PAPERS ZWEI JAHRE OBAMA - ERHARD CROME, CLAUS MONTAG, OTFRIED NASSAUER - ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG

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                          Erhard Crome, Claus Montag,
                                     Otfried Nassauer

                          Zwei Jahre Obama
                                     Halbzeitanalysen
                                   und Betrachtungen
Rosa Luxemburg Stiftung
Erhard Crome, Claus Montag, Otfried Nassauer

Zwei Jahre Obama

Halbzeitanalysen und Betrachtungen

Juni 2011
Inhalt

Vorbemerkung                                  3

Claus Montag                                  5
Barack Obama und der 112. Kongress der
USA. Ende eines Reformversuchs?

Otfried Nassauer                             27
Der Abrüstungsmodernisierer. Nuklear-
politik unter Barack Obama

Erhard Crome                                 45
Die Welt des 21. Jahrhunderts und die
USA

Autorenhinweise und weitere Literatur        73

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Vorbemerkung

Sich gut zwei Jahre nach Beginn der Präsidentschaft von Barack Obama mit den USA zu befassen
heißt, zuallererst die Frage zu stellen, ob die USA und ihre Entwicklung mit den Anforderungen an
eine friedliche Welt im 21. Jahrhundert kompatibel sind. Das Ergebnis fällt ambivalent aus, und ist für
jene, die das Versprechen „Yes, we can!“ ernst genommen haben, eher enttäuschend. Ein Imperium zu
regieren, ist offenbar nicht möglich, ohne dessen innerer Logik zu folgen.
Durch seine offensive Sympathie-Werbung während der ersten Phase seiner Präsidentschaft hat Ba-
rack Obama auf der politisch-diplomatischen Ebene international atmosphärisch vieles zugunsten der
USA verbessert, manches, wie bezüglich der strategischen Rüstungen im Verhältnis zu Russland, auch
in der Sache. Doch gleichzeitig wurde der Rüstungshaushalt der USA weiter gesteigert, wurde der
Afghanistankrieg nicht nur fortgesetzt, sondern intensiviert, wurden die Weichen zur qualitativen Wei-
terentwicklung der US-amerikanischen Atomwaffen gestellt und ist in Sachen Iran „die militärische
Karte nicht vom Tisch“. Auf der anderen Seite setzen sich die schwierigen wirtschaftlichen und sozia-
len Entwicklungen in den USA fort. Die Arbeitslosigkeit ist anhaltend hoch, massenhaft sind weiter
Hausbesitzer zahlungsunfähig, die Bankenkrise treibt neuerlich Spekulationsblasen. Dies gehört zu
dem politischen Hintergrund für die Tea Party Bewegung und den Kulturkampf in der innenpoliti-
schen Szenerie der USA. Hinzu kommt, dass diese Leute nicht die konservativen Republikaner und
die abenteuerliche Kriegspolitik von Bush II für den weltpolitischen Abstieg der USA verantwortlich
machen, sondern Obama, der sich ja gerade bemüht, diesen Anpassungsprozess so flexibel wie mög-
lich zu gestalten. Der Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Kapazität, militärischer Macht und
weltpolitischer Rolle der USA bleibt ein zentrales Problem der internationalen Politik im ersten Vier-
tel des 21. Jahrhunderts. Mit anderen Worten: Gelingt es, den welthistorischen Abstieg der USA von
der „unipolaren“ Supermacht zu einer Macht unter anderen so zu gestalten, dass nicht weitere Kriege
und Kriegsgefahren entstehen? Oder werden die innere Krise, die Entwicklung der Rechtskräfte und
die innere Reformunfähigkeit die USA zum Problemfall Nr. 1 in der internationalen Politik machen?
Präsident Obama versucht der Herausforderung zu begegnen, indem er nicht keine, sondern eine ande-
re imperiale Politik macht. Die Bezeichnung „liberaler Imperialismus“ ist dafür offensichtlich ange-
messen. Für die Obama-Administration war beispielsweise hinsichtlich der Beteiligung an dem Liby-
en-Krieg des Westens wichtig, dass es einen Beschluss des UNO-Sicherheitsrates gab. Sie wollte nicht
wie Bush II als das Völkerrecht brechender Interventionist dazustehen. Der liberale Imperialismus
interveniert nicht frech über das Völkerrecht hinweg, sondern nur für das Gute in der Welt, für Demo-
kratie und Menschenrechte. Das macht es dem liberalen Imperialismus im Unterschied zum rechten
Imperialismus der USA einerseits schwerer – er muss mehr diplomatisch arbeiten, seine Schritte ge-
schickter und mit mehr intellektuellem Aufwand ideologisch und politisch vorbereiten – und anderer-
seits leichter, einen Krieg zu führen – dem plumpen und oft einfältig erscheinenden Bush sah man die
Frechheit und die Lüge beim Krieganzetteln schon von weitem an, was im Ausland regelmäßig Mas-
sendemonstrationen gegen ihn zur Folge hatte, wo immer er auftauchte, während der charmante und
kluge Obama den Eindruck zu erwecken versteht, als ginge es tatsächlich um Freiheit und Menschen-
rechte. Viele linksliberale, das Gute in der Welt wünschende Menschen nehmen ihm das ab.
Damit ist der liberale Imperialismus aber nicht unbedingt besser. Im Wahlkampf hatte Obama erklärt,
dass er die extra-legalen Formen der Kriegsführung abschaffen wolle: keine Entführung vermeintli-
cher Terroristen mehr irgendwo in der Welt und deren Verfrachten zum Auftragsfoltern in Drittländer;
Schließung des Sondergefängnisses in Guantanamo und Überstellung der dort Inhaftierten zu ordentli-
chen Gerichten mit Beweisaufnahme, rechtsförmiger Anklage und Verteidigungsrecht usw. Guanta-
namo gibt es aber immer noch. Inzwischen hat Präsident Obama den Befehl zum Einsatz von Drohnen
(unbemannten bewaffneten Flugkörpern) gegen Personen gegeben, die angeblich Terroristen bzw.
Befehlshaber von Terroristen sind. Das geschah zunächst in Pakistan, Afghanistan und Jemen. Im
Libyen-Krieg sollte dann auch Gaddafi auf diesem Wege liquidiert werden. Ein solcher Drohnenein-
satz ist die Anweisung zum Mord von Staats wegen, unter Auslassung aller Formen von Rechtsstaat-
lichkeit: der Ermordete ist dann tot, ohne dass er auch nur den Hauch einer Chance hatte, vor Gericht

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seine Unschuld zu beweisen oder die Anklage die Verpflichtung, den Nachweis seiner Schuld zu füh-
ren. Die Erschießung Osama bin Ladens war ein jüngster Präzedenzfall für derartige Praxis.
Die Kongresswahlen und die Wahl der Gouverneure in mehr als dreißig Bundesstaaten am 2. Novem-
ber 2010 haben zu einer Verschiebung der innerpolitischen Machtstrukturen zu Ungunsten von Barack
Obama und der Demokratischen Partei geführt. Die Machtverschiebungen fanden wie bei keinem an-
deren innenpolitischen Ereignis zuvor seit langem besondere Aufmerksamkeit in der internationalen
Öffentlichkeit, einschließlich in den linken bzw. linksliberalen Strömungen vieler Länder. Mit einem
gewissen Maß an Besorgnis wurde in den Massenmedien die Frage aufgeworfen, warum das „Projekt
Obama“ für eine Erneuerung Amerikas, das zu dem grandiosen Wahlsieg der Demokraten 2008 bei-
trug, nach 24 Monaten einen Teil seiner innenpolitischen Unterstützung verlor. Vor allem gemessen
auch an den gewaltigen Erwartungen, die mit der Wahl Obamas verbunden wurden, wog dieses Wahl-
ergebnis umso schwerer. Ist er wirklich der Erneuerer, der das Konzept eines „New Deal“ wieder mit
Leben zu erfüllen vermag oder hat er mehr versprochen, als er je leisten will oder kann? Gefragt wird
bei Teilen der Machteliten und in progressiven Strömungen innerhalb der USA und besonders in euro-
päischen Ländern, welche Rückwirkungen gewachsener konservativer Einfluss auf künftige politische
Entwicklungen haben kann.
Ein wichtiges Feld bleibt die Frage der nuklearen Rüstungen. Vor zwei Jahren belebte Präsident Oba-
ma die Hoffnung auf eine atomwaffenfreie Welt neu. Während seiner Rede in Prag am 4. April 2009
betonte er das Ziel einer Welt ohne Nuklearwaffen und verpflichtete sich, darauf hinzuarbeiten. Ande-
rerseits gab er sich als Realist, der weiß, dass dieses Ziel „vielleicht nicht in meiner Lebenszeit“ umge-
setzt werden kann. Der visionäre Teil seiner Aussage fußt auf der völkerrechtlichen Verpflichtung der
USA, nuklear abzurüsten und letztlich auf nukleare Waffen zu verzichten. Tatsächlich jedoch wurden
in seiner bisherigen Amtszeit die rüstungspolitischen Entscheidungen so getroffen, dass die USA in
der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts noch über ein beträchtliches Kernwaffenpotential verfügen.
Die drei Texte in diesem Heft sind zunächst selbständig entstanden. Das vieldiskutierte Ergebnis der
„Zwischenwahlen“ 2010 machte es erforderlich, die Hintergründe und die voraussichtlichen Folgen
dieser Wahlen genauer zu betrachten. Claus Montag, der sich seit Jahrzehnten analytisch mit den USA
beschäftigt, war bereit, dieses Papier zu liefern. Otfried Nassauer hat das Thema der Nuklearpolitik der
Regierung Obama in gewohnter Tiefenschärfe und konzeptioneller Zuspitzung bearbeitet. Zugleich
war klar, dass ein Gesamtpapier zu über zwei Jahren Obama die Debatten, die in der Rosa-
Luxemburg-Stiftung und insbesondere im Gesprächskreis Frieden der Stiftung seit geraumer Zeit ge-
führt werden, auf spezifische Weise fortsetzt. In diesem Sinne stehen die Beiträge dieses Heftes in
Zusammenhang mit früheren Publikationen der Stiftung, insbesondere denen zu den geostrategischen
Veränderungen und zum Libyen-Krieg und weisen auf spezifische Weise darüber hinaus. Das Thema
der künftigen Entwicklung der USA jedenfalls wird uns noch längere Zeit beschäftigen.

Berlin, 30. Mai 2011                                                                      Erhard Crome

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Claus Montag

Barack Obama und der 112. Kongress der USA.
Ende eines Reformversuchs?

Die Kongresswahlen und die Wahl der Gou-               nen neu zu gestalten. Dabei spielen geographi-
verneure in mehr als dreißig Bundesstaaten am          sche Einteilungskriterien keine Rolle. Die Re-
2. November 2010 haben zu einer Verschie-              publikaner haben sich bei den Novemberwah-
bung der innerpolitischen Machtstrukturen in           len 2010 auch in dieser Frage unverkennbar
den USA geführt. Obamas Demokratische                  politische Vorteile verschafft.
Partei musste bei den Kongresswahlen histori-          Politische Einbrüche der Partei des Präsidenten
sche Verluste hinnehmen. Bei diesen „Zwi-              bei den Zwischenwahlen sind schon mehrmals
schenwahlen“ (zur Halbzeit einer Präsident-            in der jüngsten Geschichte der USA eingetre-
schaftsperiode) stehen die 435 Sitze des Reprä-        ten. Sie widerspiegeln die Reaktionen der
sentantenhauses und ein Drittel der 100 Se-            Wähler auf die Politik der Präsidentenpartei
natssitze zur Wahl. Im Repräsentantenhaus              nach den ersten zwei Jahren ihrer Amtszeit im
verfügen die Republikanische Partei jetzt über         Weißen Haus. So verloren Präsident Clinton
242 Sitze (bisher 178) und die Demokratische           1994 und Präsident Bush 2006 ihre vorher
Partei über 193 (bisher 257). Im Senat konnten         erreichten Mehrheitspositionen in beiden Häu-
die Demokraten eine schmale Mehrheit erhal-            sern des Kongresses. Verfassungspolitisch
ten (53 Demokraten, 47 Republikaner). Vorher           stehen solche Machtverschiebungen zwischen
war das Verhältnis 59 Demokraten zu 41 Re-             Weißem Haus und Kongress nicht in Wider-
publikanern. Das Erlangen einer Zwei-Drittel-          spruch zu den Grundregeln des politischen
Mehrheit bei wichtigen Gesetzesvorlagen wird           Herrschaftssystems der USA. Viele Wähler
damit für die Demokraten schwieriger. Zur              empfinden für die Durchsetzung von Interes-
gleichen Zeit fanden in 37 Einzelstaaten die           sen gegenüber dem Staat ein „divided govern-
Gouverneurs- und Parlamentswahlen statt.               ment“ für wirkungsvoller als eine politische
Zuletzt hatten die Demokraten in 26 Bundes-            Machtkonzentration bei einer Partei. Zu groß
staaten den Gouverneur gestellt, die Republi-          ist in den USA die Ablehnung von Machtarro-
kaner in 24 Staaten. Auch bei diesen Wahlen            ganz und politischer Vorteilsgewinnung ge-
konnten Kandidaten der Republikaner in mehr            worden, die schrankenlos von den beiden
als zehn Bundesstaaten den Demokraten die              großbürgerlichen Parteien betrieben wird.
Macht entreißen und ihre Einflusspositionen            Die Machtverschiebungen zugunsten der kon-
ausbauen. Außer in Kalifornien, Arkansas und           servativen Kräfte bei den Kongresswahlen
Colorado konnten die Demokraten nur in ihren           fanden wie bei keinem innenpolitischen Ereig-
Hochburgen an der Ostküste (New York, Ma-              nis zuvor eine besondere Aufmerksamkeit in
ryland, Massachusetts und New Hampshire)               der internationalen Öffentlichkeit, einschließ-
ihre Machtpositionen erhalten.                         lich in den linken bzw. linksliberalen Strö-
Von besonderer Bedeutung bei den Wahlen                mungen vieler Länder. Mit einem gewissen
vom 2. November 2010 in den Bundesstaaten              Maß an Besorgnis wurde in den Massenmedien
war auch der Umstand, dass in diesem Jahr              die Frage aufgeworfen, warum das „Projekt
nach dem Abschluss der Volkszählung (die               Obama“ für eine Erneuerung Amerikas (rema-
alle zehn Jahre stattfindet) die Zahl der Manda-       king), das wählerunterstützt zum grandiosen
te der Einzelstaaten im Repräsentantenhaus             Wahlsieg der Demokraten 2008 beitrug, nach
sowie die Grenzen der Wahlkreise neu festge-           24 Monaten die innenpolitische Unterstützung
legt werden. Die Partei, die sich die Mehrheit         verlor. Gefragt wird bei Teilen der Machteliten
bei den Wahlen sichern konnte, hat nun über            und in progressiven Strömungen innerhalb der
die Gesetzgebung des jeweiligen Bundesstaa-            USA und besonders in europäischen Ländern,
tes die Chance, die Wahldistrikte für die län-         welche Rückwirkungen gewachsener konser-
gerfristige Absicherung ihrer Einflusspositio-         vativer Einfluss auf künftige politische Ent-

                                                   5
wicklungen haben kann. Zu den jetzt diskutier-              chen Meinung sehr schwierig. Teilantworten
ten Problemen gehören u. a.:                                machen zunächst einen kritischen Blick auf das
                                                            Ursachengeflecht des politischen Absturzes der
    -    Wird Präsident Obama nach den Kräf-
                                                            Demokratischen Partei 2010 erforderlich.
         teverschiebungen im Kongress und in
         der Öffentlichkeit eine Chance haben,
         für eine zweite Amtszeit wiederge-
                                                            Zwischen Reformpolitik und Krisenver-
         wählt zu werden?
                                                            schärfung
    -    Sind die USA angesichts anhaltender
         und vertiefter Krisenprozesse im                   Obama und die Demokratische Partei waren im
         staatsmonopolitischen System reform-               Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2008 mit
         fähig bzw. politisch reformwillig? In              innenpolitischen Entwicklungen konfrontiert,
         welchem Verhältnis stehen fortbeste-               die eine gesamtnationale Verstärkung ihres
         hende Zwänge zu systemstabilisieren-               politischen Gewichts ermöglichten. Die Folgen
         den Reformen und das gewachsene                    der Finanz- und Wirtschaftskrise untergruben
         konservative Klima in großen Teilen                zunehmend Ansehen und Glaubwürdigkeit der
         der US-amerikanischen Öffentlichkeit               Bush-Administration, die in den Jahren ihrer
         und der Machteliten?                               Regierungszeit eine Politik betrieb, die die
    -    Werden die außenpolitischen Kurskor-               Kluft zwischen arm und reich in den USA wie
         rekturen,      die     die    Obama-               zu keiner Zeit zuvor vergrößerte. „Tatsächlich
         Administration nach der Bush-Ära seit              findet sich nirgendwo in der hoch entwickelten
         2009 in Gang setzte, unter konservati-             Welt“, wie US-Nobelpreisträger Paul Krugman
         ver Dominanz im Kongress Bestand                   feststellte, „eine Entsprechung zu dem Anstieg
         haben? Können unilaterale und kon-                 der Ungleichheit in Amerika.“2 Die konserva-
         frontative Handlungsmodelle wieder                 tiven Bewegungen, die die Republikanische
         ein stärkeres Gewicht in der US-                   Partei unter ihrer Kontrolle hatten, konnten mit
         Politik bekommen?                                  Geld den Reichtumszuwachs für die obere
    -    Wie wird sich die veränderte Kräfte-               schmale Elite der Gesellschaft über die Regie-
         konstellation in den USA auf die glo-              rungstätigkeit forcieren. Als das Bankensystem
         balen finanz- und wirtschaftspoliti-               kollabierte und die Macht der Wallstreet-
         schen       Pläne     der     Obama-               Institutionen ins Wanken gerieten, erfuhr in
         Administration auswirken?                          kurzer Zeit die soziale Ungleichheit neue Di-
                                                            mensionen: Millionen einfacher Bürger verlo-
Schon vor den Kongresswahlen waren die                      ren ihre Ersparnisse beim Bankenzusammen-
Popularitätsbewertungen der Politik der Oba-                bruch, Altersversorgungen erfuhren Entwer-
ma-Administration in den USA und in der                     tungen, Löhne und Einkommen stagnierten,
europäischen Öffentlichkeit unverkennbar sehr               Gesundheitskosten stiegen weiter und der Ver-
unterschiedlich. In den USA gaben die innen-                lust der Eigenheime infolge von Hypotheken-
politischen Prozesse den Ausschlag für Ge-                  schulden wurde zu einer Massenerscheinung.
samtbewertungen, in der europäischen Öffent-                Die Kriegstoten im Irak und in Afghanistan
lichkeit war es überwiegend das internationale              sowie die Untergrabung von Bürgerrechten
Handeln der Obama-Administration. Trotz der                 durch die Anti-Terror-Gesetzgebung verstärk-
Kriegspolitik der USA in Afghanistan unter-                 ten den politischen Protest gegen die Bush-
stützten laut Transatlantik Trends 2010 nahezu              Cheney-Politik im Weißen Haus. Große Teile
78 Prozent der befragten Europäer die interna-              der Bevölkerung, besonders auch die Mittel-
tionale Politik Obamas. In den USA war es nur               schichten, glaubten, dass das Land in die fal-
eine knappe Mehrheit von 52 Prozent.1                       sche Richtung abdriftet. Im Vorfeld der Wah-
Prognosen über die künftige Politik der Oba-                len von 2008 reflektierte die anschwellende
ma-Administration in den kommenden zwei                     Anti-Bush-Stimmung         Erwartungshaltungen
Jahren vorzunehmen (es ist die Zeit des begin-              sehr unterschiedlicher sozialer und politischer
nenden      Präsidentschaftswahlkampfes     für             Gruppierungen, die Obama und die Demokra-
2012), ist angesichts der schwankenden politi-              tische Partei zu einer neuen progressiven Wäh-
schen Stimmungslagen in der von Feindschaft,                lerbewegung zusammenführen konnten. Von
Intoleranz und Unsicherheit geprägten öffentli-
                                                            2
                                                              Paul Krugman: Nach Bush. Das Ende der Neokonserva-
1
 Vgl. Transatlantic Trends. Key Findings 2010, German       tiven und die Stunde der Demokraten, Frankfurt/New
Marshall Fund of the United States, S. 5.                   York: Campus Verlag 2008, S. 15.
                                                        6
besonderem Gewicht waren die alte „New                         Die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten
Deal“-Koalition, bestehend aus Gewerkschaf-                    war ein Ereignis von historischer Tragweite
ten und ethnischen Minderheiten wie Latinos                    (sie wird auch durch die aktuellen Wahleinbu-
und Afroamerikanern, Wechselwähler und                         ßen für die Demokraten nicht verringert). Mit
Unentschlossene, die über zwanzig Prozent der                  dieser Wahl eines schwarzen Präsidenten sig-
Wähler ausmachten, sowie jugendliche Wäh-                      nalisierte eine Mehrheit der Bevölkerung der
ler, die von der offiziellen Politik enttäuscht                USA, dass sie eine radikale Wende in der Ge-
waren und von besseren Aufstiegschancen                        sellschaftspolitik der USA unterstützt. Die
träumten. Hinzu kam die Vielzahl von Bürger-                   lange historische Periode rassistischer Politik
rechtsbewegungen und Antikriegsgruppen.                        und der gesellschaftlichen Diskriminierung der
Die Wahlniederlage der Republikaner bei den                    Afroamerikaner und anderer Minderheiten
Präsidentschafts- und Kongresswahlen 2008                      durch konservative weiße Bevölkerungsschich-
verschärfte die neokonservative Hegemonie-                     ten schien eine Begrenzung zu erfahren. Oba-
krise in der US-Gesellschaft, manifestierte das                ma, der als politischer Außenseiter spät ins
vorläufige Scheitern einer Jahrzehnte anhal-                   Präsidentschaftsrennen der Demokraten ging,
tenden Untergrabung vorhandener sozialstaat-                   konnte in der historischen Krisensituation von
licher Elemente durch die konservativen Be-                    2008 mit seinen charismatischen Führungsei-
wegungen und ihres Bestrebens, den Neolibe-                    genschaften, einer äußerst wirksamen Massen-
ralismus immer tiefer in der Gesellschaft zu                   kommunikation und einer kritischen Distanz
verankern. „Das politische Bündnis im Innern,                  zum politischen Establishment in Washington
das das neokonservative Projekt stützte – eine                 die sehr heterogenen Sehnsüchte nach einem
durch die Klammer des Irakkriegs zusammen-                     Wandel in der Politik bündeln. Seine politische
gehaltene     Allianz     aus     transnational-               Strategie war darauf ausgerichtet, den Wählern
freihandelsimperialistisch orientierten Kapital-               bewusst zu machen, dass die Demokraten die
fraktionen, dem militärisch-industriellen Kom-                 Ängste und Sorgen der Massen zum Aus-
plex, der Ölwirtschaft und einer rechtsextre-                  gangspunkt für eine Veränderung der Politik in
men Massenbasis bestehend aus subalternen                      Washington machen. Er zeichnete für das neue
christlichen Fundamentalisten und militaristi-                 Vorgehen relativ vage Umrisse, ein Zeichen,
schen Nationalisten“ war zusammengebrochen                     dass er sich bei der Massenmobilisierung nicht
und schien in seine Einzelteile zu zerfallen.3                 auf eine spezifische ideologische Konzeption
Um die hegemonialen Positionen der Konser-                     festlegen und sehr unterschiedliche Wähler-
vativen nach der Bush-Niederlage 2008 weiter                   gruppen für eine Wandlungspolitik zusammen-
zurückdrängen zu können, mussten die Demo-                     führen wollte. In der schwersten Finanzkrise
kraten nach Wegen suchen, um die verschie-                     der USA seit Jahrzehnten war der soziale Fak-
denen Interessenlagen der Angehörigen der                      tor das Kernproblem in der Massenmobilisie-
neuen Wählerkoalition zu bündeln und unter                     rung des Obama-Wahlkampfes. Einfache Bil-
den anwachsenden Krisenbedingungen diese                       der sollten die messianische Wirkung der
Wählergruppen zusammenzuhalten. Dafür bot                      Obama-Strategie verstärken. Am Tage seines
die Demokratische Partei mit ihren unter-                      Wahlsieges 2008 sagte er in Chicago: „Da sind
schiedlichen politischen Flügeln – linke De-                   Väter und Mütter, die wach liegen, wenn die
mokraten, Gewerkschaftsvertreter, liberale                     Kinder schon eingeschlafen sind, und sich
Gruppen, Zentristen und konservative Fiskal-                   fragen, wie sie die Hypothek finanzieren und
politiker – zunächst kein einheitliches Bild.                  ihre Arztrechnung bezahlen sollen oder genug
Die Partei hatte in den zurückliegenden Jahr-                  sparen können für den Hochschulunterricht
zehnten, besonders unter Präsident Clinton,                    ihres Kindes.“4 Sehr früh entwickelten Obama
eine fulminante Rechtswende durchlaufen und                    und einflussreiche Kräfte des liberalen Flügels
zur Vertiefung neoliberaler und konservativer                  in der Demokratischen Partei Reformforderun-
Entwicklungen in der US-Gesellschaft beitra-                   gen für eine „Erneuerung Amerikas“, die sich
gen. In vielen sozialen Fragen bestanden tiefe                 an einige traditionelle Erfahrungen einer „New
Gräben zwischen den unterschiedlichen politi-                  Deal“-Politik aus vergangenen Jahrzehnten
schen Fraktionen im Parteiapparat und im                       anlehnten. Das betraf besonders einen Forde-
Kongress.                                                      rungskatalog zur Verringerung der wachsenden
                                                               sozialen Ungleichheit und die verstärkte Nut-
3
 Ingar Solty: Das Obama-Projekt. Krise und charismati-
                                                               4
sche Herrschaft, Supplement der Zeitschrift Sozialismus,        Ansprache Barack Obamas nach dem Wahlsieg, in: Die
Hamburg, Heft 10/2008, S. 6.                                   Welt, Berlin, 6. November 2008.
                                                           7
zung öffentlicher Finanzmittel für Beschäfti-              Mögliche an.“7 Die Führungsrolle der USA in
gung sowie die Förderung des Strukturwandels               der Welt soll wiederhergestellt werden, doch
in der Wirtschaft und der Modernisierung öf-               ohne die neoimperiale Militanz der konservati-
fentlicher Einrichtungen. Die progressiven                 ven Vorgänger. Um verlorene Vertrauensposi-
Kräfte innerhalb und außerhalb der Demokrati-              tionen im internationalen System wiederher-
schen Partei, unterstützt von der größten                  stellen zu können, rief Obama dazu auf, eine
Graswurzelbewegung in der amerikanischen                   Neuordnung der Beziehungen zwischen den
Wahlgeschichte, sahen in der Vollendung der                großen Mächten einzuleiten, die von der Be-
„New Deal“-Politik Franklin D. Roosevelts aus              rücksichtigung gemeinsamer Interessen und
den 1930er Jahren auf sozialem Gebiet ein                  wechselseitigem Respekt getragen sein sollen.
Kernanliegen bei der Überwindung der kon-                  Dabei anerkennen die USA die Notwendigkeit
servativen Vorherrschaft. Oberste innenpoliti-             der internationalen Kooperation bei der Lö-
sche Priorität beim Zurückdrängen des extre-               sung globaler Probleme und Gefahren und
men Anstiegs sozialer Ungleichheit und Armut               verweisen darauf, dass sie allein diesen Her-
hatte für die Demokratische Partei die Durch-              ausforderungen nicht gewachsen sein werden.
setzung einer Gesundheitsreform, um die USA                Damit verbindet sich zugleich die Bereitschaft
aus der Unterentwickeltheit der Gesundheits-               zur Stärkung des Multilateralismus und der
fürsorge herausführen zu können.5 Weitere                  Diplomatie in der internationalen Politik. Ohne
Aktionsfelder zum Abbau wachsender Un-                     das dominierende militärische Gewicht der
gleichheiten sollten sein: Beendigung der                  USA in der Welt einschränken zu wollen, sol-
Steuervergünstigungen für Reiche 2010; güns-               len neue Wege zur Abwendung nuklearer Ge-
tigere Steuerbedingungen für Mittelschichten               fahren auch mit Hilfe der USA erschlossen
und Bürger mit geringem Einkommen; Anhe-                   werden. Unübersehbar ist das strategische
ben der Mindestlöhne bis 2011 (von 7,25 Dol-               Bestreben der Führungseliten um Obama, in
lar auf 9,50 Dollar); Wiederherstellung bzw.               den kommenden internationalen Entwicklun-
Ausbau der Gewerkschaftsrechte; Vergröße-                  gen der Macht des Geldes, also den ökonomi-
rung der Bildungschancen durch den Ausbau                  schen und finanziellen Potenzen der USA, eine
der Schulsysteme mit neuen Lehrerstellen;                  Priorität gegenüber der Macht der Waffen ein-
Modernisierung öffentlicher Einrichtungen und              zuräumen.8 Die ökonomischen Grenzen der
der gesellschaftlichen Infrastruktur durch staat-          USA forcierten die Entscheidung Obamas zur
liche Aufträge und Arbeitsprogramme; Ver-                  Beendigung des völkerrechtswidrigen Krieges
stärkung des moralischen Drucks auf das Ban-               im Irak.
kensystem zur Neuordnung und Senkung der                   Was hat das alles mit dem Kongresswahler-
Managergehälter.6 Neben der Gesundheitsre-                 gebnis zu tun? In den ersten beiden Jahren der
form, der Nummer 1 in Obamas ambitionierter                Amtszeit der Obama-Administration verschärf-
Reformagenda, waren das Konjunkturpro-                     te sich die wirtschaftliche Rezession. Die neue
gramm, das Gesetz für Energiereform- und                   Administration erbte in vollem Umfang die
Klimaschutz, nach den katastrophalen Folgen                Folgen der gescheiterten Finanz- und Wirt-
der Finanzkrise das Gesetz zur Reform der                  schaftspolitik der Bush-Ära, die die Gefahr
Finanzmärkte und die Reform der Immigrati-                 einer globalen Wirtschaftskatastrophe herauf-
onsgesetzgebung die entscheidenden Baustel-                beschwor. Für die Mehrheit der US-Bürger
len in den Erneuerungsbestrebungen der Oba-                brachte die erste Phase der Obama-Politik kei-
ma-Administration.                                         ne oder nur geringe soziale Verbesserungen. In
Um die USA nach der Bush-Ära wieder zu-                    den zurückliegenden Jahrzehnten ist das starke
kunftsfähig zu machen, leitete Obama eine                  Wirtschaftswachstum an den breiten Massen
umfassende       Neuausrichtung      der     US-           nahezu spurlos vorbeigegangen. Zwischen den
amerikanischen Außenpolitik ein. Das Kern-                 Ärmsten und der Spitze der Gesellschaft hat
ziel der neuen Administration bestand darin,               sich die Kluft extrem vertieft. Gegenwärtig
„Amerikas Ambitionen und seine Mittel wie-                 verfügt das obere ein Prozent der Bevölkerung
der in Einklang zu bringen… Statt sich am                  über 37,1 Prozent des Gesamtvermögens der
Unmöglichen zu überheben, strebte Obama das
                                                           7
                                                             Thomas Kleine-Brockhoff: Ein ganz normaler Präsi-
                                                           dent, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur
5
  Vgl. Ekkehard Sauermann: Obama. Hoffnungen und           Wochenzeitschrift Das Parlament, 4/2010, S. 3.
                                                           8
Enttäuschungen, Berlin: Kai Homilius Verlag-Compact,         Vgl. Leslie H. Gelb: GDP now matters more than force:
S. 45.                                                     A U.S. Foreign Policy for the age of economic power, in:
6
  Vgl. Paul Krugman: Nach Bush, S. 268-290.                Foreign Affairs, New York, November/Dezember 2010.
                                                       8
USA, während die unteren 80 Prozent der Be-                 Wert ihrer Immobilie. Hunderttausende muss-
völkerung über 12,3 Prozent des Gesamtver-                  ten ihre Häuser verlassen, nicht wenige von
mögens verfügen.9 Nach der Finanzkrise haben                ihnen leben in Zelten wie in einem afrikani-
die großen Banken dank großzügiger finanziel-               schen Entwicklungsland, 45 Millionen Men-
ler Absicherung über Staatsbürgschaften ihren               schen gelten statistisch als arm. Auch die Er-
Handelsspielraum wieder vergrößert, und 2009                nährung der Kinder wurde zu einem gesell-
wuchs die Zahl der Millionäre um 17 Prozent.                schaftlichen Problem, jeder achte Bürger lebt
Zur Belebung der lahmenden Wirtschaft setzte                von Essenmarken oder von der Inanspruch-
Obama 2009 mit der Mehrheit der Demokraten                  nahme von Suppenküchen. Arbeitslosigkeit hat
im Kongress ein Konjunkturpaket in Höhe von                 katastrophale Auswirkungen auf die medizini-
787 Milliarden Dollar (über elf Jahre verteilt)             sche Versorgung, da die Kosten die finanziel-
durch, mit dem sowohl einige Aspekte der                    len Spielräume der Betroffenen übersteigen
Reformprojekte auf sozialem und bildungspoli-               und oft die Privatschulden erhöhen. Die priva-
tischem Gebiet eine Förderung erfahren soll-                ten Schulden der USA-Haushalte liegen heute
ten, als auch Modernisierungen von Infrastruk-              nahe der 14-Billionen-Dollar-Grenze. Das
turen (Straßen, Autobahnen, Flughäfen, Eisen-               bestehende, sehr unvollkommene soziale Netz
bahnen) und Industrien für erneuerbare Ener-                der USA ist der Krise dieses Ausmaßes nicht
gien. Der Kern des Stimulusprogramms war                    gewachsen. Die anhaltende Rezession zwang
die Sicherung bestehender Arbeitsplätze und                 die Obama-Administration, über ihre geplanten
die Schaffung von neuen Jobs. Doch Wirkun-                  Reformvorhaben hinaus große Finanzsummen
gen blieben aus. Die Arbeitslosigkeit erreichte             für die schnelle Belebung der Wirtschaft und
eine Rekordhöhe von 15 Millionen (inoffiziell               für neue Arbeitsplätze einzusetzen. Doch Wirt-
nahezu 20 Millionen), das sind ca. 9-10 Pro-                schaftsbelebung mit staatlichen Konjunkturpa-
zent der Beschäftigten mit einem hohen Anteil               keten ist keine Reformpolitik, sie ist Krisen-
von Langzeitarbeitslosen. Besonders hoch ist                management, um das kapitalistische Wirt-
die Arbeitslosigkeit in den sterbenden Zentren              schaftssystem funktionsfähig zu halten. Re-
der alten Industrien und unter der afroamerika-             formen dagegen, wie sie von einem Teil der
nischen Arbeiterschaft (Stahl und Kohle).                   Demokraten verstanden werden, zielen auf
Strukturelle Verwerfungen in der Industrie                  strukturelle Veränderungen gesellschaftlicher
wurden größer und das Bildungssystem hält                   Zustände und Prozesse ab, die den neokonser-
mit den technologischen Entwicklungen nicht                 vativen Rahmen des spätkapitalistischen Sys-
mehr Schritt. Große politische Auswirkungen                 tems der USA durchbrechen und dem Gesamt-
hat die Angst der Mittelschicht vor einem wirt-             system perspektivisch – im Interesse größerer
schaftlichen und sozialen Abstieg. Die USA                  Bevölkerungsgruppen – mehr innere Stabilität
galten seit Jahrzehnten als „Mittelstandsgesell-            verleihen sollen. Die Tiefe der Reformen hängt
schaft“, die dem politischen System eine ge-                in starkem Maße davon ab, wie stark der poli-
wisse Stabilität verlieh. 2008 wählten starke               tische Druck progressiver Kräfte innerhalb des
Wähleranteile aus den Mittelschichten Obama                 Reformprozesses ist und welche Handlungs-
und die Demokraten in der Hoffnung, dass die                spielräume die innenpolitischen Kräfteverhält-
wirtschaftlichen Abstiegstendenzen während                  nisse (im aktuellen Fall zwischen Demokraten
der Finanz- und Wirtschaftskrise unter Bush                 und Republikanern) bieten.
überwunden werden können. Von politischem                   Reformprojekte und Konjunkturpakete zwan-
Gewicht ist auch die Tatsache, dass nahezu die              gen die Obama-Administration 2009 und 2010,
Hälfte der USA-Bevölkerung nicht mehr an die                den Bundeshaushalt mit höheren Finanzausga-
Realisierbarkeit des „Amerikanischen Traums“                ben zu belasten. Die Staatsschulden wuchsen
in Gestalt von Eigenheim und sozialer Chan-                 weiter und erreichten in der Phase vor den
cengleichheit glaubt. (Was ohnehin immer eine               Kongresswahlen eine Höhe von 13,8 Billionen
trügerische Vorstellung war!) Die Sozialstatis-             Dollar, das sind 94,3 Prozent des Bruttosozial-
tiken verdeutlichen bisher unbekannte soziale               produkts der USA. Kommt der finanzielle
Abstiegstendenzen. Elf Millionen Bürger                     Kollaps, wenn diese Schmerzgrenze in der
fürchteten 2010 um ihren Hausbesitz, da ihre                Fiskalpolitik überschritten wird?
Schulden bei den Banken höher waren als der
9
  Vgl. Auf dem Weg nach unten, in: Der Spiegel, Nr.
33/2010, S. 72. Vgl. dazu auch Philipp Schläger: Der
entzauberte Präsident Barack Obama und seine Politik,
Berlin: Rotbuch Verlag 2010, S. 173.
                                                        9
Obamas Halbzeitbilanz                                         besitzer, Ausweitung der Kommunaldienste für
Die Wahlergebnisse vom 2. November 2010                       die Bevölkerung) zeigten sich große Teile der
reflektierten den Grad der Unterstützung der                  Öffentlichkeit wenig beeindruckt und zurück-
Öffentlichkeit für die Politik der Obama-                     haltend. Auch gegenüber den Abgeordneten in
Administration und der Demokratischen Partei                  den Wahlkreisen wurden Zweifel geäußert, ob
insgesamt. Barack Obama, der 2008 durch die                   die Gesetzesmaßnahmen das Leben in der Kri-
Mehrheit der Demokraten in beiden Kammern                     se wirklich verbessern. Das Kernproblem für
des Kongresses günstigste Voraussetzungen                     die Bewertung der Politik Obamas war in den
für eine Politik des Wandels und der Erneue-                  ersten beiden Jahren seiner Amtszeit die anhal-
rung der amerikanischen Gesellschaft besaß,                   tend hohe Arbeitslosigkeit mit ihren sehr kom-
verlor gegen Ende des zweiten Jahres seiner                   plexen sozialen Folgen.12 Das Wirtschaftsför-
Amtszeit stark an öffentlicher Unterstützung                  derprogramm vom Februar 2009 war der erste
und Popularität. Bei Meinungsumfragen im                      große Schritt der Administration zur Bekämp-
Herbst 2010 zeigte sich eine Mehrheit der Be-                 fung der Rezession. Mit dem 787-Milliarden-
fragten (zwischen vierzig und fünfzig Prozent)                Dollar-Stimuluspaket wurde ein dramatischer
mit der Amtsführung Obamas unzufrieden und                    Absturz der USA in eine globale Wirtschafts-
sechs von zehn Befragten vertraten die Mei-                   katastrophe verhindert, es rettete über drei
nung, dass sich die USA in die falsche Rich-                  Millionen Arbeitsplätze. Doch die Arbeitslo-
tung bewegen (eine Bewertung, die in gleicher                 sigkeit blieb unverändert hoch. Es wurde be-
Weise am Ende der Bush-Administration ge-                     fürchtet, dass bei Abflauen der Rezession eine
äußert wurde).10 Obama war im Kongress mit                    Tendenz der Wirtschaftserholung ohne neue
der Tatsache konfrontiert, dass die Republika-                Arbeitsplätze („jobless recovery“) hervortritt.
ner jede Unterstützung von Gesetzgebungs-                     Viele Wähler glaubten vor den Kongresswah-
schritten der Administration ablehnten. Die                   len, dass die Administration trotz hoher Fi-
Republikaner gingen auf umfassenden Kon-                      nanzausgaben für die Konjunkturförderung
frontationskurs, Hoffnungen der Demokraten                    eine Wende im Beschäftigungssektor der Wirt-
auf Bereitschaft der Republikaner zu einer                    schaft nicht zustande bringt. Die Republikaner
überparteilichen (bipartisan) Zusammenarbeit                  heizten das Misstrauen in der Bevölkerung
erwiesen sich schon früh als nicht erfüllbar.                 gegenüber dem Stimuluspaket mit dem Argu-
Obamas Strategie war unter diesen Bedingun-                   ment an, dass die Regierungsmaßnahmen die
gen darauf gerichtet, während der ersten Hälfte               Wirtschaftslage mit den hohen Staatsausgaben
seiner Amtszeit einen großen Teil seiner Ge-                  nur verschlimmert hätten.13 Sehr widersprüch-
setzesvorhaben durch den Kongress zu brin-                    lich wurde von den verschiedenen Wähler-
gen, solange die komfortable Mehrheit der                     gruppen der Obama-Koalition und der Öffent-
Demokraten besteht. Obama selbst schaltete                    lichkeit die Realisierung der zentralen Re-
sich umfassend in die Gesetzgebungsprozesse                   formprojekte Obamas bewertet. Die Ergebnis-
ein und wollte auch auf diesem Weg den Re-                    se stehen in engem Zusammenhang mit den
gierungseinfluss auf Abgeordnete und Senato-                  politischen Positionen Obamas und den Kräf-
ren verstärken.11 Tatsächlich erreichten die                  ten im zentralen Machtapparat des Weißen
Demokraten ein Rekordergebnis in der Ge-                      Hauses, die seit 2009 die strategischen Ent-
setzgebung, das größte seit Lyndon B. Johnson                 wicklungen der USA-Politik beeinflussen.
im 89. Kongress (1964-1966). Trotz einer                      Obama selbst stand lange der weißen Elite aus
Vielzahl von Gesetzen, die im Interesse der                   dem Kreis der „Lakefront Liberals“ in Chicago
Mehrheit der Bevölkerung war (z. B. Erweite-                  nahe und verfocht in den politischen Kämpfen
rung bestehender Krankenversicherungen für                    eine Position des extremen Pragmatismus.
bedürftige Kinder; Erleichterung der Durchset-                Seine Stärke: Verhandlungen, Kompromisse,
zung gesetzlicher Ansprüche von Frauen auf                    politische Absprachen. Mit den progressiven
gleichen Lohn; gesetzliche Bestimmungen                       Demokraten aus den Denkfabriken Chicagos
gegen Altersdiskriminierung; Schutz der                       entwickelte er seine Erneuerungsprojekte für
Verbraucher bei Kreditkartennutzung; steuerli-                die USA. Obama war und ist kein Linksdemo-
che Hilfen für finanziell bedrohte Eigenheim-                 krat und sein Ziel ist auch nicht ein fundamen-
                                                              taler Wandel der USA-Gesellschaft. Seine
10                                                            12
   Vgl. Christian Wernicke: Ein Sommer ohne Liebe, in:           Vgl. Carl Hülse: No reveling for Democrats despite
Süddeutsche Zeitung, 5. August 2010.                          achlevements, in New York Times, 14. August 2010.
11                                                            13
   Vgl. Matt Bay: Obama is boxed in a big legislative            Vgl. Christian Wernicke: Hilf dir selbst, in: Süddeut-
agenda, in: New York Times, 18. August 2010.                  sche Zeitung, 9. September 2010.
                                                         10
große Chance wäre es, wenn es ihm gelingt,                        Stimmenverlust für seine Partei am 2. Novem-
was Franklin D. Roosevelt erreichte: „den                         ber 2010 führen werde. Im zweiten Jahr der
amerikanischen Kapitalismus stabiler und we-                      Amtszeit Obamas sollte die Durchsetzung von
niger hemmungslos zu machen“.14 Obama                             wichtigen Teilen der Reformagenda die sin-
nutzte die günstige Lage nicht, die innenpoli-                    kende Popularität der Demokraten stoppen.
tisch für die Demokraten bestand, „um einen                       Wie sah diese Realisierung der Reformen aus?
echten Wandel, eine Transformation der ame-                       Das Gesetz über die Gesundheitsreform hatte
rikanischen Gesellschaft durchzusetzen.“15 Die                    für Obama Priorität. An diesem Schlüsselprob-
Linksliberalen und die Graswurzelbewegun-                         lem eines zivilisierten Lebens sind die Vor-
gen, die Obama zum Wahlsieg 2008 verholfen                        gänger Obamas im Präsidentenamt, auch Bill
hatten, wurden deaktiviert und der Präsident                      Clinton, gescheitert. Ziel dieses Reformpro-
selbst bezog zunehmend Positionen in der poli-                    jekts ist es, von den 47 Millionen US-Bürgern,
tischen Mitte. Entscheidend für die Art und                       die keine Krankenversicherung haben, über 30
Weise der Durchsetzung der Reformagenda                           Millionen in ein Versicherungsverhältnis zu
waren der Einfluss und die Interessenlagen der                    bringen. Obwohl noch 2009 über zwei Drittel
wichtigsten Berater des Präsidenten im Weißen                     der Bevölkerung die Ausweitung der staatli-
Haus und in der Administration. Die Hauptbe-                      chen Versicherung unterstützten (public opti-
reiche des Präsidialamtes waren von Falken                        on), gibt Obama den konservativen Kräften in
aus der Clinton-Ära und von Marktliberalen                        beiden Parteien und dem Druck der Versiche-
dominiert, die eine wesentliche Mitverantwor-                     rungsindustrie nach und verzichtet auf die
tung für die Deregulierung in der Finanzwirt-                     Möglichkeit einer staatlichen Versicherung.
schaft und für die Finanzkrise trugen. Unter                      Für Millionen US-amerikanischer Bürger wird
Obama, der so viel Spendensummen von Ban-                         die private Versicherungsindustrie der Träger
ken und Konzernen erhalten hat wie kein Prä-                      ihrer Krankenversicherung. Der Staat führt
sident zuvor, waren in allen Spitzenpositionen                    eine Versicherungspflicht für den einzelnen
des Weißen Hauses Experten der Goldman-                           Bürger und für Arbeitgeber ein, die bei Nicht-
Sachs-Bank vertreten. Der Stabschef des Wei-                      einhaltung mit Geldstrafen geahndet werden
ßen Hauses, der Finanzminister, die Berater                       soll. Im Rahmen dieses großen Kompromisses
des Präsidenten für Wirtschaft und Finanzen                       der Obama-Administration konnte eine Reihe
kommen aus dem Wall Street-System und                             von sozialen Härten in der bisherigen Politik
verkörpern so die bestehende Herrschaft eines                     der privaten Versicherer abgebaut werden. Der
Oligopols aus Politikern und Bankern.                             Preis hierfür waren jedoch weitgehende Kon-
Vertreter progressiver Bewegungen und Insti-                      zessionen des Staates gegenüber der Pharma-
tutionen wurden von Obama nicht in die Re-                        industrie und anderen Gesundheitseinrichtun-
gierungsverantwortung einbezogen. Es gab in                       gen. Der Prozess der Eingliederung der Bürger
Washington somit keinen personellen Neuan-                        in den privaten Versicherungsrahmen wird sich
fang, und der Präsident verzichtete in der Kri-                   über zehn Jahre hinziehen. Durch die Wirt-
sensituation auf den Reformdruck der sozialen                     schaftskrise kommen ständig unversicherte
Bewegungen. Er selbst hoffte, durch endlose                       Bürger hinzu. Viele Millionen werden auch
Verhandlungen mit den Republikanern im                            weiterhin ohne Krankenversicherung leben
Kongress die Blockadepolitik seiner politi-                       müssen. „Zudem enthält das Gesetz noch nicht
schen Gegner mit Kompromissbereitschaft zu                        einmal ein kleines, symbolisches Einfallstor
überwinden.                                                       für eine staatliche Versicherung. Die Gesund-
Spätestens Anfang 2010, nach der Wahlnieder-                      heitsreform mag die größte Reform der letzten
lage der Demokraten bei der Nachwahl für den                      fünfzig Jahre sein. Doch sie geht in die falsche
Senatssitz des verstorbenen Ted Kennedy in                        Richtung.“16 Die Reform Obamas stabilisierte
Massachusetts, die der Republikaner Scott                         die Profitinteressen der privaten Versicherer.
Brown gewann, wurde Obama bewusst, dass                           Unverkennbar werden aber die sozialen Ent-
die bisherige Kongress-Strategie des endlosen                     wicklungen in den USA in nächster Zeit die
Verhandelns mit den Republikanern zu einem                        Notwendigkeit für eine universelle Kranken-
                                                                  versicherung verstärken. Trotz des Kompro-
14
   John C. Kornblum, Dieter Kronzucker: Mission Ame-              misscharakters der Gesundheitsreform erzeug-
rika. Weltmacht am Wendepunkt, München: Redline                   ten besonders ihre Bestimmungen über den
Verlag 2009, S. 308. (Kornblum und Kronzucker bezie-              starken Einfluss des Staates bei der Durchset-
hen sich hier auf eine Feststellung des Journalisten Peter
Beinert im Time Magazin.)
15                                                                16
   Philipp Schläger: Der entzauberte Präsident, S. 157.                Philipp Schläger: Der entzauberte Präsident, S. 82.
                                                             11
zung der Versicherungspflicht eine nie dage-               beginnen sollte, scheiterte am Widerstand ein-
wesene Protestwelle in der konservativen Be-               flussreicher Industriekreise und ihrer Interes-
wegung und verschärften vor den Kongress-                  senvertreter im Kongress. Ein im Mai 2010
wahlen die politische Polarisierung in der US-             erarbeiteter Kompromissentwurf eines Klima-
Gesellschaft. Neben dem Konjunkturförde-                   schutzgesetzes im Senat enthielt wichtige An-
rungsgesetz und der Gesundheitsreform war                  sätze für ein neues Herangehen der USA an die
das Gesetz zur Reform des Finanzmarkts das                 Herausforderungen des globalen Klimawan-
dritte große Projekt auf Obamas Reformagen-                dels und an eine saubere Energiegewinnung.
da.                                                        Danach sollte der Ausstoß von Treibhausgasen
Obama bezeichnete die Reform des Finanz-                   der USA im Vergleich zu 2005 bis 2020 um 17
markts als das weitestgehende Gesetz auf diese             Prozent und bis 2050 um mehr als 80 Prozent
Gebiet seit der Großen Depression. Die Demo-               gesenkt werden. Gemessen am international
kraten hatten die Tatsache einzukalkulieren,               anerkannten Ausgangsjahr 1990 wären das bei
dass die Wut der Massen auf die Exzesse der                den USA etwa vier Prozent. Kein Durchbruch,
Wall Street-Banken, die zur Finanzkrise führ-              aber ein Einstieg. Auch gab es erste Überein-
ten, die innenpolitische Stimmung weiterhin                stimmungen in den Gesetzesdebatten über
stark beeinflusste. Um Krisensituationen wie               Obergrenzen für den Handel mit Verschmut-
2008 und 2009 ausschließen zu können, sollen               zungszertifikaten in den verschiedenen Indust-
mit der Reform neue Regeln für das Banken-                 riezweigen.       Obwohl       die       Obama-
system und wirksamere staatliche Kontrollen                Administration ein hohes Maß an Konzessi-
mit entsprechenden Institutionen eingeführt                onsbereitschaft mit staatlichen Subventionen
werden. Von besonderem Gewicht sind u. a.                  und Bürgschaften gegenüber der Atom- und
die Schaffung eines Rates zur Kontrolle syste-             Kohleindustrie zeigte, torpedierten einflussrei-
mischer Krisen, erweiterte Aufsichtsrechte der             che Wirtschaftskreise dieser Branchen, unter-
Notenbank über die Finanzeinrichtungen, Ein-               stützt von den Ölkonzernen, eine Wende in der
griffsmöglichkeiten des Staates bei Krisenge-              Energie-und Klimapolitik. Der Kongress gab
fahren, die Einrichtung einer Verbraucher-                 diesem Industriedruck nach. So war auch in-
schutzbehörde unter dem Dach der Notenbank                 ternational die US-Regierung nicht in der La-
und kontrollierende Auflagen beim Handel mit               ge, die Klimapolitik im globalen Rahmen wir-
Derivaten und Hedgefonds.17 Das Gesetz wur-                kungsvoll zu fördern.
de von den Republikanern im Kongress abge-                 Ebenfalls keine Fortschritte gab es bei der
lehnt. Den Wall Street-Banken und der Finanz-              Reform der US-amerikanischen Einwande-
industrie gelang es mit ihren Lobbysystemen,               rungsgesetzgebung. Über zwölf Millionen
wesentliche Begrenzungsfaktoren für ihre Fi-               Einwanderer ohne legalen Status warten auf
nanzoperationen im Gesetz abzuschwächen                    Veränderungen ihrer Lage. 2010 verstärkten
und es mit einer Vielzahl von Ausnahmebe-                  sich die Massenproteste gegen die von der
stimmungen zu durchlöchern. Wie bei der                    Administration tolerierten Repressionsprakti-
Gesundheitsreform lehnten die Republikaner                 ken und Massenabschiebungen von Einwande-
die starken Einflussmöglichkeiten des Staates              rern in einzelnen Bundesstaaten. Die Obama-
auf die Finanzwirtschaft als Verletzung von                Administration blieb untätig. Viele spanisch-
Grundnormen der Marktwirtschaft kategorisch                stämmige Wähler, die 2008 für Obama stimm-
ab. Im Mai 2010 fand das Gesetz mit den                    ten, könnten 2012 mit einer Ablehnung des
Stimmen der Demokraten die notwendige                      Präsidenten zurückschlagen. Letztlich sei ver-
Mehrheit im Senat. Obama konnte mit diesem                 merkt, dass Barack Obama auch die Gewerk-
politischen Sieg im Kongress ein weiteres Mal              schaften enttäuschte und trotz Wahlverspre-
dem Sympathierückgang der Demokraten ent-                  chen keine Initiative für ein gewerkschafts-
gegenwirken.                                               freundliches Arbeitsrecht ergriff. Die Unter-
Weitere Reformversprechen der Obama-                       nehmensverbände und Konzerne lehnten ve-
Administration kamen nicht ins Stadium der                 hement den „Employee Free Choice Act“ ab,
Realisierung. Ein Energie- und Klimaschutz-                der neue Spielräume für gewerkschaftliche
gesetz, mit dem ein „Green New Deal“ einge-                Aktivitäten in Betrieben erleichtern sollte.
leitet und eine neue Klimapolitik der USA                  Bilanzdebatten über die Außenpolitik der
                                                           Obama-Administration waren im Vorfeld der
17
  Vgl. Rolf Sieber: Kampf um den Kongress. Zu den          Kongresswahlen relativ gering. Kongresswah-
Zwischenwahlen in den USA im November 2010, in:            len werden traditionell nicht von außenpoliti-
Europäisches Friedensforum (epf). Deutsche Sektion,
Heft 67, S. 12-15.                                         schen Problemen bestimmt. Doch sollte die
                                                      12
Tatsache nicht unterschätzt werden, dass in                     die US-Außenpolitik keine friedenssichernden
den zwei Jahren der Regierungszeit Obamas                       Veränderungen. Hier wurde eher der bestehen-
die US-amerikanische Außenpolitik weltweit                      de Status Quo verfestigt.19
neue Akzente gesetzt hat, was nicht bedeutet,                   Die konservativen Kräfte stehen Barack Oba-
das Wandlungsversprechen auch auf diesem                        mas außenpolitischen Grundpositionen kritisch
Gebiet mit den politischen Realitäten in Über-                  bis ablehnend gegenüber. Sie stützen zwar den
einstimmung gebracht werden konnten. Obama                      Kriegskurs des Präsidenten in Afghanistan und
brachte bewusst außenpolitische Leistungen                      das Rüstungsbudget im Kongress, zeigen aber
seiner Administration in die öffentlichen                       eine klare Ablehnung der Versuche, die US-
Wahldebatten. Vorrang hatte die Erfüllung des                   Außenpolitik mit den veränderten internationa-
Wahlversprechens, den Kriegseinsatz im Irak                     len Machtkonstellationen stärker in Überein-
zu beenden. Doch die gleichzeitige Eskalation                   stimmung zu bringen. Obama wird vorgewor-
des Krieges in Afghanistan ließ an der Bereit-                  fen, einen Ausverkauf amerikanischer Interes-
schaft der US-Regierung, 2011 mit dem Trup-                     sen zu betreiben und nicht ausreichend für die
penabzug zu beginnen, in großen Teilen der                      Einzigartigkeit des amerikanischen Gesell-
Bevölkerung starke Zweifel aufkommen.                           schaftsmodells einzutreten. Als verkappter
Scharfe Kritik an der Afghanistanpolitik Oba-                   „sozialistischer Säkularist“ und Friedensleicht-
mas kam aus den Reihen der eigenen Partei                       gewicht versuche Obama, die USA auf den
und von Kongressabgeordneten der Demokra-                       Weg der Euro-Sklerose zu treiben.20 Er trage
ten. Gallup-Umfragen zufolge sind 62 Prozent                    für den Abstieg der USA in der Weltpolitik die
der Amerikaner der Meinung, dass es um Af-                      Verantwortung.
ghanistan schlecht stehe. Die Ungeduld mit
dem lang andauernden Krieg wächst.18 Un-                        Auswirkungen des Kulturkampfes
zweifelhaft gelang es Obama in den ersten                       Große Wählergruppen, die 2008 die Demokra-
zwei Jahren seiner Amtszeit, mit einer Neuges-                  ten unterstützten, waren nach zwei Jahren von
taltung der politischen Rhetorik das Image der                  den Ergebnissen des Krisenmanagements der
USA in wichtigen Zonen der Erde zu verbes-                      Obama-Administration enttäuscht. Die wirt-
sern. Mit einer Politik neuer Partnerschaften                   schaftliche Lage verbesserte sich nicht schnell
sollten verlorengegangene Vormachtpositionen                    genug. Besonders die wahlentscheidenden
der USA zurückgewonnen werden. Der größte                       unabhängigen Wähler signalisierten den De-
außenpolitische Erfolg Obamas ist der                           mokraten, dass sie mit ihrer Stimme 2008 nicht
START-Vertrag mit Russland zum Abbau der                        die Schaffung einer „neuen progressiven Ära“
nuklearen Arsenale und damit die Verbesse-                      in den USA forderten, sondern die schnelle
rung des politischen Gesamtklimas gegenüber                     Überwindung der Rezession und die Schaffung
Russland. Gegenüber China, dem Hauptrivalen                     von Arbeitsplätzen. Mit der Durchsetzung von
der USA im künftigen internationalen Kräfte-                    Reformprojekten in der anhaltenden Krisensi-
messen, erreichte Obama einen vertieften Dia-                   tuation, die zugleich das Staatsdefizit erhöhen,
log. In eine Sackgasse führte Obamas Nahost-                    hätte Obama, so die Schlussfolgerung von
Politik, sie ist praktisch gescheitert. Ebenso                  Führungskreisen der Demokraten, das Mandat
gelang es der US-Administration auch mit                        der Wähler von 2008 zu weit ausgelegt. Kampf
Hilfe einer neuen Stufe internationaler Sankti-                 um neue Jobs hätte die Priorität bekommen
onen nicht, die iranische Führung zur Verände-                  müssen. Der größte politische Einbruch der
rung ihrer politischen Positionen gegenüber                     Demokraten vollzog sich in der Mitte der Ge-
dem Westen zu bewegen. Die Gefahr militäri-                     sellschaft, besonders bei der Mittelklasse in
scher Konflikte in dieser Region ist gewach-                    den relativ begüterten Vororten der Großstäd-
sen. In der außenpolitischen Halbzeitbilanz                     te.21
von Präsident Obama traten deutlich zwei                        Proteststürme erzeugte, besonders angefacht
Tendenzen hervor: Ein begrenzt erreichter                       von konservativen Kreisen, die starke Gewich-
Wandel im internationalen Agieren der USA                       tung des Staates in der Reformpolitik der De-
wird begleitet von Kontinuitätselementen über-                  mokraten. Die Gesundheitsreform wurde zum
lebter imperialer Machtpraktiken vorangegan-
gener US-Regierungen. Gegenüber den aktuel-
                                                                19
len internationalen Konfliktfeldern bewirkte                       Philipp Schläger: Der entzauberte Präsident, S. 22.
                                                                20
                                                                   Vgl. Klaus Brinkbäumer: Amerika ein Schwächling,
                                                                in: Der Spiegel, Nr. 42/2010, S. 140-141.
18                                                              21
  Vgl. Matthias Rüb: Um den Präsidenten wird es ein-               Vgl. Demokraten debattieren über die Niederlage, in:
sam, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. August 2010.        Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. November 2010.
                                                           13
Haupthebel für den politischen Großangriff der                   „amerikanischen Traums“: Aufstieg durch
Republikaner gegen die Demokraten. Sie nutz-                     Eigenverantwortung und individuelle Vorsorge
ten die Unzufriedenheit mit der Politik Obamas                   statt staatlicher Einmischung mit Gesetzes-
für die Verschärfung des Kulturkampfes gegen                     druck. Doch dieser Mythos vom „amerikani-
den      Reformgedanken        in    der     US-                 schen Traum“ hat schon lange mit dem realen
amerikanischen Gesellschaftspolitik. Welches                     Leben in den USA wenig zu tun. Er wurde
gesellschaftlich-philosophische Konzept soll                     durch die Dominanz des „privaten Interesses“
die innere Entwicklung der USA bestimmen?                        in der Gesellschaftspolitik in den Grundfesten
Josef Joffe verweist auf eine interessante                       untergraben. Als die konservativen politischen
Schlussfolgerung, die der Kennedy-Berater                        Kräfte in den zurückliegenden beiden Jahren
Arthur Schlesinger Jr. in seinem Buch „The                       bemerkten, wie zurückhaltend und enttäuscht
Cycles of American History“ bereits vor über                     große Teile der Obama-Koalition von 2008
zwanzig Jahren zog. Als ein „Gesetz“ sei nach                    gegenüber der Reformpolitik des Präsidenten
Schlesinger zu erkennen, dass sich die ameri-                    eingestellt waren, fühlten sie sich zu einem
kanische Geschichte in Dreißig-Jahres-Zyklen                     massiven Großangriff auf den Wandel für
bewegt. „Sie schwingen zwischen den Polen                        mehr „öffentliche Anliegen“ ermutigt. Es bot
des 'öffentlichen Anliegens und des privaten                     sich die Möglichkeit, die politische Schlappe
Interesses' hin und her, zwischen Aufbruch und                   der Republikaner von 2008 zu überwinden und
Beharrung, zwischen Zähmung der Marktkräf-                       der Öffnung des Landes für Reformen ein En-
te und ihrer Entfesselung, zwischen Vormarsch                    de zu bereiten. Kernanliegen der konservativen
und Rückzug des Staates.“22 Unübersehbar                         Kulturkampfstrategie war es, innenpolitische
verlangte die auswuchernde Krise des Spätka-                     Voraussetzungen zu schaffen, um Obama 2012
pitalismus in den USA eine stärkere Gewich-                      aus dem Weißen Haus vertreiben zu können.
tung des „öffentlichen Anliegens“, das heißt                     Präsident Obamas staatliche Sozialausgaben
die Verbesserung der sozialen Lebensbedin-                       und Stützungen für die dahindümpelnde Wirt-
gungen mit Hilfe der Reformpolitik des Staa-                     schaft aus dem Stimulusprogramm wurden von
tes. Das Zurückdrängen des „privaten Interes-                    einflussreichen konservativen Medienvertre-
ses“ impliziert, der neoliberalen und gegen den                  tern und Politikberatern wie zum Beispiel
Wohlfahrtsstaat gerichteten Gesellschaftspoli-                   Charles Krauthammer und Karl Rove als „ge-
tik des Kapitals und ihrer konservativen Ver-                    fährlicher“ Weg der Regierungspolitik in einen
treter mit Hilfe des Staates Barrieren zu setzen.                sozialdemokratischen Staat nach europäischem
Diese Positionen stehen sich feindlich und                       Vorbild, also außerhalb aller amerikanischer
unversöhnlich gegenüber und verstärkten die                      Normen, gegeißelt.23 Die Debatten um die
politische Polarisierung in den ersten beiden                    Gesundheitsreform gaben der konservativ-
Jahren der Obama-Präsidentschaft extrem. Es                      republikanischen Antireformkampagne weite-
vollzog sich ein breites Auseinanderfallen der                   ren Auftrieb. Es verbreitete sich eine Atmo-
Gesellschaft in verschiedene politisch-                          sphäre des Hasses und der Intoleranz, Reform-
kulturelle Milieus. Die Gesundheitsreform mit                    anhänger waren nicht mehr gleichberechtigte
den staatlichen Eingriffsmöglichkeiten in den                    Teilnehmer am Dialog um die Perspektiven
privaten Entscheidungsprozess der Bürger wird                    des Landes, sondern Feinde, die den Untergang
von den Konservativen als ein Generalangriff                     der USA wissentlich betreiben würden. Nun
der Demokraten auf die ursprünglichen Ver-                       war zu hören, dass Obama das Land in den
fassungsprinzipien und Ideale der Nation ange-                   Sozialismus führen wolle und die Zunahme des
sehen. Und das betrifft „individuelle Freiheit“                  staatlichen Einflusses in der Gesellschaft mit
und „staatliche Zurückhaltung“. Ein übermäch-                    der Unterdrückung der Individualrechte in den
tiger Wohlfahrtsstaat führe zu einer Entmündi-                   Terrorregimen Hitlers und Stalins vergleichbar
gung des Bürgers und in den politischen Kol-                     wäre. Auch rassistische Tendenzen waren in
lektivismus. Für die Konservativen bestehe das                   den konservativen Kampagnen nicht zu über-
Misstrauen gegenüber dem Staat seit der                          hören: Obamas Politik begünstige Schwarze
Gründungszeit der amerikanischen Gesell-                         mit Sozialstützungen, während die weiße Be-
schaft. Der Ausbau des Wohlfahrtsstaates,                        völkerung durch höhere Steuerbelastungen
selbst in seiner unvollkommenen Form, behin-                     „arbeitsunwillige“ Schwarze alimentieren
dere die Entfaltung von Wesenszügen des
                                                                 23
                                                                    Vgl. Obama ist durchschnittlich. Interview mit Charles
                                                                 Krauthammer, in: Der Spiegel, Nr. 44/2009, S. 117, und
22
   Josef Joffe: Goodbye, Mr. President, in: Die Zeit, Nr.        Wir bewegen uns nicht nach rechts, Interview mit Karl
3, 10. Januar 2008, S. 2.                                        Rove, in: Der Spiegel, Nr. 42/2010, S. 138.
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