PAPERS ZWEI JAHRE OBAMA - ERHARD CROME, CLAUS MONTAG, OTFRIED NASSAUER - ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG
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PAPERS Erhard Crome, Claus Montag, Otfried Nassauer Zwei Jahre Obama Halbzeitanalysen und Betrachtungen Rosa Luxemburg Stiftung
Erhard Crome, Claus Montag, Otfried Nassauer Zwei Jahre Obama Halbzeitanalysen und Betrachtungen Juni 2011
Inhalt Vorbemerkung 3 Claus Montag 5 Barack Obama und der 112. Kongress der USA. Ende eines Reformversuchs? Otfried Nassauer 27 Der Abrüstungsmodernisierer. Nuklear- politik unter Barack Obama Erhard Crome 45 Die Welt des 21. Jahrhunderts und die USA Autorenhinweise und weitere Literatur 73 2
Vorbemerkung Sich gut zwei Jahre nach Beginn der Präsidentschaft von Barack Obama mit den USA zu befassen heißt, zuallererst die Frage zu stellen, ob die USA und ihre Entwicklung mit den Anforderungen an eine friedliche Welt im 21. Jahrhundert kompatibel sind. Das Ergebnis fällt ambivalent aus, und ist für jene, die das Versprechen „Yes, we can!“ ernst genommen haben, eher enttäuschend. Ein Imperium zu regieren, ist offenbar nicht möglich, ohne dessen innerer Logik zu folgen. Durch seine offensive Sympathie-Werbung während der ersten Phase seiner Präsidentschaft hat Ba- rack Obama auf der politisch-diplomatischen Ebene international atmosphärisch vieles zugunsten der USA verbessert, manches, wie bezüglich der strategischen Rüstungen im Verhältnis zu Russland, auch in der Sache. Doch gleichzeitig wurde der Rüstungshaushalt der USA weiter gesteigert, wurde der Afghanistankrieg nicht nur fortgesetzt, sondern intensiviert, wurden die Weichen zur qualitativen Wei- terentwicklung der US-amerikanischen Atomwaffen gestellt und ist in Sachen Iran „die militärische Karte nicht vom Tisch“. Auf der anderen Seite setzen sich die schwierigen wirtschaftlichen und sozia- len Entwicklungen in den USA fort. Die Arbeitslosigkeit ist anhaltend hoch, massenhaft sind weiter Hausbesitzer zahlungsunfähig, die Bankenkrise treibt neuerlich Spekulationsblasen. Dies gehört zu dem politischen Hintergrund für die Tea Party Bewegung und den Kulturkampf in der innenpoliti- schen Szenerie der USA. Hinzu kommt, dass diese Leute nicht die konservativen Republikaner und die abenteuerliche Kriegspolitik von Bush II für den weltpolitischen Abstieg der USA verantwortlich machen, sondern Obama, der sich ja gerade bemüht, diesen Anpassungsprozess so flexibel wie mög- lich zu gestalten. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Kapazität, militärischer Macht und weltpolitischer Rolle der USA bleibt ein zentrales Problem der internationalen Politik im ersten Vier- tel des 21. Jahrhunderts. Mit anderen Worten: Gelingt es, den welthistorischen Abstieg der USA von der „unipolaren“ Supermacht zu einer Macht unter anderen so zu gestalten, dass nicht weitere Kriege und Kriegsgefahren entstehen? Oder werden die innere Krise, die Entwicklung der Rechtskräfte und die innere Reformunfähigkeit die USA zum Problemfall Nr. 1 in der internationalen Politik machen? Präsident Obama versucht der Herausforderung zu begegnen, indem er nicht keine, sondern eine ande- re imperiale Politik macht. Die Bezeichnung „liberaler Imperialismus“ ist dafür offensichtlich ange- messen. Für die Obama-Administration war beispielsweise hinsichtlich der Beteiligung an dem Liby- en-Krieg des Westens wichtig, dass es einen Beschluss des UNO-Sicherheitsrates gab. Sie wollte nicht wie Bush II als das Völkerrecht brechender Interventionist dazustehen. Der liberale Imperialismus interveniert nicht frech über das Völkerrecht hinweg, sondern nur für das Gute in der Welt, für Demo- kratie und Menschenrechte. Das macht es dem liberalen Imperialismus im Unterschied zum rechten Imperialismus der USA einerseits schwerer – er muss mehr diplomatisch arbeiten, seine Schritte ge- schickter und mit mehr intellektuellem Aufwand ideologisch und politisch vorbereiten – und anderer- seits leichter, einen Krieg zu führen – dem plumpen und oft einfältig erscheinenden Bush sah man die Frechheit und die Lüge beim Krieganzetteln schon von weitem an, was im Ausland regelmäßig Mas- sendemonstrationen gegen ihn zur Folge hatte, wo immer er auftauchte, während der charmante und kluge Obama den Eindruck zu erwecken versteht, als ginge es tatsächlich um Freiheit und Menschen- rechte. Viele linksliberale, das Gute in der Welt wünschende Menschen nehmen ihm das ab. Damit ist der liberale Imperialismus aber nicht unbedingt besser. Im Wahlkampf hatte Obama erklärt, dass er die extra-legalen Formen der Kriegsführung abschaffen wolle: keine Entführung vermeintli- cher Terroristen mehr irgendwo in der Welt und deren Verfrachten zum Auftragsfoltern in Drittländer; Schließung des Sondergefängnisses in Guantanamo und Überstellung der dort Inhaftierten zu ordentli- chen Gerichten mit Beweisaufnahme, rechtsförmiger Anklage und Verteidigungsrecht usw. Guanta- namo gibt es aber immer noch. Inzwischen hat Präsident Obama den Befehl zum Einsatz von Drohnen (unbemannten bewaffneten Flugkörpern) gegen Personen gegeben, die angeblich Terroristen bzw. Befehlshaber von Terroristen sind. Das geschah zunächst in Pakistan, Afghanistan und Jemen. Im Libyen-Krieg sollte dann auch Gaddafi auf diesem Wege liquidiert werden. Ein solcher Drohnenein- satz ist die Anweisung zum Mord von Staats wegen, unter Auslassung aller Formen von Rechtsstaat- lichkeit: der Ermordete ist dann tot, ohne dass er auch nur den Hauch einer Chance hatte, vor Gericht 3
seine Unschuld zu beweisen oder die Anklage die Verpflichtung, den Nachweis seiner Schuld zu füh- ren. Die Erschießung Osama bin Ladens war ein jüngster Präzedenzfall für derartige Praxis. Die Kongresswahlen und die Wahl der Gouverneure in mehr als dreißig Bundesstaaten am 2. Novem- ber 2010 haben zu einer Verschiebung der innerpolitischen Machtstrukturen zu Ungunsten von Barack Obama und der Demokratischen Partei geführt. Die Machtverschiebungen fanden wie bei keinem an- deren innenpolitischen Ereignis zuvor seit langem besondere Aufmerksamkeit in der internationalen Öffentlichkeit, einschließlich in den linken bzw. linksliberalen Strömungen vieler Länder. Mit einem gewissen Maß an Besorgnis wurde in den Massenmedien die Frage aufgeworfen, warum das „Projekt Obama“ für eine Erneuerung Amerikas, das zu dem grandiosen Wahlsieg der Demokraten 2008 bei- trug, nach 24 Monaten einen Teil seiner innenpolitischen Unterstützung verlor. Vor allem gemessen auch an den gewaltigen Erwartungen, die mit der Wahl Obamas verbunden wurden, wog dieses Wahl- ergebnis umso schwerer. Ist er wirklich der Erneuerer, der das Konzept eines „New Deal“ wieder mit Leben zu erfüllen vermag oder hat er mehr versprochen, als er je leisten will oder kann? Gefragt wird bei Teilen der Machteliten und in progressiven Strömungen innerhalb der USA und besonders in euro- päischen Ländern, welche Rückwirkungen gewachsener konservativer Einfluss auf künftige politische Entwicklungen haben kann. Ein wichtiges Feld bleibt die Frage der nuklearen Rüstungen. Vor zwei Jahren belebte Präsident Oba- ma die Hoffnung auf eine atomwaffenfreie Welt neu. Während seiner Rede in Prag am 4. April 2009 betonte er das Ziel einer Welt ohne Nuklearwaffen und verpflichtete sich, darauf hinzuarbeiten. Ande- rerseits gab er sich als Realist, der weiß, dass dieses Ziel „vielleicht nicht in meiner Lebenszeit“ umge- setzt werden kann. Der visionäre Teil seiner Aussage fußt auf der völkerrechtlichen Verpflichtung der USA, nuklear abzurüsten und letztlich auf nukleare Waffen zu verzichten. Tatsächlich jedoch wurden in seiner bisherigen Amtszeit die rüstungspolitischen Entscheidungen so getroffen, dass die USA in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts noch über ein beträchtliches Kernwaffenpotential verfügen. Die drei Texte in diesem Heft sind zunächst selbständig entstanden. Das vieldiskutierte Ergebnis der „Zwischenwahlen“ 2010 machte es erforderlich, die Hintergründe und die voraussichtlichen Folgen dieser Wahlen genauer zu betrachten. Claus Montag, der sich seit Jahrzehnten analytisch mit den USA beschäftigt, war bereit, dieses Papier zu liefern. Otfried Nassauer hat das Thema der Nuklearpolitik der Regierung Obama in gewohnter Tiefenschärfe und konzeptioneller Zuspitzung bearbeitet. Zugleich war klar, dass ein Gesamtpapier zu über zwei Jahren Obama die Debatten, die in der Rosa- Luxemburg-Stiftung und insbesondere im Gesprächskreis Frieden der Stiftung seit geraumer Zeit ge- führt werden, auf spezifische Weise fortsetzt. In diesem Sinne stehen die Beiträge dieses Heftes in Zusammenhang mit früheren Publikationen der Stiftung, insbesondere denen zu den geostrategischen Veränderungen und zum Libyen-Krieg und weisen auf spezifische Weise darüber hinaus. Das Thema der künftigen Entwicklung der USA jedenfalls wird uns noch längere Zeit beschäftigen. Berlin, 30. Mai 2011 Erhard Crome 4
Claus Montag Barack Obama und der 112. Kongress der USA. Ende eines Reformversuchs? Die Kongresswahlen und die Wahl der Gou- nen neu zu gestalten. Dabei spielen geographi- verneure in mehr als dreißig Bundesstaaten am sche Einteilungskriterien keine Rolle. Die Re- 2. November 2010 haben zu einer Verschie- publikaner haben sich bei den Novemberwah- bung der innerpolitischen Machtstrukturen in len 2010 auch in dieser Frage unverkennbar den USA geführt. Obamas Demokratische politische Vorteile verschafft. Partei musste bei den Kongresswahlen histori- Politische Einbrüche der Partei des Präsidenten sche Verluste hinnehmen. Bei diesen „Zwi- bei den Zwischenwahlen sind schon mehrmals schenwahlen“ (zur Halbzeit einer Präsident- in der jüngsten Geschichte der USA eingetre- schaftsperiode) stehen die 435 Sitze des Reprä- ten. Sie widerspiegeln die Reaktionen der sentantenhauses und ein Drittel der 100 Se- Wähler auf die Politik der Präsidentenpartei natssitze zur Wahl. Im Repräsentantenhaus nach den ersten zwei Jahren ihrer Amtszeit im verfügen die Republikanische Partei jetzt über Weißen Haus. So verloren Präsident Clinton 242 Sitze (bisher 178) und die Demokratische 1994 und Präsident Bush 2006 ihre vorher Partei über 193 (bisher 257). Im Senat konnten erreichten Mehrheitspositionen in beiden Häu- die Demokraten eine schmale Mehrheit erhal- sern des Kongresses. Verfassungspolitisch ten (53 Demokraten, 47 Republikaner). Vorher stehen solche Machtverschiebungen zwischen war das Verhältnis 59 Demokraten zu 41 Re- Weißem Haus und Kongress nicht in Wider- publikanern. Das Erlangen einer Zwei-Drittel- spruch zu den Grundregeln des politischen Mehrheit bei wichtigen Gesetzesvorlagen wird Herrschaftssystems der USA. Viele Wähler damit für die Demokraten schwieriger. Zur empfinden für die Durchsetzung von Interes- gleichen Zeit fanden in 37 Einzelstaaten die sen gegenüber dem Staat ein „divided govern- Gouverneurs- und Parlamentswahlen statt. ment“ für wirkungsvoller als eine politische Zuletzt hatten die Demokraten in 26 Bundes- Machtkonzentration bei einer Partei. Zu groß staaten den Gouverneur gestellt, die Republi- ist in den USA die Ablehnung von Machtarro- kaner in 24 Staaten. Auch bei diesen Wahlen ganz und politischer Vorteilsgewinnung ge- konnten Kandidaten der Republikaner in mehr worden, die schrankenlos von den beiden als zehn Bundesstaaten den Demokraten die großbürgerlichen Parteien betrieben wird. Macht entreißen und ihre Einflusspositionen Die Machtverschiebungen zugunsten der kon- ausbauen. Außer in Kalifornien, Arkansas und servativen Kräfte bei den Kongresswahlen Colorado konnten die Demokraten nur in ihren fanden wie bei keinem innenpolitischen Ereig- Hochburgen an der Ostküste (New York, Ma- nis zuvor eine besondere Aufmerksamkeit in ryland, Massachusetts und New Hampshire) der internationalen Öffentlichkeit, einschließ- ihre Machtpositionen erhalten. lich in den linken bzw. linksliberalen Strö- Von besonderer Bedeutung bei den Wahlen mungen vieler Länder. Mit einem gewissen vom 2. November 2010 in den Bundesstaaten Maß an Besorgnis wurde in den Massenmedien war auch der Umstand, dass in diesem Jahr die Frage aufgeworfen, warum das „Projekt nach dem Abschluss der Volkszählung (die Obama“ für eine Erneuerung Amerikas (rema- alle zehn Jahre stattfindet) die Zahl der Manda- king), das wählerunterstützt zum grandiosen te der Einzelstaaten im Repräsentantenhaus Wahlsieg der Demokraten 2008 beitrug, nach sowie die Grenzen der Wahlkreise neu festge- 24 Monaten die innenpolitische Unterstützung legt werden. Die Partei, die sich die Mehrheit verlor. Gefragt wird bei Teilen der Machteliten bei den Wahlen sichern konnte, hat nun über und in progressiven Strömungen innerhalb der die Gesetzgebung des jeweiligen Bundesstaa- USA und besonders in europäischen Ländern, tes die Chance, die Wahldistrikte für die län- welche Rückwirkungen gewachsener konser- gerfristige Absicherung ihrer Einflusspositio- vativer Einfluss auf künftige politische Ent- 5
wicklungen haben kann. Zu den jetzt diskutier- chen Meinung sehr schwierig. Teilantworten ten Problemen gehören u. a.: machen zunächst einen kritischen Blick auf das Ursachengeflecht des politischen Absturzes der - Wird Präsident Obama nach den Kräf- Demokratischen Partei 2010 erforderlich. teverschiebungen im Kongress und in der Öffentlichkeit eine Chance haben, für eine zweite Amtszeit wiederge- Zwischen Reformpolitik und Krisenver- wählt zu werden? schärfung - Sind die USA angesichts anhaltender und vertiefter Krisenprozesse im Obama und die Demokratische Partei waren im staatsmonopolitischen System reform- Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2008 mit fähig bzw. politisch reformwillig? In innenpolitischen Entwicklungen konfrontiert, welchem Verhältnis stehen fortbeste- die eine gesamtnationale Verstärkung ihres hende Zwänge zu systemstabilisieren- politischen Gewichts ermöglichten. Die Folgen den Reformen und das gewachsene der Finanz- und Wirtschaftskrise untergruben konservative Klima in großen Teilen zunehmend Ansehen und Glaubwürdigkeit der der US-amerikanischen Öffentlichkeit Bush-Administration, die in den Jahren ihrer und der Machteliten? Regierungszeit eine Politik betrieb, die die - Werden die außenpolitischen Kurskor- Kluft zwischen arm und reich in den USA wie rekturen, die die Obama- zu keiner Zeit zuvor vergrößerte. „Tatsächlich Administration nach der Bush-Ära seit findet sich nirgendwo in der hoch entwickelten 2009 in Gang setzte, unter konservati- Welt“, wie US-Nobelpreisträger Paul Krugman ver Dominanz im Kongress Bestand feststellte, „eine Entsprechung zu dem Anstieg haben? Können unilaterale und kon- der Ungleichheit in Amerika.“2 Die konserva- frontative Handlungsmodelle wieder tiven Bewegungen, die die Republikanische ein stärkeres Gewicht in der US- Partei unter ihrer Kontrolle hatten, konnten mit Politik bekommen? Geld den Reichtumszuwachs für die obere - Wie wird sich die veränderte Kräfte- schmale Elite der Gesellschaft über die Regie- konstellation in den USA auf die glo- rungstätigkeit forcieren. Als das Bankensystem balen finanz- und wirtschaftspoliti- kollabierte und die Macht der Wallstreet- schen Pläne der Obama- Institutionen ins Wanken gerieten, erfuhr in Administration auswirken? kurzer Zeit die soziale Ungleichheit neue Di- mensionen: Millionen einfacher Bürger verlo- Schon vor den Kongresswahlen waren die ren ihre Ersparnisse beim Bankenzusammen- Popularitätsbewertungen der Politik der Oba- bruch, Altersversorgungen erfuhren Entwer- ma-Administration in den USA und in der tungen, Löhne und Einkommen stagnierten, europäischen Öffentlichkeit unverkennbar sehr Gesundheitskosten stiegen weiter und der Ver- unterschiedlich. In den USA gaben die innen- lust der Eigenheime infolge von Hypotheken- politischen Prozesse den Ausschlag für Ge- schulden wurde zu einer Massenerscheinung. samtbewertungen, in der europäischen Öffent- Die Kriegstoten im Irak und in Afghanistan lichkeit war es überwiegend das internationale sowie die Untergrabung von Bürgerrechten Handeln der Obama-Administration. Trotz der durch die Anti-Terror-Gesetzgebung verstärk- Kriegspolitik der USA in Afghanistan unter- ten den politischen Protest gegen die Bush- stützten laut Transatlantik Trends 2010 nahezu Cheney-Politik im Weißen Haus. Große Teile 78 Prozent der befragten Europäer die interna- der Bevölkerung, besonders auch die Mittel- tionale Politik Obamas. In den USA war es nur schichten, glaubten, dass das Land in die fal- eine knappe Mehrheit von 52 Prozent.1 sche Richtung abdriftet. Im Vorfeld der Wah- Prognosen über die künftige Politik der Oba- len von 2008 reflektierte die anschwellende ma-Administration in den kommenden zwei Anti-Bush-Stimmung Erwartungshaltungen Jahren vorzunehmen (es ist die Zeit des begin- sehr unterschiedlicher sozialer und politischer nenden Präsidentschaftswahlkampfes für Gruppierungen, die Obama und die Demokra- 2012), ist angesichts der schwankenden politi- tische Partei zu einer neuen progressiven Wäh- schen Stimmungslagen in der von Feindschaft, lerbewegung zusammenführen konnten. Von Intoleranz und Unsicherheit geprägten öffentli- 2 Paul Krugman: Nach Bush. Das Ende der Neokonserva- 1 Vgl. Transatlantic Trends. Key Findings 2010, German tiven und die Stunde der Demokraten, Frankfurt/New Marshall Fund of the United States, S. 5. York: Campus Verlag 2008, S. 15. 6
besonderem Gewicht waren die alte „New Die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten Deal“-Koalition, bestehend aus Gewerkschaf- war ein Ereignis von historischer Tragweite ten und ethnischen Minderheiten wie Latinos (sie wird auch durch die aktuellen Wahleinbu- und Afroamerikanern, Wechselwähler und ßen für die Demokraten nicht verringert). Mit Unentschlossene, die über zwanzig Prozent der dieser Wahl eines schwarzen Präsidenten sig- Wähler ausmachten, sowie jugendliche Wäh- nalisierte eine Mehrheit der Bevölkerung der ler, die von der offiziellen Politik enttäuscht USA, dass sie eine radikale Wende in der Ge- waren und von besseren Aufstiegschancen sellschaftspolitik der USA unterstützt. Die träumten. Hinzu kam die Vielzahl von Bürger- lange historische Periode rassistischer Politik rechtsbewegungen und Antikriegsgruppen. und der gesellschaftlichen Diskriminierung der Die Wahlniederlage der Republikaner bei den Afroamerikaner und anderer Minderheiten Präsidentschafts- und Kongresswahlen 2008 durch konservative weiße Bevölkerungsschich- verschärfte die neokonservative Hegemonie- ten schien eine Begrenzung zu erfahren. Oba- krise in der US-Gesellschaft, manifestierte das ma, der als politischer Außenseiter spät ins vorläufige Scheitern einer Jahrzehnte anhal- Präsidentschaftsrennen der Demokraten ging, tenden Untergrabung vorhandener sozialstaat- konnte in der historischen Krisensituation von licher Elemente durch die konservativen Be- 2008 mit seinen charismatischen Führungsei- wegungen und ihres Bestrebens, den Neolibe- genschaften, einer äußerst wirksamen Massen- ralismus immer tiefer in der Gesellschaft zu kommunikation und einer kritischen Distanz verankern. „Das politische Bündnis im Innern, zum politischen Establishment in Washington das das neokonservative Projekt stützte – eine die sehr heterogenen Sehnsüchte nach einem durch die Klammer des Irakkriegs zusammen- Wandel in der Politik bündeln. Seine politische gehaltene Allianz aus transnational- Strategie war darauf ausgerichtet, den Wählern freihandelsimperialistisch orientierten Kapital- bewusst zu machen, dass die Demokraten die fraktionen, dem militärisch-industriellen Kom- Ängste und Sorgen der Massen zum Aus- plex, der Ölwirtschaft und einer rechtsextre- gangspunkt für eine Veränderung der Politik in men Massenbasis bestehend aus subalternen Washington machen. Er zeichnete für das neue christlichen Fundamentalisten und militaristi- Vorgehen relativ vage Umrisse, ein Zeichen, schen Nationalisten“ war zusammengebrochen dass er sich bei der Massenmobilisierung nicht und schien in seine Einzelteile zu zerfallen.3 auf eine spezifische ideologische Konzeption Um die hegemonialen Positionen der Konser- festlegen und sehr unterschiedliche Wähler- vativen nach der Bush-Niederlage 2008 weiter gruppen für eine Wandlungspolitik zusammen- zurückdrängen zu können, mussten die Demo- führen wollte. In der schwersten Finanzkrise kraten nach Wegen suchen, um die verschie- der USA seit Jahrzehnten war der soziale Fak- denen Interessenlagen der Angehörigen der tor das Kernproblem in der Massenmobilisie- neuen Wählerkoalition zu bündeln und unter rung des Obama-Wahlkampfes. Einfache Bil- den anwachsenden Krisenbedingungen diese der sollten die messianische Wirkung der Wählergruppen zusammenzuhalten. Dafür bot Obama-Strategie verstärken. Am Tage seines die Demokratische Partei mit ihren unter- Wahlsieges 2008 sagte er in Chicago: „Da sind schiedlichen politischen Flügeln – linke De- Väter und Mütter, die wach liegen, wenn die mokraten, Gewerkschaftsvertreter, liberale Kinder schon eingeschlafen sind, und sich Gruppen, Zentristen und konservative Fiskal- fragen, wie sie die Hypothek finanzieren und politiker – zunächst kein einheitliches Bild. ihre Arztrechnung bezahlen sollen oder genug Die Partei hatte in den zurückliegenden Jahr- sparen können für den Hochschulunterricht zehnten, besonders unter Präsident Clinton, ihres Kindes.“4 Sehr früh entwickelten Obama eine fulminante Rechtswende durchlaufen und und einflussreiche Kräfte des liberalen Flügels zur Vertiefung neoliberaler und konservativer in der Demokratischen Partei Reformforderun- Entwicklungen in der US-Gesellschaft beitra- gen für eine „Erneuerung Amerikas“, die sich gen. In vielen sozialen Fragen bestanden tiefe an einige traditionelle Erfahrungen einer „New Gräben zwischen den unterschiedlichen politi- Deal“-Politik aus vergangenen Jahrzehnten schen Fraktionen im Parteiapparat und im anlehnten. Das betraf besonders einen Forde- Kongress. rungskatalog zur Verringerung der wachsenden sozialen Ungleichheit und die verstärkte Nut- 3 Ingar Solty: Das Obama-Projekt. Krise und charismati- 4 sche Herrschaft, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, Ansprache Barack Obamas nach dem Wahlsieg, in: Die Hamburg, Heft 10/2008, S. 6. Welt, Berlin, 6. November 2008. 7
zung öffentlicher Finanzmittel für Beschäfti- Mögliche an.“7 Die Führungsrolle der USA in gung sowie die Förderung des Strukturwandels der Welt soll wiederhergestellt werden, doch in der Wirtschaft und der Modernisierung öf- ohne die neoimperiale Militanz der konservati- fentlicher Einrichtungen. Die progressiven ven Vorgänger. Um verlorene Vertrauensposi- Kräfte innerhalb und außerhalb der Demokrati- tionen im internationalen System wiederher- schen Partei, unterstützt von der größten stellen zu können, rief Obama dazu auf, eine Graswurzelbewegung in der amerikanischen Neuordnung der Beziehungen zwischen den Wahlgeschichte, sahen in der Vollendung der großen Mächten einzuleiten, die von der Be- „New Deal“-Politik Franklin D. Roosevelts aus rücksichtigung gemeinsamer Interessen und den 1930er Jahren auf sozialem Gebiet ein wechselseitigem Respekt getragen sein sollen. Kernanliegen bei der Überwindung der kon- Dabei anerkennen die USA die Notwendigkeit servativen Vorherrschaft. Oberste innenpoliti- der internationalen Kooperation bei der Lö- sche Priorität beim Zurückdrängen des extre- sung globaler Probleme und Gefahren und men Anstiegs sozialer Ungleichheit und Armut verweisen darauf, dass sie allein diesen Her- hatte für die Demokratische Partei die Durch- ausforderungen nicht gewachsen sein werden. setzung einer Gesundheitsreform, um die USA Damit verbindet sich zugleich die Bereitschaft aus der Unterentwickeltheit der Gesundheits- zur Stärkung des Multilateralismus und der fürsorge herausführen zu können.5 Weitere Diplomatie in der internationalen Politik. Ohne Aktionsfelder zum Abbau wachsender Un- das dominierende militärische Gewicht der gleichheiten sollten sein: Beendigung der USA in der Welt einschränken zu wollen, sol- Steuervergünstigungen für Reiche 2010; güns- len neue Wege zur Abwendung nuklearer Ge- tigere Steuerbedingungen für Mittelschichten fahren auch mit Hilfe der USA erschlossen und Bürger mit geringem Einkommen; Anhe- werden. Unübersehbar ist das strategische ben der Mindestlöhne bis 2011 (von 7,25 Dol- Bestreben der Führungseliten um Obama, in lar auf 9,50 Dollar); Wiederherstellung bzw. den kommenden internationalen Entwicklun- Ausbau der Gewerkschaftsrechte; Vergröße- gen der Macht des Geldes, also den ökonomi- rung der Bildungschancen durch den Ausbau schen und finanziellen Potenzen der USA, eine der Schulsysteme mit neuen Lehrerstellen; Priorität gegenüber der Macht der Waffen ein- Modernisierung öffentlicher Einrichtungen und zuräumen.8 Die ökonomischen Grenzen der der gesellschaftlichen Infrastruktur durch staat- USA forcierten die Entscheidung Obamas zur liche Aufträge und Arbeitsprogramme; Ver- Beendigung des völkerrechtswidrigen Krieges stärkung des moralischen Drucks auf das Ban- im Irak. kensystem zur Neuordnung und Senkung der Was hat das alles mit dem Kongresswahler- Managergehälter.6 Neben der Gesundheitsre- gebnis zu tun? In den ersten beiden Jahren der form, der Nummer 1 in Obamas ambitionierter Amtszeit der Obama-Administration verschärf- Reformagenda, waren das Konjunkturpro- te sich die wirtschaftliche Rezession. Die neue gramm, das Gesetz für Energiereform- und Administration erbte in vollem Umfang die Klimaschutz, nach den katastrophalen Folgen Folgen der gescheiterten Finanz- und Wirt- der Finanzkrise das Gesetz zur Reform der schaftspolitik der Bush-Ära, die die Gefahr Finanzmärkte und die Reform der Immigrati- einer globalen Wirtschaftskatastrophe herauf- onsgesetzgebung die entscheidenden Baustel- beschwor. Für die Mehrheit der US-Bürger len in den Erneuerungsbestrebungen der Oba- brachte die erste Phase der Obama-Politik kei- ma-Administration. ne oder nur geringe soziale Verbesserungen. In Um die USA nach der Bush-Ära wieder zu- den zurückliegenden Jahrzehnten ist das starke kunftsfähig zu machen, leitete Obama eine Wirtschaftswachstum an den breiten Massen umfassende Neuausrichtung der US- nahezu spurlos vorbeigegangen. Zwischen den amerikanischen Außenpolitik ein. Das Kern- Ärmsten und der Spitze der Gesellschaft hat ziel der neuen Administration bestand darin, sich die Kluft extrem vertieft. Gegenwärtig „Amerikas Ambitionen und seine Mittel wie- verfügt das obere ein Prozent der Bevölkerung der in Einklang zu bringen… Statt sich am über 37,1 Prozent des Gesamtvermögens der Unmöglichen zu überheben, strebte Obama das 7 Thomas Kleine-Brockhoff: Ein ganz normaler Präsi- dent, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur 5 Vgl. Ekkehard Sauermann: Obama. Hoffnungen und Wochenzeitschrift Das Parlament, 4/2010, S. 3. 8 Enttäuschungen, Berlin: Kai Homilius Verlag-Compact, Vgl. Leslie H. Gelb: GDP now matters more than force: S. 45. A U.S. Foreign Policy for the age of economic power, in: 6 Vgl. Paul Krugman: Nach Bush, S. 268-290. Foreign Affairs, New York, November/Dezember 2010. 8
USA, während die unteren 80 Prozent der Be- Wert ihrer Immobilie. Hunderttausende muss- völkerung über 12,3 Prozent des Gesamtver- ten ihre Häuser verlassen, nicht wenige von mögens verfügen.9 Nach der Finanzkrise haben ihnen leben in Zelten wie in einem afrikani- die großen Banken dank großzügiger finanziel- schen Entwicklungsland, 45 Millionen Men- ler Absicherung über Staatsbürgschaften ihren schen gelten statistisch als arm. Auch die Er- Handelsspielraum wieder vergrößert, und 2009 nährung der Kinder wurde zu einem gesell- wuchs die Zahl der Millionäre um 17 Prozent. schaftlichen Problem, jeder achte Bürger lebt Zur Belebung der lahmenden Wirtschaft setzte von Essenmarken oder von der Inanspruch- Obama 2009 mit der Mehrheit der Demokraten nahme von Suppenküchen. Arbeitslosigkeit hat im Kongress ein Konjunkturpaket in Höhe von katastrophale Auswirkungen auf die medizini- 787 Milliarden Dollar (über elf Jahre verteilt) sche Versorgung, da die Kosten die finanziel- durch, mit dem sowohl einige Aspekte der len Spielräume der Betroffenen übersteigen Reformprojekte auf sozialem und bildungspoli- und oft die Privatschulden erhöhen. Die priva- tischem Gebiet eine Förderung erfahren soll- ten Schulden der USA-Haushalte liegen heute ten, als auch Modernisierungen von Infrastruk- nahe der 14-Billionen-Dollar-Grenze. Das turen (Straßen, Autobahnen, Flughäfen, Eisen- bestehende, sehr unvollkommene soziale Netz bahnen) und Industrien für erneuerbare Ener- der USA ist der Krise dieses Ausmaßes nicht gien. Der Kern des Stimulusprogramms war gewachsen. Die anhaltende Rezession zwang die Sicherung bestehender Arbeitsplätze und die Obama-Administration, über ihre geplanten die Schaffung von neuen Jobs. Doch Wirkun- Reformvorhaben hinaus große Finanzsummen gen blieben aus. Die Arbeitslosigkeit erreichte für die schnelle Belebung der Wirtschaft und eine Rekordhöhe von 15 Millionen (inoffiziell für neue Arbeitsplätze einzusetzen. Doch Wirt- nahezu 20 Millionen), das sind ca. 9-10 Pro- schaftsbelebung mit staatlichen Konjunkturpa- zent der Beschäftigten mit einem hohen Anteil keten ist keine Reformpolitik, sie ist Krisen- von Langzeitarbeitslosen. Besonders hoch ist management, um das kapitalistische Wirt- die Arbeitslosigkeit in den sterbenden Zentren schaftssystem funktionsfähig zu halten. Re- der alten Industrien und unter der afroamerika- formen dagegen, wie sie von einem Teil der nischen Arbeiterschaft (Stahl und Kohle). Demokraten verstanden werden, zielen auf Strukturelle Verwerfungen in der Industrie strukturelle Veränderungen gesellschaftlicher wurden größer und das Bildungssystem hält Zustände und Prozesse ab, die den neokonser- mit den technologischen Entwicklungen nicht vativen Rahmen des spätkapitalistischen Sys- mehr Schritt. Große politische Auswirkungen tems der USA durchbrechen und dem Gesamt- hat die Angst der Mittelschicht vor einem wirt- system perspektivisch – im Interesse größerer schaftlichen und sozialen Abstieg. Die USA Bevölkerungsgruppen – mehr innere Stabilität galten seit Jahrzehnten als „Mittelstandsgesell- verleihen sollen. Die Tiefe der Reformen hängt schaft“, die dem politischen System eine ge- in starkem Maße davon ab, wie stark der poli- wisse Stabilität verlieh. 2008 wählten starke tische Druck progressiver Kräfte innerhalb des Wähleranteile aus den Mittelschichten Obama Reformprozesses ist und welche Handlungs- und die Demokraten in der Hoffnung, dass die spielräume die innenpolitischen Kräfteverhält- wirtschaftlichen Abstiegstendenzen während nisse (im aktuellen Fall zwischen Demokraten der Finanz- und Wirtschaftskrise unter Bush und Republikanern) bieten. überwunden werden können. Von politischem Reformprojekte und Konjunkturpakete zwan- Gewicht ist auch die Tatsache, dass nahezu die gen die Obama-Administration 2009 und 2010, Hälfte der USA-Bevölkerung nicht mehr an die den Bundeshaushalt mit höheren Finanzausga- Realisierbarkeit des „Amerikanischen Traums“ ben zu belasten. Die Staatsschulden wuchsen in Gestalt von Eigenheim und sozialer Chan- weiter und erreichten in der Phase vor den cengleichheit glaubt. (Was ohnehin immer eine Kongresswahlen eine Höhe von 13,8 Billionen trügerische Vorstellung war!) Die Sozialstatis- Dollar, das sind 94,3 Prozent des Bruttosozial- tiken verdeutlichen bisher unbekannte soziale produkts der USA. Kommt der finanzielle Abstiegstendenzen. Elf Millionen Bürger Kollaps, wenn diese Schmerzgrenze in der fürchteten 2010 um ihren Hausbesitz, da ihre Fiskalpolitik überschritten wird? Schulden bei den Banken höher waren als der 9 Vgl. Auf dem Weg nach unten, in: Der Spiegel, Nr. 33/2010, S. 72. Vgl. dazu auch Philipp Schläger: Der entzauberte Präsident Barack Obama und seine Politik, Berlin: Rotbuch Verlag 2010, S. 173. 9
Obamas Halbzeitbilanz besitzer, Ausweitung der Kommunaldienste für Die Wahlergebnisse vom 2. November 2010 die Bevölkerung) zeigten sich große Teile der reflektierten den Grad der Unterstützung der Öffentlichkeit wenig beeindruckt und zurück- Öffentlichkeit für die Politik der Obama- haltend. Auch gegenüber den Abgeordneten in Administration und der Demokratischen Partei den Wahlkreisen wurden Zweifel geäußert, ob insgesamt. Barack Obama, der 2008 durch die die Gesetzesmaßnahmen das Leben in der Kri- Mehrheit der Demokraten in beiden Kammern se wirklich verbessern. Das Kernproblem für des Kongresses günstigste Voraussetzungen die Bewertung der Politik Obamas war in den für eine Politik des Wandels und der Erneue- ersten beiden Jahren seiner Amtszeit die anhal- rung der amerikanischen Gesellschaft besaß, tend hohe Arbeitslosigkeit mit ihren sehr kom- verlor gegen Ende des zweiten Jahres seiner plexen sozialen Folgen.12 Das Wirtschaftsför- Amtszeit stark an öffentlicher Unterstützung derprogramm vom Februar 2009 war der erste und Popularität. Bei Meinungsumfragen im große Schritt der Administration zur Bekämp- Herbst 2010 zeigte sich eine Mehrheit der Be- fung der Rezession. Mit dem 787-Milliarden- fragten (zwischen vierzig und fünfzig Prozent) Dollar-Stimuluspaket wurde ein dramatischer mit der Amtsführung Obamas unzufrieden und Absturz der USA in eine globale Wirtschafts- sechs von zehn Befragten vertraten die Mei- katastrophe verhindert, es rettete über drei nung, dass sich die USA in die falsche Rich- Millionen Arbeitsplätze. Doch die Arbeitslo- tung bewegen (eine Bewertung, die in gleicher sigkeit blieb unverändert hoch. Es wurde be- Weise am Ende der Bush-Administration ge- fürchtet, dass bei Abflauen der Rezession eine äußert wurde).10 Obama war im Kongress mit Tendenz der Wirtschaftserholung ohne neue der Tatsache konfrontiert, dass die Republika- Arbeitsplätze („jobless recovery“) hervortritt. ner jede Unterstützung von Gesetzgebungs- Viele Wähler glaubten vor den Kongresswah- schritten der Administration ablehnten. Die len, dass die Administration trotz hoher Fi- Republikaner gingen auf umfassenden Kon- nanzausgaben für die Konjunkturförderung frontationskurs, Hoffnungen der Demokraten eine Wende im Beschäftigungssektor der Wirt- auf Bereitschaft der Republikaner zu einer schaft nicht zustande bringt. Die Republikaner überparteilichen (bipartisan) Zusammenarbeit heizten das Misstrauen in der Bevölkerung erwiesen sich schon früh als nicht erfüllbar. gegenüber dem Stimuluspaket mit dem Argu- Obamas Strategie war unter diesen Bedingun- ment an, dass die Regierungsmaßnahmen die gen darauf gerichtet, während der ersten Hälfte Wirtschaftslage mit den hohen Staatsausgaben seiner Amtszeit einen großen Teil seiner Ge- nur verschlimmert hätten.13 Sehr widersprüch- setzesvorhaben durch den Kongress zu brin- lich wurde von den verschiedenen Wähler- gen, solange die komfortable Mehrheit der gruppen der Obama-Koalition und der Öffent- Demokraten besteht. Obama selbst schaltete lichkeit die Realisierung der zentralen Re- sich umfassend in die Gesetzgebungsprozesse formprojekte Obamas bewertet. Die Ergebnis- ein und wollte auch auf diesem Weg den Re- se stehen in engem Zusammenhang mit den gierungseinfluss auf Abgeordnete und Senato- politischen Positionen Obamas und den Kräf- ren verstärken.11 Tatsächlich erreichten die ten im zentralen Machtapparat des Weißen Demokraten ein Rekordergebnis in der Ge- Hauses, die seit 2009 die strategischen Ent- setzgebung, das größte seit Lyndon B. Johnson wicklungen der USA-Politik beeinflussen. im 89. Kongress (1964-1966). Trotz einer Obama selbst stand lange der weißen Elite aus Vielzahl von Gesetzen, die im Interesse der dem Kreis der „Lakefront Liberals“ in Chicago Mehrheit der Bevölkerung war (z. B. Erweite- nahe und verfocht in den politischen Kämpfen rung bestehender Krankenversicherungen für eine Position des extremen Pragmatismus. bedürftige Kinder; Erleichterung der Durchset- Seine Stärke: Verhandlungen, Kompromisse, zung gesetzlicher Ansprüche von Frauen auf politische Absprachen. Mit den progressiven gleichen Lohn; gesetzliche Bestimmungen Demokraten aus den Denkfabriken Chicagos gegen Altersdiskriminierung; Schutz der entwickelte er seine Erneuerungsprojekte für Verbraucher bei Kreditkartennutzung; steuerli- die USA. Obama war und ist kein Linksdemo- che Hilfen für finanziell bedrohte Eigenheim- krat und sein Ziel ist auch nicht ein fundamen- taler Wandel der USA-Gesellschaft. Seine 10 12 Vgl. Christian Wernicke: Ein Sommer ohne Liebe, in: Vgl. Carl Hülse: No reveling for Democrats despite Süddeutsche Zeitung, 5. August 2010. achlevements, in New York Times, 14. August 2010. 11 13 Vgl. Matt Bay: Obama is boxed in a big legislative Vgl. Christian Wernicke: Hilf dir selbst, in: Süddeut- agenda, in: New York Times, 18. August 2010. sche Zeitung, 9. September 2010. 10
große Chance wäre es, wenn es ihm gelingt, Stimmenverlust für seine Partei am 2. Novem- was Franklin D. Roosevelt erreichte: „den ber 2010 führen werde. Im zweiten Jahr der amerikanischen Kapitalismus stabiler und we- Amtszeit Obamas sollte die Durchsetzung von niger hemmungslos zu machen“.14 Obama wichtigen Teilen der Reformagenda die sin- nutzte die günstige Lage nicht, die innenpoli- kende Popularität der Demokraten stoppen. tisch für die Demokraten bestand, „um einen Wie sah diese Realisierung der Reformen aus? echten Wandel, eine Transformation der ame- Das Gesetz über die Gesundheitsreform hatte rikanischen Gesellschaft durchzusetzen.“15 Die für Obama Priorität. An diesem Schlüsselprob- Linksliberalen und die Graswurzelbewegun- lem eines zivilisierten Lebens sind die Vor- gen, die Obama zum Wahlsieg 2008 verholfen gänger Obamas im Präsidentenamt, auch Bill hatten, wurden deaktiviert und der Präsident Clinton, gescheitert. Ziel dieses Reformpro- selbst bezog zunehmend Positionen in der poli- jekts ist es, von den 47 Millionen US-Bürgern, tischen Mitte. Entscheidend für die Art und die keine Krankenversicherung haben, über 30 Weise der Durchsetzung der Reformagenda Millionen in ein Versicherungsverhältnis zu waren der Einfluss und die Interessenlagen der bringen. Obwohl noch 2009 über zwei Drittel wichtigsten Berater des Präsidenten im Weißen der Bevölkerung die Ausweitung der staatli- Haus und in der Administration. Die Hauptbe- chen Versicherung unterstützten (public opti- reiche des Präsidialamtes waren von Falken on), gibt Obama den konservativen Kräften in aus der Clinton-Ära und von Marktliberalen beiden Parteien und dem Druck der Versiche- dominiert, die eine wesentliche Mitverantwor- rungsindustrie nach und verzichtet auf die tung für die Deregulierung in der Finanzwirt- Möglichkeit einer staatlichen Versicherung. schaft und für die Finanzkrise trugen. Unter Für Millionen US-amerikanischer Bürger wird Obama, der so viel Spendensummen von Ban- die private Versicherungsindustrie der Träger ken und Konzernen erhalten hat wie kein Prä- ihrer Krankenversicherung. Der Staat führt sident zuvor, waren in allen Spitzenpositionen eine Versicherungspflicht für den einzelnen des Weißen Hauses Experten der Goldman- Bürger und für Arbeitgeber ein, die bei Nicht- Sachs-Bank vertreten. Der Stabschef des Wei- einhaltung mit Geldstrafen geahndet werden ßen Hauses, der Finanzminister, die Berater soll. Im Rahmen dieses großen Kompromisses des Präsidenten für Wirtschaft und Finanzen der Obama-Administration konnte eine Reihe kommen aus dem Wall Street-System und von sozialen Härten in der bisherigen Politik verkörpern so die bestehende Herrschaft eines der privaten Versicherer abgebaut werden. Der Oligopols aus Politikern und Bankern. Preis hierfür waren jedoch weitgehende Kon- Vertreter progressiver Bewegungen und Insti- zessionen des Staates gegenüber der Pharma- tutionen wurden von Obama nicht in die Re- industrie und anderen Gesundheitseinrichtun- gierungsverantwortung einbezogen. Es gab in gen. Der Prozess der Eingliederung der Bürger Washington somit keinen personellen Neuan- in den privaten Versicherungsrahmen wird sich fang, und der Präsident verzichtete in der Kri- über zehn Jahre hinziehen. Durch die Wirt- sensituation auf den Reformdruck der sozialen schaftskrise kommen ständig unversicherte Bewegungen. Er selbst hoffte, durch endlose Bürger hinzu. Viele Millionen werden auch Verhandlungen mit den Republikanern im weiterhin ohne Krankenversicherung leben Kongress die Blockadepolitik seiner politi- müssen. „Zudem enthält das Gesetz noch nicht schen Gegner mit Kompromissbereitschaft zu einmal ein kleines, symbolisches Einfallstor überwinden. für eine staatliche Versicherung. Die Gesund- Spätestens Anfang 2010, nach der Wahlnieder- heitsreform mag die größte Reform der letzten lage der Demokraten bei der Nachwahl für den fünfzig Jahre sein. Doch sie geht in die falsche Senatssitz des verstorbenen Ted Kennedy in Richtung.“16 Die Reform Obamas stabilisierte Massachusetts, die der Republikaner Scott die Profitinteressen der privaten Versicherer. Brown gewann, wurde Obama bewusst, dass Unverkennbar werden aber die sozialen Ent- die bisherige Kongress-Strategie des endlosen wicklungen in den USA in nächster Zeit die Verhandelns mit den Republikanern zu einem Notwendigkeit für eine universelle Kranken- versicherung verstärken. Trotz des Kompro- 14 John C. Kornblum, Dieter Kronzucker: Mission Ame- misscharakters der Gesundheitsreform erzeug- rika. Weltmacht am Wendepunkt, München: Redline ten besonders ihre Bestimmungen über den Verlag 2009, S. 308. (Kornblum und Kronzucker bezie- starken Einfluss des Staates bei der Durchset- hen sich hier auf eine Feststellung des Journalisten Peter Beinert im Time Magazin.) 15 16 Philipp Schläger: Der entzauberte Präsident, S. 157. Philipp Schläger: Der entzauberte Präsident, S. 82. 11
zung der Versicherungspflicht eine nie dage- beginnen sollte, scheiterte am Widerstand ein- wesene Protestwelle in der konservativen Be- flussreicher Industriekreise und ihrer Interes- wegung und verschärften vor den Kongress- senvertreter im Kongress. Ein im Mai 2010 wahlen die politische Polarisierung in der US- erarbeiteter Kompromissentwurf eines Klima- Gesellschaft. Neben dem Konjunkturförde- schutzgesetzes im Senat enthielt wichtige An- rungsgesetz und der Gesundheitsreform war sätze für ein neues Herangehen der USA an die das Gesetz zur Reform des Finanzmarkts das Herausforderungen des globalen Klimawan- dritte große Projekt auf Obamas Reformagen- dels und an eine saubere Energiegewinnung. da. Danach sollte der Ausstoß von Treibhausgasen Obama bezeichnete die Reform des Finanz- der USA im Vergleich zu 2005 bis 2020 um 17 markts als das weitestgehende Gesetz auf diese Prozent und bis 2050 um mehr als 80 Prozent Gebiet seit der Großen Depression. Die Demo- gesenkt werden. Gemessen am international kraten hatten die Tatsache einzukalkulieren, anerkannten Ausgangsjahr 1990 wären das bei dass die Wut der Massen auf die Exzesse der den USA etwa vier Prozent. Kein Durchbruch, Wall Street-Banken, die zur Finanzkrise führ- aber ein Einstieg. Auch gab es erste Überein- ten, die innenpolitische Stimmung weiterhin stimmungen in den Gesetzesdebatten über stark beeinflusste. Um Krisensituationen wie Obergrenzen für den Handel mit Verschmut- 2008 und 2009 ausschließen zu können, sollen zungszertifikaten in den verschiedenen Indust- mit der Reform neue Regeln für das Banken- riezweigen. Obwohl die Obama- system und wirksamere staatliche Kontrollen Administration ein hohes Maß an Konzessi- mit entsprechenden Institutionen eingeführt onsbereitschaft mit staatlichen Subventionen werden. Von besonderem Gewicht sind u. a. und Bürgschaften gegenüber der Atom- und die Schaffung eines Rates zur Kontrolle syste- Kohleindustrie zeigte, torpedierten einflussrei- mischer Krisen, erweiterte Aufsichtsrechte der che Wirtschaftskreise dieser Branchen, unter- Notenbank über die Finanzeinrichtungen, Ein- stützt von den Ölkonzernen, eine Wende in der griffsmöglichkeiten des Staates bei Krisenge- Energie-und Klimapolitik. Der Kongress gab fahren, die Einrichtung einer Verbraucher- diesem Industriedruck nach. So war auch in- schutzbehörde unter dem Dach der Notenbank ternational die US-Regierung nicht in der La- und kontrollierende Auflagen beim Handel mit ge, die Klimapolitik im globalen Rahmen wir- Derivaten und Hedgefonds.17 Das Gesetz wur- kungsvoll zu fördern. de von den Republikanern im Kongress abge- Ebenfalls keine Fortschritte gab es bei der lehnt. Den Wall Street-Banken und der Finanz- Reform der US-amerikanischen Einwande- industrie gelang es mit ihren Lobbysystemen, rungsgesetzgebung. Über zwölf Millionen wesentliche Begrenzungsfaktoren für ihre Fi- Einwanderer ohne legalen Status warten auf nanzoperationen im Gesetz abzuschwächen Veränderungen ihrer Lage. 2010 verstärkten und es mit einer Vielzahl von Ausnahmebe- sich die Massenproteste gegen die von der stimmungen zu durchlöchern. Wie bei der Administration tolerierten Repressionsprakti- Gesundheitsreform lehnten die Republikaner ken und Massenabschiebungen von Einwande- die starken Einflussmöglichkeiten des Staates rern in einzelnen Bundesstaaten. Die Obama- auf die Finanzwirtschaft als Verletzung von Administration blieb untätig. Viele spanisch- Grundnormen der Marktwirtschaft kategorisch stämmige Wähler, die 2008 für Obama stimm- ab. Im Mai 2010 fand das Gesetz mit den ten, könnten 2012 mit einer Ablehnung des Stimmen der Demokraten die notwendige Präsidenten zurückschlagen. Letztlich sei ver- Mehrheit im Senat. Obama konnte mit diesem merkt, dass Barack Obama auch die Gewerk- politischen Sieg im Kongress ein weiteres Mal schaften enttäuschte und trotz Wahlverspre- dem Sympathierückgang der Demokraten ent- chen keine Initiative für ein gewerkschafts- gegenwirken. freundliches Arbeitsrecht ergriff. Die Unter- Weitere Reformversprechen der Obama- nehmensverbände und Konzerne lehnten ve- Administration kamen nicht ins Stadium der hement den „Employee Free Choice Act“ ab, Realisierung. Ein Energie- und Klimaschutz- der neue Spielräume für gewerkschaftliche gesetz, mit dem ein „Green New Deal“ einge- Aktivitäten in Betrieben erleichtern sollte. leitet und eine neue Klimapolitik der USA Bilanzdebatten über die Außenpolitik der Obama-Administration waren im Vorfeld der 17 Vgl. Rolf Sieber: Kampf um den Kongress. Zu den Kongresswahlen relativ gering. Kongresswah- Zwischenwahlen in den USA im November 2010, in: len werden traditionell nicht von außenpoliti- Europäisches Friedensforum (epf). Deutsche Sektion, Heft 67, S. 12-15. schen Problemen bestimmt. Doch sollte die 12
Tatsache nicht unterschätzt werden, dass in die US-Außenpolitik keine friedenssichernden den zwei Jahren der Regierungszeit Obamas Veränderungen. Hier wurde eher der bestehen- die US-amerikanische Außenpolitik weltweit de Status Quo verfestigt.19 neue Akzente gesetzt hat, was nicht bedeutet, Die konservativen Kräfte stehen Barack Oba- das Wandlungsversprechen auch auf diesem mas außenpolitischen Grundpositionen kritisch Gebiet mit den politischen Realitäten in Über- bis ablehnend gegenüber. Sie stützen zwar den einstimmung gebracht werden konnten. Obama Kriegskurs des Präsidenten in Afghanistan und brachte bewusst außenpolitische Leistungen das Rüstungsbudget im Kongress, zeigen aber seiner Administration in die öffentlichen eine klare Ablehnung der Versuche, die US- Wahldebatten. Vorrang hatte die Erfüllung des Außenpolitik mit den veränderten internationa- Wahlversprechens, den Kriegseinsatz im Irak len Machtkonstellationen stärker in Überein- zu beenden. Doch die gleichzeitige Eskalation stimmung zu bringen. Obama wird vorgewor- des Krieges in Afghanistan ließ an der Bereit- fen, einen Ausverkauf amerikanischer Interes- schaft der US-Regierung, 2011 mit dem Trup- sen zu betreiben und nicht ausreichend für die penabzug zu beginnen, in großen Teilen der Einzigartigkeit des amerikanischen Gesell- Bevölkerung starke Zweifel aufkommen. schaftsmodells einzutreten. Als verkappter Scharfe Kritik an der Afghanistanpolitik Oba- „sozialistischer Säkularist“ und Friedensleicht- mas kam aus den Reihen der eigenen Partei gewicht versuche Obama, die USA auf den und von Kongressabgeordneten der Demokra- Weg der Euro-Sklerose zu treiben.20 Er trage ten. Gallup-Umfragen zufolge sind 62 Prozent für den Abstieg der USA in der Weltpolitik die der Amerikaner der Meinung, dass es um Af- Verantwortung. ghanistan schlecht stehe. Die Ungeduld mit dem lang andauernden Krieg wächst.18 Un- Auswirkungen des Kulturkampfes zweifelhaft gelang es Obama in den ersten Große Wählergruppen, die 2008 die Demokra- zwei Jahren seiner Amtszeit, mit einer Neuges- ten unterstützten, waren nach zwei Jahren von taltung der politischen Rhetorik das Image der den Ergebnissen des Krisenmanagements der USA in wichtigen Zonen der Erde zu verbes- Obama-Administration enttäuscht. Die wirt- sern. Mit einer Politik neuer Partnerschaften schaftliche Lage verbesserte sich nicht schnell sollten verlorengegangene Vormachtpositionen genug. Besonders die wahlentscheidenden der USA zurückgewonnen werden. Der größte unabhängigen Wähler signalisierten den De- außenpolitische Erfolg Obamas ist der mokraten, dass sie mit ihrer Stimme 2008 nicht START-Vertrag mit Russland zum Abbau der die Schaffung einer „neuen progressiven Ära“ nuklearen Arsenale und damit die Verbesse- in den USA forderten, sondern die schnelle rung des politischen Gesamtklimas gegenüber Überwindung der Rezession und die Schaffung Russland. Gegenüber China, dem Hauptrivalen von Arbeitsplätzen. Mit der Durchsetzung von der USA im künftigen internationalen Kräfte- Reformprojekten in der anhaltenden Krisensi- messen, erreichte Obama einen vertieften Dia- tuation, die zugleich das Staatsdefizit erhöhen, log. In eine Sackgasse führte Obamas Nahost- hätte Obama, so die Schlussfolgerung von Politik, sie ist praktisch gescheitert. Ebenso Führungskreisen der Demokraten, das Mandat gelang es der US-Administration auch mit der Wähler von 2008 zu weit ausgelegt. Kampf Hilfe einer neuen Stufe internationaler Sankti- um neue Jobs hätte die Priorität bekommen onen nicht, die iranische Führung zur Verände- müssen. Der größte politische Einbruch der rung ihrer politischen Positionen gegenüber Demokraten vollzog sich in der Mitte der Ge- dem Westen zu bewegen. Die Gefahr militäri- sellschaft, besonders bei der Mittelklasse in scher Konflikte in dieser Region ist gewach- den relativ begüterten Vororten der Großstäd- sen. In der außenpolitischen Halbzeitbilanz te.21 von Präsident Obama traten deutlich zwei Proteststürme erzeugte, besonders angefacht Tendenzen hervor: Ein begrenzt erreichter von konservativen Kreisen, die starke Gewich- Wandel im internationalen Agieren der USA tung des Staates in der Reformpolitik der De- wird begleitet von Kontinuitätselementen über- mokraten. Die Gesundheitsreform wurde zum lebter imperialer Machtpraktiken vorangegan- gener US-Regierungen. Gegenüber den aktuel- 19 len internationalen Konfliktfeldern bewirkte Philipp Schläger: Der entzauberte Präsident, S. 22. 20 Vgl. Klaus Brinkbäumer: Amerika ein Schwächling, in: Der Spiegel, Nr. 42/2010, S. 140-141. 18 21 Vgl. Matthias Rüb: Um den Präsidenten wird es ein- Vgl. Demokraten debattieren über die Niederlage, in: sam, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. August 2010. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. November 2010. 13
Haupthebel für den politischen Großangriff der „amerikanischen Traums“: Aufstieg durch Republikaner gegen die Demokraten. Sie nutz- Eigenverantwortung und individuelle Vorsorge ten die Unzufriedenheit mit der Politik Obamas statt staatlicher Einmischung mit Gesetzes- für die Verschärfung des Kulturkampfes gegen druck. Doch dieser Mythos vom „amerikani- den Reformgedanken in der US- schen Traum“ hat schon lange mit dem realen amerikanischen Gesellschaftspolitik. Welches Leben in den USA wenig zu tun. Er wurde gesellschaftlich-philosophische Konzept soll durch die Dominanz des „privaten Interesses“ die innere Entwicklung der USA bestimmen? in der Gesellschaftspolitik in den Grundfesten Josef Joffe verweist auf eine interessante untergraben. Als die konservativen politischen Schlussfolgerung, die der Kennedy-Berater Kräfte in den zurückliegenden beiden Jahren Arthur Schlesinger Jr. in seinem Buch „The bemerkten, wie zurückhaltend und enttäuscht Cycles of American History“ bereits vor über große Teile der Obama-Koalition von 2008 zwanzig Jahren zog. Als ein „Gesetz“ sei nach gegenüber der Reformpolitik des Präsidenten Schlesinger zu erkennen, dass sich die ameri- eingestellt waren, fühlten sie sich zu einem kanische Geschichte in Dreißig-Jahres-Zyklen massiven Großangriff auf den Wandel für bewegt. „Sie schwingen zwischen den Polen mehr „öffentliche Anliegen“ ermutigt. Es bot des 'öffentlichen Anliegens und des privaten sich die Möglichkeit, die politische Schlappe Interesses' hin und her, zwischen Aufbruch und der Republikaner von 2008 zu überwinden und Beharrung, zwischen Zähmung der Marktkräf- der Öffnung des Landes für Reformen ein En- te und ihrer Entfesselung, zwischen Vormarsch de zu bereiten. Kernanliegen der konservativen und Rückzug des Staates.“22 Unübersehbar Kulturkampfstrategie war es, innenpolitische verlangte die auswuchernde Krise des Spätka- Voraussetzungen zu schaffen, um Obama 2012 pitalismus in den USA eine stärkere Gewich- aus dem Weißen Haus vertreiben zu können. tung des „öffentlichen Anliegens“, das heißt Präsident Obamas staatliche Sozialausgaben die Verbesserung der sozialen Lebensbedin- und Stützungen für die dahindümpelnde Wirt- gungen mit Hilfe der Reformpolitik des Staa- schaft aus dem Stimulusprogramm wurden von tes. Das Zurückdrängen des „privaten Interes- einflussreichen konservativen Medienvertre- ses“ impliziert, der neoliberalen und gegen den tern und Politikberatern wie zum Beispiel Wohlfahrtsstaat gerichteten Gesellschaftspoli- Charles Krauthammer und Karl Rove als „ge- tik des Kapitals und ihrer konservativen Ver- fährlicher“ Weg der Regierungspolitik in einen treter mit Hilfe des Staates Barrieren zu setzen. sozialdemokratischen Staat nach europäischem Diese Positionen stehen sich feindlich und Vorbild, also außerhalb aller amerikanischer unversöhnlich gegenüber und verstärkten die Normen, gegeißelt.23 Die Debatten um die politische Polarisierung in den ersten beiden Gesundheitsreform gaben der konservativ- Jahren der Obama-Präsidentschaft extrem. Es republikanischen Antireformkampagne weite- vollzog sich ein breites Auseinanderfallen der ren Auftrieb. Es verbreitete sich eine Atmo- Gesellschaft in verschiedene politisch- sphäre des Hasses und der Intoleranz, Reform- kulturelle Milieus. Die Gesundheitsreform mit anhänger waren nicht mehr gleichberechtigte den staatlichen Eingriffsmöglichkeiten in den Teilnehmer am Dialog um die Perspektiven privaten Entscheidungsprozess der Bürger wird des Landes, sondern Feinde, die den Untergang von den Konservativen als ein Generalangriff der USA wissentlich betreiben würden. Nun der Demokraten auf die ursprünglichen Ver- war zu hören, dass Obama das Land in den fassungsprinzipien und Ideale der Nation ange- Sozialismus führen wolle und die Zunahme des sehen. Und das betrifft „individuelle Freiheit“ staatlichen Einflusses in der Gesellschaft mit und „staatliche Zurückhaltung“. Ein übermäch- der Unterdrückung der Individualrechte in den tiger Wohlfahrtsstaat führe zu einer Entmündi- Terrorregimen Hitlers und Stalins vergleichbar gung des Bürgers und in den politischen Kol- wäre. Auch rassistische Tendenzen waren in lektivismus. Für die Konservativen bestehe das den konservativen Kampagnen nicht zu über- Misstrauen gegenüber dem Staat seit der hören: Obamas Politik begünstige Schwarze Gründungszeit der amerikanischen Gesell- mit Sozialstützungen, während die weiße Be- schaft. Der Ausbau des Wohlfahrtsstaates, völkerung durch höhere Steuerbelastungen selbst in seiner unvollkommenen Form, behin- „arbeitsunwillige“ Schwarze alimentieren dere die Entfaltung von Wesenszügen des 23 Vgl. Obama ist durchschnittlich. Interview mit Charles Krauthammer, in: Der Spiegel, Nr. 44/2009, S. 117, und 22 Josef Joffe: Goodbye, Mr. President, in: Die Zeit, Nr. Wir bewegen uns nicht nach rechts, Interview mit Karl 3, 10. Januar 2008, S. 2. Rove, in: Der Spiegel, Nr. 42/2010, S. 138. 14
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