Juli 2020 - BRANDI Rechtsanwälte
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Juli 2020 www.brandi.net BIELEFELD | DETMOLD | GÜTERSLOH | PADERBORN | MINDEN | HANNOVER | PARIS | PEKING
Seite 2 Juli 2020 Liebe Leser*innen, wir möchten Sie mit unseren Beiträgen auch in diesen schwie- Was „ellenlange“ Etiketten an Jeans mit Kennzeichnungs- und rigen Zeiten weiterhin über aktuelle Themen und Entwicklungen Meldepflicht zu tun haben, welche Aspekte vor dem Hintergrund informieren. der Corona-Pandemie von Start-Up Unternehmern und Geld- gebern zu beachten sind und vieles mehr hat die Kolleg*innen Unsere Kompetenzgruppe „Arbeitsrecht“ berichtet z. B. darüber, unserer M&A-Kompetenzgruppe beschäftigt. warum ein einzelnes Wort schon ausreichen kann, um Ausschluss- fristen unwirksam werden zu lassen. Neben weiteren interes- Warum Vorsicht bei der Gestaltung von „Honorararztverträgen“ santen Themen erfahren Sie aus französischer Sicht, ob sich geboten ist, erläutert der Bericht aus dem Kompetenzbereich Arbeitgeber bei COVID19 auf höhere Gewalt berufen können. Medizinrecht. Über den Plan einer Kehrtwende der Verjährung bei Schein- Außerdem freuen wir uns, Ihnen unsere neuen Kolleg*innen selbstständigkeit, dem Rat zur Prüfung Ihrer Homepage auf Frau Dr. Laura Schulte und Herrn Christian Rödding sowie unsere den Einsatz von Cookies oder warum die Uhr zur Prüfung Ihres Wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen Frau Christina Prowald und Compliance-Managementsystems läuft, informiert Sie neben Herrn Hendrik Verst vorstellen zu können. Wir wünschen Ihnen vielen anderen Beiträgen unsere Compliance-Kompetenzgruppe. eine erholsame Sommerzeit. Herzlichst Ihr BRANDI Team Neues aus dem BRANDI Team Frau Dr. Laura Schulte unterstützt das BRANDI Team in Bielefeld seit April 2020 im Daten- schutz- und IT-Recht sowie dem Recht des Gewerblichen Rechtsschutzes als Rechtsan- wältin. Nach dem Studium an der Universität Bielefeld, Promotion an der Universität Bielefeld inklusive eines Forschungsaufenthalts an der Queen Mary School of Law (London), absol- vierte sie ihr Referendariat am Oberlandesgericht Hamm mit Stationen u. a. in Bonn bei dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik. Christian Rödding unterstützt seit März 2020 das BRANDI Team in den Bereichen Allge- meines Zivilrecht und Arbeitsrecht am Standort Detmold. Herr Rödding hat an der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg und der Comeni- us-Universität Bratislava studiert. Das Referendariat absolvierte er am Oberlandesgericht Hamm. Hendrik Verst verstärkt seit Dezember 2019 das BRANDI Team in Bielefeld als wissen- schaftlicher Mitarbeiter im Bereich Datenschutz und IT-Recht. Er studierte Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld und absolvierte 2019 sein Ers- tes Staatsexamen. Christina Prowald gehört seit Dezember 2019 als wissenschaftliche Mitarbeiterin zum BRANDI Team in Bielefeld im Bereich Datenschutz und IT-Recht. Sie studierte Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld, absolvierte 2019 ihr Erstes Staatsexamen und war als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Römisches Recht bei Prof. Dr. Ingo Reichard tätig. www.brandi.net
Juli 2020 Seite 3 Inhalt Seite Arbeitsrecht 4 Dr. Sören Kramer Rückzahlungspflicht von Scheinselbstständigen 4 Dr. Andrea Pirscher Manchmal reicht schon ein falsches Wort – Neues vom BAG zu Ausschlussfristen 4 Bernd Kaufhold Schmähkritik als Kündigungsgrund 5 Denise Runge Verfall von Urlaubsansprüchen – keine Hinweisobliegenheiten bei Dauererkrankungen 6 Björn Mai Weiteres Update zum Vorbeschäftigungsverbot bei Befristungen 7 Dr. Tobias Schmitt Arbeitsunfähigkeit: keine Entgeltfortzahlung trotz Erstbescheinigung 9 Dr. Sandra Vyas Zusätzliche Pflichten öffentlicher Arbeitgeber bei Bewerbungen schwerbehinderter Menschen 9 Uwe Augustin/Anne-Sophie Bonhomme COVID19: Kann sich der Arbeitgeber auf höhere Gewalt berufen? 10 Compliance 12 Dr. Mario Bergmann Scheinselbstständigkeit: BGH plant Kehrtwende bei der Frage der Verjährung 12 Christopher Jones Das Wettbewerbsregister 12 Dr. Sebastian Meyer Neue Vorgaben für die Nutzung von Cookies 13 Dr. Christoph Rempe Krisenkommunikation aus äußerungsrechtlicher Sicht 14 Hubert Salmen Entwurf des Verbandssanktionengesetzes – „die Uhr läuft“ 15 Ulrich Vorspel-Rüter Zur Reduzierung von Haftungsrisiken bei Unternehmensverkäufen über eine Warranty&Indemnity-Versicherung 17 Gesellschaftsrecht/M&A 18 Dr. Carsten Christophery M&A post-Corona 18 Start-Up post-Corona 19 Daniela Deifuß-Kruse Alles nur Verwaltungskram? Registrierungs-, Kennzeichnungs- und Meldepflichten für Hersteller und Inverkehrbringer 20 Dr. Sven Hasenstab Schiedsklauseln in der Insolvenz 22 Hubert Salmen Was ist bei der Vorbereitung von Gesellschafterversammlungen zu beachten? 22 Ute Lienenlüke/Dr. Paul Czaplinski Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang – § 2 COVInsAG und die Auswirkungen auf die Haftung des GmbH-Geschäftsführers nach § 64 S. 1 GmbHG 25 Dr. Björn Schulz Auswirkungen der Corona-Krise auf das Vereins- und Stiftungsrecht 26 Medizinrecht 27 Miriam L. Germer Ärztliche Vertretung für ein MVZ ist sozialversicherungspflichtig 27 Autoren 28 www.brandi.net
Seite 4 Juli 2020 Arbeitsrecht Dr. Sören Kramer Ungeachtet der unangenehmen finanziellen Konsequenzen Rückzahlungspflicht von Scheinselbstständigen für den Arbeitnehmer führt die Entscheidung des Bundesarbeits- gerichtes dazu, dass die Verantwortung für die Voraussetzungen Wir haben in den vergangenen Ausgaben dieses Mandanten- einer echten Selbstständigkeit nicht mehr nur auf den Schultern rundbriefes wiederholt zu den teilweise komplexen Fragen der des Auftraggebers lastet. Auch der freie Mitarbeiter bzw. Auftrag- Abgrenzung von Arbeitnehmern bzw. Beschäftigten und freien nehmer muss mit finanziellen Konsequenzen rechnen, wenn tat- Mitarbeitern berichtet (vgl. zuletzt Rundbrief Dezember 2019 zur sächlich Scheinselbstständigkeit vorliegt. Beide Vertragspartner Bedeutung des Rahmenvertrages, dort Seite 11, und zur Sozial- sind also aufgerufen, sowohl bei der Vertragsgestaltung als auch versicherungspflicht von Honorarärzten, dort Seite 16). bei der tatsächlichen Durchführung des Vertrages größte Auf- merksamkeit walten zu lassen. Wir haben hierbei nicht nur die teilweise komplizierten Abgrenzungsfragen erörtert, sondern immer wieder auch auf die Dr. Andrea Pirscher einschneidenden Rechtsfolgen der Scheinselbstständigkeit hin- Manchmal reicht schon ein falsches Wort – Neues vom gewiesen: Der nur scheinbar Selbstständige genießt in vollem BAG zu Ausschlussfristen Umfange arbeitsrechtlichen Schutz, was sich insbesondere im Falle der Beendigung des Vertragsverhältnisses als böse Überra- Seit vielen Jahren befassen sich die Arbeitsgerichte immer wie- schung herausstellen kann. Der Auftrag- bzw. Arbeitgeber haftet der mit der Wirksamkeit von Ausschlussfristen. Grund dafür sind für nicht geleistete Sozialversicherungsabgaben (einschließlich teilweise gesetzliche Änderungen (z. B. die Einführung des Min- teurer Säumniszuschläge) ebenso wie für die nicht abgeführte destlohngesetzes oder Änderungen im BGB zur Textform von Lohnsteuer. Im Übrigen droht regelmäßig ein Ermittlungsverfah- Anzeigen und Erklärungen). Aber auch die Frage, ob eine Klausel ren wegen Vorenthaltung von Sozialversicherungsbeiträgen und in einem Arbeitsvertrag für den Arbeitnehmer transparent ist, ist Steuerhinterziehung. immer wieder Gegenstand von arbeitsgerichtlichen Urteilen. Mit einem Urteil aus dem Jahre 2019 hat der 5. Senat des Bun- Das Bundesarbeitsgericht musste sich am 3. Dezember 2019 desarbeitsgerichtes die Rechtsfolgen einer gescheiterten freien mit einer Klausel aus dem Jahr 2007 befassen, in der es hieß: Mitarbeit um eine neue für den vermeintlich freien Mitarbeiter sehr unangenehme Komponente bereichert: „Alle beiderseitigen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis und sol- che, die mit dem Arbeitsverhältnis in Verbindung stehen, verfallen, Steht etwa am Ende eines Kündigungsschutzprozesses oder wenn sie nicht innerhalb von drei Monaten nach Fälligkeit gegen- eines sozialversicherungsrechtlichen Statusverfahrens fest, über der anderen Vertragspartei schriftlich geltend gemacht werden. dass der vermeintlich freie Mitarbeiter tatsächlich ein sozialver- sicherungspflichtig beschäftigter Arbeitnehmer war, kann der Lehnt die Gegenseite den Anspruch ab, oder erklärt sie sich nicht vermeintliche Auftraggeber die an den Mitarbeiter gezahlte Ver- innerhalb von zwei Wochen nach Geltendmachung des Anspruchs gütung einschließlich geleisteter Umsatzsteuer erstattet verlan- dagegen, so verfällt dieser, wenn er nicht innerhalb von drei Mona- gen. Er muss sich allerdings dasjenige anrechnen lassen, was er ten nach der Ablehnung oder dem Fristablauf gerichtlich geltend im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses als Lohn bzw. Gehalt hätte gemacht wird. (…)“ leisten müssen. Typischerweise ist das Honorar für den freien Mitarbeiter höher als die Vergütung, die ein Arbeitnehmer für Das BAG entschied: Der zweite Absatz suggeriere dem Arbeit- dieselbe bzw. eine ähnliche Tätigkeit erhalten würde. Der freie nehmer, dass er den Anspruch ausnahmslos innerhalb der Aus- Mitarbeiter genießt gerade keinen arbeitsrechtlichen Schutz und schlussfrist gerichtlich geltend machen müsse, sogar dann, wenn muss daher mit kurzfristiger Vertragsbeendigung rechnen. Darü- der Arbeitgeber zugesagt habe, den Anspruch zu erfüllen. Die ber hinaus ist er für seine soziale Vorsorge selber verantwortlich. Klausel sei irreführend und geeignet, den Arbeitnehmer davon abzuhalten, sich auf seine Rechte zu berufen. Damit sei sie Maßstab für die anrechenbaren Aufwendungen, die der intransparent und unwirksam. gescheiterte freie Mitarbeiter dem Auftraggeber entgegenhalten kann, ist die branchenübliche Vergütung für einen sozialversiche- Hätte das Bundesarbeitsgericht nicht einfach die zweite Alter- rungspflichtig angestellten Arbeitnehmer. native des zweiten Absatzes streichen können, um die Klausel „zu retten“? Das kam nicht in Betracht, weil es sich um eine einheit- Der Rückforderungsanspruch des gescheiterten Auftragge- liche Regelung handelt, die inhaltlich nicht teilbar ist. Die erste bers ist nur durch die allgemeinen Verjährungsgrenzen von drei Alternative des zweiten Absatzes wäre zwar allein aus sich heraus Jahren beschränkt. Die Verjährung beginnt in dem Augenblick, noch verständlich. Der Anwendungsbereich würde aber in zeit- in dem der Auftraggeber die Überzahlung feststellen kann, also licher Hinsicht erweitert: Es würde sich auch auf die Fälle erstre- im Zweifel erst mit rechtskräftigem Abschluss des Kündigungs- cken, in denen der Anspruch nicht innerhalb von zwei Wochen, schutz- bzw. Statusverfahrens. sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt abgelehnt wird. Wenn also der übliche Bruttoarbeitslohn für die erbrachte Hätte der Arbeitgeber „erklärt sich nicht“ formuliert, also das Leistung inklusive Arbeitgeberanteil zur Sozialversicherung die Wort „dagegen“ einfach weggelassen, hätten sich diese Schwie- Summe des im selben Zeitraum ausgezahlten Honorars über- rigkeiten nicht ergeben. Eine Streichung nur des Worts „dage- steigt, sieht sich der gescheiterte freie Mitarbeiter einem Rück- gen“ durch das BAG kam aber auch nicht in Betracht, weil eine zahlungsanspruch ausgesetzt. In dem vom BAG entschiedenen sog. geltungserhaltende Reduktion im System der Allgemeinen Fall wurde der beklagte IT-Administrator in letzter Instanz zur Geschäftsbedingen, unter die auch Arbeitsverträge fallen, nicht Rückzahlung von mehr als 100.000 EUR verurteilt! vorgesehen sei. www.brandi.net
Juli 2020 Seite 5 Das BAG formuliert es kurz und prägnant: Der Arbeitgeber Bernd Kaufhold hatte es als Verwender der Klausel selbst in der Hand, eine trans- Schmähkritik als Kündigungsgrund parente Ausschlussfristenregelung zu formulieren. Die Sprache verroht. Diese trübe Erkenntnis gilt nicht nur für die Wäre die Klausel im Jahre 2017 statt im Jahre 2007 vereinbart Politik und die sozialen Medien, auch das Klima vieler Betriebe worden, wäre sie aus einem weiteren Grund unwirksam gewesen: wird durch die Wortwahl in Auseinandersetzungen beeinträch- Seit Oktober 2016 dürfen Ausschlussfristen nur noch die Geltend- tigt. Der Arbeitgeber muss wachsam sein. Entgleisungen sind machung in Textform, aber nicht mehr in Schriftform verlangen. arbeitsrechtlich durch Abmahnung oder Kündigung zu ahnden. Da es sich aber um einen Altvertrag handelte, musste sich das Aber wo verlaufen die Grenzen zwischen unzulässiger Schmäh- Bundesarbeitsgericht damit nicht befassen. kritik und der grundrechtlich geschützten Meinungsäußerung? Das BAG hatte in einer neuen Entscheidung vom 05.12.2019 die In dem BAG-Urteil ging es um 1.700,00 € Spesen. Die Anwalts- Gelegenheit, die Spielregeln noch einmal grundsätzlich darzu- und Gerichtskosten beliefen sich auf fast 4.000,00 € (einschließ- stellen. lich Mehrwertsteuer). Der Sachverhalt Die finanzielle Dimension einer unwirksamen Ausschluss- Die Parteien stritten im Wesentlichen um die Wirksamkeit einer fristenregelung mag folgendes vereinfachtes Beispiel beleuch- ordentlichen Kündigung des Arbeitgebers. ten: Der Arbeitnehmer begehrt Überstundenvergütung von 20 Stunden pro Monat für 45 Monate. Es spielt dann eine entschei- Die Klägerin war bei der Beklagten als kaufmännische Ange- dende Rolle, ob nur 60 Stunden für drei Monate bei wirksamer stellte beschäftigt. Im Verlauf des Arbeitsverhältnisses sah sie Ausschlussfrist zu vergüten sind oder gar 900 Stunden im Rah- sich durch ihre Vorgesetzten wegen ihres Geschlechts und men der gesetzlichen Verjährungsfristen. Schon bei einem Brut- ihrer afghanischen Herkunft diskriminiert. In einer E-Mail an die to-Stundenentgelt von 15,00 € macht das einen Unterschied von Beklagte gab die Klägerin an, seit einigen Jahren würden „Gueril- über 12.000 € brutto aus. la-Aktionen“ gegen sie geführt, sie habe eine „himmelschreiende Ausländer- und Frauenfeindlichkeit“ vorgefunden. Sie würde Die dreijährige gesetzliche Verjährungsfrist beginnt übrigens es als unfair erachten, wenn der Vorstandsvorsitzende davon erst mit Ablauf des Jahres, in dem der Anspruch entstanden ist. aus der amerikanischen Presse oder der „Oprah-Winfrey-Show“ erführe. Bei ihrem „Chef“ handele es sich um einen „unterbelich- Auf die Unwirksamkeit einer intransparenten Klausel kann sich teten Frauen- und Ausländerhasser“. Mit einer weiteren E-Mail nur der Arbeitnehmer berufen. Der Arbeitgeber als Verwender setzte die Klägerin ihre seelischen Leiden mit den der verfolg- der Klausel ist an seine Regelung gebunden. ten Juden und die Situation in dem Unternehmen mit dem Film „der Pate“ gleich. Schließlich wandte sie sich unter dem Betreff Bei Abschluss von Arbeits- oder Änderungsverträgen sollte „Lebenswerk der unfähigen Führungskräfte“ an ihren unmittel- immer darauf geachtet werden, dass wirksame Ausschlussfris- baren Vorgesetzten. Sie hielt ihm Mobbing, Bossing, unberech- tenklauseln verwendet werden. tigte Kritik sowie unsachliche und leere Bemerkungen vor, ferner, dass er seine Position nur innehabe, um einer intellektuellen Frau das Leben zur Hölle zu machen. Die Klägerin versandte die E-Mail an weitere zwölf Mitarbeiter der Beklagten. e g e n t d a g ni c h www.brandi.net
Seite 6 Juli 2020 Die Beklagte wies die Klägerin darauf hin, dass ihre Äußerun- Eine Schmähung ist eine Äußerung – unter Berücksichtigung gen durch ihr Beschwerderecht und das Recht zur freien Mei- von Anlass und Kontext – jedoch nur dann, wenn jenseits auch nungsäußerung nicht mehr gedeckt seien. Die Beklagte forderte polemischer und überspitzter Kritik nicht mehr die Auseinander- die Klägerin auf, insbesondere die Anspielungen auf die Zeit des setzung in der Sache, sondern allein die Diffamierung der Person Nationalsozialismus zurückzunehmen und sich bei den betrof- im Vordergrund steht. Wesentliches Merkmal der Schmähung fenen Personen zu entschuldigen, anderenfalls drohten arbeits- ist eine, das sachliche Anliegen völlig in den Hintergrund drän- rechtliche Maßnahmen bis hin zur Kündigung. Die Klägerin gende, persönliche Kränkung. relativierte nachfolgend einzelne Aussagen, entschuldigte sich aber nicht. Die Beklagte kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis Auch wenn Äußerungen eines Arbeitnehmers als Meinung ordentlich. Das LAG löste das Arbeitsverhältnis zunächst gegen geschützt sind, bleibt eine Kündigung des Arbeitgebers aus Abfindung auf, wies die Klage dann nach erfolgter Revision ab. diesem Anlass durchaus möglich. Schließlich ist auch die wirt- schaftliche Betätigungsfreiheit des Arbeitgebers grundrechtlich Die Entscheidung geschützt. Diese kann durch geschäftsschädigende Äußerungen Das BAG hob das Urteil des LAG auf und verwies den Rechtsstreit des Arbeitnehmers verletzt sein. Der Arbeitgeber wird allerdings erneut an das LAG zurück. Mit der gegebenen Begründung durfte darlegen und beweisen müssen, dass das den Arbeitnehmer das Landesarbeitsgericht die Kündigung der Beklagten nicht als treffende Gebot zur Rücksichtnahme in der konkreten Situation sozial gerechtfertigt ansehen. seinem Recht auf freie Meinungsäußerung vorging. Dies kann nur gelingen, wenn der Äußerung des Arbeitnehmers keine Auch das BAG hielt die Ankündigung der Klägerin, die ameri- Provokationen auf Seiten des Arbeitgebers oder dessen Vertre- kanische Presse einzuschalten, falls ihre Arbeitsumstände unver- ter vorausgegangen sind, oder wenn durch die Äußerungen des ändert blieben, für eine widerrechtliche Drohung. Auf diesen Arbeitnehmers erhebliche betriebliche Beeinträchtigungen ent- Aspekt hatte das LAG seine Entscheidung aber nicht gestützt. Das standen sind. LAG wertete vielmehr die Äußerungen ggü. ihrem Vorgesetzten rechtsfehlerhaft als Schmähkritik bzw. als unwahre Tatsachenbe- Denise Runge hauptungen. Aufgrund dieser unzutreffenden Wertung unterließ Verfall von Urlaubsansprüchen – keine Hinweisoblie- das LAG die erforderliche Güterabwägung unter Berücksichti- genheiten bei Dauererkrankungen gung des grundrechtlich geschützten Rechts der Klägerin auf freie Meinungsäußerung. Im November 2018 entschied der EuGH in zwei Fällen, dass Arbeitnehmer den europarechtlich vorgeschriebenen Mindest- Das BAG hielt die Kritik der Klägerin für (teils maßlos) überzo- urlaubsanspruch von vier Wochen jährlich, den diese zum Ende gen, ausfällig und ungehörig, wertete die Äußerungen der Klä- eines Kalenderjahres (bzw. zum Ende des Übertragungszeit- gerin aber als Meinungen. Der Klägerin sei es nicht entscheidend raums) nicht genommen haben, nicht automatisch verlieren, um die Diffamierung ihres Vorgesetzten gegangen, sondern wenn sie beim Arbeitgeber keinen Urlaub beantragt haben. Das um die Thematisierung und Wertung der von ihr behaupteten Bundesarbeitsgericht hat im Februar 2019 seine bisherige Recht- Geschehnisse. Das gelte auch für ihre Vergleiche mit dem Leid sprechung zur Übertragung von Urlaubsansprüchen grundle- der Juden und dem Film „Der Pate“. Mit diesen Vergleichen habe gend geändert und an die Entscheidungen des EuGH angepasst. sie das als demütigend empfundene Verhalten ihres Vorgesetz- Der Urlaubsanspruch des Arbeitnehmers erlischt demnach in der ten bewertet. Solche Werturteile seien auch im Arbeitsverhältnis Regel nur dann am Ende des Kalenderjahres oder eines zulässi- unter dem Gesichtspunkt der Meinungsfreiheit geschützt. Vom gen Übertragungszeitraums, wenn der Arbeitgeber den Arbeit- Grundrecht der Meinungsfreiheit umfasste Äußerungen verlören nehmer zuvor konkret aufgefordert hat, den Urlaub zu nehmen den sich daraus ergebenden Schutz selbst dann nicht, wenn sie und ihn klar und rechtzeitig darauf hingewiesen hat, dass der scharf oder überzogen geäußert würden. Urlaub anderenfalls mit Ablauf des Urlaubsjahres oder Übertra- gungszeitraums erlischt (BAG, Urteil vom 19 Februar 2019 - 9 AZR Für die Bewertung des BAG war insbesondere entscheidend, 541/15). dass der betreffende Vorgesetzte nicht vollkommen schuldlos an der Eskalation war. Auch dieser war verschiedentlich sprachlich Das LAG Rheinland-Pfalz hat sich in seiner Entscheidung vom entgleist (u. a. hatte er die Klägerin als „Walross“ bezeichnet und 15. Januar 2020 nun mit der Frage befasst, ob den Arbeitgeber geäußert „Ihr Araber seid alle gleich“). diese Mitwirkungsobliegenheit auch hinsichtlich der Urlaubsan- sprüche von langzeiterkrankten Arbeitnehmern trifft (LAG Rhein- Fazit land-Pfalz, Urteil vom 15. Januar 2020 - 7 Sa 284/19). Das BAG stellt ausdrücklich klar, dass widerrechtliche Drohungen und grobe Beleidigungen des Arbeitgebers oder dessen Vertreter Sachverhalt: Die Parteien stritten über Urlaubsabgeltungs- eine Kündigung auch ohne Abmahnung rechtfertigen können. ansprüche für das Jahr 2016. Der klagende Arbeitnehmer begehrte von der beklagten Arbeitgeberin Abgeltung für ins- Zwar dürfen Arbeitnehmer – auch unternehmensöffentlich – gesamt 30 Urlaubstage aus dem Jahre 2016. Der Kläger war seit Kritik am Arbeitgeber, ihren Vorgesetzten und den betrieblichen dem 18. Januar 2016 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Das Verhältnissen üben und sich dabei auch überspitzt äußern. In Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien endete aufgrund eines grobem Maße unsachliche Angriffe, die zur Untergrabung der Auflösungsvertrags mit Ablauf des 28. Februar 2019. Der Auflö- Position eines Vorgesetzten führen können, muss der Arbeit- sungsvertrag sah für die Jahre 2017 – 2019 eine Urlaubsabgel- geber aber nicht hinnehmen. Schmähkritik oder unwahre Tat- tung vor. Der Resturlaub aus dem Jahre 2016 war zwischen den sachenbehauptungen seien gerade nicht durch das Recht der Parteien jedoch streitig. Einen Hinweis über einen etwaigen Ver- freien Meinungsäußerung gedeckt. fall seines Urlaubs erteilte die Beklagte dem Kläger nicht. www.brandi.net
Juli 2020 Seite 7 Die Beklagte vertrat im Prozess die Auffassung, dass der Björn Mai Urlaubsanspruch des Klägers für das Jahr 2016 bereits verfallen Weiteres Update zum Vorbeschäftigungsverbot bei sei. Der Kläger hingegen war der Ansicht, dass die Beklagte ihn Befristungen auf den Verfall seines Urlaubsanspruchs für das Jahr 2016 hätte hinweisen müssen. Die Frage, ob er während des Bezugszeit- Wesentliche Voraussetzung für eine kalendermäßige Befristung raums vollumfänglich arbeitsunfähig gewesen sei oder nicht, von Arbeitsverhältnissen ohne Sachgrund ist, dass nicht mit dem- habe nichts mit der Obliegenheit der Beklagten zu tun, auf die selben Arbeitgeber „bereits zuvor“ ein Arbeitsverhältnis bestan- Gefahr des Verfalls des Urlaubs bzw. dessen Inanspruchnahme den hat (sog. Vorbeschäftigungsverbot). Im Mandantenrundbrief hinzuweisen. Dezember 2019 hat Dr. Sandra Vyas dargestellt, dass und warum die Rechtsprechung zu sachgrundlosen Befristungen insbeson- Die Entscheidung: Nach Auffassung des LAG Rheinland-Pfalz dere nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist der Resturlaubsanspruch aus dem Jahr 2016 verfallen. Das LAG aus dem Jahr 2018 zum Vorbeschäftigungsverbot einer ständi- sah keine Mitwirkungsobliegenheit des Arbeitgebers: Zwar treffe gen Entwicklung unterliegt. den Arbeitgeber bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs gem. § 7 Abs. 1 S. 1 BUrlG grundsätzlich die Initiativlast. Nur Vor Abschluss eines befristeten Arbeitsverhältnisses ohne dann, wenn der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten Sachgrund ist sorgfältig zu prüfen, ob bereits zuvor ein Arbeits- hinsichtlich der Inanspruchnahme des Urlaubs ordnungsgemäß verhältnis zum Arbeitgeber bestanden hat. Die Möglichkeiten, erfüllt habe, könne das urlaubsrechtliche Fristenregime eingrei- sich vom Arbeitnehmer bestätigen zu lassen, dass kein Vor- fen. Zweck dieser Mitwirkungsobliegenheit sei es zu verhindern, arbeitsverhältnis bestanden hat, hat das Landesarbeitsgericht dass ein Arbeitnehmer seinen Urlaub nicht wahrnehme, weil der Baden-Württemberg nunmehr mit Urteil vom 11.03.2020 jedoch Arbeitgeber ihn dazu nicht in die Lage versetzt habe. Im Fall des eingeschränkt. langandauernd erkrankten Arbeitnehmers könne der Arbeit- geber aufgrund der Arbeitsunfähigkeit jedoch keinen Urlaub Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg hat entschie- gewähren. Der vom BUrlG bezweckte Gesundheitsschutz durch den, dass eine Vertragsklausel in Allgemeinen Geschäftsbe- die tatsächliche Inanspruchnahme des Urlaubs könne bei lang- dingungen (und als solche sind Arbeitsverträge regelmäßig andauernd erkrankten Arbeitnehmern nicht dadurch gefördert anzusehen), mit welcher der Arbeitnehmer bestätigen soll, nicht werden, dass der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten bereits zuvor in einem Arbeitsverhältnis zum Arbeitgeber gestan- ordnungsgemäß nachkomme. Darüber hinaus sei der Arbeitge- den zu haben, unwirksam ist. Zweck einer solchen Regelung sei ber während der andauernden Arbeitsunfähigkeit des Arbeit- nämlich, dass der Arbeitnehmer eine Tatsache bestätigen soll, nehmers ohnehin schon nicht in der Lage, einen zutreffenden die geeignet ist, die Darlegungs- und Beweislast bezüglich des konkreten Hinweis über den Verfall des Urlaubsanspruchs zu Bestands einer Vorbeschäftigung zulasten des Arbeitnehmers erteilen. Ein solcher „konkreter“ Hinweis sei erst dann möglich, und zugunsten des Arbeitgebers zu verändern. Und solche wenn der Arbeitgeber Kenntnis davon habe, wann der Arbeit- Tatsachenbestätigungen, die zu einer Veränderung der Darle- nehmer seine Arbeitsfähigkeit wiedererlange. gungs- und Beweislast führen sollen, sind – jedenfalls soweit sie in Allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten sind – unwirksam. Das LAG Rheinland-Pfalz folgt damit im Ergebnis der Entschei- dung des LAG Hamm vom 24. Juli 2019 (5 Sa 676/19), der ein ver- Im vom Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg entschiede- gleichbarer Sachverhalt zugrunde lag. Anders als das LAG Hamm nen Fall stellte der Arbeitgeber die Arbeitnehmerin zunächst im hat das LAG Rheinland-Pfalz die Revision zum BAG zugelassen. April 1999 befristet bis zum 31.07.2001 ein. Das Arbeitsverhältnis ging im Rahmen eines Betriebsübergangs im September 1999 Hinweise für die Praxis: Das BAG muss nun entscheiden, ob auf einen neuen Arbeitgeber über und endete später mit dem auch gegenüber langzeiterkrankten Arbeitnehmern ein Hinweis Ablauf der Befristung. Erst im Jahr 2014 bewarb sich die Arbeit- des Arbeitgebers über den Verfall ihres Urlaubs erforderlich ist. nehmerin erneut bei dem früheren Arbeitgeber. Die Vorbeschäf- Die Feststellung der beiden Landesarbeitsgerichte überzeugt tigung aus dem Jahr 1999 war im Lebenslauf der Arbeitnehmerin jedoch: Zum einen ist es dem Arbeitgeber während der andau- nicht aufgeführt. In einem Personalbogen gab sie zwar an, bereits ernden Arbeitsunfähigkeit schon nicht möglich, den Arbeit- in der Unternehmensgruppe beschäftigt gewesen zu sein, nach nehmer „konkret“ und in „völliger Transparenz“ – wie von der einer Vorbeschäftigung bei dem Arbeitgeber selbst wurde die Rechtsprechung gefordert – über den Verfall seines Urlaubs zu Arbeitnehmerin jedoch nicht explizit gefragt. Der Arbeitsvertrag informieren, da der Arbeitgeber im Zeitpunkt seiner Belehrung enthielt allerdings folgende Regelung: „Sie bestätigen, bisher in noch nicht absehen kann, ob der Urlaubsanspruch des Arbeit- keinem befristeten oder unbefristeten Arbeitsverhältnis (ein- nehmers tatsächlich verfallen wird oder bis zu 15 Monate nach schließlich Ferienbeschäftigung) zu uns gestanden zu haben“. Ende des Urlaubsjahres fortbesteht. Zum anderen hat der Arbeit- geber schon nicht die Möglichkeit, den erkrankten Arbeitnehmer Trotz dieser Bestätigung stand der wirksamen Befristung des in die Lage zu versetzen, seinen Urlaub tatsächlich zu nehmen. Arbeitsverhältnisses die frühere Vorbeschäftigung entgegen. Der Bis das BAG die Frage der Mitwirkungsobliegenheit des Arbeit- Arbeitgeber konnte sich nicht auf diese Regelung im Arbeitsver- gebers bei lang andauernd erkrankten Arbeitnehmern geklärt trag berufen. Zwar kehrt eine solche Klausel die Beweislast der hat, sollten Arbeitgeber jedoch auch diese Arbeitnehmer in das Parteien nicht gänzlich um, jedoch ermöglicht sie dem Arbeitge- jeweilige „Hinweissystem“ des Unternehmens einbeziehen und ber ein sog. „substantiiertes Bestreiten“, indem der Arbeitnehme- ihnen einen Hinweis auf den Verfall ihres Urlaubs erteilen. Sobald rin deren Bestätigung vorgehalten werden kann, wodurch diese der langzeiterkrankte Arbeitnehmer wieder arbeitsfähig ist, hat einer erhöhten Darlegungslast in ihrer Erwiderung ausgesetzt ist. der Arbeitgeber ihn über seine konkreten Urlaubsansprüche indi- Hierdurch trete eine Veränderung der Darlegungs- und Beweis- viduell zu belehren. last ein, sodass die Klausel in Allgemeinen Geschäftsbedingun- gen unwirksam sei. www.brandi.net
Seite 8 Juli 2020 An der vormaligen Rechtsprechung des BAG, dass in „verfas- Arbeitsvertrag zu begrenzen. Im Rahmen der sorgfältigen Prü- sungsorientierter Auslegung“ des Vorbeschäftigungsverbots fung, ob bereits zuvor ein Arbeitsverhältnis bestanden hat, ist es nur solche Vorbeschäftigungen einer erneuten sachgrundlosen daher der sicherste Weg, den Arbeitnehmer explizit nach einer Befristung entgegenstehen können, wenn diese nicht länger als Vorbeschäftigung beim Arbeitgeber außerhalb von Allgemei- 3 Jahre zurückliegen, kann nach der Entscheidung des Bundes- nen Geschäftsbedingungen, d. h. außerhalb des Arbeitsvertrags verfassungsgerichts aus dem Jahr 2018 nicht mehr festgehalten sowie außerhalb eines Personalfragebogens, zu fragen. werden. Demnach gilt, dass jedenfalls im Grundsatz jegliche Vorbeschäftigungen bei demselben Arbeitgeber die Möglich- Dennoch empfiehlt es sich, (auch weiterhin) vom Arbeitneh- keit einer erneuten sachgrundlosen Befristung sperren. Das gilt mer durch derartige Klauseln im Arbeitsvertrag oder Personal- auch – wie hier – im Falle einer Vorbeschäftigung vor 15 Jahren. fragebogen bestätigen zu lassen, dass kein Vorarbeitsverhältnis Hiervon weicht die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung zwar in bestanden hat. Zum einen entfaltet eine entsprechende Klausel bestimmten Ausnahmefällen, die Dr. Sandra Vyas im Mandan- im Arbeitsvertrag eine „psychologische Wirkung“ gegenüber dem tenrundbrief Dezember 2019 dargestellt hat, im Wege einer Arbeitnehmer, eine etwaige Vorbeschäftigung zu offenbaren, einschränkenden Auslegung ab. Im vom Landesarbeitsgericht zum anderen könnte eine solche Klausel den Arbeitsvertragspar- Baden-Württemberg entschiedenen Fall war nach Ansicht der teien als nützliche Erinnerung dienen, die Frage einer Vorbeschäf- Richter jedoch keine dieser einschränkenden Ausnahmen ein- tigung außerhalb des Arbeitsvertrags noch aufzuklären. schlägig. Die Befristung war daher unwirksam. Darüber hinaus stellt sich natürlich die Frage, ob und wie das Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg folgt grund- Bundesarbeitsgericht den dieser Entscheidung zugrundeliegen- sätzlich der Rechtsprechungslinie des Bundesarbeitsgerichts, den Rechtsstreit entscheiden wird – die Revision zum Bundes- dass eine 15 Jahre zurückliegende Vorbeschäftigung als nicht arbeitsgericht wurde im Urteil jedenfalls zugelassen. Es ist also sehr lang zurückliegend angesehen wird. Allerdings beschränkt gut möglich, dass das Bundesarbeitsgericht diesen Rechtsstreit das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg mit dieser Ent- als weiteren Anlass nehmen wird, seine Rechtsprechung zum scheidung die Möglichkeit, Risiken bezogen auf das Vorbe- Vorbeschäftigungsverbot bei sachgrundlosen Befristungen zu schäftigungsverbot arbeitgeberseitig durch eine Regelung im konkretisieren. www.brandi.net
Juli 2020 Seite 9 Dr. Tobias Schmitt • Weist der Arbeitgeber darauf hin und beruft er sich auf die Arbeitsunfähigkeit: keine Entgeltfortzahlung trotz Erst- Einheit des Verhinderungsfalles, muss der Arbeitnehmer im bescheinigung Weiteren das Bestehen sowie Beginn und Ende der jeweiligen Arbeitsunfähigkeit in vollem Umfang beweisen. Zweifel gehen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen sind für Arbeitgeber ein zulasten des Arbeitnehmers. leidiges Thema: Sie bescheinigen, dass eine Arbeitsunfähigkeit besteht, seit wann sie besteht und wie lange sie voraussichtlich Das Bundesarbeitsgericht hat Arbeitgebern damit wirksame andauern wird. Ob die Angaben stimmen, kann der Arbeitge- prozesstaktische Mittel an die Hand gegeben. Besteht bei sich ber jedoch kaum überprüfen. Arbeitnehmer können sich so teil- unmittelbar anschließenden Arbeitsunfähigkeitszeiten mit weise monatelang in eine vermeintliche Arbeitsunfähigkeit mit angeblich jeweils unterschiedlicher Ursache der Verdacht, dass voller Entgeltfortzahlung verabschieden. Zwar muss ein Arbeit- der Arbeitnehmer die Entgeltfortzahlung missbraucht, sollte nehmer im Streitfall das Vorliegen und die Dauer einer Krankheit der Arbeitgeber zunächst keine Entgeltfortzahlung leisten. Der beweisen, er kann sich dabei jedoch auf die Arbeitsunfähigkeits- Arbeitgeber kann in einem Rechtsstreit allein durch Verweis auf bescheinigung stützen. Die Gerichte gehen von einem hohen das zeitliche unmittelbare Aufeinanderfolgen der Arbeitsunfä- Beweiswert dieser Bescheinigung aus, den der Arbeitgeber in higkeitszeiten den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheini- aller Regel nur schwer erschüttern kann. Es gibt jedoch Fälle, in gungen erschüttern und dem Arbeitnehmer die volle Beweislast denen es mit Kenntnis der Regeln der Beweislast gelingt – die für die Richtigkeit seines Vortrages aufbürden. Erfolgschancen haben sich durch ein Urteil des Bundesarbeits- gerichtes erhöht (Urteil vom 11. Dezember 2019 – 5 AZR 505/18). Die Erschütterung des Beweiswertes ist zugegebener Maßen nur der erste Schritt. Stellt sich in der dann folgenden Beweis- Der Fall: Die Arbeitnehmerin war bis einschließlich 18. Mai 2017 aufnahme heraus, dass sich die zugrundeliegenden Ursachen arbeitsunfähig erkrankt und erhielt zunächst für sechs Wochen tatsächlich nicht überschnitten haben, muss der Arbeitgeber Entgeltfortzahlung, danach Krankengeld. Vom 19. Mai bis zum 30. Entgeltfortzahlung leisten. Mitunter ergibt die Beweisaufnahme Juni 2017 war sie erneut und angeblich auf Grund einer anderen jedoch, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ohne per- Krankheit arbeitsunfähig. Die Arbeitnehmerin erhielt von ihrer sönliche Untersuchung des Patienten ausgestellt wurden – so Ärztin für den zweiten Arbeitsunfähigkeitszeitraum eine Erstbe- auch im vom Bundesarbeitsgericht entschiedenen Fall. Und scheinigung und verlangte für weitere sechs Wochen Entgeltfort- gerade in diesen Fällen wird es dann für den Arbeitnehmer zahlung. Die Arbeitgeberin verweigerte die Zahlung und bekam schwer zu beweisen, dass sich die Ursachen nicht überschnitten Recht. Es sprächen gewichtige Indizien dafür, dass kein neuer Ent- haben geltfortzahlungsanspruch entstanden sei und die Arbeitnehme- rin das Gegenteil nicht habe beweisen können. Dr. Sandra Vyas Zusätzliche Pflichten öffentlicher Arbeitgeber bei Rechtlicher Hintergrund: Tritt die neue Erkrankung zu einem Bewerbungen schwerbehinderter Menschen Zeitpunkt ein, in dem die ursprüngliche krankheitsbedingte Arbeitsverhinderung bereits beendet war, besteht grundsätzlich Die Bewerbung von schwerbehinderten Menschen löst grund- auch ein neuer Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Überschnei- sätzlich für jeden Arbeitgeber besondere Pflichten aus. Öffent- den sich jedoch beide Krankheitsursachen zeitlich, beginnt der lichen Arbeitgebern legt der Gesetzgeber im SGB IX zusätzliche sechswöchige Entgeltfortzahlungszeitraum nicht neu zu laufen. Verpflichtungen auf, die im Rahmen eines Stellenbesetzungsver- Denn in diesem Fall werden beide Arbeitsunfähigkeitszeiträume fahrens zu beachten sind: rechtlich als ein einziger Zeitraum betrachtet, für den der Arbeit- nehmer auch nur für maximal 6 Wochen Entgeltfortzahlung Weitergehende Meldepflicht bei der Arbeitsagentur im Krankheitsfall beanspruchen kann (sogenannte Einheit des Grundsätzlich ist jeder Arbeitgeber verpflichtet zu prüfen, ob Verhinderungsfalls). Darüber, ob sich die Krankheitsursachen freie Arbeitsplätze mit schwerbehinderten Menschen, insbeson- überschneiden, kann man sich im Einzelfall trefflich streiten. Ent- dere bei der Agentur für Arbeit arbeitslos oder arbeitssuchend scheidend ist daher, wer welche Tatsachen beweisen muss und gemeldeten schwerbehinderten Menschen, besetzt werden welche Beweismittel man dafür nutzen kann – und genau an dieser können. Darüber hinaus müssen öffentliche Arbeitgeber frei wer- Stelle setzt die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes an: dende, neu zu besetzende und neue Arbeitsplätze frühzeitig bei der Agentur für Arbeit melden. Diese Verpflichtung greift, wenn • Der Arbeitnehmer muss Beginn und Ende einer auf einer der zu besetzende Arbeitsplatz nicht vorrangig intern besetzt bestimmten Krankheit beruhenden Arbeitsunfähigkeit darle- werden kann. Gemeldet werden muss ein Arbeitsplatz, wenn der gen und beweisen. Dafür kann er sich zunächst auf die Arbeits- Zeitpunkt des Ausscheidens vorhersehbar ist (z. B. bei Erreichen unfähigkeitsbescheinigung und den ihr zugesprochenen der Altersgrenze oder Auslaufen eines befristeten Arbeitsvertra- hohen Beweiswert stützen. ges) und die erforderlichen Mittel für die Stelle im Haushalt vor- handen sind. • Der Arbeitgeber kann den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeits- bescheinigung erschüttern und diese Erschütterung ist durch In der Regel: Einladung zum Vorstellungsgespräch das eingangs genannte Urteil des Bundesarbeitsgerichtes Öffentliche Arbeitgeber müssen schwerbehinderte Bewerber* erleichtert worden: Indizien, die zu einer Erschütterung führen, i. d. R. zum Vorstellungsgespräch einladen. Hiervon können sie liegen neuerdings bereits dann vor, wenn der erste und der im Ausnahmefall absehen, wenn dem Bewerber die fachliche weitere Arbeitsunfähigkeitszeitraum zeitlich entweder unmit- Eignung für die ausgeschriebene Stelle offensichtlich fehlt. Die telbar aufeinanderfolgen – so im oben geschilderten Fall – oder Pflicht zur Einladung zum Bewerbungsgespräch besteht auch zwischen ihnen lediglich ein für den erkrankten Arbeitnehmer dann, wenn sich schon aus der Papierform ergibt, dass andere arbeitsfreier Tag oder ein arbeitsfreies Wochenende liegt. Bewerber besser geeignet sind. Nur bei offensichtlicher fachli- www.brandi.net
Seite 10 Juli 2020 cher Ungeeignetheit kann eine Einladung zum Vorstellungsge- Begründung der Ablehnungsentscheidung? spräch unterbleiben. Gesetzlich vorgesehen ist eine Begründungspflicht für alle Arbeitgeber, wenn der Arbeitgeber die Pflichtquote zur Beschäf- Öffentliche Arbeitgeber sind – auch aus diesem Grund – gut tigung schwerbehinderter Menschen (Schwerbehindertenquote) beraten, konkrete Anforderungsprofile für zu besetzende Stel- nicht erfüllt und entweder die Schwerbehindertenvertretung len in der Ausschreibung zu formulieren. Werden beispielsweise oder eine sonstige Personalvertretung mit der beabsichtigten „umfassende Kenntnisse und Führungserfahrung in der öffent- Auswahlentscheidung des Arbeitgebers nicht einverstanden ist. lichen Verwaltung“ verlangt, so liegt es – so jedenfalls das VG Grundsätzlich sind bei der Besetzung von Stellen im öffentlichen Hannover – auf der Hand, dass ein Jurist, der gerade das zweite Dienst alle unterlegenen Bewerber rechtzeitig von der Nichtbe- Staatsexamen abgeschlossen hat, das Anforderungsprofil nicht rücksichtigung im Auswahlverfahren zu informieren. Zwischen erfüllt und ausnahmsweise nicht zum Vorstellungsgespräch ein- Zugang der Information und endgültiger Stellenbesetzung sollte geladen werden muss. eine Wartezeit von mind. 14 Tagen eingehalten werden. In der Praxis sind manche Sachverhalte trotz konkreter Anfor- Fazit: derungsprofile nicht eindeutig. Um spätere Diskussionen vor Die Schwierigkeiten im Zusammenhang mit Bewerbungen Gericht über die Frage der offenkundigen Ungeeignetheit zu schwerbehinderter Menschen sind im Rahmen von Stellenbe- vermeiden, sollten öffentliche Arbeitgeber schwerbehinderte setzungen bei öffentlichen Arbeitgebern besonders eklatant. Bewerber standardmäßig zu Vorstellungsgesprächen einladen. Um Risiken zu vermeiden, ist ein konkretes Anforderungsprofil Nur in ganz offensichtlichen Ausnahmefällen sollte darauf ver- für die auszuschreibende Stelle als Grundlage des Ausschrei- zichtet werden. bungsverfahrens zu erstellen. Alle Schritte sind sorgfältig zu dokumentieren, um ggf. in Entschädigungs- und Schadenersatz- Unklar: Einladungspflicht bei interner Stellenbesetzung? anspruchsprozessen von Bewerbern darlegen und beweisen zu Höchstrichterlich (noch) nicht geklärt ist die Frage, ob die Ein- können, dass keine Benachteiligung wegen der Schwerbehinde- ladungspflicht für eine interne Stellenbesetzung gilt. Das LAG rung erfolgt ist. Berlin-Brandenburg hat die Auffassung vertreten, dass schwer- behinderte Bewerber einzuladen seien, wenn Auswahlgespräche *Zugunsten der besseren Lesbarkeit wird die männliche Form stattfinden. Ein Urteil des BAG zu dieser Frage wird für Sommer verwendet. Der Text bezieht sich selbstverständlich auf alle 2020 erwartet. Geschlechter. Nichteinladung = Indiz für eine Benachteiligung Uwe Augustin/Anne-Sophie Bonhomme Wird ein deutlich erkennbar schwerbehinderter, grundsätzlich COVID19: Kann sich der Arbeitgeber auf höhere Gewalt geeigneter Bewerber nicht zu einem Vorstellungsgespräch ein- berufen? geladen, so ist dies ein Indiz für eine Benachteiligung wegen der Schwerbehinderung. Eine nachträgliche Einladung des Nach französischem Recht berechtigt höhere Gewalt den Arbeit- schwerbehinderten Bewerbers bringt keine Abhilfe. Öffentliche geber die Erfüllung seiner arbeitsvertraglichen Pflichten zurück- Arbeitgeber können die gesetzliche Vermutung widerlegen. zustellen. Dabei wird höhere Gewalt als „das Eintreten eines Dazu müssen sie in einem Verfahren vortragen und beweisen, unabwendbaren externen Ereignisses, das die Fortsetzung des dass andere als die im allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz Vertrags unmöglich macht“, definiert. Um als Fall von höherer genannten Gründe zu der Nichteinladung und damit zur indi- Gewalt angesehen zu werden, muss das Ereignis vier Vorausset- zierten Benachteiligung geführt haben. Die besondere Hürde zungen erfüllen: ist, dass öffentliche Arbeitgeber sich zur Widerlegung der Vermu- tung nicht darauf berufen dürfen, dass die offensichtlich fehlende 1. Externalität fachliche Eignung Grund für die Benachteiligung war. Sie müssen Das Ereignis muss außerhalb des Einflussbereichs der Arbeitsver- darlegen, dass ausschließlich andere Gründe als die Behinderung tragsparteien liegen. für die Benachteiligung ausschlaggebend waren. Als potentiell zu berücksichtigende Ablehnungsgründe nennt das BAG vage Dies ist bei der COVID19 Pandemie klar der Fall. „personalpolitische Erwägungen“, die die Mitarbeiterzufrieden- heit und eine nachhaltige Personalplanung zum Ziel haben. 2. Unabwendbarkeit Das Ereignis darf weiterhin nicht der Kontrolle des Schuldners der Keine Verpflichtung zur Zuweisung einer vertragsfremden Leistung unterliegen, d. h. es muss unabwendbar sein. leidensgerechten Stelle Öffentliche Arbeitgeber sind nach aktueller Rechtsprechung des In diesem Zusammenhang hat die französische Rechtsprechung BAG nicht verpflichtet, einem bereits beschäftigten Arbeitnehmer in der Vergangenheit wiederholt entschieden, dass die bloße eine vertragsfremde ausgeschriebene Stelle vorab zuzuweisen. Existenz einer Epidemie oder eines Virus grundsätzlich nicht aus- Im entschiedenen Fall hatte sich eine als Lehrerin im Schuldienst reicht, die Einrede der höheren Gewalt zu rechtfertigen. So wurde beschäftigte Mitarbeiterin auf diverse vom öffentlichen Arbeitge- in den Fällen des Dengue-Fiebers, des Chikungunya-Virus und die ber ausgeschriebene Stellen außerhalb des Schuldienstes bewor- H1N1-Grippe-Epidemie des Jahres 2009 ein Fall höherer Gewalt ben, u. a. um eine Stelle als Kulturagentin. Das BAG entschied, dass verneint, wobei die Richter die Ansicht vertraten, dass in allen der Anspruch auf leidensgerechte Beschäftigung nicht so weit Fällen die Krankheit, ebenso wie ihr Verbreitungsrisiko und ihre geht, dass vertragsfremde Beschäftigungen schwerbehinderten Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen bekannt waren. Mitarbeitern vor Abschluss eines Auswahlverfahrens zugewiesen Außerdem wurde vertreten, dass die Heilungsmöglichkeiten die- werden müssen. Ein Anspruch auf Vertragsanpassung schloss das ser Krankheiten ausreichten, um die Voraussetzung der Unab- Bundesarbeitsgericht allerdings nicht aus. wendbarkeit zu verneinen. www.brandi.net
Juli 2020 Seite 11 Das Corona Virus unterscheidet sich von diesen Krankheiten 4. Unüberwindbarkeit jedoch in mehrfacher Hinsicht: Es handelt sich um eine Infek- Das Ereignis muss schließlich zur Folge haben, dass die Fort- tionskrankheit, die durch ein bisher unbekanntes Corona Virus, setzung des Arbeitsvertrages unmöglich wird und die Auswir- dessen einzige Behandlungsmethode in der Linderung der Sym- kungen nicht durch geeignete Maßnahmen vermieden werden ptome besteht, verursacht wird. Die bis heute fehlenden Behand- können. Der Schuldner muss also aufzeigen, dass alternative lungsmöglichkeiten und die Letalität des Virus können also für Maßnahmen nicht in Betracht kommen. einen Fall der Unabwendbarkeit sprechen. Diese kaum kontrol- lierbare Situation zeigt sich auch in den massiven Maßnahmen So hat die französische Rechtsprechung in der Vergangenheit der staatlichen Behörden und in der beispiellosen Abfolge von vertreten, dass die Schließung einer Einrichtung aufgrund eines neuen Vorschriften und Gesetzen. Verwaltungsaktes keinen Fall höherer Gewalt darstellt. 3. Unvorhersehbarkeit Als Fazit lässt sich festhalten, dass es sicherlich auf den Einzel- Das Ereignis muss darüber hinaus zum Zeitpunkt der Vertrags- fall ankommt, wobei insbesondere der Vertragsschluss und die unterzeichnung vernünftigerweise nicht vorhersehbar gewesen konkreten Möglichkeiten den Auswirkungen entgegenzuwirken, sein. Dabei wird auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses abge- eine Rolle spielen. stellt. Davon abgesehen ist bisher nicht absehbar, wie die französischen Fraglich ist hier vor allem, ab wann eine Unvorhersehbarkeit ver- Gerichte mit der COVID19-Pandemie im arbeitsrechtlichen Kon- neint werden muss? text umgehen werden. Hier bieten sich mehrere Zeitpunkte an. So könnte eine Unvor- Sicherlich sprechen gute Gründe für die Annahme höherer hersehbarkeit bereits nach dem 30. Januar 2020 ausgeschlossen Gewalt. Maßgeblich dagegen spricht aus unserer Sicht jedoch, werden. Zu diesem Zeitpunkt erklärte die Weltgesundheitsorga- dass in diesem Fall das unternehmerische Risiko auf den Arbeit- nisation (WHO) den Corona Virus zu einem öffentlichen Gesund- nehmer abgewälzt werden würde. heitsnotstand von internationaler Bedeutung. Wesentlich restriktiver wäre es, eine Vorhersehbarkeit erst mit den ersten von der französischen Regierung getroffen Maßnah- men zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus, d. h. ab dem 4. März 2020 anzunehmen. Schließlich wird vertreten, dass erst seit dem 23. März 2020, Datum der Erklärung des französisches Gesundheitsnotstands, Unvorhersehbarkeit ausgeschlossen wer- den könnte. höhere Gewalt? www.brandi.net
Seite 12 Juli 2020 Compliance Dr. Mario Bergmann Christopher Jones Scheinselbstständigkeit: BGH plant Kehrtwende bei der Das Wettbewerbsregister Frage der Verjährung Die bundesweite „Blacklist“ für Unternehmen kommt Stellt sich ein Auftragsverhältnis im Nachhinein als Arbeitsver- Bereits im Juli 2017 ist das neue Gesetz zum bundesweiten Wett- hältnis heraus, erhebt die Staatsanwaltschaft regelmäßig den bewerbsregister in Kraft getreten. Öffentliche Auftraggeber Vorwurf der Scheinselbstständigkeit. Damit verbunden ist, dass müssen zukünftig das Wettbewerbsregister abfragen, bevor sie der Auftraggeber infolge der (vorsätzlichen oder fahrlässigen) Aufträge mit einem Wert von mehr als 30.000 € vergeben dürfen. unzutreffenden Bewertung des Vertragsverhältnisses keine Das digitale Register befindet sich derzeit im Aufbau, soll aber Sozialversicherungsbeiträge abgeführt hat. Bislang konnten noch im Laufe des Jahres 2020 in Betrieb genommen werden. die Strafverfolgungsbehörden dabei bis zu 30 Jahre zurück ent- Zuständig für die Einrichtung und den Betrieb ist das Bundeskar- sprechende Verfehlungen verfolgen und sanktionieren, bedingt tellamt. durch eine Besonderheit im deutschen Straf- und Sozialversiche- rungsrecht: Entstehung des Wettbewerbsregisters Mit dem Wettbewerbsregister hat der Gesetzgeber ein bereits Führt der Unternehmer keine Sozialversicherungsbeiträge ab, seit langem geplantes Projekt endlich umgesetzt. Die Überprü- unterlässt er damit die vom Gesetz geforderte Handlung. Bei sol- fung von Auftragnehmern anhand des Gewerbezentralregisters chen Unterlassungstaten beginnt die strafrechtliche Verjährung ist für öffentliche Auftraggeber bereits Pflicht, bislang waren die erst dann, wenn die Handlungspflicht erloschen ist. Die Hand- Abfragepflichten aber auf verschiedene Gesetze verteilt und die lungspflicht erlischt unter anderem, wenn der Pflichtbegüns- benötigten Informationen konnten durch das Gewerbezentralre- tigte, d. h. in diesem Fall die Deutsche Rentenversicherung und gister nur eingeschränkt zur Verfügung gestellt werden. Daneben die Krankenkassen als Einzugsstellen der Beiträge die Nachzah- führen verschiedene Bundesländer sogenannte Korruptionsre- lung nicht mehr verlangen kann. Bei vorsätzlichen Taten sieht das gister. Die Eintragungsvoraussetzungen und Abfragemöglich- Sozialversicherungsrecht allerdings eine 30-jährige Verjährungs- keiten sind jedoch sehr unterschiedlich geregelt. Beispielsweise frist für die Nachforderung der Beiträge vor. Somit ist der Unter- reicht bei manchen Registern bereits ein Ermittlungsverfahren nehmer bei Vorsatz 30 Jahre lang nicht von der Handlungspflicht, für eine Eintragung aus, einer rechtskräftigen Verurteilung bedarf d. h. der Nachzahlung, befreit. Erst nach 30 Jahren beginnt die es nicht. In manchen Bundesländern gibt es dagegen überhaupt (5-jährige) strafrechtliche Verjährungsfrist; eine Ungleichbehand- kein Register. Diese uneinheitliche und unübersichtliche Vielzahl lung gegenüber sonstigen Unterlassungsdelikten im deutschen von Registern wird durch das neue Wettbewerbsregister ersetzt Strafrecht, die aber bis ins Jahr 2019 durch den Bundesgerichts- werden. Die bundesweite Regelung schafft größere Transparenz hof akzeptiert und bestätigt wurde. und Rechtsklarheit, für einen fairen Wettbewerb sicherlich ein Gewinn, für eine große Zahl von Unternehmen aber auch ein Doch seit dem 13. November 2019 bahnt sich insoweit eine nicht zu unterschätzendes Risiko. Der Gesetzgeber geht von ins- vollständige Kehrtwende an. Der 1. Strafsenat will seine eigene gesamt 47.500 Eintragungen aus. Pro Jahr sollen ca. 9.500 Neu- Rechtsprechung dazu ändern, sieht sich aber infolge der gleich- eintragungen erfolgen. lautenden Rechtsprechung der übrigen Strafsenate daran gehin- dert und rief daher im Rahmen eines sog. Anfragebeschlusses Wer wird eingetragen? den Großen Senat des Bundesgerichtshofs in Strafsachen an, der Eine Eintragung im Wettbewerbsregister erfolgt immer für ein nun über die Vorlage entscheiden muss. Unternehmen. Als Unternehmen gilt dabei jede natürliche oder juristische Person oder eine Gruppe solcher Personen, die auf Der 1. Strafsenat zieht bei seiner Anfrage zu Recht eine Parallele dem Markt die Lieferung von Waren, die Ausführung von Bauleis- zur Lohnsteuerhinterziehung, die bei Nichtabgabe der erforder- tungen oder die Erbringung von sonstigen Leistungen anbietet. lichen Steuererklärung ebenfalls als Unterlassungsdelikt ausge- Der Unternehmensbegriff ist also sehr weit gefasst. Da Strafurteile staltet ist, bei der die strafrechtliche Verjährung aber bereits mit und Ordnungswidrigkeiten in der Regel nur gegen natürliche Per- Ablauf der Frist zur Abgabe der Lohnanmeldungen am 10. Kalen- sonen ergehen können, kommt es darauf an, ob die betroffene dertag des Folgemonats beginnt. Person für ein Unternehmen gehandelt hat. Das ist insbesondere der Fall, wenn sie das Unternehmen geleitet hat oder in leitender Vergleichbar dazu plädiert der 1. Senat des Bundesgerichts- Stellung für das Unternehmen tätig war. Das Unternehmen muss hofs dafür, die strafrechtliche Verjährung bei vorsätzlicher sich also für Verfehlungen des Führungspersonals verantworten. Scheinselbstständigkeit mit Verstreichenlassen des sozialversi- Bei juristischen Personen können z. B. auch Prokuristen, faktische cherungsrechtlichen Fälligkeitszeitpunktes beginnen zu lassen, Geschäftsführer und Handlungsbevollmächtigte für die Leitung d. h. mit Ablauf des drittletzten Arbeitstages im Monat. Dies des Unternehmens verantwortlich sein. würde dazu führen, dass die Taten – sollte der Verjährungsab- lauf nicht vorher wirksam durch eine der gesetzlich vorgesehe- Was wird eingetragen? nen Handlung unterbrochen worden sein – jeweils 5 Jahre nach Einzutragende Straftaten und Ordnungswidrigkeiten werden im Ablauf des drittletzten Arbeitstages des jeweiligen Monats ver- Gesetz zum Wettbewerbsregister (WRegG) abschließend benannt. jähren. Nur rechtskräftig festgestellte Verstöße führen zu einer Eintra- gung. Einzutragen sind alle Verstöße gegen solche Rechtsnor- Die Entscheidung des Großen Senats wird mit Spannung men, bei denen ein Ausschluss vom Vergabeverfahren nach dem erwartet. GWB grundsätzlich zwingend ist. Aufgeführt werden unter ande- rem Betrug zum Nachteil öffentlicher Auftraggeber, Korruption, Geldwäsche, Hinterziehung von Sozialversicherungsabgaben und Steuerhinterziehung. Verbotene Wettbewerbsabsprachen, www.brandi.net
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