorher, vorhanden ist. Wortwörtlich heißt es im Dokument in der Anlage 1, Punkt 1.4: „Das Risiko ist die Wahrscheinlichkeit des Auftretens nachteiliger oder unerwünschter Wirkungen, die aus einer gegebenen Exposition gegenüber einer oder mehreren Verunreinigungen oder Belästigungen resultieren, und zwar unabhängig davon, ob sie allein oder in Kombination mit anderen betrachtet werden.“ Durch diese umfangreiche Definition teilt sich der Erklärungshorizont dann erneut und es werden weitere Details benötigt. Die in der Angabe erwähnten nachteiligen oder unerwünschten Wirkungen werden mit unmittelbaren, mittelbaren, sofortigen, verzögerten, einfachen oder auch kombinierten Auswirkungen auf das Objekt erklärt.55 Das Objekt wiederum wird als das der Verunreinigung oder der Belästigung tatsächlich oder auch nur scheinbar exponierte menschliche Wesen oder Umweltmedium gesehen.56 Kurz gesagt, dürfte man Risiko daher, wie oben mit den zwei Judikaten dargestellt, mit einer „unspezifischen Wahrscheinlichkeit solcher Expositionen an genannten Objekten“ umschreiben,57 aber noch ohne dass eine Bewertung der Wahrscheinlichkeit miteinbezogen wird. Eine solche Bewertung einer Wahrscheinlichkeit stellt in der Definition des Begriffes Risiko die materielle Komponente dar. Durch die schwammige formale Auslegung von Risiko bzw Gefahr haben Gesetzgeber und Gerichtshöfe die Möglichkeit, zulässige Bewertungen der Wahrscheinlichkeit in Form von (variablen) Risikoschwellen zu nennen und die Begriffe damit von der materiellen Seite 51 T-13 / 99 – Pfizer; T- 70 / 99 – Alpharma. 52 EuG, Rs C-106/14 – FCD u.a. / Umweltministerium (FR); EuG, Rs C-15/10 – Etimine / Secretary of State. 53 C-46 / 87 (3. UAP). 54 C-112 / 73 (1. UAP), S 49. 55 C-112 / 73, S 49, Punkt 1.5. 56 C-112 / 73, S 49, Punkt 1.2. 57 T-13 / 99 – Pfizer; T- 70 / 99 – Alpharma. 15
her zu festigen. Die Definition im ersten Umweltaktionsprogramm zu Risiko und damit auch zur Gefahr gab es im Jahre 1973 und sie wurde seither nicht abgeändert. In keinem der Folgeprogramme gab es für die damals ausgebreiteten Begriffe einen Anlass zur Neudefinition. Bemerkenswert ist dabei, dass sinngemäß ein Geltungsbereich über die Umwelt hinaus offen gelassen wurde, insbesondere Auswirkungen auf menschliche Wesen. Mit der andauernden Fortentwicklung des Vorsorgeprinzips öffnete sich der Anwendungsbereich dann auch genau in diese Richtung (Umwelt plus menschliche Gesundheit im weiteren Sinne).58 Bei der wissenschaftlichen Unsicherheit als zweitem Hauptelement gestaltet sich die Suche nach einer Definition ähnlich schwierig. Bei den Urteilen um das Vorsorgeprinzip gibt es weniger als zehn Erkenntnisse, welche inhaltlich mit dem Terminus auskommen. Bei diesen Dokumenten wiederum geht es in keinem der Fälle um eine Beschreibung, sondern immer nur um das Vorhandensein des Merkmals als zwingendes Erfordernis. Ebenso wenig erfolgreich auf der Suche nach einer Definition ist man bei den einzelnen UAP. Einzig im ersten Programm gibt es im Anhang (Anlage 1) Begriffsbestimmungen auf dem Gebiet der Umwelt, wobei die wissenschaftliche Unsicherheit schon wegen dem fehlenden Vorsorgeprinzip zu dieser Zeit kein Thema gewesen ist. Im dritten Umweltaktionsprogramm, mit der Erwähnung des Vorsorgeprinzips, findet in weiterer Folge aber ebenso keine Definition für die wissenschaftliche Unsicherheit statt. Einzige ausführliche Darstellung dieses Begriffes gibt es in der Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips. Dort heißt es, dass sie sich aus fünf Merkmalen zusammensetzt. Das sind dabei gewählte Variablen, vorgenommene Messungen, gezogene Stichproben, verwendete Modelle oder der zugrunde gelegte Kausalzusammenhang. Ebenso kann sich die Unsicherheit daraus ergeben, wie vorhandene Daten zu interpretieren sind oder wenn es fehlende Daten gibt, also sowohl aus qualitativer wie auch quantitativer Hinsicht.59 Ein weiterer Ansatz, der in der Mitteilung erwähnt wird ist, dass die wissenschaftliche Unsicherheit in Kategorien einzuteilen sein kann. Es sind entweder verzerrende systematische Fehler, Zufälligkeiten oder echte Variabilitäten, in welche Unsicherheiten zu differenzieren sind.60 In einem anderen Schriftsatz „Science and Precaution in the Management of Technological Risk“61 gibt es auch eine ausführlichere Abhandlung in Bezug auf die wissenschaftliche Unsicherheit. Dort wird dargestellt, dass sich die wissenschaftlichen Methoden grundsätzlich den vorhandenen 58 ABl EG 1973 C 112. 59 KOM (2000) 1, S 15. 60 Ebenda. 61 Stirling, On Science and Precaution in the Management of Technological Risk. 16
Problemstellungen, jeweils der Zeit entsprechend, angenähert haben. Dennoch wachsen die Probleme nach wie vor. Sie werden dabei diffuser und die Wissenschaft wird möglicherweise nicht für alle Schwierigkeiten eine passende Lösung haben bzw es gibt eventuell mehrere (unvollständige) Lösungen zu einer Sache, wobei ein Raum für wissenschaftliche Unsicherheit immer bestehen bleiben könnte. Neben diesen Ansätzen gibt es weitere Abhandlungen zum Thema wissenschaftliche Unsicherheit, jeweils mit und ohne Bezug zum Vorsorgeprinzip. Einige davon sind recht komplex aufgebaut und behandeln neben der Unvollständigkeit auch die Uneinigkeit, andere umschreiben das Thema recht vage. Allen gleich ist dabei, dass sie nie eine absolute wissenschaftliche Sicherheit annehmen, sondern vielmehr eine Situation sehen, die in ihrer vollständigen Dimension wissenschaftlich nicht geklärt ist. Liegt wissenschaftliche Klarheit über ein Risiko vor, so entfällt der Vorsorgeansatz so oder so.62 In der Einleitung des Kapitels wurde erwähnt, dass das Vorsorgeprinzip dann angewendet werden kann, wenn bei Produkten, Verfahren oder Phänomenen mit dem Eintritt gefährlicher Folgen gerechnet werden muss, und das Risiko in einer wissenschaftlichen Bewertung nicht genau zu bestimmen ist.63 Um das Vorsorgeprinzip besser zu verstehen, benötigt man daher die Klärung bzw das Verständnis für die Begriffe Risiko und wissenschaftliche Unsicherheit, wobei eine weite Definition zum Vorteil einer flexiblen Anwendung zu sehen ist. Materielle Grenzen als Gegenstück zur formellen Darstellung werden später durch die Gesetzgebung und Jud erzeugt. 2.3 Anwendungsbereich Artikel 191 AEUV erwähnt das Vorsorgeprinzip in Abs 2 ausdrücklich. Die Kommission hat dazu in ihrer Mitteilung vom 02.02.200064 die Anwendbarkeit genauer definiert. Dort wird betont, dass die Anwendbarkeit grundsätzlich nur dann gegeben ist, wenn ein potentielles Risiko im Sinne von nicht messbar oder auch wissenschaftlich nicht eindeutig belegbar vorhanden ist. Ein solcher Ansatz ist damit das Gegenteil des Nachsorgeprinzips und jedenfalls im Bereich des Risikomanagements auch als Lösungsweg anzusehen. Vor allem im US-Recht gilt primär die Idee, dass wenn Produkte in Verkehr gebracht werden bzw Stoffe oder Verfahren Anwendung finden, ein solches Unterfangen dann möglich ist, wenn es eine hinreichende Sicherheit gibt, dass kein Schaden zu erwarten ist. 62 Wiedemann, Vorsorgeprinzip und Risikoängste; Bundesamt für Gesundheit, Das Vorsorgeprinzip aus schweizerischer und internationaler Sicht; Büscher, Ökologische Aufklärung; Prügel, Das Vorsorgeprinzip im europäischen Umweltrecht; Fleury, Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht; Di Fabio, Voraussetzungen und Grenzen des umweltrechtlichen Vorsorgeprinzips. 63 KOM (2000) 1, S 3. 64 KOM (2000) 1. 17
Sollten dann immer noch Schäden auftreten, dann werden sie beseitigt. Ernst Ulrich von Weizsäcker65 steht letzterem Ansatz recht kritisch gegenüber. Er äußerte in einem Interview in der Kleinen Zeitung vom 06.01.2015 auch Bedenken, dass es durch das geplante Freihandelsabkommen TTIP66 in Wirklichkeit um den Ersatz des Vorsorgeprinzips durch das Nachsorgeprinzip geht. Die US-Amerikaner würden lieber erst Maßnahmen ergreifen, wenn wissenschaftlich handfeste Beweise („Sound Science“) vorliegen. Die Vorsorgeidee wird eher als zweitbeste Lösung betrachtet.67 Wenn nun ein solch potentielles Risiko im Sinne des Vorsorgeprinzips vorhanden ist, dann geht es darum, die möglichen negativen Folgen in Form einer wissenschaftlichen Untersuchung zu ermitteln – und zwar bevor auf das Vorsorgeprinzip zurückgegriffen wird. Die erhobenen Daten sind dann einer Risikobewertung in vier Schritten (Ermittlung und Beschreibung der Gefahren, Abschätzung und Darstellung des Risikos) zuzuführen, wobei die wissenschaftliche Unsicherheit alle Ergebnisse in Bezug auf Schutz- und Präventionsmaßnahmen verändern kann. Wenn das Ergebnis vorliegt, dann haben die Entscheider die Möglichkeit, auf Grund vorliegender Daten Maßnahmen zu ergreifen. Sollten wissenschaftliche Daten dennoch überwiegend unklare oder sogar Nullergebnisse liefern, so haben die (politischen) Entscheidungsträger grundsätzlich zu berücksichtigen, dass die negativen Folgen evaluiert wurden und „eine wissenschaftliche Risikobewertung wegen unzureichender, nicht eindeutiger oder ungenauer Daten, keine hinreichend genaue Bestimmung des betreffenden Risikos zulässt“68, und daher Aktionen gesetzt werden können. Ebenso ist aber zu beachten, dass es einem Missbrauch gleichkommt, wenn ein Nullrisiko anstelle eines hohen Schutzniveaus angestrebt wird.69 Die genannte Mitteilung der Kommission weist gleichsam auf den Ausschluss des Nullrisikos hin. Zudem wird dort auch statuiert, dass in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit sowie Umwelt- und Verbraucherschutz ein hohes Schutzniveau anzustreben ist,70 und damit ein allgemeingültiger Grundsatz vorliegt. In der Mitteilung wird zwar ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich quasi nur um ein paar Bemerkungen allgemeinen Charakters bezüglich der Anwendung des Vorsorgeprinzips handelt, dennoch wird sie von den Gerichtshöfen in ihren Entscheidungen gerne zitiert. Indirekt oft über die strukturelle Anwendung, direkt in den Rechtssachen Alpharma, Pfizer oder auch Gowan.71 65 Ernst Ulrich von Weizsäcker, Co-Präsident des Club of Rome. 66 Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft. 67 Adolf Winkler, Kleine Zeitung, Titel: „TTIP greift Europas Vorsorgeprinzip an“, 06.01.2015. 68 KOM (2000) 1, S 18. 69 Fleury, Das Vorsorgeprinzip im Umweltrecht, S 62 ff. 70 KOM (2000) 1, S 10. 71 EuG, Rs C-70/99 – Alpharma, Rs T-13/99 – Pfizer, Rs C-77/09 – Gowan. 18
Die einzelnen Urteile zeigen als Gruppe gesehen den wachsenden Anwendungsbereich und die nach wie vor vorhandene Anwendungsunsicherheit. Beispielhaft für eine solche Unsicherheit darf eine von vielen schriftlichen parlamentarischen Anfragen an die Kommission aus dem Jahre 2009 genannt werden. Dort fragt Abgeordnete Schaldemose nach dem Anwendungsbereich des Prinzips bei gefährlichen Chemikalien. Genauer gesagt, ob die Kommission in Bezug auf Azofarbstoffe, Biphenol A und Teflon entsprechend den eigenen Empfehlungen aus der Mitteilung handelt.72 Eine solche exemplarisch erwähnte Anfrage in Bezug auf eine Anwendungsunsicherheit darf aber nicht nur negativ gesehen werden. Sie zeigt neben der nach wie vor vorhandenen Unsicherheit über die Anwendungsbreite, der Politik auch parallel dazu eine Möglichkeit auf, den vorhandenen Lernprozess fortzusetzen und dem Vorsorgeprinzip den richtigen Spielraum, als zu präferierende Lösung im Bereich des Risikomanagements einzuräumen. 2.4 Funktionen des Vorsorgeprinzips Mit dem Aspekt, dass das Vorsorgeprinzip terminologisch nicht ausdrücklich als Ziel der Umweltpolitik in Art 191 AEUV erwähnt ist, sondern erst als Prinzip, auf dem unter anderem die Umweltpolitik zu beruhen hat, stellt sich die Frage, welche Funktion das Vorsorgeprinzip als primärrechtliches Umweltprinzip hat? Je nach zugewiesener Funktion ergibt sich eine Vielzahl von rechtlichen Auswirkungen, abhängig davon ob es als Leit- und Orientierungsprinzip für eine staatliche Umweltpolitik oder aber auch als Gestaltungselement einzelner Umweltmaßnahmen betrachtet wird. Für das bessere Verständnis ist es daher wichtig, einzelne Funktionen und deren Folgefunktionen zu kennen.73 2.4.1 Ermächtigungsfunktion Wenn nun ein Prinzip so vage im Primärrecht verankert ist, wie es die Vorsorge ist, so ergibt sich daraus fast zwingend eine Ermächtigungsfunktion. Der Begriff „fast“ ist dabei deshalb bedeutend, weil Umweltprinzipien ganz konkret als simpler Apell für eine zukünftige, umsichtige Politik betrachtet werden könnten und demzufolge Normen, im Sinne der Umweltpolitik auch ohne Rahmenkonzept im Sekundärrecht, punktuell erlassen werden könnten. Dies gilt aber nur solange, bis solchen Methoden Gesetzesvorbehalte oder der Bestimmtheitsgrundsatz entgegenstehen. Solche Umstände ergeben sich spätestens mit einem Eingriff in Grundrechte.74 Um das Vorsorgeprinzip deshalb richtig umzusetzen, darf es lediglich als Kompetenzgrundlage angesehen werden, welche 72 ABl C 189 vom 13.07.2010. 73 Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, S 153 ff. 74 EuGH, Rs C-157/96, Slg 1998, I-2211 und Rs C-180/96, Slg 1998, I-2265 – BSE Entscheidungen über Einfuhrbeschränkung. 19
durch Normen im Sekundärrecht präzisiert und damit anwendbar wird. 2.4.2 Legitimationsfunktion Aus der Ermächtigungsfunktion heraus ergibt sich weiters die Legitimationsfunktion.75 Durch die Positionierung im Primärrecht als Umweltprinzip zur Zielerreichung der europäischen Umweltpolitik sind die einzelnen Normen und die sich daraus ergebenden Einschränkungen für den Rechtsunterworfenen im Rahmen der Vorgaben gedeckt. Nationale Normen müssen sich in Folge dessen höherrangigen Normen des Gemeinschaftsrechts76 insoweit anpassen, als entsprechende Sachverhalte nicht dem Ermessen der einzelnen Mitgliedsstaaten unterliegen. Diese Funktion ermöglicht damit etwa neue Handlungsansätze, wie sie auch in der REACH-VO zu sehen sind.77 2.4.3 Verpflichtungsfunktion Als Gegenstück zur oben erwähnten Ermächtigungsfunktion sollte die Verpflichtungsfunktion gesehen werden. Undefinierte Umweltprinzipien können nicht nur zur erleichterten Umsetzung einer gemeinschaftlichen Umweltpolitik im Sekundärrecht realisiert werden, sie müssen es eigentlich, um hier den implizierten Handlungsauftrag78 auch zu erreichen. Im Einzelfall gibt es viele Möglichkeiten um einen solchen Auftrag zu erfüllen.79 Die Rsp kennt zwingende Erfordernisse des Umweltschutzes,80 bei denen Beschränkungen zu erlassen sind. Ebenso kennt sie aber termini wie „Ermessen“ oder „Wertungsspielraum“, die einer unmittelbaren Verpflichtung entgegenstehen. In diesem Sinne sind etwa die Entscheidungen Pfizer und Alpharma zu sehen, welche der Kommission einen sehr weiten Entscheidungshorizont einräumen.81 Faktisch auf null gekürzt wird das Ermessen dagegen im Fall um das Pflanzenschutzmittel Paraquat.82 Im gleichnamigen Urteil spricht das EuG bezüglich dem Erlassen von umweltpolitischen Maßnahmen von einem „Muss“ („grundsätzlich entgegensteht“), ohne ein Ermessen konkret zu berücksichtigen. In der Sache ist hier dem Gericht jedenfalls zuzustimmen, nur in der Art und Weise der Begründung nicht. Aufbauend auf der Argumentation will das Gericht den Beurteilungsmaßstab verändern und daher weit über seine Kontrollfunktion hinaus agieren. Der Ansatz zielt auf eine Handlungspflicht zu Ungunsten eines Ermessensspielraumes ab. Dabei können die einzelnen Mitgliedsstaaten so oder so jederzeit Maßnahmen gegen mögliche Risiken ergreifen, erst wenn dies nicht der Fall wäre, braucht es stärkere Methoden wie eben Pflichten statt Ermessen. Bei der Paraquat-Entscheidung lag aber die 75 Prügel, Das Vorsorgeprinzip im europäischen Umweltrecht, S 152 f. 76 Bsp RL 90/220/EWG, Art 4 (1) (2), vom 23.04.90; Erwähnung in Rs EuG C-552/07, Rn 6 – Sausheim / Azelvandre. 77 Einschränkungen über Zulassungsverfahren und Beweislastveränderungen in VO 1907/2006 – REACH. 78 Arg Art 191 (2) 2. Satz „...die Umweltpolitik beruht auf den Grundsätzen der Vorsorge,...“. 79 EuG, Rs C-219/07 – Dierenkwekers u.a. / Belgien; EuG, Rs T-229/04 – Schweden / Kommission. 80 EuG, Rs C-219/07 - Dierenkwekers u.a. / Belgien. 81 Arndt, Das Vorsorgeprinzip im EU-Recht, S 161. 82 EuG, Rs T-229/04 (Rn 161, 224) – Schweden / Kommission. 20
RL 91/41483 vor, welche von einem vernünftigen Ermessen und nicht von einer Verpflichtung spricht.84 Die Verpflichtungsfunktion selbst ist aber nicht nur im Rahmen einer möglichen gerichtlichen Nachkontrolle in Bezug auf Rechtswirkungen erfüllt. In der Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips wird ausdrücklich erwähnt, dass den politischen Entscheidungsträgern eine Vielzahl an Maßnahmen zur Umsetzung des Vorsorgeprinzips zur Verfügung stehen, welche nicht notwendig letztlich einer gerichtlichen Nachkontrolle unterliegen.85 Hierzu zählen Maßnahmen wie die Finanzierung von Forschungsprogrammen oder auch die Information der Öffentlichkeit über etwaige negative Folgen diverser Produkte oder Verfahren. Solche von den Organen erlassenen Maßnahmen werden von den Gerichten nur aus dem Gesichtspunkt des Ermessens beurteilt.86 2.4.4 Leitfunktion und Rechtfertigungsfunktion Eine weiterer Aspekt ist eine mögliche Leitfunktion. Allgemeine Rechtsgrundsätze haben Leitfunktionen, aber das Vorsorgeprinzip ist hier grundsätzlich nur als starkes Umweltprinzip mit wachsenden Anwendungsmöglichkeiten in rechtsverwandte Gebiete, insbesondere Gesundheit, anzusehen. Folglich ist der Vorsorgeidee keine allumfassende Leitfunktion zuzuschreiben.87 Als Folge dessen ist auch eine Rechtfertigungsfunktion eher fragwürdig. Wenn man der Vorsorge die Leitfunktion aberkennt und nur ein Umweltprinzip annimmt, dann ist jeder Hinweis der Jud auf die Vorsorgefunktion allein noch keine Rechtfertigung, wie es bei allgemeinen Rechtsgrundsätzen üblich ist. Erst die systematische Begründung einer Maßnahme und nicht das Prinzip rechtfertigt das Handeln. 2.4.5 Interpretationsfunktion Bei der Interpretationsfunktion geht es um die Aufgabe der Auslegung des Rechts. Das Vorsorgeprinzip in seiner Unbestimmtheit wird über die vorher genannten Funktionen im Sekundärrecht spezifiziert. Diese Spezifikationen bedürfen einer erneuten Interpretation inhaltlicher Art, wobei Aspekte wie die Freiraumtheorie, Eingriffsschwellen oder auch Beweislaständerungen in Frage kommen. 83 RL 91/414/EWG vom 15.07.1991 über das Inverkehrbringen von Pflanzenschutzmitteln. 84 EuG, Rs T-229/04 (Rn 161, 224) – Schweden / Kommission. 85 Rauchfuss, Im Zweifel für den Gesundheitsschutz, S 6. 86 KOM (2000) 1, S 18 f. 87 Prügel, Das Vorsorgeprinzip im europäischen Umweltrecht, S 215. 21
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