Rückblick: DGB-Zukunftsdialog 2018-2022
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GRUSSWORT Inhalt Grußwort.......................................................................................................................................... 3 Liebe Leserinnen und Leser, Nicht überraschend haben die Teilnehmer*innen unseres liebe Kolleginnen und Kollegen, Zukunftsdialogs häufig betont, wie wichtig ihnen Frieden und Der DGB-Zukunftsdialog 2018–2022: Austausch und Vernetzung mit Wirkung............. 4 Demokratie sind, weltweit und in Deutschland. Zu vielen Fragen als wir vor vier Jahren mit dem DGB-Zukunftsdialog loslegten, haben sie unterschiedliche Standpunkte eingenommen, aber Interview mit Reiner Hoffmann und Julia Friedrichs............................................................. 6 waren unsere Lebens- und Arbeitswelt bereits durch große Um- den meisten scheint eine gute Zukunft ohne Solidarität und Zu- brüche gekennzeichnet, die viele Menschen verunsicherten. Um sammenhalt undenkbar. Reportage: Ein Mobilitäts-Konzept für den Hamburger Süden........................................ 10 dem zu begegnen, haben wir ihnen mit dem Zukunftsdialog ein Angebot geschaffen, um sich aktiv an der Gestaltung unserer Wir haben nicht nur gefragt, wie wir in Zukunft leben und arbei- Reportage: So geht Gewerkschaft im ländlichen Raum.....................................................12 Gesellschaft zu beteiligen. Ob Gewerkschaftsmitglied oder nicht, ten wollen, sondern gemeinsam mit allen haupt- und ehrenamt- ob im ländlichen Raum oder in der Stadt – alle waren eingela- lichen Ebenen des DGB Lösungen angestoßen und politische Reportage: Vergabemindestlohn – in der Kommune wie im Land....................................14 den teilzunehmen. Erfolge erzielt. Unsere Leuchttürme in dieser Broschüre stehen stellvertretend für diese zahlreichen Projekte. Sie zeigen, dass Reportage: Mehr Bildungsgerechtigkeit im Pisa-Gewinnerland.......................................16 Welch fundamentale Einschnitte auf uns zukommen würden, wir als Gewerkschaften eine besondere Rolle in der Zivilgesell- hatte im Mai 2018 niemand voraussagen können. Die Corona- schaft einnehmen, die nur wir als Vertretung der rund 40 Millio- 50 Ideen aus 5000.........................................................................................................................18 Pandemie hat unseren Alltag umgewälzt, vielen die Existenz- nen Beschäftigten in Deutschland ausfüllen können. grundlage genommen und Abertausende Menschen das Leben Reportage: Keine Miete für die Profite ...................................................................................20 gekostet. Harte Konfliktlinien zwischen Befürworter*innen und Das bedeutet nicht, dass wir stets allein arbeiten. Im Gegenteil: Kritiker*innen der Corona-Maßnahmen der Regierung haben Wir haben uns im Zukunftsdialog mit vielen Partnern zusam- Reportage: Kommunalpolitik beim Wort genommen.......................................................... 22 Familien, Freundeskreise und Belegschaften entzweit. mengeschlossen. Solchen, mit denen sich in unserer 70-jährigen DGB-Geschichte eine Tradition der Zusammenarbeit etabliert Reportage: Bezahlbare Wohnheimplätze dank Azubiwerk............................................... 24 Wir haben erlebt, wie wichtig solidarisches Handeln und ein hat, aber auch solchen, die wir neu kennengelernt haben. aktiver Staat sind. Als Gewerkschaften ist es uns meist gelungen, Reportage: Eine Stimme für die Berufspendler*innen ....................................................... 26 darauf hinzuwirken, dass Regelungen im Sinne der Beschäftigten Mit diesem Abschlussbericht danken wir allen, die am Zukunfts- gestaltet wurden, ob es um Homeoffice, Kurzarbeit oder betrieb- dialog mitgewirkt haben. Den Kolleg*innen, die rund 700 Veran- Reportage: Kostenloses Schulessen muss anständig bezahlt werden ......................... 28 lichen Gesundheitsschutz ging. staltungen und Aktionen auf die Beine gestellt haben, denjeni- gen, die mit Projekten das Leben und Arbeiten vor Ort ein Stück Stimmen aus den Gewerkschaften.........................................................................................30 Die gestiegene Reichweite unserer Online-Angebote zeigt, dass verbessert haben – und jeder Person, die sich mit einem Beitrag viele in dieser unsicheren Zeit bei Gewerkschaften Informationen am Dialog beteiligt hat. Drei Perspektiven, drei Fragen und Antworten .................................................................... 32 suchen – weil sie uns vertrauen. Und mit dem Zukunftsdialog haben wir online auch in Zeiten des Abstands Räume des Aus- Ermutigt von den organisatorischen und politischen Erfolgen Vier Jahre DGB-Zukunftsdialog: Gemeinsam weitergehen.............................................. 34 tauschs geöffnet, die rege genutzt wurden. und der Energie des Zukunftsdialogs werden wir Erreichtes zu- kunftsfest weiterentwickeln. Im Februar dieses Jahres, als sich die Corona-Lage kurz ent- spannte, eskalierte Wladimir Putin den Krieg gegen die Ukraine. Zum Redaktionsschluss sind die weiteren Entwicklungen noch nicht absehbar. Doch offensichtlich ist schon jetzt: Dieser Krieg Reiner Hoffmann Elke Hannack verursacht großes Leid – und hat gravierende Folgen für die Weltwirtschaft. Stefan Körzell Anja Piel 2 Rückblick DGB-Zukunftsdialog Rückblick DGB-Zukunftsdialog 3
KURZ ERKLÄRT Der DGB- DIALOG STÄRKUNG VERÄNDERUNG Zukunftsdialog 2018–2022: Austausch und Vernetzung mit Wirkung 5.300 Impulse 700 Veranstaltungen www.redenwirueber.de & Aktionen Online und bei Hunderten Veranstaltungen und Aktionen hat der Mit dem Zukunftsdialog gelang uns eine doppelte Beteiligung: In den vier Jahren wurden außerdem konkrete Lösungen für DGB gefragt, wie wir in Zukunft leben und arbeiten wollen – und Nach außen gerichtet mit der Aufforderung an die Menschen zum Probleme vor Ort angestoßen sowie neue Netzwerke für gutes rund 5.300 Impulse als Antwort erhalten. Im Zentrum standen Dialog mit uns und nach innen mit der Einbindung aller DGB- Leben und Arbeiten geknüpft. dabei die Schwerpunktthemen: Wohnen, Tarifbindung, Rente und Gliederungen: von den ehrenamtlichen Kreis- und Stadtverbänden Investitionen. bis zu den hauptamtlichen Ebenen auf Regions-, Bezirks- und Bundesebene. 4 Rückblick DGB-Zukunftsdialog Rückblick DGB-Zukunftsdialog 5
IM GESPRÄCH „Wir sind eine Emanzipationsbewegung“ Wohin bewegt sich unsere Gesellschaft, wo stehen die Gewerkschaften? Was er- neue Wertschöpfungsketten aufzubauen und damit auch Dass es für Sie als Gewerkschaften eine verdammt warten die Bürger*innen von der Interessenvertretung der Arbeitnehmer*innen? Und Beschäftigung zu sichern. In anderen Bereichen entsteht schwere Aufgabe ist, Menschen in atomisierten Beschäf- was hat der Zukunftsdialog der Gewerkschaften bewirken können? Der DGB-Bun- gerade ein digitales Proletariat ohne soziale Absiche- tigungsverhältnissen zu organisieren, glaube ich sofort. desvorsitzende, Reiner Hoffmann, und die Publizistin Julia Friedrichs tauschen sich rung, weil es bei den Plattformen keine Tarifverträge Gerade diese Menschen haben eine starke Interessen- aus – und sind durchaus nicht immer einer Meinung. gibt und neue Unternehmen sich weigern, ihre soziale vertretung viel nötiger als die verbeamteten Lehrer oder Verantwortung als Arbeitgeber wahrzunehmen. Hier die Festangestellten bei Bosch oder BMW. Doch gerade Herr Hoffmann, die Welt um uns herum Mitgliederorganisationen, sondern auch als gesell- müssen wir handlungsfähig werden, und dafür müssen in ihrem Arbeitsalltag spielen Gewerkschaften keine verändert sich rasant, und nicht un- schaftspolitischer Akteur für den sozialen Zusammenhalt wir Beschäftigte, die auf Plattformen tätig sind, als Mit- Rolle. Mein Eindruck ist, dass Sie diese Menschen im bedingt zum Guten. Was bedeutet das und die Demokratie einsetzen. In den letzten Jahren glieder gewinnen – und das ist extrem anspruchsvoll. Stich gelassen haben. alles für das Umfeld, in dem sich die Ge- wurden die enormen Wohlstandsgewinne weder in werkschaften bewegen? Deutschland, noch innerhalb der EU oder im globalen Frau Friedrichs, deckt sich die Sicht- Reiner Hoffmann: Massiver Widerspruch! Richtig Kontext gerecht und fair verteilt. Jeder, der ein Bewusst- weise des DGB mit der Sichtweise des ist: Wir sind Mitgliederorganisationen, heißt wir treten Reiner Hoffmann: Es ist keine Übertreibung zu sein für soziale Gerechtigkeit hat, spürt das. Menschen Restes der Gesellschaft? ein für die Interessen unserer Mitglieder. Gleichzeitig sagen: Wir sind gerade mit tektonischen Verschiebungen werden abgehängt. Sie fühlen Verunsicherung und übernehmen wir aber gesamtgesellschaftliche Verant- konfrontiert. Um das zu erkennen, genügt ein Blick auf Kontrollverlust, sie haben Zukunftssorgen. Wir erleben Julia Friedrichs: Die Megatrends sind völlig un- wortung. Selbst dann, wenn sie für unsere Mitglieder den schrecklichen Krieg in der Ukraine oder den Klima- Demokratiefeindlichkeit und einen üblen Populismus. strittig, gar keine Frage. Ich glaube aber, wir sollten noch auf den ersten Blick nicht unmittelbar den eigenen wandel. Das stellt auch Gewerkschaften vor erhebliche Allerdings erleben wir auch, dass die überwiegende einen Schritt weiter zurückgehen: Was hat sich in den Interessen gerecht wird. Ein Beispiel ist der Mindest- neue Herausforderungen, weil wir uns nicht nur als Mehrheit der Bevölkerung solidarisch zusammensteht. letzten 40 Jahren verändert, also binnen einer Gene- lohn. Ohne uns Gewerkschaften, die die Interessen des Das haben wir in der Pandemie erlebt und jetzt im Zu- ration? Es geht mir um die Frage, wie man mit Arbeit Allgemeinwohls vertreten und nicht nur die Mitglieder, sammenhang mit den völkerrechtswidrigen Aggressio- sein Leben führen kann. Wir wissen, dass 40 Prozent hätte es diesen Mindestlohn nicht gegeben. nen in der Ukraine. der Menschen in Deutschland kein Vermögen haben, keine Rücklagen. Bei ihnen sind die Wohlstandsgewinne Auf Solidarität setzen wir auch in der Tarifpolitik. Zum Wie widerspiegeln sich diese tek- einfach nicht angekommen, und jede neue Verände- Beispiel mit einem Demografie-Fonds, mit dem wir tonischen Verschiebungen in der rung bedeutet ein Abrutschen. Für knapp die Hälfte bessere Arbeitsbedingungen für Schichtarbeiter*innen Arbeitswelt? der Bevölkerung ist der Druck schon so groß, dass erreichen. Das muss immer aus der Verhandlungsmasse jede „Unwucht“ wie jetzt zum Beispiel die steigenden finanziert werden. Wenn ich in den Betrieb komme, Reiner Hoffmann: In der Arbeitswelt erleben wir Energiepreise einer Katastrophe gleicht. Für all das, was sagen die Mitglieder oft zu mir: „Wieso habt ihr nicht aufgrund des Klimawandels, dass Produktions- und jetzt kommt – Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, einen Schnaps mehr draufgetan? Ein Prozent mehr Lohn Wirtschaftsweisen völlig neu umgestaltet und organi- Transformation in Richtung einer Klima-überlebensfähi- im Portemonnaie wäre viel besser gewesen als Geld für siert werden müssen: Also, raus aus den fossilen Ener- gen Gesellschaft –, haben wir es nicht geschafft, diese Weiterbildung oder Gesundheitsmaßnahmen.“ Unser gieträgern, rein in eine nachhaltige grüne Energieversor- Generation in eine bessere Startposition zu bringen. Und Ziel ist es aber auch, Verträge zu machen, die Beschäf- gung. Diese Herausforderung enthält enorme Chancen das merken Menschen jeden Tag. Gruppen wie allein- tigten mit besonders anstrengenden Arbeitsbedingun- für die Gestaltung des Klimawandels, aber natürlich erziehende Frauen haben wir komplett aus dem Blick gen zugutekommen. In Gesprächen mit den Kolleginnen auch erhebliche Risiken für sichere Beschäftigungspers- verloren. Es geht nicht um Randgruppen, es geht um und Kollegen lässt sich dann eine solche solidarische pektiven. Sehen wir uns nur die Automobilindustrie an, den Kern der Gesellschaft. Manchmal bin ich überrascht, Tarifpolitik auch vermitteln. die chemische Industrie oder andere energieintensive wie wenig wir darüber reden. Branchen wie die Stahlindustrie. Wir wollen diese Indus- Julia Friedrichs: Genau das ist die Kardinal- trien langfristig in Deutschland und Europa halten, um frage: Wie schafft man es, dass sich eine zerklüftete 6 Rückblick DGB-Zukunftsdialog Rückblick DGB-Zukunftsdialog 7
Arbeitnehmerschaft als Gruppe fühlt – der ungelernte Kostenminimierung, und gesellschaftlich notwendige U-Bahnhof-Reiniger, der ganz klassisch Arbeiterklasse Aufgaben werden nicht anständig finanziert. Am Ende ist, und die hochgebildete Musikschullehrerin, deren ist es immer eine Frage von Verteilungsgerechtigkeit, um festes Arbeitsverhältnis in einen Honorarvertrag um- die man politisch kämpfen muss. gewandelt wurde und die bei Krankheit oder in den Schulferien keinen Cent bekommt? Beide können von Was tun die Gewerkschaften für mehr ihrer Arbeit gerade so leben. Beide wissen: Das Geld Gerechtigkeit? ist immer knapp und wird immer knapp sein. Es geht darum, gerade dieser unteren Mittelschicht, die für die Reiner Hoffmann: Unsere Mitgliedsgewerk- Gesellschaft ganz, ganz wichtig ist, über alle Berufe und schaften setzen sich in den Betrieben und Verwaltungen Beschäftigungsverhältnisse hinweg klarzumachen: Ihr für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen ein, das sitzt in einem Boot, und es gibt Leute, die euch dabei allein reicht aber nicht. Wenn wir den Anspruch haben, unterstützen. Zum Beispiel die Gewerkschaften. Arbeits- und Lebensbedingungen von Menschen zu ver- bessern, müssen wir auch die ganz konkreten Lebens- Reiner Hoffmann: Das ist ein tolles Beispiel, welten der Menschen vor Ort verbessern. Haben wir Frau Friedrichs. Die Strukturen, die das Leben dieser genug Kitas? Sind die Schulen in einem ordentlichen Menschen prägen, sind ja ganz ähnlich: An ganz vielen Zustand? Haben wir einen öffentlichen Nahverkehr, Orten findet Ausgliederung statt, überall geht es um der neue Mobilität ermöglicht? Wir müssen Missstän- de skandalisieren, wenn notwendig, aber wir müssen auch praktische Alternativen aufzeigen. Zum Beispiel, indem Betriebsräte sich gemeinsam mit Bürgerinitiativen dafür einsetzen, dass Busse nicht irgendwann fahren, sondern dann, wenn die Menschen zur Schicht müssen. ist. Menschen wollen die Regisseure ihres eigenen haben gezeigt, dass wir eine Emanzipationsbewegung So entstehen Netze der Solidarität, und dann erreicht Lebens sein. Außerdem soll ihr nahes Lebensumfeld in sind, die für soziale Teilhabe über Erwerbseinkommen man auch etwas, weil die Politik vor Ort das nicht länger Ordnung sein: Sie wollen eine Wohnung haben, die sie einsteht, zugleich aber auch unterschiedliche Interessen ignorieren kann. Aus kleinen Erfolgen wächst dann auch bezahlen können. Die Parks sollen in Ordnung sein, sie und Lebensstile ernst nimmt und respektiert und damit wieder Motivation: Gemeinsam kriegen wir etwas hin. wollen gute Möglichkeiten der Fortbewegung haben, in einer deutlich individualisierten, pluralen Gesell- Genau dafür haben wir den Zukunftsdialog geführt: Um und – das ist ganz entscheidend – sie wollen für ihre schaft eine soziale Klammer bildet. Weil am Ende die uns gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppen Kinder eine gute Hoffnung haben. Wenn man da an- Interessen, die man gemeinsam an gesunder Umwelt vor Ort zu engagieren für Ziele, die wir gemeinsam setzt, und das heißt oft: im Lokalen, wo so viel vernach- und guter Arbeit hat, bei aller Individualisierung doch vertreten. lässigt wurde – dann, glaube ich, haben wir ganz, ganz sehr ähnlich sind. Diesen Weg wollen wir weitergehen, viele Menschen dabei. Debatten und Diskurse erzeugen und vorantreiben. Julia Friedrichs: Wir tappen viel zu oft in die Falle, Denn das hat der Zukunftsdialog mit vielen kleinen dass wir glauben, dass es diesen Gemeinsinn nicht mehr Hat der Zukunftsdialog dazu beitragen praktischen Beispielen bewiesen: Gemeinsam können gibt. Dass wir eine individualisierte Gesellschaft sind, können? wir Veränderung zu einem guten Leben und guten in der Identitätspolitik das A und O ist. Viele, denen es Arbeiten erreichen. nicht gut geht, sehen nur individuelles Versagen. Die Reiner Hoffmann: Wir haben hier die ersten sagen: Ich bin selbst schuld, ich habe mich nicht genug wichtigen Schritte gemacht. Wir sind vor Ort präsenter Das Interview führten Steffen Zinßer und Hinnerk angestrengt, oder ich habe Pech gehabt. Als sei es ein und haben ganz selbstbewusst von Passau bis Flens- Berlekamp. Naturgesetz, dass die Reinigungskraft oder der Regal- burg, von Görlitz bis Aachen bezahlbares Wohnen und Einräumer schlecht bezahlt werden. mehr Investitionen in die Zukunft thematisiert. Als Gewerkschaft mit Komplexität und Vielfalt umzugehen, Reiner Hoffmann (66), Diplom-Ökonom, ist seit 2014 Vorsitzender des Meine eigene Erfahrung aus sehr vielen Recherchen ist gelingt nur, wenn ich Beteiligungen organisiere und die Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). aber auch: Menschen äußern sehr ähnliche Wünsche, Ansprüche der Menschen an individuellen Optionen wenn man sie fragt: Wie wäre dein Leben besser? Es ernstnehme und das dann in gemeinsamer, solidarischer Julia Friedrichs (42) ist Journalistin, Filmemacherin und Buchautorin. gibt ein Bedürfnis nach Sicherheit, nach Anerkennung. Interessenvertretungspolitik organisiere. Die Menschen Zuletzt erschien von ihr: „Working Class. Warum wir Arbeit brauchen, von der Da ist es ganz egal, ob jemand ein Trans-Postbote oder wollen und brauchen Perspektiven, und genau darüber wir leben können“ (2021) ein biodeutscher heterosexueller Fahrer bei Lieferando sind wir in die Diskussion mit ihnen gekommen. Wir 8 Rückblick DGB-Zukunftsdialog Rückblick DGB-Zukunftsdialog 9
REPORTAGE Ein Mobilitäts-Konzept für den Hamburger Süden Die Freie und Hansestadt Hamburg verfügt über ein entstehen, auch das schafft neuen Verkehr. Vom Umweltschutz-Ausschusses fungiert. „An die 4.000 Die Initiative des Harburger DGB zieht Kreise. Als die Nahverkehrsangebot, um das andere Kommunen sie Hamburger Senat sind diese Probleme viel zu lange ver- Kolleginnen und Kollegen kommen täglich mit Bus oder Gewerkschafter*innen Ende August 2021 ihre Ideen HARBURG nur beneiden können. U-Bahn, S-Bahn und Busse bilden nachlässigt worden. Wir müssen Lösungen finden, und Bahn und nehmen dann die Fähre. Das funktioniert. Von erstmals der Öffentlichkeit vorstellten, waren sowohl ein enges Netz, und wer schnell und bequem von der zwar schnell“, erklärt Wolfgang. Süden her sieht es wesentlich schlechter aus.“ der Verkehrssenator als auch die verkehrspolitischen eigenen Wohnung zur Arbeit oder in die City gelangen Sprecher*innen der Bürgerschafts-Fraktionen anwesend. will und später wieder zurück, der ist auf die eigenen Den ersten Schritt dazu unternahmen der pensionierte Vor ein paar Jahren noch, berichtet Gerrit, stand für „Wir sind in unseren Vorstellungen gar nicht so weit vier Räder nicht angewiesen. Vorausgesetzt allerdings, Lehrer und seine Kolleginnen und Kollegen aus dem die Airbus-Belegschaft eine Menge an Werksbusver- auseinander“, sagt Wolfgang. „Allen ist klar, dass eine er bleibt auf der „richtigen“, der nördlichen Seite der DGB-Stadtverband Hamburg-Harburg im August 2020. bindungen ins südliche Umland zur Verfügung. Nach neue Elbquerung weiter im Westen bei Altona die beste Stadt. „Südlich der Norderelbe sieht es leider ganz Beim alljährlichen Sommerfest der Gewerkschaften in und nach wurden immer mehr von ihnen eingestellt, Lösung wäre. Dann könnten wir sogar einen S-Bahn- anders aus“, sagt der stellvertretende DGB-Stadtver- Wolfgangs Garten diskutierten sie verschiedene Mög- insbesondere während der Covid-19-Pandemie, die die Ring einrichten.“ bandsvorsitzende Wolfgang Brandt. „Gerade hier bei lichkeiten. Im Zukunftsdialog des DGB sahen sie eine Fahrgastzahlen einbrechen ließ. „Die Taktzeiten passten uns in Harburg ballen sich die Probleme.“ Chance, Veränderungen anzustoßen. Im Rahmen des nicht mehr zu den Schichtzeiten, irgendwann saßen nur Projekts „Zukunftsdialog im Norden – Nachhaltig heißt noch eine Handvoll Leute in den Bussen, und der Arbeit- Vom Senat sind die Probleme Hamburg-Harburg ist der letzte Bahnhof vor den Elb- auch sozial!“, das der DGB-Bezirk Nord 2020 ins Leben geber sagte: Das finanzieren wir nicht mehr. Vor ein paar inseln, wenn man sich von Süden her der Großstadt gerufen hatte, entwickelten sie zusammen mit einem Monaten stellte dann auch noch der Landkreis Harburg im Hamburger Süden viel zu nähert. Ein Knotenpunkt, an dem Regional- und Fern- Beratungsunternehmen, das auf Beteiligung spezialisiert seine Zuschüsse ein. Jetzt fahren viele Kolleg*innen lange vernachlässigt worden. züge aus dem Westen, dem Süden und dem Südosten ist, einen Fragebogen zur Mobilität und versandten doch wieder mit dem eigenen Auto, oder sie bilden zusammentreffen. Tausende Beschäftigte steigen hier ihn mithilfe der Mitgliedsgewerkschaften an zahlreiche Fahrgemeinschaften.“ Wolfgang Brandt, DGB Hamburg-Harburg 100 morgens in die S-Bahn Richtung Zentrum ein oder um. Betriebsräte. Die Resonanz war groß: Fast 100 Betriebs- „Zur Rushhour sind die Züge völlig überfüllt. Wer bei und Personalrät*innen aus unterschiedlichen Branchen, Betriebs- und Per- Doch ein solches Megaprojekt ist nicht nur teuer, es uns zusteigt, findet bestenfalls noch einen Stehplatz. aus großen und kleinen Betrieben, antworteten. sonalrät*innen be- braucht auch viel, viel Zeit. „Mindestens 20 Jahre“, teiligten sich an der Jetzt sollen hier im Süden auch noch 4.000 Wohnungen Mobilitäts-Umfrage schätzt Wolfgang. So lange könne niemand warten. Bis Was sie berichteten, deckte sich in vielen Punkten. In des Harburger DGB. dahin müssten andere Lösungen her. Expressbuslinien 60 Prozent der Betriebe ist heute das Auto wichtigstes zum Beispiel. Die S-Bahn müsse ertüchtigt werden. Dazu Verkehrsmittel – und das, obwohl nicht wenige Unter- Das aber könne nicht die Lösung sein – und nicht nur, gehörten längere Züge und eine Digitalisierung der nehmen den Arbeitsweg mit öffentlichen Verkehrs- weil der vorhandene Parkraum auf dem Werksgelände Stellwerke, damit ein Drei-Minuten-Takt möglich wird. mitteln bezuschussen. Viele Kolleg*innen klagen über gar nicht ausreichen werde, wenn die Büromitarbei- „Nicht zu vergessen: Wir brauchen ein vereinfachtes, hohe Ticketpreise, schlechte Taktung und störanfällige ter*innen alle aus dem Corona-Homeoffice zurück- gerechteres und sozialeres Tarifsystem mit günstigeren Zugverbindungen. Das Fahrrad ist für die meisten keine kehren, erklärt Gerrit. Wolfgang Brandts Vorschlag, eine Preisen und Jobtickets.“ echte Alternative, schon gar nicht, wenn bei Wind und Betriebsrätekonferenz für die Betriebe auf den Elbinseln Wetter Schicht- und Nachtdienste zu leisten sind wie und im Hamburger Süden zu organisieren und dort Der Einsatz für bessere Mobilität im Hamburger Süden etwa bei den Hafenbetrieben. gemeinsam dem Senat und den Landkreisen Harburg ist für ihn „ein echtes DGB-Projekt. Es geht um alle und Stade konkrete Forderungen für betriebliche Mobili- Beschäftigten, aus allen Branchen.“ Der Zukunftsdialog Oder bei Airbus in Finkenwerder, mit 16.000 Beschäf- tätskonzepte zu präsentieren, stößt bei ihm auf offene war für ihn nur der Anfang. „Wir machen weiter“, sagt tigten ebenfalls einer der ganz großen Arbeitgeber in Ohren. „Ein Shuttle-Service von Airbus zur S-Bahn wäre Wolfgang, „weil wir Forderungen nicht nur aufstellen, Hamburg. „Nach Norden haben wir eine recht gute zum Beispiel eine gute Möglichkeit, und wir würden die sondern auch durchsetzen wollen.“ Verkehrsanbindung“, sagt Gerrit Baars, der im Gesamt- Anwohner entlasten“, sagt Gerrit. „Auch für andere betriebsrat als Sprecher des Arbeits-, Gesundheits- und Unternehmen könnte das ein Modell sein.“ 10 Rückblick DGB-Zukunftsdialog Rückblick DGB-Zukunftsdialog 11
REPORTAGE So geht Gewerkschaft Zwölf oder 15 Kilometer Anfahrtsweg für die ehrenamtliche Arbeit sind im ländlichen Raum schon eine echte Schmerzgrenze. Nicole Platzdasch, DGB Altenkirchen Wo das Siegerland allmählich in den Westerwald über- „Wir sind auf ganz vielen Themenfeldern aktiv“, beginnt geht, liegt der Landkreis Altenkirchen. Rund 130.000 Nicole ihre Aufzählung. „Wir haben Veranstaltungen zu Menschen leben hier, die kleinste Ortsgemeinde zählt Corona und Kurzarbeit organisiert und gegen Rassis- kaum 50, die größte Stadt, Betzdorf, auch nicht mehr mus. Eine Veranstaltung zum öffentlichen Nahverkehr ALTENKIRCHEN als 10.000 Einwohner*innen. Es gibt viel Handwerk, warf die Frage auf: Könnten bei uns auch E-Busse zum einiges an Landwirtschaft und auch eine ganze Menge Einsatz kommen? Die Dörfer liegen teils weit ausein- Industrie, doch die meisten Betriebe sind klein oder ander, so viele Hügel und Täler sind zu bewältigen. Da bestenfalls mittelständisch. Klassischer ländlicher Raum reicht eine Batterieladung nicht sehr lange.“ eben. Ein eher schwieriges Pflaster für gewerkschaftliche Arbeit, oder? Viele Buslinien im Landkreis werden nur alle zwei Stunden bedient und am Wochenende gar nicht. Das „Schwierig – warum? Es kommt immer darauf an, was stellt die Gewerkschafter*innen auch vor ein organisa- man aus der Situation macht“, sagt Nicole Platzdasch. torisches Problem. Denn vor jeder Veranstaltung müssen Die 33-Jährige, die in Hamburg studiert hat, ist seit gut sie sich fragen: Wer wird kommen? „Wir haben hier sieben Jahren für die IG Metall Gewerkschaftssekretärin viele Berufspendlerinnen und -pendler, die in NRW oder in Betzdorf, seit einem Jahr ist sie außerdem stellvertre- in Koblenz arbeiten. Selbst im Auto macht das schnell und wie wir die Arbeit und das Leben von morgen ein großer Chor vor einem fünfhundertköpfigen Publi- tende DGB-Kreisvorsitzende im Landkreis. Was sie und eine Stunde mehr an Fahrtzeit“, erläutert Nicole. „Nach- organisieren wollen.“ kum den ganzen Abend lang Arbeiterlieder, und viele im ihre ehrenamtlichen Kolleginnen und Kollegen hier auf mittags und abends sind viele einfach geschafft. Zwölf Saal sangen begeistert mit. „Es war ein riesiger Spaß, in die Beine stellen, beweist, dass der DGB auch im länd- oder 15 Kilometer Anfahrtsweg, um sich noch in unsere Unter Federführung des DGB hat sich im Landkreis ein dieser Halle, die für die Industriekultur von Rheinland- lichen Raum durchaus Wirkung entfalten kann. ehrenamtliche Arbeit einzubringen, sind dann schon mal Netzwerk „Vielfalt und Demokratie“ zusammengetan, Pfalz steht, an die Traditionen der Arbeiter*innenbewe- eine echte Schmerzgrenze.“ in dem auch Diakonie, Caritas, Jugendverbände und gung zu erinnern“, sagt Nicole. 500 Gewerkschafter*innen andere Organisationen mitwirken. Nach zwei Brand kamen ins Kulturwerk, Statt darauf zu warten, dass die Leute zur Gewerkschaft anschlägen auf das Gesundheitsamt des Kreises und das Der DGB-Kreisverband Altenkirchen ist nicht groß, als ein Chor einen ganzen Abend lang hinkommen, macht sich die Gewerkschaft deshalb selbst Rathaus von Altenkirchen im November und im Januar kontinuierlich sind hier sieben Kolleginnen und Kollegen Arbeiterlieder sang. auf den Weg und geht zu den Leuten. Nicole hat dem schmiedeten sie gemeinsam mit weiteren Institutionen, ehrenamtlich aktiv. Da bleibt viel Arbeit an wenigen DGB zum Beispiel einen Weg in die allgemeinbildenden Organisationen und Einzelpersonen das Bündnis „De- Menschen hängen. Nicole zum Beispiel ist auch noch im Am Zukunftsdialog des DGB war sie von der Auftakt- Schulen geebnet. „Zum Demokratie-Tag in Rheinland- mokratie und Zusammenhalt“. „Dabei hat sich gezeigt, Schulausschuss einer berufsausbildenden Schule aktiv, veranstaltung an mit beteiligt. „Ich habe gemerkt, dass Pfalz haben wir mit Schülerinnen und Schülern darüber welches Vertrauen uns als DGB über die politischen sie ist ehrenamtliche Richterin am Arbeitsgericht und sich etwas bei uns ändert“, sagt sie. „Da waren von den gesprochen, was eigentlich ein Tarifvertrag ist und wie Lager hinweg entgegengebracht wird“, sagt Nicole. Selbstverwalterin in der Arbeitsagentur. „Wir beziehen Ehrenamtlichen aus den Kreis- und Stadtverbänden über er zustande kommt“, erzählt sie. „Wir haben Ver- „Gemeinsam stellen wir uns gegen Hass und Hetze.“ aber auch die Nachrücker*innen und andere Gewerk- die Hauptamtlichen aus den Regionen und Bezirken bis anstaltungen in Schulen mit der Sängerin und Ausch- schafter*innen mit ein. Mit ihnen und mit den Einzel hin zum Bundesvorsitzenden alle mit dabei und haben witz-Überlebenden Esther Bejerano organisiert. Zum Ein wichtiger Ort für den DGB im Landkreis ist das Kul- gewerkschaften können wir in die Betriebe im Kreis hin- sich ausgetauscht. Das hatte es vorher so noch nicht Volkstrauertag haben wir gemeinsam mit dem Bürger- turwerk in Wissen. Bis in die 1990er Jahre hinein stand einwirken“, sagt sie. Und trotzdem: Ist ein Landkreis wie gegeben.“ Viele für den Zukunftsdialog bereitgestellte meister von Daaden eine Veranstaltung gemacht, in der hier das größte Walzwerk Europas. Übrig geblieben ist Altenkirchen nicht doch ein eher schwieriges Pflaster für Materialien zur Tarifpolitik, zu Investitionen, bezahlba- wir uns mit der Zwangsarbeit im Daadetal in der NS-Zeit nur noch die frühere Ausbildungshalle. Zu seiner 1.-Mai- gewerkschaftliche Arbeit? Nicole schüttelt den Kopf. „Es rem Wohnen und anderen Themen wurden von Nicole beschäftigt haben. Erinnerungskultur ist uns extrem Kundgebung lädt der DGB hier alljährlich prominente kommt auf die Menschen an. Wenn man wirklich will, und ihren Kolleg*innen vor Ort in der politischen Arbeit wichtig. Wir müssen doch wissen, wo wir herkommen. Gäste zu Diskussionsrunden ein: eine Soziologie dann geht auch was.“ direkt eingesetzt. Erst dann können wir darüber reden, wo wir hinwollen professorin, einen Volkswirt, einen Pfarrer. 2018 sang 12 Rückblick DGB-Zukunftsdialog Rückblick DGB-Zukunftsdialog 13
REPORTAGE Vergabemindestlohn – in der Kommune wie im Land Vor einem Jahr fasste der Stadtrat von Jena einen kann“, erzählt sie. Freundliche oder zumindest sachliche davon leben zu können. Deshalb brauchen wir gerade Der Thüringer DGB fasst unterdessen neue Ziele ins Beschluss: Aufträge der Stadt dürfen hier nur noch an Gespräch gab es daraufhin fast überall. Umgesetzt wur- in einer solchen Hochlohnregion wie Jena mit hohen Auge. „Was bei uns in Jena gilt, muss für alle Aufträge Unternehmen erteilt werden, die ihren Beschäftigten de die Idee allerdings bisher nur in Jena, wo der DGB Mieten und hohen Lebenshaltungskosten unbedingt gelten, die in Thüringen von der öffentlichen Hand nicht weniger als einen bestimmten Mindestbetrag pro im engen Kontakt mit den Fraktionen im Stadtrat den diesen vergabespezifischen Mindestlohn.“ vergeben werden“, sagt Julia. „Wir müssen endlich JENA Stunde zahlen, entschieden die Volksvertreter*innen. gesamten Prozess begleitete und vorantrieb. Und auch damit aufhören, mit dem Geld der Steuerzahlerinnen Dieser Betrag orientiert sich an den Tarifverträgen der hier musste der Erfolg hart erkämpft werden. Die Mehrheitsfraktionen im Stadtrat wissen den Einsatz und Steuerzahler Dumping-Unternehmen und schlechte verschiedenen Branchen, wird jährlich neu berechnet des DGB zu würdigen. „In vielen Detailfragen verfügt Arbeitsbedingungen zu finanzieren. Die Beschäftigten und gilt auch dann, wenn der jeweilige Betrieb selbst „Auch als schon klar war: Es wird eine Mehrheit von der DGB über noch ganz andere Kenntnisse als wir, er ist haben Besseres verdient.“ gar keinen Tarifvertrag unterschrieben hat. Aktuell sind Linken, Grünen und SPD im Stadtrat geben, waren noch ganz anders vernetzt“, sagt Lena Saniye Güngör, es 11,96 Euro, „vergabespezifischer Mindestlohn“ noch erhebliche Widerstände zu überwinden. Auch der Fraktionsvorsitzende der Linken im Jenaer Rathaus und „Wo noch nicht gute Arbeit mit Tarifverträgen und nennt sich die Sache im Verwaltungsdeutsch, und ange- Oberbürgermeister war dagegen“, erinnert sich Julia zugleich arbeitsmarkt- und gewerkschaftspolitische Betriebsräten abgesichert ist, müsse der vergabespezi schoben hat es der DGB im Rahmen seines Zukunftsdia- Langhammer, die in der DGB-Bezirksverwaltung Hessen- Sprecherin der Linksfraktion im Thüringer Landtag. „Wir fische Mindestlohn das Mindeste sein“, ergänzt Renate. log-Schwerpunkts Tarifbindung. Und er ist stolz darauf. Thüringen für Wirtschaftspolitik und Öffentlichen Dienst bauen darauf, dass uns der DGB immer wieder erinnern Darüber habe der DGB in der Region in den vergan- zuständig ist und selbst jahrelang in Jena im Stadtparla- wird: Wie weit seid ihr mit der Umsetzung des Vergabe- genen Monaten mit allen Stadt- und Kreisverbänden ment saß. „Vertreter*innen aus der lokalen Wirtschaft beschlusses? Was muss noch passieren, damit wirklich geredet. „Die Ausweitung des vergabespezifischen Wir müssen endlich aufhören, malten regelrechte Schreckensszenarien an die Wand: alle Beschäftigten in Jena etwas davon haben?“ Mindestlohnes auf noch viel mehr Kommunen ist einer Niemand würde sich mehr um Aufträge bewerben, und der Schwerpunkte unserer Arbeit in nächster Zeit. Leicht 11,96 mit Steuergeld schlechte Arbeits die Unternehmen würden alle pleitegehen. Natürlich ist wird es nicht. Aber ich gehe davon aus, dass es uns ge- nichts davon eingetreten.“ lingen kann.“ bedingungen zu finanzieren. Julia Langhammer, DGB Hessen-Thüringen Wer profitiert in Jena vom vergabespezifischen Mindest- lohn? „Die Beschäftigten in den Großküchen zum Bei- „Auf Landesebene gilt bei uns in Thüringen schon seit spiel, die für die städtischen Kitas und Schulen kochen“, Euro beträgt der vergabespezifische Mindest- 2019 ein vergabespezifischer Mindestlohn. Davon aus- zählt Julia auf. „Die Leute, die im Winter vor den Schu- lohn in Jena. genommen sind nur Bereiche wie das Bauwesen, für die len den Schnee wegschippen. Lokale Postdienstleister, andere, bundesweite Standards gelten. Die Beschäftig- die für die Kommune arbeiten. Servicemitarbeiter*innen, Heiko Knopf, der für die Grünen im Stadtrat sitzt und im ten in anderen Branchen, wie zum Beispiel bei Post- die auf Veranstaltungen der Stadt Getränke und Häpp- Januar auch zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden dienstleistungen, kommen dagegen in den Genuss des chen servieren. Und zwar auch dann, wenn sie den Job seiner Partei gewählt wurde, ist ebenfalls des Lobes voll. neuen Gesetzes“, erläutert Renate Licht, DGB-Regions- nur als Aushilfe machen.“ „Der DGB war für uns ein ganz wichtiger Antrieb und geschäftsführerin für Thüringen. „Der Haken daran ist Anker“, sagt er. „In der Auseinandersetzung um die Ver- aber: Das Land erteilt nur ein Drittel aller öffentlichen 11,96 Euro sind nicht viel, doch für viele sind gut gaberichtlinie gab es ja nicht nur Unterstützung. Es kam Aufträge. Den deutlich größeren Teil vergeben die Kom- zwei Euro mehr als der aktuelle bundesweite Mindest- auch auf den außerparlamentarischen Raum an, und da munen. Und die sind daran nicht gebunden.“ lohn eine Menge Geld. „Jena ist die Stadt mit dem war der DGB eine entscheidende Stimme.“ Für die kom- höchsten Durchschnittseinkommen in Thüringen. Bei menden Jahre wünscht sich Knopf, dass der DGB eine Deshalb habe der DGB vor zwei Jahren alle größeren diesem Durchschnitt werden aber alle, die nicht Vollzeit noch bessere Vernetzung aller Akteur*innen ermöglicht, Städte im Land angeschrieben. „Wir haben darauf arbeiten, nicht berücksichtigt “, sagt Julia. „Unter den etwa mit Best-Practice-Beispielen aus unterschiedlichen hingewiesen, dass der vergabespezifische Mindestlohn Hartz-IV-Empfänger*innen in Jena zum Beispiel ist die Kommunen. Renate Licht (l.) und Julia Langhammer freiwillig von den Kommunen übernommen werden Mehrheit berufstätig, verdient aber nicht genug, um 14 Rückblick DGB-Zukunftsdialog Rückblick DGB-Zukunftsdialog 15
REPORTAGE Wir können nicht akzeptieren, dass Wohnort und Mehr Bildungsgerechtigkeit soziale Herkunft darüber entscheiden, was aus einem Kind einmal wird. im Pisa-Gewinnerland André Schnabel, DGB Dresden – Oberes Elbtal Dresden-Gorbitz hat alles, was Familien mit Kindern im Das Problem liegt darin, dass die soziale Mischung in geraumer Zeit bekannt. „Nur passiert ist nichts. Viertel Vom großen Echo, das der Zukunftsdialog in der Stadt Alltag brauchen. Das größte Plattenbaugebiet der säch- Gorbitz verloren geht. „Früher wohnten hier die Ärztin wie Gorbitz kamen nicht vor, wenn das Pisa-Sieger-Land hervorrief, seien sie selbst überrascht gewesen, gestehen sischen Landeshauptstadt verfügt über zehn Kitas, zwei und der Ingenieur Wand an Wand mit der Kindergärt- Sachsen über Bildung debattierte.“ André und Juri. Als der DGB zu Beginn des aktuellen Grundschulen, eine Oberschule und ein Gymnasium. Es nerin und dem Facharbeiter“, erzählt André. „In den Schuljahres wieder ins Volkshaus einlud, war der Große DRESDEN gibt drei Kinder- und Jugendhäuser, Sportflächen und letzten Jahren beobachten wir, dass viele Besserverdie- Bis der DGB aktiv wurde. 2019 lud er erstmals im Saal so voll, wie er unter Corona-Bedingungen nur sein ein modernes Freizeitbad. Die meisten Wohnblöcke sind nende wegziehen. Der Anteil von Arbeitslosen in Gorbitz Rahmen des Zukunftsdialogs zu einer Diskussion ins durfte: Mehr als 80 Personen kamen – doppelt so viele saniert, zwischen ihnen gibt es eine Menge Grünflächen. ist heute doppelt so hoch wie im Durchschnitt der Stadt, Dresdner Volkshaus ein. „Wir haben verschiedenste wie erwartet. Drei Straßenbahnlinien bieten eine schnelle Verbindung die Zahl von Familien, die von Hartz IV leben, drei- bis Akteure zusammengebracht und gemeinsam überlegt, in die Innenstadt. „Gorbitz ist eigentlich ein guter Platz viermal so hoch. Die Folgen davon spüren wir an vielen was wir vernetzt miteinander anpacken müssen“, sagt Die vom DGB angestoßene Debatte zeigt Wirkung. „Wir zum Leben“, sagt André Schnabel, Geschäftsführer der Orten, aber ganz besonders in den Schulen.“ André. Der Dresdner Bildungsbürgermeister, der für die bekommen Rückmeldungen aus den Lehrerzimmern, 30 DGB-Region Dresden – Oberes Elbtal. Wo also liegt das Bildung in der Stadt zuständig ist, kam. Auch Vertre- dass Klassen kleiner bleiben Problem? Bildungschancen und Bildungsgerechtigkeit – das ist ter*innen aus Schulen, Sozialarbeit und der Industrie- und eben nicht auf das erlaubte Prozent der Kinder in Gorbitz bekommen eine das Thema, das die Gewerkschaften in Dresden im DGB- und Handelskammer hatte der DGB eingeladen. Maximum von 28 Schülern Gymnasialempfehlung. Zukunftsdialog zu ihrem Schwerpunkt gemacht haben. aufgestockt werden“, berichtet Anderswo in der Stadt sind es 60 bis Weil sie spüren, dass etwas nicht stimmt, wenn nicht Für die Gewerkschaften saß Juri Haas mit auf dem André. „Wir hören von Schulen, 80 Prozent. nur in Gorbitz immer mehr Eltern, die viel Wert auf gute Podium. Er schilderte, dass er und seine Kolleg*innen in die – unaufgefordert! – Kletter- Bildung legen, ihre Kinder anderswohin zum Unterricht Gorbitz sehr viel mehr Zeit brauchen, um die Kinder und gerüste für den Pausenhof angeboten bekommen. Es schicken. Und weil sie einfach nicht akzeptieren können, Jugendlichen sozial zu begleiten und zu unterstützen. gibt plötzlich mehr Geld für die digitale Ausstattung. „dass der Wohnort und die soziale Herkunft darüber Auch den grassierenden Personalmangel brachte er zur Zumindest zum Schuljahresanfang waren an Schulen, entscheiden, was aus einem Kind einmal wird und ob Sprache. „Lehrkräfte, die jetzt anfangen, können sich die bekanntermaßen größere Probleme haben, tatsäch- es sein Potenzial ausschöpfen kann oder nicht“, wie es aussuchen, wo sie arbeiten wollen. Und viele gehen lich erstmals wieder alle Lehrerstellen besetzt. Unsere André zusammenfasst. nicht an Schulen, wo sie von vornherein wissen, dass Botschaft ist endlich angekommen.“ sie eine höhere Arbeitsbelastung erwartet“, sagt er. „Es Internationale Studien weisen nach, dass in kaum einem sind also immer weniger Lehrkräfte da, um sich mit den An einem „Runden Tisch Bildungsgerechtigkeit“ will anderen Industrieland die Bildungschancen so ungleich Problemen zu beschäftigen. Die Überlastung wächst, die der DGB in Dresden nun mit Verantwortlichen aus verteilt sind wie in Deutschland. Juri Haas, der an einer Ausfallzeiten steigen weiter, die Probleme werden noch Politik und Verwaltung und Menschen aus der Praxis Grundschule in Gorbitz unterrichtet und sich ehrenamt- größer. Ein Teufelskreis.“ die Debatte fortführen und vertiefen. Um den konkreten lich in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Bedarf von Schulen zu ermitteln, soll ein Sozialindex her, (GEW) engagiert, liefert Zahlen: „Bis zu 25 Prozent der Und wie kann man diesen Teufelskreis durchbrechen? wie er in anderen Bundesländern längst üblich ist. „Der Jugendlichen in Gorbitz verlassen die Schule ohne einen „Die Ansage aus der sächsischen Bildungsverwaltung Zukunftsdialog“, sagt André, „ist für uns genau die Abschluss. Der sonderpädagogische Förderbedarf ist war immer: Alle Schulen haben die gleichen Probleme, passende Plattform, auf der wir das Thema der Bildungs- bis zu zehnmal größer als im Rest der Stadt. Während also bekommen auch alle die gleichen Ressourcen gerechtigkeit gut verhandeln können. Weil wir hier nicht in Dresden insgesamt rund 60 Prozent der Grund- zugeteilt. Schulförderung wie mit der Gießkanne. Aber nur reden, sondern dazu beitragen, dass sich die Dinge schulkinder eine Gymnasialempfehlung bekommen, in das funktioniert nicht. Schulen mit besonderen Proble- wirklich ändern.“ manchen wohlhabenden Stadtvierteln sogar 80 Prozent, men müssen auch besonders unterstützt werden, zum sind es hier in Gorbitz nur etwa 30 Prozent.“ Alle diese Beispiel, wenn für besonders viele Kinder Deutsch nicht Angaben stammten aus dem aktuellen Bildungsbericht die Familiensprache ist“, fordert Juri. „Ungleiches muss Juri Haas (l.) und André Schnabel der Stadt, und sie seien allen Verantwortlichen seit auch ungleich behandelt werden!“ 16 Rückblick DGB-Zukunftsdialog Rückblick DGB-Zukunftsdialog 17
50 IDEEN AUS 5000 einzusetzen.“ ••• „Mehrgenerationenhaus: Die Gemeinschaft unter ein Dach bringen (Jugendclub, Erzählcafé, Kochkurse, Bewegungsraum, Kultur, Bildung, etc. pp).“ ••• „Selbstbestimmung: Von Schwangerschaftsabbruch bis aktive Sterbehilfe, Wohnform oder einfach Sexualität und Meinungsfreiheit.“ ••• „Ein echtes und beidseitiges Mitei- nander von Einheimischen und Migrant*innen.“ ••• „Schule als Bottom-up-Projekt mit tatsächlichen Möglichkeiten zur Mitbestimmung könnte Schüler*innen zeigen, wie Poli- tik, Diskussionen, Demokratie, Lösungsfindung und Zusammenarbeit funktionieren.“ ••• „Mehr politische + gewerkschaftliche Sensibilisierung junger Menschen (Schulen, Betriebe ...)“ ••• „Der ländliche Raum bietet Chancen, das muss gestärkt werden. Nach- barschaft, große Wohnungen, bezahlbare Mieten!“ ••• „ÖPNV: Fahrkartenlos, flächen- deckend, eng getaktet Tag und Nacht. In öffentlicher Hand, tarifgebunden, klimaneut- ral.“ ••• „Es fehlt in jeder Hinsicht an Ausstattung in den Schulen. Computerräume sind veraltet, Sanitäranlagen verdreckt, Grünanlagen ungepflegt.“ ••• „Als Patient hat man oft das Gefühl, ... die Schwester war doch gestern am Morgen schon da. Wieso ist sie „Die ungerechte Einkommens- und Vermögensverteilung seit Jahrzehnten – der DGB heute Abend immer noch im Dienst?“ ••• „Unser System krankt an der Vorstellung, dass muss auch gesamtgesellschaftlich stärker engagiert sein.“ ••• „44 Arbeitsjahre und Akademiker höhergestellt seien als andere. Mehr Prestige, mehr Geld. Der gute Bäcker, 720 Euro Rente.“ ••• „Die Menschen sollen ohne Zukunftsängste in sozialer Sicherheit der fähige Elektriker, der fürsorgliche Krankenpfleger – diese Personen sollten wir mehr und mit der Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe leben können.“ ••• „Respekt- fördern und wertschätzen.“ ••• „Eine Gesellschaft kann nur im gemeinsamen Mitein- voller Umgang untereinander und Respekt vor der Arbeit und Tätigkeit der anderen.“ ander statt einem Nebeneinander gut leben, gesund und tragfähig sein.“ ••• „Arbeit ••• „Wer Vollzeit arbeitet, darf nicht aufstocken müssen.“ ••• „Ökologische Nachhal- muss sich lohnen.“ ••• „Die Arbeitszeiten sind in den meisten Berufen zu lang. Ein erster tigkeit: Die Gewerkschaften müssen eine zukunftsfähige Erzählung über eine nach- Schritt ist die Einführung der 35-Stunden-Woche verbindlich für alle und Abschaffung haltige und global verallgemeinerbare Produktions- und Lebensweise entwickeln.“ ••• starrer Anwesenheit. Die Kernzeit ist in vielen Berufen zu lang und zu unflexibel.“ ••• „Es „Herkunft und Bildungsbiografie der Eltern sollen nicht die Chancen von Kindern und bedurfte nicht eines Corona-Virus, um festzustellen, dass es viel zu oft viel zu schlecht Jugendlichen beeinflussen.“ ••• „Berufliche Eingliederung von Menschen mit krummer bezahlte Menschen sind, die unsere Gesellschaft zusammenhalten.“ ••• „Gerade in die- Schullaufbahn.“ ••• „Beim bedingungslosen Grundeinkommen muss das Recht auf ser Krise liegt die Chance für einen Wandel!“ ••• „Nach der Corona-Krise gibt es in den Arbeit immer mitgedacht werden.“ ••• „Gleiche Arbeit muss gleich bezahlt werden, meisten Berufen keine Ausreden mehr, ob Homeoffice möglich ist. Die Frage ist dann egal ob Ost und West, Mann oder Frau!“ ••• „Wohnen ist Menschenrecht.“ ••• „Wieso nur noch das Wie.“ ••• „Wir sitzen vielleicht alle im gleichen Boot, aber manche profi- wir in Deutschland bei den Reformen immer nur Symptome verändern und nicht die tieren dennoch davon, ein Loch reinzusägen.“ ••• „Wir brauchen eine Entschleunigung Ursachen, bleibt ein Geheimnis.“ ••• „Was ist mit den Renten der Jugend von heute? – weil es kein weiter, höher, schneller mehr gibt. Irgendwann ist Schluss. Menschen sind Wer spricht über unsere Zukunft?“ ••• „[W]ie müssen Arbeitnehmer*innenvertretun- keine Maschinen und die KI sollte dem Menschen und dem Gemeinwohl dienen. War- gen aufgestellt sein, um die gesellschaftliche Transformation gemeinsam mit den um gelingt es nicht, alle Menschen zu ernähren? Ich kann nicht verstehen, wie man da Arbeitnehmer*innen sozial und zukunftsorientiert zu gestalten?“ ••• „Lasst uns eine Lebensmittelüberproduktion und Wegwerfmentalität verantworten kann.“ ••• „Eine Wirtschaftsform erfinden, die ohne Wachstumszwang auskommt, zum Wohl aller Revolution der Nachhaltigkeit und Mäßigung durch kürzere Arbeitszeiten, um Klima und Menschen und der Umwelt.“ ••• „Solidarität muss über Betriebs-, Branchen- und Lan- Umwelt zu retten. Denn Wachstum ist nicht die Lösung, sondern das Problem.“ ••• „Kur- desgrenzen hinausgehen! International und über Kernbelegschaften hinaus!“ ••• „Der ze Vollzeit für alle!“ ••• „Ich denke nicht, dass Elektroautos die alleinige Lösung sind. Pflegeberuf braucht mehr Wertschätzung, Unterstützung und bessere Bezahlung!“ ••• Eher muss es eine Vielzahl an verschiedenen umweltfreundlichen Fortbewegungs- „Wir müssen die neuen Technologien für das Gemeinwohl nutzen!“ ••• „Kein Schielen mitteln geben.“ ••• „Zukunft... kommt von allein... Für Fortschritt muss man etwas tun! auf die nächsten Wahlen, sondern auf die Zukunft der Welt.“ ••• „Die sozial Schwa- Also packt mit an!“ ••• „Weniger Bürokratie und bessere Bezahlung wäre auch nicht chen dürfen bei den ‚Fridays for Future‘ nicht auf der Stecke bleiben!“ ••• „Fast jeder schlecht.“ ••• „Gerechtigkeit: Tarifverträge müssen grundsätzlich allgemeinverbind- hat die Möglichkeit, sich in einem bestimmten Rahmen einzusetzen. Wo die Politik lich sein! Durch Gesetz!“ ••• „Chancengleichheit fördern, um die immer stärkere Teilung nicht handelt, sollte selbst die Initiative ergriffen werden.“ ••• „Mehr Wertschätzung unserer Gesellschaft umzukehren.“ ••• „Ich glaube, jeder Mensch in Deutschland hätte und Offenheit gegenüber Teilzeitmodellen, z. B. Jobsharing.“ ••• „Wir müssen wieder lieber einen Tarifvertrag, als der Willkür von Arbeitgebern ausgesetzt zu sein.“ mehr streiten! Aber mit Regeln und Respekt.“ ••• „Gewerkschaftliches Engagement in der Zukunft! Die jungen Generationen mehr mobilisieren, sich in der Gesellschaft redenwirueber.de 18 Abschlussbericht DGB-Zukunftsdialog Abschlussbericht DGB-Zukunftsdialog 19
REPORTAGE Keine Miete für die Profite Mitten auf dem Pflaster der Göttinger Fußgängerzone Zur Kommunalwahl im Frühjahr 2021 schrieb das Bünd- wir haben Fälle von Schimmelbildung an den Wänden“, richtete sich der DGB-Kreisverband an einem Sonn- nis alle demokratischen Parteien an und listete seine berichtet Hendrik Falkenberg, der im Ortsrat von Grone abend im April 2019 für ein paar Stunden häuslich Forderungen auf: Bewahrung von städtischem Grund in sitzt und von Beginn an im Bündnis „Gutes Wohnen für ein. Ein mit Druckluft aufgeblasenes graues Sofa, zwei städtischem Eigentum. Umfangreicher sozialer Woh- Alle“ mitarbeitet. Adler hat inzwischen wegen Zah- GÖTTINGEN Sessel gleicher Bauart, eine auf Sperrholz aufgemalte nungsneubau. Mietenstopp. Keine Modernisierungen lungsschwierigkeiten die Wohnungen weiterverkauft. Stehlampe sowie ein ebenfalls nur aufgemalter Vogel- nur für die Dividende privater Großinvestoren. Statt Ein Abschluss der Arbeiten ist auch unter dem neuen käfig – fertig war das mobile Wohnzimmer. Überraschte Privatisierung von Wohnungsbeständen konsequente Eigentümer LEG Immobilien nicht in Sicht. Passant*innen blieben stehen, sie kamen mit den Ge- Rekommunalisierung. „Keine Miete für Profite! Der freie werkschafter*innen ins Gespräch, viele nahmen selbst Markt ist keine Lösung!“, erklärten Sabine und ihre „Die ganze Modernisierung hat nichts mit den Be- auf den luftigen Möbeln Platz. Den Sinn der Aktion Mitstreiter*innen. dürfnissen der Bewohnerinnen und Bewohner dieser musste man kaum jemandem erklären. Denn die Losung Wohnungen zu tun. Sie soll lediglich als Begründung für auf dem Banner, das der DGB hinter der Sitzgruppe auf- Das mochten durchaus nicht alle Parteien unter- eine Mietsteigerung herhalten“, sagt Hendrik. Bislang gespannt hatte, verstand wohl jeder: „Bezahlbar ist die schreiben. Doch zumindest einige Punkte aus dem liege die Grundmiete pro Quadratmeter hier noch bei halbe Miete.“ Verlässliche Angaben, wie teuer Wohnraum in Göttingen Forderungskatalog fanden sich später in den Wahl- günstigen 5,50 Euro. Nach der Sanierung sollen es heute ist, gibt es derzeit nicht. Seit Jahren schon drückt programmen wieder. „Wir verfolgen jetzt aufmerksam, 7,50 Euro sein. „Zwei Euro mehr pro Quadratmeter, das „Als der DGB vor drei Jahren fragte: Wie wollen wir ar- sich die Stadt davor, einen offiziellen Mietenspiegel was die Parteien tun, und wir haken nach“, sagt Sabine. sind 36 Prozent Mieterhöhung. Damit wird bezahlbarer beiten? Wie wollen wir leben? – da war für uns schnell zu erstellen. Berechnungen eines gewöhnlich gut „Wir lassen nicht locker, bis die Versprechungen auch Wohnraum zerstört. Viele Mieterinnen und Mieter haben klar, wo unser Schwerpunkt im Zukunftsdialog liegen informierten Internetportals ergaben jedoch, dass sich umgesetzt werden.“ berechtigte Angst, dass sie aus ihrem angestammten würde: Bei den immer schneller steigenden Mieten“, der durchschnittliche Quadratmeterpreis bei Angebots- Quartier verdrängt werden.“ erzählt Sabine Ludewig, Mitglied im DGB-Kreisverband. mieten seit 2012 von rund 7,50 auf knapp 10,50 Euro Ein Stadtteil von Göttingen, in dem sich die Ausein- „Mit unserer Aktion wollten wir erfahren, wo genau erhöht hat. Zum Vergleich: In niedersächsischen Landes- andersetzung um bezahlbaren Wohnraum besonders Es geht auch anders, auch in Göttingen. „Nur drei Stra- die Leute der Schuh drückt und wie wir als Gewerk- durchschnitt müssen etwa acht Euro pro Quadratmeter zuspitzt, ist Grone. Hier hatte das Immobilienunterneh- ßen von hier, im Elmweg, beweist die Volksheimstätte schaften ihnen beistehen können. Das kam gut an. Die gezahlt werden. „Wenn die Entwicklung so weitergeht“, men Adler Real Estate 2019 mit einer großangelegten als Genossenschaft, dass Wohnungsbewirtschaftung Leute schilderten uns, wie hoch ihre Mieten mittlerweile fasst Sabine die Lage zusammen, „dann wird Wohnen in Modernisierung seiner Wohnblöcke begonnen: Neue vernünftig funktionieren kann“, betont Hendrik. „Oder sind, sie berichteten uns von fehlerhaften Nebenkosten Göttingen zum Luxus.“ Fenster, neue Dämmung, neue Balkone – das komplette nehmen wir den Leineberg. Dort hat die Städtische abrechnungen und davon, was mit der nächsten Moder- Programm eben. Bei einem Ortstermin zweieinhalb Wohnungsbau GmbH umfänglich saniert, auch dort gab nisierung auf sie zukommt.“ Bezahlbares Wohnen, das Damit will der DGB sich nicht abfinden. Aus der Aktion Jahre später sind noch immer abgedeckte Dächer zu se- es eine Mieterhöhung, aber sie fiel moderat aus.“ zeigten die Diskussionen an diesem Tag, ist die zentrale 2019 in der Fußgängerzone ist das Bündnis „Gutes hen, die nur notdürftig mit Planen überspannt wurden. soziale Frage in der Stadt. Wohnen für Alle“ entstanden. Gewerkschaften und Mie- „Regenwasser ist in Häuser und Wohnungen gelaufen, Der DGB-Kreisverband und seine Partner fühlen sich ter*inneninitiativen, soziale Projekte, Sozialverbände, durch solche Beispiele bestärkt in ihrer Forderung, dass 10,50 der Mieterbund, Wissenschaftler*innen und politische die Wohnungswirtschaft in kommunale Hand gehört. Ihr Gruppen teilen dort ihr Wissen, stimmen sich unter- Bündnis „Gutes Wohnen für Alle“ verstehen sie als ein Bezahlbar ist die halbe einander ab und ziehen immer wieder gemeinsam auf echtes Zukunftsprojekt. „Wir alle wollen uns dort, wo die Baustellen und vors Rathaus. Der DGB steuert seine wir wohnen, auch wohlfühlen können – ohne Angst vor Miete. Wohnen ist schließlich ein Fachkompetenzen bei und vor allem seine Erfahrungen, der nächsten Mieterhöhung. Lohnsteigerungen dürfen wie man die Arbeit in einem Bündnis ganz praktisch nicht von steigenden Mieten aufgefressen werden. Da- Menschenrecht! organisiert, verschiedene Akteure miteinander vernetzt Euro pro Quadratmeter sind bei Neuvermietung für kämpfen wir“, sagt Sabine. „Wohnen ist schließlich in Göttingen aktuell als durchschnittliche An- Sabine Ludewig, DGB Göttingen und seine Konzepte in die Öffentlichkeit hineinträgt. gebotsmiete fällig. ein Menschenrecht.“ 20 Rückblick DGB-Zukunftsdialog Rückblick DGB-Zukunftsdialog 21
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