Juli 2020 - BRANDI Rechtsanwälte

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Liebe Leser*innen,

wir möchten Sie mit unseren Beiträgen auch in diesen schwie-          Was „ellenlange“ Etiketten an Jeans mit Kennzeichnungs- und
rigen Zeiten weiterhin über aktuelle Themen und Entwicklungen         Meldepflicht zu tun haben, welche Aspekte vor dem Hintergrund
informieren.                                                          der Corona-Pandemie von Start-Up Unternehmern und Geld-
                                                                      gebern zu beachten sind und vieles mehr hat die Kolleg*innen
Unsere Kompetenzgruppe „Arbeitsrecht“ berichtet z. B. darüber,        unserer M&A-Kompetenzgruppe beschäftigt.
warum ein einzelnes Wort schon ausreichen kann, um Ausschluss-
fristen unwirksam werden zu lassen. Neben weiteren interes-           Warum Vorsicht bei der Gestaltung von „Honorararztverträgen“
santen Themen erfahren Sie aus französischer Sicht, ob sich           geboten ist, erläutert der Bericht aus dem Kompetenzbereich
Arbeitgeber bei COVID19 auf höhere Gewalt berufen können.             Medizinrecht.

Über den Plan einer Kehrtwende der Verjährung bei Schein-             Außerdem freuen wir uns, Ihnen unsere neuen Kolleg*innen
selbstständigkeit, dem Rat zur Prüfung Ihrer Homepage auf             Frau Dr. Laura Schulte und Herrn Christian Rödding sowie unsere
den Einsatz von Cookies oder warum die Uhr zur Prüfung Ihres          Wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen Frau Christina Prowald und
Compliance-Managementsystems läuft, informiert Sie neben              Herrn Hendrik Verst vorstellen zu können. Wir wünschen Ihnen
vielen anderen Beiträgen unsere Compliance-Kompetenzgruppe.           eine erholsame Sommerzeit.

                                                                      Herzlichst
                                                                      Ihr BRANDI Team

Neues aus dem BRANDI Team

   Frau Dr. Laura Schulte unterstützt das BRANDI Team in Bielefeld seit April 2020 im Daten-
   schutz- und IT-Recht sowie dem Recht des Gewerblichen Rechtsschutzes als Rechtsan-
   wältin.

   Nach dem Studium an der Universität Bielefeld, Promotion an der Universität Bielefeld
   inklusive eines Forschungsaufenthalts an der Queen Mary School of Law (London), absol-
   vierte sie ihr Referendariat am Oberlandesgericht Hamm mit Stationen u. a. in Bonn bei
   dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik.

                                           Christian Rödding unterstützt seit März 2020 das BRANDI Team in den Bereichen Allge-
                                           meines Zivilrecht und Arbeitsrecht am Standort Detmold.

                                           Herr Rödding hat an der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg und der Comeni-
                                           us-Universität Bratislava studiert. Das Referendariat absolvierte er am Oberlandesgericht
                                           Hamm.

   Hendrik Verst verstärkt seit Dezember 2019 das BRANDI Team in Bielefeld als wissen-
   schaftlicher Mitarbeiter im Bereich Datenschutz und IT-Recht.

   Er studierte Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld und absolvierte 2019 sein Ers-
   tes Staatsexamen.

                                           Christina Prowald gehört seit Dezember 2019 als wissenschaftliche Mitarbeiterin zum
                                           BRANDI Team in Bielefeld im Bereich Datenschutz und IT-Recht.

                                           Sie studierte Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld, absolvierte 2019 ihr Erstes
                                           Staatsexamen und war als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und
                                           Römisches Recht bei Prof. Dr. Ingo Reichard tätig.

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Juli 2020                                                                                                    Seite 3

Inhalt                                                                                                         Seite

Arbeitsrecht                                                                                                      4
  Dr. Sören Kramer
  Rückzahlungspflicht von Scheinselbstständigen                                                                   4
  Dr. Andrea Pirscher
  Manchmal reicht schon ein falsches Wort – Neues vom BAG zu Ausschlussfristen                                    4
  Bernd Kaufhold
  Schmähkritik als Kündigungsgrund                                                                                5
  Denise Runge
  Verfall von Urlaubsansprüchen – keine Hinweisobliegenheiten bei Dauererkrankungen                               6
  Björn Mai
  Weiteres Update zum Vorbeschäftigungsverbot bei Befristungen                                                    7
  Dr. Tobias Schmitt
  Arbeitsunfähigkeit: keine Entgeltfortzahlung trotz Erstbescheinigung                                            9
  Dr. Sandra Vyas
  Zusätzliche Pflichten öffentlicher Arbeitgeber bei Bewerbungen schwerbehinderter Menschen                       9
  Uwe Augustin/Anne-Sophie Bonhomme
  COVID19: Kann sich der Arbeitgeber auf höhere Gewalt berufen?                                                  10

Compliance                                                                                                       12
  Dr. Mario Bergmann
  Scheinselbstständigkeit: BGH plant Kehrtwende bei der Frage der Verjährung                                     12
  Christopher Jones
  Das Wettbewerbsregister                                                                                        12
  Dr. Sebastian Meyer
  Neue Vorgaben für die Nutzung von Cookies                                                                      13
  Dr. Christoph Rempe
  Krisenkommunikation aus äußerungsrechtlicher Sicht                                                             14
  Hubert Salmen
  Entwurf des Verbandssanktionengesetzes – „die Uhr läuft“                                                       15
  Ulrich Vorspel-Rüter
  Zur Reduzierung von Haftungsrisiken bei Unternehmensverkäufen über eine Warranty&Indemnity-Versicherung        17

Gesellschaftsrecht/M&A                                                                                           18
  Dr. Carsten Christophery
  M&A post-Corona                                                                                                18
  Start-Up post-Corona                                                                                           19
  Daniela Deifuß-Kruse
  Alles nur Verwaltungskram? Registrierungs-, Kennzeichnungs- und Meldepflichten für Hersteller und
  Inverkehrbringer                                                                                               20
  Dr. Sven Hasenstab
  Schiedsklauseln in der Insolvenz                                                                               22
  Hubert Salmen
  Was ist bei der Vorbereitung von Gesellschafterversammlungen zu beachten?                                      22
  Ute Lienenlüke/Dr. Paul Czaplinski
  Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang –
  § 2 COVInsAG und die Auswirkungen auf die Haftung des GmbH-Geschäftsführers nach § 64 S. 1 GmbHG               25
  Dr. Björn Schulz
  Auswirkungen der Corona-Krise auf das Vereins- und Stiftungsrecht                                              26

Medizinrecht                                                                                                     27
  Miriam L. Germer
  Ärztliche Vertretung für ein MVZ ist sozialversicherungspflichtig                                              27

Autoren                                                                                                          28

                                                                                                      www.brandi.net
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Arbeitsrecht

                                                 Dr. Sören Kramer        Ungeachtet der unangenehmen finanziellen Konsequenzen
Rückzahlungspflicht von Scheinselbstständigen                         für den Arbeitnehmer führt die Entscheidung des Bundesarbeits-
                                                                      gerichtes dazu, dass die Verantwortung für die Voraussetzungen
Wir haben in den vergangenen Ausgaben dieses Mandanten-               einer echten Selbstständigkeit nicht mehr nur auf den Schultern
rundbriefes wiederholt zu den teilweise komplexen Fragen der          des Auftraggebers lastet. Auch der freie Mitarbeiter bzw. Auftrag-
Abgrenzung von Arbeitnehmern bzw. Beschäftigten und freien            nehmer muss mit finanziellen Konsequenzen rechnen, wenn tat-
Mitarbeitern berichtet (vgl. zuletzt Rundbrief Dezember 2019 zur      sächlich Scheinselbstständigkeit vorliegt. Beide Vertragspartner
Bedeutung des Rahmenvertrages, dort Seite 11, und zur Sozial-         sind also aufgerufen, sowohl bei der Vertragsgestaltung als auch
versicherungspflicht von Honorarärzten, dort Seite 16).               bei der tatsächlichen Durchführung des Vertrages größte Auf-
                                                                      merksamkeit walten zu lassen.
  Wir haben hierbei nicht nur die teilweise komplizierten
Abgrenzungsfragen erörtert, sondern immer wieder auch auf die                                                        Dr. Andrea Pirscher
einschneidenden Rechtsfolgen der Scheinselbstständigkeit hin-         Manchmal reicht schon ein falsches Wort – Neues vom
gewiesen: Der nur scheinbar Selbstständige genießt in vollem          BAG zu Ausschlussfristen
Umfange arbeitsrechtlichen Schutz, was sich insbesondere im
Falle der Beendigung des Vertragsverhältnisses als böse Überra-       Seit vielen Jahren befassen sich die Arbeitsgerichte immer wie-
schung herausstellen kann. Der Auftrag- bzw. Arbeitgeber haftet       der mit der Wirksamkeit von Ausschlussfristen. Grund dafür sind
für nicht geleistete Sozialversicherungsabgaben (einschließlich       teilweise gesetzliche Änderungen (z. B. die Einführung des Min-
teurer Säumniszuschläge) ebenso wie für die nicht abgeführte          destlohngesetzes oder Änderungen im BGB zur Textform von
Lohnsteuer. Im Übrigen droht regelmäßig ein Ermittlungsverfah-        Anzeigen und Erklärungen). Aber auch die Frage, ob eine Klausel
ren wegen Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen und          in einem Arbeitsvertrag für den Arbeitnehmer transparent ist, ist
Steuerhinterziehung.                                                  immer wieder Gegenstand von arbeitsgerichtlichen Urteilen.

  Mit einem Urteil aus dem Jahre 2019 hat der 5. Senat des Bun-         Das Bundesarbeitsgericht musste sich am 3. Dezember 2019
desarbeitsgerichtes die Rechtsfolgen einer gescheiterten freien       mit einer Klausel aus dem Jahr 2007 befassen, in der es hieß:
Mitarbeit um eine neue für den vermeintlich freien Mitarbeiter
sehr unangenehme Komponente bereichert:                                 „Alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und sol-
                                                                      che, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, verfallen,
   Steht etwa am Ende eines Kündigungsschutzprozesses oder            wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit gegen-
eines sozialversicherungsrechtlichen Statusverfahrens fest,           über der anderen Vertragspartei schriftlich geltend gemacht werden.
dass der vermeintlich freie Mitarbeiter tatsächlich ein sozialver-
sicherungspflichtig beschäftigter Arbeitnehmer war, kann der            Lehnt die Gegenseite den Anspruch ab, oder erklärt sie sich nicht
vermeintliche Auftraggeber die an den Mitarbeiter gezahlte Ver-       innerhalb von zwei Wochen nach Geltendmachung des Anspruchs
gütung einschließlich geleisteter Umsatzsteuer erstattet verlan-      dagegen, so verfällt dieser, wenn er nicht innerhalb von drei Mona-
gen. Er muss sich allerdings dasjenige anrechnen lassen, was er       ten nach der Ablehnung oder dem Fristablauf gerichtlich geltend
im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses als Lohn bzw. Gehalt hätte       gemacht wird. (…)“
leisten müssen. Typischerweise ist das Honorar für den freien
Mitarbeiter höher als die Vergütung, die ein Arbeitnehmer für            Das BAG entschied: Der zweite Absatz suggeriere dem Arbeit-
dieselbe bzw. eine ähnliche Tätigkeit erhalten würde. Der freie       nehmer, dass er den Anspruch ausnahmslos innerhalb der Aus-
Mitarbeiter genießt gerade keinen arbeitsrechtlichen Schutz und       schlussfrist gerichtlich geltend machen müsse, sogar dann, wenn
muss daher mit kurzfristiger Vertragsbeendigung rechnen. Darü-        der Arbeitgeber zugesagt habe, den Anspruch zu erfüllen. Die
ber hinaus ist er für seine soziale Vorsorge selber verantwortlich.   Klausel sei irreführend und geeignet, den Arbeitnehmer davon
                                                                      abzuhalten, sich auf seine Rechte zu berufen. Damit sei sie
  Maßstab für die anrechenbaren Aufwendungen, die der                 intransparent und unwirksam.
gescheiterte freie Mitarbeiter dem Auftraggeber entgegenhalten
kann, ist die branchenübliche Vergütung für einen sozialversiche-        Hätte das Bundesarbeitsgericht nicht einfach die zweite Alter-
rungspflichtig angestellten Arbeitnehmer.                             native des zweiten Absatzes streichen können, um die Klausel „zu
                                                                      retten“? Das kam nicht in Betracht, weil es sich um eine einheit-
   Der Rückforderungsanspruch des gescheiterten Auftragge-            liche Regelung handelt, die inhaltlich nicht teilbar ist. Die erste
bers ist nur durch die allgemeinen Verjährungsgrenzen von drei        Alternative des zweiten Absatzes wäre zwar allein aus sich heraus
Jahren beschränkt. Die Verjährung beginnt in dem Augenblick,          noch verständlich. Der Anwendungsbereich würde aber in zeit-
in dem der Auftraggeber die Überzahlung feststellen kann, also        licher Hinsicht erweitert: Es würde sich auch auf die Fälle erstre-
im Zweifel erst mit rechtskräftigem Abschluss des Kündigungs-         cken, in denen der Anspruch nicht innerhalb von zwei Wochen,
schutz- bzw. Statusverfahrens.                                        sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt abgelehnt wird.

   Wenn also der übliche Bruttoarbeitslohn für die erbrachte             Hätte der Arbeitgeber „erklärt sich nicht“ formuliert, also das
Leistung inklusive Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung die       Wort „dagegen“ einfach weggelassen, hätten sich diese Schwie-
Summe des im selben Zeitraum ausgezahlten Honorars über-              rigkeiten nicht ergeben. Eine Streichung nur des Worts „dage-
steigt, sieht sich der gescheiterte freie Mitarbeiter einem Rück-     gen“ durch das BAG kam aber auch nicht in Betracht, weil eine
zahlungsanspruch ausgesetzt. In dem vom BAG entschiedenen             sog. geltungserhaltende Reduktion im System der Allgemeinen
Fall wurde der beklagte IT-Administrator in letzter Instanz zur       Geschäftsbedingen, unter die auch Arbeitsverträge fallen, nicht
Rückzahlung von mehr als 100.000 EUR verurteilt!                      vorgesehen sei.

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Juli 2020                                                                                                                      Seite 5

  Das BAG formuliert es kurz und prägnant: Der Arbeitgeber                                                            Bernd Kaufhold
hatte es als Verwender der Klausel selbst in der Hand, eine trans-   Schmähkritik als Kündigungsgrund
parente Ausschlussfristenregelung zu formulieren.
                                                                     Die Sprache verroht. Diese trübe Erkenntnis gilt nicht nur für die
  Wäre die Klausel im Jahre 2017 statt im Jahre 2007 vereinbart      Politik und die sozialen Medien, auch das Klima vieler Betriebe
worden, wäre sie aus einem weiteren Grund unwirksam gewesen:         wird durch die Wortwahl in Auseinandersetzungen beeinträch-
Seit Oktober 2016 dürfen Ausschlussfristen nur noch die Geltend-     tigt. Der Arbeitgeber muss wachsam sein. Entgleisungen sind
machung in Textform, aber nicht mehr in Schriftform verlangen.       arbeitsrechtlich durch Abmahnung oder Kündigung zu ahnden.
Da es sich aber um einen Altvertrag handelte, musste sich das        Aber wo verlaufen die Grenzen zwischen unzulässiger Schmäh-
Bundesarbeitsgericht damit nicht befassen.                           kritik und der grundrechtlich geschützten Meinungsäußerung?
                                                                     Das BAG hatte in einer neuen Entscheidung vom 05.12.2019 die
   In dem BAG-Urteil ging es um 1.700,00 € Spesen. Die Anwalts-      Gelegenheit, die Spielregeln noch einmal grundsätzlich darzu-
und Gerichtskosten beliefen sich auf fast 4.000,00 € (einschließ-    stellen.
lich Mehrwertsteuer).
                                                                     Der Sachverhalt
   Die finanzielle Dimension einer unwirksamen Ausschluss-           Die Parteien stritten im Wesentlichen um die Wirksamkeit einer
fristenregelung mag folgendes vereinfachtes Beispiel beleuch-        ordentlichen Kündigung des Arbeitgebers.
ten: Der Arbeitnehmer begehrt Überstundenvergütung von 20
Stunden pro Monat für 45 Monate. Es spielt dann eine entschei-          Die Klägerin war bei der Beklagten als kaufmännische Ange-
dende Rolle, ob nur 60 Stunden für drei Monate bei wirksamer         stellte beschäftigt. Im Verlauf des Arbeitsverhältnisses sah sie
Ausschlussfrist zu vergüten sind oder gar 900 Stunden im Rah-        sich durch ihre Vorgesetzten wegen ihres Geschlechts und
men der gesetzlichen Verjährungsfristen. Schon bei einem Brut-       ihrer afghanischen Herkunft diskriminiert. In einer E-Mail an die
to-Stundenentgelt von 15,00 € macht das einen Unterschied von        Beklagte gab die Klägerin an, seit einigen Jahren würden „Gueril-
über 12.000 € brutto aus.                                            la-Aktionen“ gegen sie geführt, sie habe eine „himmelschreiende
                                                                     Ausländer- und Frauenfeindlichkeit“ vorgefunden. Sie würde
  Die dreijährige gesetzliche Verjährungsfrist beginnt übrigens      es als unfair erachten, wenn der Vorstandsvorsitzende davon
erst mit Ablauf des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist.      aus der amerikanischen Presse oder der „Oprah-Winfrey-Show“
                                                                     erführe. Bei ihrem „Chef“ handele es sich um einen „unterbelich-
  Auf die Unwirksamkeit einer intransparenten Klausel kann sich      teten Frauen- und Ausländerhasser“. Mit einer weiteren E-Mail
nur der Arbeitnehmer berufen. Der Arbeitgeber als Verwender          setzte die Klägerin ihre seelischen Leiden mit den der verfolg-
der Klausel ist an seine Regelung gebunden.                          ten Juden und die Situation in dem Unternehmen mit dem Film
                                                                     „der Pate“ gleich. Schließlich wandte sie sich unter dem Betreff
  Bei Abschluss von Arbeits- oder Änderungsverträgen sollte          „Lebenswerk der unfähigen Führungskräfte“ an ihren unmittel-
immer darauf geachtet werden, dass wirksame Ausschlussfris-          baren Vorgesetzten. Sie hielt ihm Mobbing, Bossing, unberech-
tenklauseln verwendet werden.                                        tigte Kritik sowie unsachliche und leere Bemerkungen vor, ferner,
                                                                     dass er seine Position nur innehabe, um einer intellektuellen Frau
                                                                     das Leben zur Hölle zu machen. Die Klägerin versandte die E-Mail
                                                                     an weitere zwölf Mitarbeiter der Beklagten.

                                                             e g e n
               t d a                                       g
ni          c h                                                                                                     www.brandi.net
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Seite 6                                                                                                                     Juli 2020

   Die Beklagte wies die Klägerin darauf hin, dass ihre Äußerun-         Eine Schmähung ist eine Äußerung – unter Berücksichtigung
gen durch ihr Beschwerderecht und das Recht zur freien Mei-           von Anlass und Kontext – jedoch nur dann, wenn jenseits auch
nungsäußerung nicht mehr gedeckt seien. Die Beklagte forderte         polemischer und überspitzter Kritik nicht mehr die Auseinander-
die Klägerin auf, insbesondere die Anspielungen auf die Zeit des      setzung in der Sache, sondern allein die Diffamierung der Person
Nationalsozialismus zurückzunehmen und sich bei den betrof-           im Vordergrund steht. Wesentliches Merkmal der Schmähung
fenen Personen zu entschuldigen, anderenfalls drohten arbeits-        ist eine, das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund drän-
rechtliche Maßnahmen bis hin zur Kündigung. Die Klägerin              gende, persönliche Kränkung.
relativierte nachfolgend einzelne Aussagen, entschuldigte sich
aber nicht. Die Beklagte kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis        Auch wenn Äußerungen eines Arbeitnehmers als Meinung
ordentlich. Das LAG löste das Arbeitsverhältnis zunächst gegen        geschützt sind, bleibt eine Kündigung des Arbeitgebers aus
Abfindung auf, wies die Klage dann nach erfolgter Revision ab.        diesem Anlass durchaus möglich. Schließlich ist auch die wirt-
                                                                      schaftliche Betätigungsfreiheit des Arbeitgebers grundrechtlich
Die Entscheidung                                                      geschützt. Diese kann durch geschäftsschädigende Äußerungen
Das BAG hob das Urteil des LAG auf und verwies den Rechtsstreit       des Arbeitnehmers verletzt sein. Der Arbeitgeber wird allerdings
erneut an das LAG zurück. Mit der gegebenen Begründung durfte         darlegen und beweisen müssen, dass das den Arbeitnehmer
das Landesarbeitsgericht die Kündigung der Beklagten nicht als        treffende Gebot zur Rücksichtnahme in der konkreten Situation
sozial gerechtfertigt ansehen.                                        seinem Recht auf freie Meinungsäußerung vorging. Dies kann
                                                                      nur gelingen, wenn der Äußerung des Arbeitnehmers keine
   Auch das BAG hielt die Ankündigung der Klägerin, die ameri-        Provokationen auf Seiten des Arbeitgebers oder dessen Vertre-
kanische Presse einzuschalten, falls ihre Arbeitsumstände unver-      ter vorausgegangen sind, oder wenn durch die Äußerungen des
ändert blieben, für eine widerrechtliche Drohung. Auf diesen          Arbeitnehmers erhebliche betriebliche Beeinträchtigungen ent-
Aspekt hatte das LAG seine Entscheidung aber nicht gestützt. Das      standen sind.
LAG wertete vielmehr die Äußerungen ggü. ihrem Vorgesetzten
rechtsfehlerhaft als Schmähkritik bzw. als unwahre Tatsachenbe-                                                         Denise Runge
hauptungen. Aufgrund dieser unzutreffenden Wertung unterließ          Verfall von Urlaubsansprüchen – keine Hinweisoblie-
das LAG die erforderliche Güterabwägung unter Berücksichti-           genheiten bei Dauererkrankungen
gung des grundrechtlich geschützten Rechts der Klägerin auf
freie Meinungsäußerung.                                               Im November 2018 entschied der EuGH in zwei Fällen, dass
                                                                      Arbeitnehmer den europarechtlich vorgeschriebenen Mindest-
   Das BAG hielt die Kritik der Klägerin für (teils maßlos) überzo-   urlaubsanspruch von vier Wochen jährlich, den diese zum Ende
gen, ausfällig und ungehörig, wertete die Äußerungen der Klä-         eines Kalenderjahres (bzw. zum Ende des Übertragungszeit-
gerin aber als Meinungen. Der Klägerin sei es nicht entscheidend      raums) nicht genommen haben, nicht automatisch verlieren,
um die Diffamierung ihres Vorgesetzten gegangen, sondern              wenn sie beim Arbeitgeber keinen Urlaub beantragt haben. Das
um die Thematisierung und Wertung der von ihr behaupteten             Bundesarbeitsgericht hat im Februar 2019 seine bisherige Recht-
Geschehnisse. Das gelte auch für ihre Vergleiche mit dem Leid         sprechung zur Übertragung von Urlaubsansprüchen grundle-
der Juden und dem Film „Der Pate“. Mit diesen Vergleichen habe        gend geändert und an die Entscheidungen des EuGH angepasst.
sie das als demütigend empfundene Verhalten ihres Vorgesetz-          Der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers erlischt demnach in der
ten bewertet. Solche Werturteile seien auch im Arbeitsverhältnis      Regel nur dann am Ende des Kalenderjahres oder eines zulässi-
unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit geschützt. Vom           gen Übertragungszeitraums, wenn der Arbeitgeber den Arbeit-
Grundrecht der Meinungsfreiheit umfasste Äußerungen verlören          nehmer zuvor konkret aufgefordert hat, den Urlaub zu nehmen
den sich daraus ergebenden Schutz selbst dann nicht, wenn sie         und ihn klar und rechtzeitig darauf hingewiesen hat, dass der
scharf oder überzogen geäußert würden.                                Urlaub anderenfalls mit Ablauf des Urlaubsjahres oder Übertra-
                                                                      gungszeitraums erlischt (BAG, Urteil vom 19 Februar 2019 - 9 AZR
  Für die Bewertung des BAG war insbesondere entscheidend,            541/15).
dass der betreffende Vorgesetzte nicht vollkommen schuldlos an
der Eskalation war. Auch dieser war verschiedentlich sprachlich         Das LAG Rheinland-Pfalz hat sich in seiner Entscheidung vom
entgleist (u. a. hatte er die Klägerin als „Walross“ bezeichnet und   15. Januar 2020 nun mit der Frage befasst, ob den Arbeitgeber
geäußert „Ihr Araber seid alle gleich“).                              diese Mitwirkungsobliegenheit auch hinsichtlich der Urlaubsan-
                                                                      sprüche von langzeiterkrankten Arbeitnehmern trifft (LAG Rhein-
Fazit                                                                 land-Pfalz, Urteil vom 15. Januar 2020 - 7 Sa 284/19).
Das BAG stellt ausdrücklich klar, dass widerrechtliche Drohungen
und grobe Beleidigungen des Arbeitgebers oder dessen Vertreter           Sachverhalt: Die Parteien stritten über Urlaubsabgeltungs-
eine Kündigung auch ohne Abmahnung rechtfertigen können.              ansprüche für das Jahr 2016. Der klagende Arbeitnehmer
                                                                      begehrte von der beklagten Arbeitgeberin Abgeltung für ins-
   Zwar dürfen Arbeitnehmer – auch unternehmensöffentlich –           gesamt 30 Urlaubstage aus dem Jahre 2016. Der Kläger war seit
Kritik am Arbeitgeber, ihren Vorgesetzten und den betrieblichen       dem 18. Januar 2016 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Das
Verhältnissen üben und sich dabei auch überspitzt äußern. In          Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien endete aufgrund eines
grobem Maße unsachliche Angriffe, die zur Untergrabung der            Auflösungsvertrags mit Ablauf des 28. Februar 2019. Der Auflö-
Position eines Vorgesetzten führen können, muss der Arbeit-           sungsvertrag sah für die Jahre 2017 – 2019 eine Urlaubsabgel-
geber aber nicht hinnehmen. Schmähkritik oder unwahre Tat-            tung vor. Der Resturlaub aus dem Jahre 2016 war zwischen den
sachenbehauptungen seien gerade nicht durch das Recht der             Parteien jedoch streitig. Einen Hinweis über einen etwaigen Ver-
freien Meinungsäußerung gedeckt.                                      fall seines Urlaubs erteilte die Beklagte dem Kläger nicht.

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Juli 2020                                                                                                                        Seite 7

  Die Beklagte vertrat im Prozess die Auffassung, dass der                                                                    Björn Mai
Urlaubsanspruch des Klägers für das Jahr 2016 bereits verfallen      Weiteres Update zum Vorbeschäftigungsverbot bei
sei. Der Kläger hingegen war der Ansicht, dass die Beklagte ihn      Befristungen
auf den Verfall seines Urlaubsanspruchs für das Jahr 2016 hätte
hinweisen müssen. Die Frage, ob er während des Bezugszeit-           Wesentliche Voraussetzung für eine kalendermäßige Befristung
raums vollumfänglich arbeitsunfähig gewesen sei oder nicht,          von Arbeitsverhältnissen ohne Sachgrund ist, dass nicht mit dem-
habe nichts mit der Obliegenheit der Beklagten zu tun, auf die       selben Arbeitgeber „bereits zuvor“ ein Arbeitsverhältnis bestan-
Gefahr des Verfalls des Urlaubs bzw. dessen Inanspruchnahme          den hat (sog. Vorbeschäftigungsverbot). Im Mandantenrundbrief
hinzuweisen.                                                         Dezember 2019 hat Dr. Sandra Vyas dargestellt, dass und warum
                                                                     die Rechtsprechung zu sachgrundlosen Befristungen insbeson-
   Die Entscheidung: Nach Auffassung des LAG Rheinland-Pfalz         dere nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
ist der Resturlaubsanspruch aus dem Jahr 2016 verfallen. Das LAG     aus dem Jahr 2018 zum Vorbeschäftigungsverbot einer ständi-
sah keine Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers: Zwar treffe      gen Entwicklung unterliegt.
den Arbeitgeber bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs
gem. § 7 Abs. 1 S. 1 BUrlG grundsätzlich die Initiativlast. Nur         Vor Abschluss eines befristeten Arbeitsverhältnisses ohne
dann, wenn der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten           Sachgrund ist sorgfältig zu prüfen, ob bereits zuvor ein Arbeits-
hinsichtlich der Inanspruchnahme des Urlaubs ordnungsgemäß           verhältnis zum Arbeitgeber bestanden hat. Die Möglichkeiten,
erfüllt habe, könne das urlaubsrechtliche Fristenregime eingrei-     sich vom Arbeitnehmer bestätigen zu lassen, dass kein Vor-
fen. Zweck dieser Mitwirkungsobliegenheit sei es zu verhindern,      arbeitsverhältnis bestanden hat, hat das Landesarbeitsgericht
dass ein Arbeitnehmer seinen Urlaub nicht wahrnehme, weil der        Baden-Württemberg nunmehr mit Urteil vom 11.03.2020 jedoch
Arbeitgeber ihn dazu nicht in die Lage versetzt habe. Im Fall des    eingeschränkt.
langandauernd erkrankten Arbeitnehmers könne der Arbeit-
geber aufgrund der Arbeitsunfähigkeit jedoch keinen Urlaub              Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg hat entschie-
gewähren. Der vom BUrlG bezweckte Gesundheitsschutz durch            den, dass eine Vertragsklausel in Allgemeinen Geschäftsbe-
die tatsächliche Inanspruchnahme des Urlaubs könne bei lang-         dingungen (und als solche sind Arbeitsverträge regelmäßig
andauernd erkrankten Arbeitnehmern nicht dadurch gefördert           anzusehen), mit welcher der Arbeitnehmer bestätigen soll, nicht
werden, dass der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten        bereits zuvor in einem Arbeitsverhältnis zum Arbeitgeber gestan-
ordnungsgemäß nachkomme. Darüber hinaus sei der Arbeitge-            den zu haben, unwirksam ist. Zweck einer solchen Regelung sei
ber während der andauernden Arbeitsunfähigkeit des Arbeit-           nämlich, dass der Arbeitnehmer eine Tatsache bestätigen soll,
nehmers ohnehin schon nicht in der Lage, einen zutreffenden          die geeignet ist, die Darlegungs- und Beweislast bezüglich des
konkreten Hinweis über den Verfall des Urlaubsanspruchs zu           Bestands einer Vorbeschäftigung zulasten des Arbeitnehmers
erteilen. Ein solcher „konkreter“ Hinweis sei erst dann möglich,     und zugunsten des Arbeitgebers zu verändern. Und solche
wenn der Arbeitgeber Kenntnis davon habe, wann der Arbeit-           Tatsachenbestätigungen, die zu einer Veränderung der Darle-
nehmer seine Arbeitsfähigkeit wiedererlange.                         gungs- und Beweislast führen sollen, sind – jedenfalls soweit sie in
                                                                     Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten sind – unwirksam.
  Das LAG Rheinland-Pfalz folgt damit im Ergebnis der Entschei-
dung des LAG Hamm vom 24. Juli 2019 (5 Sa 676/19), der ein ver-         Im vom Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg entschiede-
gleichbarer Sachverhalt zugrunde lag. Anders als das LAG Hamm        nen Fall stellte der Arbeitgeber die Arbeitnehmerin zunächst im
hat das LAG Rheinland-Pfalz die Revision zum BAG zugelassen.         April 1999 befristet bis zum 31.07.2001 ein. Das Arbeitsverhältnis
                                                                     ging im Rahmen eines Betriebsübergangs im September 1999
   Hinweise für die Praxis: Das BAG muss nun entscheiden, ob         auf einen neuen Arbeitgeber über und endete später mit dem
auch gegenüber langzeiterkrankten Arbeitnehmern ein Hinweis          Ablauf der Befristung. Erst im Jahr 2014 bewarb sich die Arbeit-
des Arbeitgebers über den Verfall ihres Urlaubs erforderlich ist.    nehmerin erneut bei dem früheren Arbeitgeber. Die Vorbeschäf-
Die Feststellung der beiden Landesarbeitsgerichte überzeugt          tigung aus dem Jahr 1999 war im Lebenslauf der Arbeitnehmerin
jedoch: Zum einen ist es dem Arbeitgeber während der andau-          nicht aufgeführt. In einem Personalbogen gab sie zwar an, bereits
ernden Arbeitsunfähigkeit schon nicht möglich, den Arbeit-           in der Unternehmensgruppe beschäftigt gewesen zu sein, nach
nehmer „konkret“ und in „völliger Transparenz“ – wie von der         einer Vorbeschäftigung bei dem Arbeitgeber selbst wurde die
Rechtsprechung gefordert – über den Verfall seines Urlaubs zu        Arbeitnehmerin jedoch nicht explizit gefragt. Der Arbeitsvertrag
informieren, da der Arbeitgeber im Zeitpunkt seiner Belehrung        enthielt allerdings folgende Regelung: „Sie bestätigen, bisher in
noch nicht absehen kann, ob der Urlaubsanspruch des Arbeit-          keinem befristeten oder unbefristeten Arbeitsverhältnis (ein-
nehmers tatsächlich verfallen wird oder bis zu 15 Monate nach        schließlich Ferienbeschäftigung) zu uns gestanden zu haben“.
Ende des Urlaubsjahres fortbesteht. Zum anderen hat der Arbeit-
geber schon nicht die Möglichkeit, den erkrankten Arbeitnehmer          Trotz dieser Bestätigung stand der wirksamen Befristung des
in die Lage zu versetzen, seinen Urlaub tatsächlich zu nehmen.       Arbeitsverhältnisses die frühere Vorbeschäftigung entgegen. Der
Bis das BAG die Frage der Mitwirkungsobliegenheit des Arbeit-        Arbeitgeber konnte sich nicht auf diese Regelung im Arbeitsver-
gebers bei lang andauernd erkrankten Arbeitnehmern geklärt           trag berufen. Zwar kehrt eine solche Klausel die Beweislast der
hat, sollten Arbeitgeber jedoch auch diese Arbeitnehmer in das       Parteien nicht gänzlich um, jedoch ermöglicht sie dem Arbeitge-
jeweilige „Hinweissystem“ des Unternehmens einbeziehen und           ber ein sog. „substantiiertes Bestreiten“, indem der Arbeitnehme-
ihnen einen Hinweis auf den Verfall ihres Urlaubs erteilen. Sobald   rin deren Bestätigung vorgehalten werden kann, wodurch diese
der langzeiterkrankte Arbeitnehmer wieder arbeitsfähig ist, hat      einer erhöhten Darlegungslast in ihrer Erwiderung ausgesetzt ist.
der Arbeitgeber ihn über seine konkreten Urlaubsansprüche indi-      Hierdurch trete eine Veränderung der Darlegungs- und Beweis-
viduell zu belehren.                                                 last ein, sodass die Klausel in Allgemeinen Geschäftsbedingun-
                                                                     gen unwirksam sei.

                                                                                                                     www.brandi.net
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  An der vormaligen Rechtsprechung des BAG, dass in „verfas-       Arbeitsvertrag zu begrenzen. Im Rahmen der sorgfältigen Prü-
sungsorientierter Auslegung“ des Vorbeschäftigungsverbots          fung, ob bereits zuvor ein Arbeitsverhältnis bestanden hat, ist es
nur solche Vorbeschäftigungen einer erneuten sachgrundlosen        daher der sicherste Weg, den Arbeitnehmer explizit nach einer
Befristung entgegenstehen können, wenn diese nicht länger als      Vorbeschäftigung beim Arbeitgeber außerhalb von Allgemei-
3 Jahre zurückliegen, kann nach der Entscheidung des Bundes-       nen Geschäftsbedingungen, d. h. außerhalb des Arbeitsvertrags
verfassungsgerichts aus dem Jahr 2018 nicht mehr festgehalten      sowie außerhalb eines Personalfragebogens, zu fragen.
werden. Demnach gilt, dass jedenfalls im Grundsatz jegliche
Vorbeschäftigungen bei demselben Arbeitgeber die Möglich-             Dennoch empfiehlt es sich, (auch weiterhin) vom Arbeitneh-
keit einer erneuten sachgrundlosen Befristung sperren. Das gilt    mer durch derartige Klauseln im Arbeitsvertrag oder Personal-
auch – wie hier – im Falle einer Vorbeschäftigung vor 15 Jahren.   fragebogen bestätigen zu lassen, dass kein Vorarbeitsverhältnis
Hiervon weicht die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung zwar in      bestanden hat. Zum einen entfaltet eine entsprechende Klausel
bestimmten Ausnahmefällen, die Dr. Sandra Vyas im Mandan-          im Arbeitsvertrag eine „psychologische Wirkung“ gegenüber dem
tenrundbrief Dezember 2019 dargestellt hat, im Wege einer          Arbeitnehmer, eine etwaige Vorbeschäftigung zu offenbaren,
einschränkenden Auslegung ab. Im vom Landesarbeitsgericht          zum anderen könnte eine solche Klausel den Arbeitsvertragspar-
Baden-Württemberg entschiedenen Fall war nach Ansicht der          teien als nützliche Erinnerung dienen, die Frage einer Vorbeschäf-
Richter jedoch keine dieser einschränkenden Ausnahmen ein-         tigung außerhalb des Arbeitsvertrags noch aufzuklären.
schlägig. Die Befristung war daher unwirksam.
                                                                      Darüber hinaus stellt sich natürlich die Frage, ob und wie das
  Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg folgt grund-          Bundesarbeitsgericht den dieser Entscheidung zugrundeliegen-
sätzlich der Rechtsprechungslinie des Bundesarbeitsgerichts,       den Rechtsstreit entscheiden wird – die Revision zum Bundes-
dass eine 15 Jahre zurückliegende Vorbeschäftigung als nicht       arbeitsgericht wurde im Urteil jedenfalls zugelassen. Es ist also
sehr lang zurückliegend angesehen wird. Allerdings beschränkt      gut möglich, dass das Bundesarbeitsgericht diesen Rechtsstreit
das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg mit dieser Ent-         als weiteren Anlass nehmen wird, seine Rechtsprechung zum
scheidung die Möglichkeit, Risiken bezogen auf das Vorbe-          Vorbeschäftigungsverbot bei sachgrundlosen Befristungen zu
schäftigungsverbot arbeitgeberseitig durch eine Regelung im        konkretisieren.

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Juli 2020                                                                                                                      Seite 9

                                                Dr. Tobias Schmitt    • Weist der Arbeitgeber darauf hin und beruft er sich auf die
Arbeitsunfähigkeit: keine Entgeltfortzahlung trotz Erst-                Einheit des Verhinderungsfalles, muss der Arbeitnehmer im
bescheinigung                                                           Weiteren das Bestehen sowie Beginn und Ende der jeweiligen
                                                                        Arbeitsunfähigkeit in vollem Umfang beweisen. Zweifel gehen
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sind für Arbeitgeber ein             zulasten des Arbeitnehmers.
leidiges Thema: Sie bescheinigen, dass eine Arbeitsunfähigkeit
besteht, seit wann sie besteht und wie lange sie voraussichtlich        Das Bundesarbeitsgericht hat Arbeitgebern damit wirksame
andauern wird. Ob die Angaben stimmen, kann der Arbeitge-             prozesstaktische Mittel an die Hand gegeben. Besteht bei sich
ber jedoch kaum überprüfen. Arbeitnehmer können sich so teil-         unmittelbar anschließenden Arbeitsunfähigkeitszeiten mit
weise monatelang in eine vermeintliche Arbeitsunfähigkeit mit         angeblich jeweils unterschiedlicher Ursache der Verdacht, dass
voller Entgeltfortzahlung verabschieden. Zwar muss ein Arbeit-        der Arbeitnehmer die Entgeltfortzahlung missbraucht, sollte
nehmer im Streitfall das Vorliegen und die Dauer einer Krankheit      der Arbeitgeber zunächst keine Entgeltfortzahlung leisten. Der
beweisen, er kann sich dabei jedoch auf die Arbeitsunfähigkeits-      Arbeitgeber kann in einem Rechtsstreit allein durch Verweis auf
bescheinigung stützen. Die Gerichte gehen von einem hohen             das zeitliche unmittelbare Aufeinanderfolgen der Arbeitsunfä-
Beweiswert dieser Bescheinigung aus, den der Arbeitgeber in           higkeitszeiten den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheini-
aller Regel nur schwer erschüttern kann. Es gibt jedoch Fälle, in     gungen erschüttern und dem Arbeitnehmer die volle Beweislast
denen es mit Kenntnis der Regeln der Beweislast gelingt – die         für die Richtigkeit seines Vortrages aufbürden.
Erfolgschancen haben sich durch ein Urteil des Bundesarbeits-
gerichtes erhöht (Urteil vom 11. Dezember 2019 – 5 AZR 505/18).         Die Erschütterung des Beweiswertes ist zugegebener Maßen
                                                                      nur der erste Schritt. Stellt sich in der dann folgenden Beweis-
   Der Fall: Die Arbeitnehmerin war bis einschließlich 18. Mai 2017   aufnahme heraus, dass sich die zugrundeliegenden Ursachen
arbeitsunfähig erkrankt und erhielt zunächst für sechs Wochen         tatsächlich nicht überschnitten haben, muss der Arbeitgeber
Entgeltfortzahlung, danach Krankengeld. Vom 19. Mai bis zum 30.       Entgeltfortzahlung leisten. Mitunter ergibt die Beweisaufnahme
Juni 2017 war sie erneut und angeblich auf Grund einer anderen        jedoch, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ohne per-
Krankheit arbeitsunfähig. Die Arbeitnehmerin erhielt von ihrer        sönliche Untersuchung des Patienten ausgestellt wurden – so
Ärztin für den zweiten Arbeitsunfähigkeitszeitraum eine Erstbe-       auch im vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall. Und
scheinigung und verlangte für weitere sechs Wochen Entgeltfort-       gerade in diesen Fällen wird es dann für den Arbeitnehmer
zahlung. Die Arbeitgeberin verweigerte die Zahlung und bekam          schwer zu beweisen, dass sich die Ursachen nicht überschnitten
Recht. Es sprächen gewichtige Indizien dafür, dass kein neuer Ent-    haben
geltfortzahlungsanspruch entstanden sei und die Arbeitnehme-
rin das Gegenteil nicht habe beweisen können.                                                                           Dr. Sandra Vyas
                                                                      Zusätzliche Pflichten öffentlicher Arbeitgeber bei
  Rechtlicher Hintergrund: Tritt die neue Erkrankung zu einem         Bewerbungen schwerbehinderter Menschen
Zeitpunkt ein, in dem die ursprüngliche krankheitsbedingte
Arbeitsverhinderung bereits beendet war, besteht grundsätzlich        Die Bewerbung von schwerbehinderten Menschen löst grund-
auch ein neuer Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Überschnei-           sätzlich für jeden Arbeitgeber besondere Pflichten aus. Öffent-
den sich jedoch beide Krankheitsursachen zeitlich, beginnt der        lichen Arbeitgebern legt der Gesetzgeber im SGB IX zusätzliche
sechswöchige Entgeltfortzahlungszeitraum nicht neu zu laufen.         Verpflichtungen auf, die im Rahmen eines Stellenbesetzungsver-
Denn in diesem Fall werden beide Arbeitsunfähigkeitszeiträume         fahrens zu beachten sind:
rechtlich als ein einziger Zeitraum betrachtet, für den der Arbeit-
nehmer auch nur für maximal 6 Wochen Entgeltfortzahlung               Weitergehende Meldepflicht bei der Arbeitsagentur
im Krankheitsfall beanspruchen kann (sogenannte Einheit des           Grundsätzlich ist jeder Arbeitgeber verpflichtet zu prüfen, ob
Verhinderungsfalls). Darüber, ob sich die Krankheitsursachen          freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen, insbeson-
überschneiden, kann man sich im Einzelfall trefflich streiten. Ent-   dere bei der Agentur für Arbeit arbeitslos oder arbeitssuchend
scheidend ist daher, wer welche Tatsachen beweisen muss und           gemeldeten schwerbehinderten Menschen, besetzt werden
welche Beweismittel man dafür nutzen kann – und genau an dieser       können. Darüber hinaus müssen öffentliche Arbeitgeber frei wer-
Stelle setzt die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes an:        dende, neu zu besetzende und neue Arbeitsplätze frühzeitig bei
                                                                      der Agentur für Arbeit melden. Diese Verpflichtung greift, wenn
• Der Arbeitnehmer muss Beginn und Ende einer auf einer               der zu besetzende Arbeitsplatz nicht vorrangig intern besetzt
  bestimmten Krankheit beruhenden Arbeitsunfähigkeit darle-           werden kann. Gemeldet werden muss ein Arbeitsplatz, wenn der
  gen und beweisen. Dafür kann er sich zunächst auf die Arbeits-      Zeitpunkt des Ausscheidens vorhersehbar ist (z. B. bei Erreichen
  unfähigkeitsbescheinigung und den ihr zugesprochenen                der Altersgrenze oder Auslaufen eines befristeten Arbeitsvertra-
  hohen Beweiswert stützen.                                           ges) und die erforderlichen Mittel für die Stelle im Haushalt vor-
                                                                      handen sind.
• Der Arbeitgeber kann den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeits-
  bescheinigung erschüttern und diese Erschütterung ist durch         In der Regel: Einladung zum Vorstellungsgespräch
  das eingangs genannte Urteil des Bundesarbeitsgerichtes             Öffentliche Arbeitgeber müssen schwerbehinderte Bewerber*
  erleichtert worden: Indizien, die zu einer Erschütterung führen,    i. d. R. zum Vorstellungsgespräch einladen. Hiervon können sie
  liegen neuerdings bereits dann vor, wenn der erste und der          im Ausnahmefall absehen, wenn dem Bewerber die fachliche
  weitere Arbeitsunfähigkeitszeitraum zeitlich entweder unmit-        Eignung für die ausgeschriebene Stelle offensichtlich fehlt. Die
  telbar aufeinanderfolgen – so im oben geschilderten Fall – oder     Pflicht zur Einladung zum Bewerbungsgespräch besteht auch
  zwischen ihnen lediglich ein für den erkrankten Arbeitnehmer        dann, wenn sich schon aus der Papierform ergibt, dass andere
  arbeitsfreier Tag oder ein arbeitsfreies Wochenende liegt.          Bewerber besser geeignet sind. Nur bei offensichtlicher fachli-

                                                                                                                     www.brandi.net
Juli 2020 - BRANDI Rechtsanwälte
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cher Ungeeignetheit kann eine Einladung zum Vorstellungsge-            Begründung der Ablehnungsentscheidung?
spräch unterbleiben.                                                   Gesetzlich vorgesehen ist eine Begründungspflicht für alle
                                                                       Arbeitgeber, wenn der Arbeitgeber die Pflichtquote zur Beschäf-
   Öffentliche Arbeitgeber sind – auch aus diesem Grund – gut          tigung schwerbehinderter Menschen (Schwerbehindertenquote)
beraten, konkrete Anforderungsprofile für zu besetzende Stel-          nicht erfüllt und entweder die Schwerbehindertenvertretung
len in der Ausschreibung zu formulieren. Werden beispielsweise         oder eine sonstige Personalvertretung mit der beabsichtigten
„umfassende Kenntnisse und Führungserfahrung in der öffent-            Auswahlentscheidung des Arbeitgebers nicht einverstanden ist.
lichen Verwaltung“ verlangt, so liegt es – so jedenfalls das VG        Grundsätzlich sind bei der Besetzung von Stellen im öffentlichen
Hannover – auf der Hand, dass ein Jurist, der gerade das zweite        Dienst alle unterlegenen Bewerber rechtzeitig von der Nichtbe-
Staatsexamen abgeschlossen hat, das Anforderungsprofil nicht           rücksichtigung im Auswahlverfahren zu informieren. Zwischen
erfüllt und ausnahmsweise nicht zum Vorstellungsgespräch ein-          Zugang der Information und endgültiger Stellenbesetzung sollte
geladen werden muss.                                                   eine Wartezeit von mind. 14 Tagen eingehalten werden.

   In der Praxis sind manche Sachverhalte trotz konkreter Anfor-       Fazit:
derungsprofile nicht eindeutig. Um spätere Diskussionen vor            Die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Bewerbungen
Gericht über die Frage der offenkundigen Ungeeignetheit zu             schwerbehinderter Menschen sind im Rahmen von Stellenbe-
vermeiden, sollten öffentliche Arbeitgeber schwerbehinderte            setzungen bei öffentlichen Arbeitgebern besonders eklatant.
Bewerber standardmäßig zu Vorstellungsgesprächen einladen.             Um Risiken zu vermeiden, ist ein konkretes Anforderungsprofil
Nur in ganz offensichtlichen Ausnahmefällen sollte darauf ver-         für die auszuschreibende Stelle als Grundlage des Ausschrei-
zichtet werden.                                                        bungsverfahrens zu erstellen. Alle Schritte sind sorgfältig zu
                                                                       dokumentieren, um ggf. in Entschädigungs- und Schadenersatz-
Unklar: Einladungspflicht bei interner Stellenbesetzung?               anspruchsprozessen von Bewerbern darlegen und beweisen zu
Höchstrichterlich (noch) nicht geklärt ist die Frage, ob die Ein-      können, dass keine Benachteiligung wegen der Schwerbehinde-
ladungspflicht für eine interne Stellenbesetzung gilt. Das LAG         rung erfolgt ist.
Berlin-Brandenburg hat die Auffassung vertreten, dass schwer-
behinderte Bewerber einzuladen seien, wenn Auswahlgespräche            *Zugunsten der besseren Lesbarkeit wird die männliche Form
stattfinden. Ein Urteil des BAG zu dieser Frage wird für Sommer        verwendet. Der Text bezieht sich selbstverständlich auf alle
2020 erwartet.                                                         Geschlechter.

Nichteinladung = Indiz für eine Benachteiligung                                                Uwe Augustin/Anne-Sophie Bonhomme
Wird ein deutlich erkennbar schwerbehinderter, grundsätzlich           COVID19: Kann sich der Arbeitgeber auf höhere Gewalt
geeigneter Bewerber nicht zu einem Vorstellungsgespräch ein-           berufen?
geladen, so ist dies ein Indiz für eine Benachteiligung wegen
der Schwerbehinderung. Eine nachträgliche Einladung des                Nach französischem Recht berechtigt höhere Gewalt den Arbeit-
schwerbehinderten Bewerbers bringt keine Abhilfe. Öffentliche          geber die Erfüllung seiner arbeitsvertraglichen Pflichten zurück-
Arbeitgeber können die gesetzliche Vermutung widerlegen.               zustellen. Dabei wird höhere Gewalt als „das Eintreten eines
Dazu müssen sie in einem Verfahren vortragen und beweisen,             unabwendbaren externen Ereignisses, das die Fortsetzung des
dass andere als die im allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz             Vertrags unmöglich macht“, definiert. Um als Fall von höherer
genannten Gründe zu der Nichteinladung und damit zur indi-             Gewalt angesehen zu werden, muss das Ereignis vier Vorausset-
zierten Benachteiligung geführt haben. Die besondere Hürde             zungen erfüllen:
ist, dass öffentliche Arbeitgeber sich zur Widerlegung der Vermu-
tung nicht darauf berufen dürfen, dass die offensichtlich fehlende     1. Externalität
fachliche Eignung Grund für die Benachteiligung war. Sie müssen        Das Ereignis muss außerhalb des Einflussbereichs der Arbeitsver-
darlegen, dass ausschließlich andere Gründe als die Behinderung        tragsparteien liegen.
für die Benachteiligung ausschlaggebend waren. Als potentiell
zu berücksichtigende Ablehnungsgründe nennt das BAG vage               Dies ist bei der COVID19 Pandemie klar der Fall.
„personalpolitische Erwägungen“, die die Mitarbeiterzufrieden-
heit und eine nachhaltige Personalplanung zum Ziel haben.              2. Unabwendbarkeit
                                                                       Das Ereignis darf weiterhin nicht der Kontrolle des Schuldners der
Keine Verpflichtung zur Zuweisung einer vertragsfremden                Leistung unterliegen, d. h. es muss unabwendbar sein.
leidensgerechten Stelle
Öffentliche Arbeitgeber sind nach aktueller Rechtsprechung des         In diesem Zusammenhang hat die französische Rechtsprechung
BAG nicht verpflichtet, einem bereits beschäftigten Arbeitnehmer       in der Vergangenheit wiederholt entschieden, dass die bloße
eine vertragsfremde ausgeschriebene Stelle vorab zuzuweisen.           Existenz einer Epidemie oder eines Virus grundsätzlich nicht aus-
Im entschiedenen Fall hatte sich eine als Lehrerin im Schuldienst      reicht, die Einrede der höheren Gewalt zu rechtfertigen. So wurde
beschäftigte Mitarbeiterin auf diverse vom öffentlichen Arbeitge-      in den Fällen des Dengue-Fiebers, des Chikungunya-Virus und die
ber ausgeschriebene Stellen außerhalb des Schuldienstes bewor-         H1N1-Grippe-Epidemie des Jahres 2009 ein Fall höherer Gewalt
ben, u. a. um eine Stelle als Kulturagentin. Das BAG entschied, dass   verneint, wobei die Richter die Ansicht vertraten, dass in allen
der Anspruch auf leidensgerechte Beschäftigung nicht so weit           Fällen die Krankheit, ebenso wie ihr Verbreitungsrisiko und ihre
geht, dass vertragsfremde Beschäftigungen schwerbehinderten            Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen bekannt waren.
Mitarbeitern vor Abschluss eines Auswahlverfahrens zugewiesen          Außerdem wurde vertreten, dass die Heilungsmöglichkeiten die-
werden müssen. Ein Anspruch auf Vertragsanpassung schloss das          ser Krankheiten ausreichten, um die Voraussetzung der Unab-
Bundesarbeitsgericht allerdings nicht aus.                             wendbarkeit zu verneinen.

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Das Corona Virus unterscheidet sich von diesen Krankheiten          4. Unüberwindbarkeit
jedoch in mehrfacher Hinsicht: Es handelt sich um eine Infek-       Das Ereignis muss schließlich zur Folge haben, dass die Fort-
tionskrankheit, die durch ein bisher unbekanntes Corona Virus,      setzung des Arbeitsvertrages unmöglich wird und die Auswir-
dessen einzige Behandlungsmethode in der Linderung der Sym-         kungen nicht durch geeignete Maßnahmen vermieden werden
ptome besteht, verursacht wird. Die bis heute fehlenden Behand-     können. Der Schuldner muss also aufzeigen, dass alternative
lungsmöglichkeiten und die Letalität des Virus können also für      Maßnahmen nicht in Betracht kommen.
einen Fall der Unabwendbarkeit sprechen. Diese kaum kontrol-
lierbare Situation zeigt sich auch in den massiven Maßnahmen        So hat die französische Rechtsprechung in der Vergangenheit
der staatlichen Behörden und in der beispiellosen Abfolge von       vertreten, dass die Schließung einer Einrichtung aufgrund eines
neuen Vorschriften und Gesetzen.                                    Verwaltungsaktes keinen Fall höherer Gewalt darstellt.

3. Unvorhersehbarkeit                                               Als Fazit lässt sich festhalten, dass es sicherlich auf den Einzel-
Das Ereignis muss darüber hinaus zum Zeitpunkt der Vertrags-        fall ankommt, wobei insbesondere der Vertragsschluss und die
unterzeichnung vernünftigerweise nicht vorhersehbar gewesen         konkreten Möglichkeiten den Auswirkungen entgegenzuwirken,
sein. Dabei wird auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses abge-      eine Rolle spielen.
stellt.
                                                                    Davon abgesehen ist bisher nicht absehbar, wie die französischen
Fraglich ist hier vor allem, ab wann eine Unvorhersehbarkeit ver-   Gerichte mit der COVID19-Pandemie im arbeitsrechtlichen Kon-
neint werden muss?                                                  text umgehen werden.

Hier bieten sich mehrere Zeitpunkte an. So könnte eine Unvor-       Sicherlich sprechen gute Gründe für die Annahme höherer
hersehbarkeit bereits nach dem 30. Januar 2020 ausgeschlossen       Gewalt. Maßgeblich dagegen spricht aus unserer Sicht jedoch,
werden. Zu diesem Zeitpunkt erklärte die Weltgesundheitsorga-       dass in diesem Fall das unternehmerische Risiko auf den Arbeit-
nisation (WHO) den Corona Virus zu einem öffentlichen Gesund-       nehmer abgewälzt werden würde.
heitsnotstand von internationaler Bedeutung.

Wesentlich restriktiver wäre es, eine Vorhersehbarkeit erst mit
den ersten von der französischen Regierung getroffen Maßnah-
men zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus, d. h. ab dem
4. März 2020 anzunehmen. Schließlich wird vertreten, dass erst
seit dem 23. März 2020, Datum der Erklärung des französisches
Gesundheitsnotstands, Unvorhersehbarkeit ausgeschlossen wer-
den könnte.

             höhere
             Gewalt?                                                                                               www.brandi.net
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Compliance

                                               Dr. Mario Bergmann                                                       Christopher Jones
Scheinselbstständigkeit: BGH plant Kehrtwende bei der                   Das Wettbewerbsregister
Frage der Verjährung
                                                                        Die bundesweite „Blacklist“ für Unternehmen kommt
Stellt sich ein Auftragsverhältnis im Nachhinein als Arbeitsver-        Bereits im Juli 2017 ist das neue Gesetz zum bundesweiten Wett-
hältnis heraus, erhebt die Staatsanwaltschaft regelmäßig den            bewerbsregister in Kraft getreten. Öffentliche Auftraggeber
Vorwurf der Scheinselbstständigkeit. Damit verbunden ist, dass          müssen zukünftig das Wettbewerbsregister abfragen, bevor sie
der Auftraggeber infolge der (vorsätzlichen oder fahrlässigen)          Aufträge mit einem Wert von mehr als 30.000 € vergeben dürfen.
unzutreffenden Bewertung des Vertragsverhältnisses keine                Das digitale Register befindet sich derzeit im Aufbau, soll aber
Sozialversicherungsbeiträge abgeführt hat. Bislang konnten              noch im Laufe des Jahres 2020 in Betrieb genommen werden.
die Strafverfolgungsbehörden dabei bis zu 30 Jahre zurück ent-          Zuständig für die Einrichtung und den Betrieb ist das Bundeskar-
sprechende Verfehlungen verfolgen und sanktionieren, bedingt            tellamt.
durch eine Besonderheit im deutschen Straf- und Sozialversiche-
rungsrecht:                                                             Entstehung des Wettbewerbsregisters
                                                                        Mit dem Wettbewerbsregister hat der Gesetzgeber ein bereits
   Führt der Unternehmer keine Sozialversicherungsbeiträge ab,          seit langem geplantes Projekt endlich umgesetzt. Die Überprü-
unterlässt er damit die vom Gesetz geforderte Handlung. Bei sol-        fung von Auftragnehmern anhand des Gewerbezentralregisters
chen Unterlassungstaten beginnt die strafrechtliche Verjährung          ist für öffentliche Auftraggeber bereits Pflicht, bislang waren die
erst dann, wenn die Handlungspflicht erloschen ist. Die Hand-           Abfragepflichten aber auf verschiedene Gesetze verteilt und die
lungspflicht erlischt unter anderem, wenn der Pflichtbegüns-            benötigten Informationen konnten durch das Gewerbezentralre-
tigte, d. h. in diesem Fall die Deutsche Rentenversicherung und         gister nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden. Daneben
die Krankenkassen als Einzugsstellen der Beiträge die Nachzah-          führen verschiedene Bundesländer sogenannte Korruptionsre-
lung nicht mehr verlangen kann. Bei vorsätzlichen Taten sieht das       gister. Die Eintragungsvoraussetzungen und Abfragemöglich-
Sozialversicherungsrecht allerdings eine 30-jährige Verjährungs-        keiten sind jedoch sehr unterschiedlich geregelt. Beispielsweise
frist für die Nachforderung der Beiträge vor. Somit ist der Unter-      reicht bei manchen Registern bereits ein Ermittlungsverfahren
nehmer bei Vorsatz 30 Jahre lang nicht von der Handlungspflicht,        für eine Eintragung aus, einer rechtskräftigen Verurteilung bedarf
d. h. der Nachzahlung, befreit. Erst nach 30 Jahren beginnt die         es nicht. In manchen Bundesländern gibt es dagegen überhaupt
(5-jährige) strafrechtliche Verjährungsfrist; eine Ungleichbehand-      kein Register. Diese uneinheitliche und unübersichtliche Vielzahl
lung gegenüber sonstigen Unterlassungsdelikten im deutschen             von Registern wird durch das neue Wettbewerbsregister ersetzt
Strafrecht, die aber bis ins Jahr 2019 durch den Bundesgerichts-        werden. Die bundesweite Regelung schafft größere Transparenz
hof akzeptiert und bestätigt wurde.                                     und Rechtsklarheit, für einen fairen Wettbewerb sicherlich ein
                                                                        Gewinn, für eine große Zahl von Unternehmen aber auch ein
  Doch seit dem 13. November 2019 bahnt sich insoweit eine              nicht zu unterschätzendes Risiko. Der Gesetzgeber geht von ins-
vollständige Kehrtwende an. Der 1. Strafsenat will seine eigene         gesamt 47.500 Eintragungen aus. Pro Jahr sollen ca. 9.500 Neu-
Rechtsprechung dazu ändern, sieht sich aber infolge der gleich-         eintragungen erfolgen.
lautenden Rechtsprechung der übrigen Strafsenate daran gehin-
dert und rief daher im Rahmen eines sog. Anfragebeschlusses             Wer wird eingetragen?
den Großen Senat des Bundesgerichtshofs in Strafsachen an, der          Eine Eintragung im Wettbewerbsregister erfolgt immer für ein
nun über die Vorlage entscheiden muss.                                  Unternehmen. Als Unternehmen gilt dabei jede natürliche oder
                                                                        juristische Person oder eine Gruppe solcher Personen, die auf
   Der 1. Strafsenat zieht bei seiner Anfrage zu Recht eine Parallele   dem Markt die Lieferung von Waren, die Ausführung von Bauleis-
zur Lohnsteuerhinterziehung, die bei Nichtabgabe der erforder-          tungen oder die Erbringung von sonstigen Leistungen anbietet.
lichen Steuererklärung ebenfalls als Unterlassungsdelikt ausge-         Der Unternehmensbegriff ist also sehr weit gefasst. Da Strafurteile
staltet ist, bei der die strafrechtliche Verjährung aber bereits mit    und Ordnungswidrigkeiten in der Regel nur gegen natürliche Per-
Ablauf der Frist zur Abgabe der Lohnanmeldungen am 10. Kalen-           sonen ergehen können, kommt es darauf an, ob die betroffene
dertag des Folgemonats beginnt.                                         Person für ein Unternehmen gehandelt hat. Das ist insbesondere
                                                                        der Fall, wenn sie das Unternehmen geleitet hat oder in leitender
  Vergleichbar dazu plädiert der 1. Senat des Bundesgerichts-           Stellung für das Unternehmen tätig war. Das Unternehmen muss
hofs dafür, die strafrechtliche Verjährung bei vorsätzlicher            sich also für Verfehlungen des Führungspersonals verantworten.
Scheinselbstständigkeit mit Verstreichenlassen des sozialversi-         Bei juristischen Personen können z. B. auch Prokuristen, faktische
cherungsrechtlichen Fälligkeitszeitpunktes beginnen zu lassen,          Geschäftsführer und Handlungsbevollmächtigte für die Leitung
d. h. mit Ablauf des drittletzten Arbeitstages im Monat. Dies           des Unternehmens verantwortlich sein.
würde dazu führen, dass die Taten – sollte der Verjährungsab-
lauf nicht vorher wirksam durch eine der gesetzlich vorgesehe-          Was wird eingetragen?
nen Handlung unterbrochen worden sein – jeweils 5 Jahre nach            Einzutragende Straftaten und Ordnungswidrigkeiten werden im
Ablauf des drittletzten Arbeitstages des jeweiligen Monats ver-         Gesetz zum Wettbewerbsregister (WRegG) abschließend benannt.
jähren.                                                                 Nur rechtskräftig festgestellte Verstöße führen zu einer Eintra-
                                                                        gung. Einzutragen sind alle Verstöße gegen solche Rechtsnor-
  Die Entscheidung des Großen Senats wird mit Spannung                  men, bei denen ein Ausschluss vom Vergabeverfahren nach dem
erwartet.                                                               GWB grundsätzlich zwingend ist. Aufgeführt werden unter ande-
                                                                        rem Betrug zum Nachteil öffentlicher Auftraggeber, Korruption,
                                                                        Geldwäsche, Hinterziehung von Sozialversicherungsabgaben
                                                                        und Steuerhinterziehung. Verbotene Wettbewerbsabsprachen,

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