Die flüchtige Würde Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten und Ausgrenzung
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Die flüchtige Würde Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten und Ausgrenzung Tagungsdokumentation der BAfF-Tagung Stuttgart, 27.–29. Mai 2019
Impressum Herausgeberin Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer – BAfF e. V. Paulsenstraße 55–56, 12163 Berlin Tel.: +49 (0) 30 – 310 124 63 E-Mail: info@baff-zentren.org Web: www.baff-zentren.org Redaktion & Layout: Daniela Krebs Umschlagfoto: © CL. / photocase.de Die in dieser Tagungsdokumentation enthaltenen Texte sind Transkriptionen der von den Referent*innen gehaltenen Vorträge sowie deren Präsentationen. Die Rechte an den Inhalten liegt bei den Referent*innen. © BAfF e. V. 2020. Alle Rechte vorbehalten. Die Tagung „Die flüchtige Würde“ wurde veranstaltet von der BAfF, der Landesarbeitsgemeinschaft Psy- chosozialer Zentren in Baden-Württemberg und der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Gefördert durch: Diese Publikation wurde über das Projekt „Traumatisierungsketten durchbrechen – Handlungsunsicherheiten überwinden – Schutzsysteme stärken“ aus Mitteln des Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds kofinanziert.
Die flüchtige Würde Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten und Ausgrenzung Tagungsdokumentation Stuttgart-Hohenheim, 27. – 29. Mai 2019 3
Die Flüchtige Würde Eine adäquate gesundheitliche Versorgung ist ein Menschenrecht und ebenso eine Voraus- setzung für eine gelingende Integration. Viele Geflüchtete benötigen Hilfe, um Kriegs- und Ge- walttraumata zu überwinden. Aber gerade hier mangelt es an Rückhalt, an personellen, an finanziellen Kapazitäten für diese Arbeit. Und leider deuten Gesetzesinitiativen wie das „Geord- nete-Rückkehr-Gesetz“ zunehmende Tendenzen der Abschottung an den europäischen Außen- grenzen sowie Entwicklungen wie die verhinderte Seenotrettung im Mittelmeer nicht gerade da- rauf hin, dass sich das in absehbarer Zeit zum Positiven ändern wird. Der Titel der Tagung wurde als „Die flüchtige Würde – Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten und Ausgrenzungen“ scheint zunehmend Wiederhall zu finden in migrationspolitischen Entwick- lungen Deutschlands und Europas. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen können wir nicht oft genug daran erinnern, dass die gesundheitliche Versorgung von Geflüchteten kein Akt der Güte, keine Geste der Großzügigkeit, kein Ausdruck des guten Willens ist. Es ist ein international verbrieftes Menschenrecht und in diesem Sinne ein zentraler Wegweiser für staatliches Handeln in der Migrationspolitik. Es ist daher umso wichtiger, dass wir uns zusammen über die aktuellen Herausforderungen, über vorhandene Best Practice Ansätze im Feld auszutauschen und gege- benenfalls neue Lösungen und Handlungsstrategien zu entwickeln, sowie diese dann auch an entsprechender Stelle zu platzieren. Die Tagung „Die flüchtige Würde. Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschen- rechten und Ausgrenzung“ wurde gemeinsam organisisert und durchgeführt von der Bundes- weiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF), der Landesarbeitsgemeinschaft Psychosoziale Zentren Baden-Württemberg und der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und fand vom 27. – 29. Mai 2019 im Tagungshaus Stuttgart Hohenheim statt. Die Texte in dieser Tagungsdokumentation sind Transkriptionen der Vorträge, die auf der Tagung von den Referent*innen gehalten wurden. 5
Inhaltsverzeichnis Vorwort..................................................................................................................... 8 Psychotherapeutische und psychosoziale Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen.......................................................................................................... 10 Überlebende von Menschenhandel (Zwangsprostitution): Mobilisierung von Widerstandskräften in der Beratung und Psychotherapie................................... 14 Aus der IS-Gefangenschaft nach Baden-Württemberg: Evaluation des Sonderkontingents für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak.................................................................................................................. 18 Nach der Europawahl: Wie wirkt sich das Wahlergebnis auf die europäische Migrationspolitik aus?............................................................................................ 24 Modellprojekt Sprachmittler*innenpool.............................................................. 34 Therapie und Beratung an der Seite der Betroffenen – (wie) wirken sich emanzipatorische Ansätze in unserer alltäglichen Arbeit aus?........................... 40 Postulat Diversität der Finanzierung – Fachlichkeit optimieren, Selektion verhindern.............................................................................................................. 44 Braucht es Verfahrensberatung im PSZ?............................................................... 52
Vorwort Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan, DHBW Villingen-Schwenningen Der Titel dieser Tagung lautet „Die flüchtige Diese Hoffnung können wir alle vermitteln. Würde“ und über die Bedeutung der Würde Und ich glaube, das ist auch ein Zeichen von wird viel gesprochen. Ich möchte in meiner Be- Anstand und von Würde, eine Pflicht und ein grüßung über die Hoffnung sprechen. Menschenrecht. Bis vor kurzem war ich noch im Irak. Dort In den letzten sechs Jahren bin ich viel im Irak kommen langsam die letzten Frauen und und in afrikanischen Ländern gewesen und Kinder frei, die zum Teil vier, fünf Jahre lang bin dadurch politischer geworden. Mir wurde in IS-Gefangenschaft gewesen sind. Ich habe dort bewusster, dass wir nicht einfach Men- dort die dreizehnjährige Sera getroffen. Sie schen in einem geschlossenen Raum behan- konnte sich nicht erinnern, wer sie ist oder wo- deln und uns nur damit beschäftigen können, her sie kommt. Sera kannte nur ihren Namen wie wir Symptome reduzieren können. Trauma und sprach weder Kurdisch, noch Arabisch, kommt aus der Gesellschaft und kann nicht sondern Tadschikisch. Sie war von einem losgelöst davon betrachtet werden. Ich wer- IS-Kämpfer verschleppt worden, der einige de nie die Worte eines achtjährigen Mädchens Jahre grausame Dinge mit ihr gemacht hat, vergessen, die mir sagte: „Doktor, warum sind die sie alle verdrängt hat. Gerade heute habe die Menschen so böse?“. Ich könnte Ihnen ich eine Mail von Sera bekommen und sie be- jetzt hunderte Theorien aus der Aggressions- richtete darin, dass ihre Erinnerung wieder da forschung erläutern, aber dennoch habe ich ist. Sie konnte sich wieder an die Namen ihrer keine wirkliche Antwort auf diese Frage. Und Eltern erinnern und hat mittlerweile auch eini- gleichzeitig weiß ich, dass in der Menschheits- ge Verwandte wiedergefunden. Ihre Mutter ist geschichte über 500 Millionen Menschen durch allerdings noch in IS-Gefangenschaft. Menschenhand umgebracht worden sind, 15 Millionen der indigenen Völker aus Süd- und Wir hören in unserer Arbeit immer wieder Er- Nordamerika, 40 Millionen während der Zeit zählungen von Erlebnissen, die wir uns nicht von Dschingis Khan, 60 Millionen während vorstellen können, Dinge, die so grausam sind, des Zweiten Weltkrieges, und viele weitere. dass jeglicher gesunde Menschenverstand das Menschen töten Menschen – und auch jetzt, nicht nachvollziehen kann. Im Irak haben wir in diesem Augenblick, töten Menschen andere das Institut für Psychotherapie und Psychot- Menschen. Das ist eine Realität, die wir sehen raumatologie an der Universität Dohuk im müssen. Nordirak aufgebaut. Wir versuchen dort Psy- chotherapeut*innen nach dem deutschen Psy- Ich sehe aber auch einen Hoffnungsschimmer: chotherapeutengesetz auszubilden, weil wir Wir entwickeln uns weiter – zwar oft nur sehr glauben, dass wir auch direkt vor Ort helfen langsam, aber auch das gehört zu unserem müssen. In der Zwischenzeit habe ich mehrere Wesen als Mensch. Und vielleicht müsste man Tausend Frauen und Kinder gesehen. noch viel stärker für diese Veränderung kämp- fen. Dafür stehen Sie als Mitarbeitende in den An dieser Stelle möchte ich Ihnen allen danken. Psychosozialen Zentren auch ein. Sie lassen Denn ohne die Arbeit der Psychotherapeut*in- sich nicht entmutigen, Sie kämpfen für die nen und Mitarbeiter*innen in den Psychosozi- Menschen. Manchmal müssen wir aber auch alen Zentren hätten sehr viele Menschen oft- Anfragen ablehnen, weil wir nicht ausreichend mals keine Hoffnung mehr. Wir merken, wie Kapazitäten haben. Das haben wir auch am wichtig es für diese Menschen ist, für sie da zu Beispiel jesidischen Frauen gesehen, die 2015 sein. Und oft reicht es, einfach nur zuzuhören nach Baden-Württemberg kamen. Viele von Ih- und bei den Menschen zu sein. Wenn wir etwa nen aus den Psychosozialen Zentren und sehr mit den Frauen aus dem Irak zusammensitzen viele Ehrenamtliche haben geholfen und die und ihnen zuhören und ihren Schmerz teilen, Anteilnahme der Menschen war riesig – und dann bedanken sie sich oftmals dafür. Durch ist es noch immer. Doch die Kapazitäten sind die Gespräche wissen sie, dass sie nicht allein eben begrenzt. An dieser Stelle müsste noch sind. Und oft gibt ihnen das bereits Hoffnung. mehr Druck auf die Politik ausgeübt werden, 8
weil das Personal nicht ausreicht, die finanziel- Es ist wichtig, den Menschen vor Ort zu helfen. len Mittel nicht ausreichen, um alle Menschen, Und es ist wichtig, die Öffentlichkeit noch stär- die Hilfe benötigen, zu unterstützen. ker zu informieren. Wir dürfen als Psychothe- rapeut*innen in den Traumazentren nicht nur Wir haben in der westlichen Welt auch ein Bild in unseren eigenen Kreisen bleiben. Denn wir von Psychotherapie entwickelt, das nicht im- wissen, dass wir wichtige Arbeit leisten. Aber mer für alle Fälle funktioniert. Wir sind in un- die Welt weiß das oftmals nicht, wie wichtig serer Arbeit manchmal ratlos, weil die Vorstel- die Arbeit der Psychosozialen Zentren und lung vom Wesen der Psyche nicht universell der Traumazentren ist. Und zu einer guten ist und nicht immer überall gleich ist und die psychotherapeutischen Arbeit gehört auch Öf- Techniken, die wir gelernt haben, dann nicht fentlichkeitsarbeit. Wir müssen die Menschen immer funktionieren. Das ist eine Herausfor- sensibilisieren und sie dafür gewinnen, unse- derung auch für die Arbeit der Traumazentren. re Arbeit zu unterstützen und traumatisierten Wir müssen uns gesellschaftlich, politisch und Menschen zu helfen. wissenschaftlich mit der Tiefe des Traumas beschäftigen und auch mit den Auswirkun- Ich denke, es ist eine historische Pflicht der eu- gen von transgenerationalen und kollektiven ropäischen Gesellschaft, Menschen in Not zu Traumata auseinandersetzen. Denn die Aus- helfen. Und wenn das nicht vor Ort möglich ist, wirkungen dieser Traumata beeinflussen das weil es die Zustände dort nicht erlauben, dann individuelle Trauma. Das Trauma kommt aus müssen wir Möglichkeiten schaffen, damit die- der Gesellschaft und wir müssen eine gesell- se Menschen hier zu uns kommen können und schaftliche Lösung finden. Hilfe erhalten. Und dafür muss auch unser Ver- sorgungssystem entsprechend angepasst wer- Ein anderes Thema, das mich in der letzten den. Wir brauchen ein Gesundheitssystem, in Zeit beschäftigt, ist Gerechtigkeit. In der Psy- dem auch Dolmetscher*innen bezahlt werden, chotherapie sagen wir, dass wir keine Gerech- in dem Fachkräfte entsprechend vorhanden tigkeit herstellen können. Aber das Thema ist sind und Sonderzulassungen erlaubt sind, um für die Klient*innen und Patient*innen beson- Kapazitäten zu erweitern. All dies ist nötig, um ders wichtig. Sie fragen, wie sie eine Wieder- zu einer gesunden Integration beizutragen. Wir gutmachung erlangen können. Und gerade können Geflüchtete nicht nur durch die Politik auch im kulturellen Zusammenhang ist das auffordern lassen, dass sie sich integrieren und ein wichtiges Element. Wir forschen derzeit zu Teil dieser Gesellschaft werden sollen. Son- Wiedergutmachungsmöglichkeiten, denn nur dern müssen diese Menschen vielmehr auch so kann auch langfristig eine Versöhnung ent- die Möglichkeit bekommen, gesund zu wer- stehen. den, damit sie sich integrieren und sich hier ein gutes Leben aufbauen können. 9
Psychotherapeutische und psychosoziale Arbeit mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen Veronika Herz, Dipl.-Sozialpädagogin, Refugio Villingen- Schwenningen e.V. Manchmal werden Fragen laut, warum braucht Prozent auch in der psychosozialen Arbeit und es Sozialpädagogik und psychosoziale Unter- einer Asylverfahrensberatung eingebunden. stützung in der Arbeit mit traumatisierten Ge- flüchteten? Und warum braucht man es auch Aber was leistet die psychosoziale Arbeit? Zum in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen? einen geht es hier immer wieder um das The- Warum braucht man die psychosoziale Arbeit ma Clearing, zum anderen wird in der psycho- und die Psychosozialen Zentren? sozialen Arbeit bei uns im Zentrum stark das Case Management übernommen. Das heißt, Dazu möchte ich zuerst ein paar Zahlen vor- wir als Sozialarbeiter*innen versuchen, den stellen, wie viele Minderjährige und unbeglei- Psychotherapeut*innen ein Stück weit den tete Minderjährige im bundesweiten Schnitt in Rücken freizuhalten, indem wir sozial-, asyl- den Psychosozialen Zentren vertreten sind. rechtliche und behördliche Angelegenheiten herauslösen und indem wir Begegnungsräume Aus dem Versorgungsbericht der BAfF geht und Gemeinschaftserleben schaffen durch Ak- hervor, dass im Jahr 2016 in den Psychosozia- tionen, die wir innerhalb unserer Einrichtung len Zentren sieben Prozent begleitete Minder- anbieten. Darüber hinaus sorgen wir mit Ko- jährige und sieben Prozent unbegleitete min- operationspartner*innen mit dafür, dass eine derjährige Flüchtlinge behandelt wurden. Stabilität auch im Außen, sprich der Lebens- welt der Unterstützten entsteht. Das ist ein Bei Refugio Villingen-Schwenningen haben wir ganz wichtiger Faktor. Denn die Klient*innen insgesamt 26 Prozent unbegleitete Minderjäh- bringen natürlich Anliegen mit, die vom origi- rige und Kinder und Jugendliche – unbegleite- nären Auftrag her nicht unbedingt alle in der te Minderjährige zählen wir bis 21 Jahren dazu, Therapie zu bearbeiten sind. Und insofern ar- weil einige dieser jungen Menschen dann noch beiten wir hier in diesem Spannungsfeld, das Jugendhilfe erhalten. Damit liegen wir mit un- ich hier als Triangel dargestellt habe. serem Zentrum auch etwas über dem Schnitt der Zentren in Baden-Württemberg. Dort liegt Abgesehen von der Bearbeitung der Sympto- der Durchschnitt bei 9 Prozent – in der Statis- me, wird nachgefragt, was bei den Klient*in- tik von 2018. Von diesen 26 Prozent Minder- nen im Leben derzeit im Vordergrund steht. jährigen, Kindern und Jugendlichen sind 60 Da werden – wenn wir in diesem Bild bleiben Prozentualer Anteil von minderjährigen Klient*innen in den 32 Psychosozialen Zentren im Jahr 2016. © BAfF e.V. 10
– die verschiedenen Seiten der Triangel be- eine Basis und Perspektive aufzubauen. Wir sprochen und herausgearbeitet: Liegen die haben immer wieder Menschen bei uns, die Herausforderungen derzeit eher im Alltag, im ein Abschiebeverbot bekommen und ich gehe Lebensumfeld oder im Bereich des Asylverfah- davon aus, dass dies auch in anderen Psycho- rens? Es wird eruiert, was gebraucht wird von sozialen Zentren so ist. Ich arbeite in diesem den Klient*innen, damit in der Psychotherapie Bereich schon ein paar Jahre, aber 2019 hat- der Fokus komplett auf die therapeutische Ar- te ich den ersten Fall, bei dem es so war, dass beit gelegt werden kann. Dementsprechend ist das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge es notwendig, dass wir in der psychosozialen (BAMF) den Fall noch einmal komplett auf- Arbeit diese Felder auch anschauen. gerollt hat. Und ich gehe davon aus, dass es in den kommenden Jahren zunehmen wird, Bei uns im Zentrum sind die Asylverfahrensbe- dass Aufenthaltstitel wieder in einem Wieder- gleitung und Integrationsarbeit sehr relevante aufgreifens- / Rücknahmeverfahren überprüft Bereiche, was an Bedarf in den letzten Jahren wird, insbesondere bei Menschen mit Abschie- deutlich zugenommen hat. Um dafür zu sor- beverbot und dafür müssen wir uns wappnen. gen, dass die Menschen auch eine Bleibepers- Solange die Menschen noch bei uns sind und pektive haben – abgesehen vom Asyl und den versorgt werden können, müssen wir ihnen Gesetzesverschärfungen (Stichwort Migrati- auch Hilfen und Informationen bieten. Und onspaket 2019) – ist es von großer Bedeutung, deshalb appelliere ich hier ganz deutlich, den dass wir den Menschen schon während sie bei Fokus immer wieder auf diese Themen zu le- uns in den Psychosozialen Zentren sind, eine gen und Menschen darin zu unterstützen, eine Unterstützung anbieten, dass die Weichen ge- langfristige Perspektive zu bekommen. stellt werden können, um hier in Deutschland Manfred Kiewald, Dipl.-Psychologe, Refugio Villingen- Schwenningen Im Bereich Kinderpsychotherapie erhalten wir Begegnung, Offenheit, Ermutigung und An- viele Anfragen aus Kindergärten und Schulen. regung – das sind Einstellungen, die hilfreich Wir erleben dabei immer wieder, dass dieses sind. Hilfemodell bei Eltern zu Irritationen führen kann und es sehr viel Aufklärungsarbeit be- Psychotherapie darf so früh als möglich be- darf, damit sie mitmachen und ihren Kindern ginnen. Unsere Erfahrung zeigt, dass wir bei eine Therapie ermöglichen. Es gibt anderer- Kindern relativ schnell, oft schon nach 10 bis seits viele Fälle, in denen die Eltern bereits im 15 Stunden Psychotherapie, wunderbare Fort- Psychosozialen Zentrum in Therapie angebun- schritte erreichen. Über traumatisierte Kinder den sind und ihre Kinder irgendwann kom- haben wir eben bereits von Herrn Kizilhan eini- men, weil sie ein Thema, was sie etwa in der ges gehört – es ist beeindruckend, wie Kinder Schule oder mit Freund*innen oder Zuhause ihre schrecklichen Erfahrungen verarbeiten beschäftigt, bearbeiten wollen. können. Wir versuchen in der Kinderpsychotherapie Bei uns werden Kinder in der Regel angemel- stets eine enge Zusammenarbeit mit den El- det, weil sie destruktives Verhalten oder see- tern, mit dem Kindergarten, der Schule und lischen Rückzug zeigen. Sie können sich nur den Integrationsmanager*innen oder den Mit- schwer oder manchmal gar nicht mehr auf das arbeiter*innen des Jugendamts zu gestalten, soziale Umfeld einlassen oder sich integrieren. u.a. im Rahmen von gemeinsamen Hilfeplan- Als Beispiel möchte ich von einem fünfjährigen gesprächen. Jungen erzählen, der vor mir sitzt und einfach nicht in der Lage ist, zu interagieren oder in Diagnostik ist oftmals schwierig, gerade, wenn irgendeiner Form Kontakt aufzunehmen oder Kinder bereits ab vier Jahren zu uns kommen. gar eine soziale Interaktion zu gestalten. Das Es ist wichtig, sich auf das Kind einzulassen war erschreckend. Nach drei, vier Monaten hat und eine sinngebende Beziehung herzustellen. er begonnen, sich zu öffnen und einzulassen, Aus meiner Erfahrung gelingt dann seelische so dass sich vieles zum Positiven hin veränder- Genesung. Es braucht in allen Fällen emoti- te. Und es war schön, dies zu sehen und die onale Sicherheit. Diese ist ein ganz zentraler erfreuliche Veränderung begleiten zu dürfen. Punkt, damit ein Kind ankommen und sich auf Es gibt inzwischen auch zahlreiche stärkende eine Therapie einlassen kann. Die Haltung der Methoden, die wir in der Kinderpsychothera- Psychotherapeut*innen ist: Bereitschaft zur pie einbringen können. Gerade kreative Ver- 11
fahren helfen bei Kindern gut, weil sie anregen sie leiden. Traumatisierte Kinder müssen ge- und lebendig machen. Die Freude als heilende schützt und gesehen werden, damit sie zu in- Energie ist in der Therapie mit traumatisierten nerer Ruhe finden können, sie brauchen Halt Menschen besonders wichtig. Sie dient als Ge- und Orientierung. Und das können wir ihnen in genpol gegen das viele Negative, welches die einer Kinderpsychotherapie bieten. jungen Menschen erlebt haben und worunter Andreas Mattenschlager, Dipl.-Psychologe, Psychologische Familien- und Lebensberatung Ulm Ich möchte Ihnen unser Kooperationsprojekt machen sollen und es zu etwas bringen sollen. vorstellen, das wir seit 2015 mit dem Behand- Wir erleben, dass die Kinder häufig sehr loyal lungszentrum für Folteropfer in Ulm, Refugio mit diesem Auftrag sind und entsprechend Villingen-Schwenningen und der Psychologi- tapfer schweigen und ehrgeizig versuchen, ih- schen Familien- und Lebensberatung in Ulm ren Weg auch tatsächlich zu gehen. durchführen. Wir haben seit 2015 die finanzi- elle Möglichkeit erhalten, mit traumatisierten 2015 haben wir bereits mit offenen Angeboten Flüchtlingskindern zu arbeiten. Den Kern stellt gestartet, um auch Kinder zu erreichen, die dabei die Einzelfallarbeit dar. Zu Beginn gab es sonst nicht zu uns finden würden. Wir haben viele Anmeldungen, vor allem von unbegleite- ein kunsttherapeutisches Atelier etabliert, das ten Minderjährigen, die sich an uns wandten. einmal in der Woche stattfindet. Wir machen Das lag sicher auch daran, dass die Unterbrin- sehr viele Gruppenangebote mit Kindern – teil- gung in den Jugendhilfeeinrichtungen und die weise auch mit den Eltern. Im Moment sind wir Vernetzung mit den Kolleg*innen dort dazu dabei, viele Kooperationen mit Schulen auf geführt haben, dass sie relativ schnell auf Hil- den Weg zu bringen. Das ist oft eine sehr gute febedarfe aufmerksam wurden und nach Un- Möglichkeit für die Eltern, Hilfen in Anspruch terstützung gesucht wurde. Es ist viel schwieri- zu nehmen, weil sie ein Signal aus der Schule ger, an die Kinder zu gelangen, die gemeinsam bekommen, dass dort etwas schief läuft mit mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen ihren Kindern und sie Unterstützung erhalten sind. können. Diese können sie deutlich einfacher und leichter annehmen, als wenn das nur aus Zu Beginn unseres Projektes haben wir sehr dem psychosozialen Bereich kommt. viel über unsichtbares Leiden geschrieben – darüber, dass Kinder in kollektivistischen Von Anfang an haben wir aber auch aufsuchen- Gesellschaften weniger mit ihren individuel- de Beratungsangebote durchgeführt. Wir sind len Bedürfnissen im Vordergrund stehen. Das systematisch in eine große Gemeinschaftsun- kann dazu führen, dass sie leichter übersehen terkunft in Ulm gegangen, wo zeitweise bis zu werden. Wir haben es häufig auch mit einer 900 Personen untergebracht waren. Dort ha- Parentifizierung der Kinder zu tun, d.h. sie ben wir mit Familien gesprochen und sie teils übernehmen Rollen in den Familien, die über- regelmäßig gesehen. Das war wichtig, um zu fordernd für sie sind, darunter auch die der sehen, wie es den Kindern geht und auch, um Eltern. Die Kinder können dann oftmals keine Vertrauen aufzubauen. So konnten wir sehen, Schwächen eingestehen oder zugeben, dass es welche Kinder besonders belastet sind und ihnen in diesen Rollen nicht gut geht. welche Kinder mehr Unterstützung brauchen, als sie bisher haben. Wir haben viel informiert, Wir haben zu Beginn des Projektes Anfang was es an Angeboten gibt und wo man weitere 2015 gesehen, dass es oftmals auch die Hel- Unterstützung finden kann. Und wir versuchen fer*innen waren, die die Kinder nicht im Blick früh zu sehen, was für Ressourcen die Kinder hatten. Der Fokus lag meist zuerst auf den Er- selbst mitbringen, welche Fähigkeiten und wachsenen. Es ging darum, die ersten, drin- Stärken sie haben. Das kann in der Therapie gendsten Bedürfnisse abzudecken – die Kinder dann ganz wunderbar genutzt werden und die sind dann oftmals einfach mitgelaufen. Hier Kinder können dadurch weiter empowert wer- ändert sich zum Glück deutlich unsere Wahr- den. nehmung. Innerfamiliär ist es oft so, dass bei unbegleite- ten Minderjährigen die Eltern ihre Kinder als sehr stark erleben und ihnen einen Auftrag mit- geben, dass sie hier in Deutschland ihren Weg 12
13
Überlebende von Menschenhandel (Zwangsprostitution): Mobilisierung von Widerstandskräften in der Beratung und Psychotherapie Dipl.-Theologin Doris Köhncke, FrauenInformationsZentrum FIZ, Stuttgart Dipl.-Psychologe Dieter David, PBV Stuttgart, Zentrum der Beratung, Begutachtung & Psychotherapie für Überlebende traumatischer Gewalt Das FrauenInformationsZentrum (FIZ) und die In unserer Zusammenarbeit geht es meist um PBV Stuttgart arbeiten in vielen Fällen Hand in Betroffene von Menschenhandel, speziell mit Hand. Wie das gelingt, werden wir kurz vorstel- dem Fokus auf Zwangsprostitution. In unserer len. Beratungsarbeit im FIZ und der PBV Stuttgart beraten wir Betroffene aus ganz verschiede- Das Fraueninformationszentrum ist eine Fach- nen Ländern. Es gibt Betroffene aus Deutsch- beratungsstelle für Migrantinnen und geflüch- land, aus europäischen Ländern und in den tete Frauen. Ein spezifischer Teil unserer Arbeit letzten Jahren auch eine große Gruppe aus ist die Arbeit mit Betroffenen vom Menschen- vorwiegend westafrikanischen Ländern. Oft- handel. Wir bieten psychosoziale Beratung, mals sind das Frauen, die über Menschenhan- Case Management und auch Asylverfahrens- del aus Nigeria und Nachbarländern berichten. beratung bei Frauen im Asylverfahren an. Der Im FIZ haben wir im Jahr 2018 136 Betroffene Träger des FIZ ist der Verein VIJ, der sich das von Menschenhandel begleitet, davon waren Motto „Vielfalt, Integration, Jetzt“ gegeben 82 Frauen im Asylverfahren. Von diesen 136 hat und Mitglied des Diakonischen Werkes waren 80 Prozent der Frauen aus Nigeria. Württemberg ist. Wir kooperieren mit der PBV insbesondere bei Fällen, in denen Frauen psy- Die Frauen kommen dabei größtenteils aus chosomatische Beschwerden haben und the- prekären Ausgangssituationen, häufig familiär rapeutische Unterstützung wünschen. schwierigen Situationen, sind emotional und oftmals auch ökonomisch stark belastet. Das PBV Stuttgart ist ein Zentrum, das psycho- logische und medizinische Beratung, Begut- Viele der Frauen sind in einem gewaltvollen achtung und Psychotherapie für Überlebende Umfeld aufgewachsen, oftmals sind die Mäd- traumatischer Gewalt anbietet. Wir beraten chen schon frühzeitig weggegeben worden nicht nur Geflüchtete, sondern auch andere und die Jugend war dann durch Gewalter- Gruppen, absolut jede*n, der*die traumati- fahrungen geprägt. Sie geraten dann an Men- sche Gewalt (Gewalterlebnisse, die mit Todes- schenhändler*innen, die sie gefügig machen nähe verbunden ist) überlebt hat, kann zu uns und dafür oftmals die biografischen Merkmale kommen. Unser Träger ist die Evangelische Ge- der Frauen und gerade diese frühen Gewalter- sellschaft Stuttgart, die wiederum Mitglied des fahrungen und die familiären Bindungen mit Diakonischen Werks Württemberg ist. Neben einbeziehen. der klinischen Arbeit – wie medizinische und psychologische Therapie und psychologische Bei Menschenhandel wird in der Regel die Not, sowie psychiatrische Begutachtung – legen wir die Armut oder auch die Gewaltsituationen, in sehr viel Wert darauf, dass durch therapiebe- denen Frauen, Männer und auch Kinder leben, gleitende Maßnahmen (in homogenen Grup- ausgenutzt. Jemand nimmt wahr, dass es da pen) Ressourcen also persönliche und externe jemanden in einer schwierigen Lage gibt, und Widerstandskräfte (nach A.Antonovsky) unse- bietet „Hilfe“ an. Diese Hilfe ist eine Täuschung. rer Patientinnen und Patienten aktiviert und Es werden Arbeit und eine gute Zukunft ver- mobilisiert werden. sprochen, so dass die Menschen ihr Leben 14
verbessern können. Aus diesen Gründen sa- zu einem gesicherten Aufenthaltsstatus. Wir gen die Frauen dann auch zu und freuen sich, geben den Frauen Informationen zu ihren dass sie beispielsweise einen Job in Italien als Rechten und erläutern Handlungsmöglich- Friseurin annehmen, Geld verdienen und viel- keiten, z.B. auch, die Polizei zu rufen, wenn leicht noch einmal zur Schule gehen können. sie akut von Gewalt bedroht oder betroffen Sie hoffen darauf, ihre Familie unterstützen zu sind. Wir versuchen, mit den Frauen ihre Men- können. Doch die Realität sieht dann ganz an- schenhandelserfahrungen aufzuarbeiten. Die ders aus. Fast 70 Prozent der Frauen berichten, psychologische Beratung machen die Kol- dass ihr Weg über Libyen oder andere arabi- leg*innen vom PBV, wir vom FIZ kümmern sche Staaten geführt hat, in denen sie das erste uns vorwiegend um das Asylverfahren und Mal gezwungen wurden, als Sexarbeiterinnen eventuelle Verwaltungsgerichtsverfahren, in zu arbeiten. Die Berichte über die – vor allem denen das Erlebte relevant ist. Wir bereiten sexuelle – Gewalt, die insbesondere schwarze sie auf die Anhörungen bei Gericht vor, damit Frauen dort erlebt haben, sind so brutal, dass sie ihre Erinnerungen strukturieren können selbst einige unserer Therapeut*innen da an und verfassen sehr ausführliche Stellungnah- ihre Grenzen stoßen. men, in denen wir auch den Weg der Frauen schildern und unsere fachliche Bewertung ab- In Europa geraten sie ebenfalls in Ausbeu- geben. Darin erläutern wir auch, wie sich der tungssituationen, sie müssen immens hohe, Menschenhandel vollzieht und wo die weite- fiktive „Schulden“ zurückzahlen, werden zur re Gefährdung für die Frauen liegt. In diesem Prostitution gezwungen – häufig auch mit Ge- Prozess ist es uns wichtig, zu würdigen, was walt. Die Frauen werden im Grunde wie Skla- die Frauen erlebt – und überlebt – haben. Zum vinnen oder wie Dienstmägde gehalten und einen, das Leid, die Scham und Schuldgefühle über Jahre hinweg sehr schlecht behandelt anzuerkennen, zum anderen auch die Stärken und systematisch ausgebeutet. zu sehen. Gerade, wenn es um sexuelle Aus- beutung geht, spielt Scham eine große Rolle. Die Betroffenen sind meist extrem psychisch Wir versuchen, diese Schamgefühle zu lösen, als auch körperlich gezeichnet und leiden un- soweit das möglich ist. ter akuten Formen verschiedener Traumafol- gestörungen, unter anderem auch unter Post- Im Menschenhandelssystem kommen Frauen traumatischer Belastungsstörung (PTBS) oder oftmals aus einem religiösen Umfeld. Das wird akuten vorübergehenden psychotischen Stö- von den Täter*innen ausgenutzt und ihnen da- rungen. Viele leiden auch unter psychosoma- mit extrem viel Angst gemacht. Wir versuchen, tischen Symptomen, die weit in die Kindheit sie auch religiös oder spirituell zu stärken, da- zurückreichen können. mit sie sich selbstbewusst aus dieser Ausbeu- tung befreien können und befreit weiterleben Im FIZ leisten wir psychosoziale Beratung und können, ohne sich schuldig zu fühlen. Case Management, was den Frauen Sicherheit und Stabilität vermittelt. Wir beraten aufent- In der Beratung und Therapie in der PBV Stutt- haltsrechtlich und schaffen es im Idealfall bis gart wird primär mit traumafokussierter Psy- 15
chotherapie gearbeitet. Auch die Zusammen- pen regelmässig teilnehmen, sich die Dauer arbeit mit Mediziner*innen (FÄ für Psychiatrie der psychologische ambulante Traumathera- und FÄ für Kardiologie und internistische Me- pie um durchschnittlich 25 Prozent verkürzt. dizin haben regelmässige Sprechstunden in Wir werden somit durch die Arbeit der Trai- unserem Zentrum) )ist besonders wichtig, um ner*innen in den Rehagruppen sehr entlastet. körperliche Leiden von psychosomatischen Beschwerden zu unterscheiden, ihre Wider- Oftmals beziehen wir auch religiöse Aspekte standskräfte zu stärken. mit in die Beratungen mit ein, da beinahe alle unserer Klient*innen aus afrikanischen Län- In der PBV arbeiten wir seit sieben Jahren viel dern, die zu uns kommen, einer katholischen mit Rehagruppen. Es sind dies therapiebeglei- oder neo-protestantischen Glaubensrichtung tende Massnahmen wie Mal- oder Zeichen- angehören und tiefgläubige Frauen sind. Wir gruppen, Gruppen Selbstverteidigung unter versuchen, sie wieder zu stärken, damit sie anderem auch für die jesidischen Frauen (ehe- sich wieder eine vitale Lebensperspektive auf- malige Sex-oder Arbeitssklavinnen der Terror- bauen können. Und auch wieder menschliche miliz IS) und deren Kinder. In diesen Rehagrup- Verbundenheit erfahren zu können. Viele der pen werden keine psychotherapeutischen Frauen möchten sich gerne verlieben und Kin- Interventionen durchgeführt, Die Klient*innen der haben. Aber sie haben Angst, sich Männern können in diesen Gruppen u.a. Selbstvertei- zu öffnen, weil sie diese Lücke in ihrer Biografie digung für Frauen erlernen, Malen, Zeichnen haben, die Jahre der Zwangsprostitution, die oder auch Badminton spielen lernen oder in sie oftmals verschweigen müssen. Das Wich- der Schneiderwerkstätte Grundlagen dieses tigste ist dann, dass sie das Gefühl erhalten, Handwerks üben. In diesem Bereich erleben wieder Kontrolle über ihr Leben zu erlangen. unsere Klient*innen den nicht-klinischen, also Und dass ist als geflüchtete Person im Exilland non-pathologischen Bereich der PBV Stutt- Deutschland auch nicht immer einfach. Wir gart. Es gibt dort eine offenere Atmosphäre versuchen aber sie auf diesem Weg so gut es und wir haben festgestellt, dass sich bei denje- geht und respektvoll zu unterstützen. nigen Klient*innen, die auch an den Rehagrup- 16
17
Aus der IS-Gefangenschaft nach Baden-Württemberg: Evaluation des Sonderkontingents für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak Jana Denkinger, M.Sc. Psychologin, Abteilung für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Tübingen Im Nordirak ist am 3. August 2014 der Isla- So wie es dieser jungen Frau ergangen ist, die mische Staat im Sindschar-Gebirge, an der mit 17 Jahren dann nach Deutschland kam, Grenze zu Syrien, eingefallen. Die dortige Be- ist es auch sehr vielen anderen Jesidinnen er- völkerung, die vor allem aus Jesid*innen be- gangen. Hochrechnungen zufolge handelte es stand, ist ihm zum Opfer gefallen. Wir haben sich ungefähr um 6.800 Jesid*innen, die ent- im Rahmen der Evaluation, die wir am Unikli- führt wurden – vor allem Frauen und Kinder. nikum Tübingen durchgeführt haben, viele In- Zeitgleich wurde ein Großteil der männlichen terviews mit Überlebenden geführt. Aus einem Bevölkerung direkt umgebracht, etwa 3.100 dieser Gespräche mit einer jungen Frau möch- Menschen im August 2014. Viele konnten nach te ich berichten. Sie war ungefähr 15 Jahre alt monatelanger Gefangenschaft fliehen. Schät- und sie hat uns die Geschehnisse beschrieben: zungen zufolge waren dies 4.300 Jesid*innen. „Ich bereitete mich gerade auf meine Der Genozid an den Jesid*innen fand im Au- Abschlussklausuren für die 9. Klasse gust 2014 statt. Bereits zwei Monate später, vor, als der IS in unsere Region ein- im Oktober 2014, wurde das Sonderkontin- drang. Ich schaute nach draußen und gent für besonders schutzbedürftige Frau- sah, dass die Straßen voller Menschen en und Kinder aus dem Nordirak durch das waren, die aus dem Dorf rannten. Also Staatsministerium Baden-Württemberg ge- versuchten auch wir zu fliehen. Der schaffen. Die ersten Frauen konnten Anfang Weg war voller Menschen. Ein Auto 2015 nach Deutschland gebracht werden. Als stellte sich uns in den Weg. Plötzlich Zielgruppe wurden 1.100 Frauen und Kinder kamen zwei IS-Kämpfer auf uns zu. Sie angeführt, die nach Deutschland gebracht verlangten all unser Geld, unser Gold werden sollten. 1.000 von ihnen wurden von und unsere Handys. Ich glaubte noch Baden-Württemberg aufgenommen, 100 von daran, dass sie uns wieder gehen las- Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Das sen. Ich konnte nicht klar denken. Um Projekt war zunächst auf drei Jahre angelegt. 5 Uhr nahmen sie alle Mädchen von 10 Ziel dabei war es, die Aufgenommenen in si- bis 30 Jahren und steckten sie in Busse cherer Umgebung medizinisch, pädagogisch nach Mossul.“ und psychotherapeutisch zu versorgen und am Ende des Projekts einen Übergang in die Sie berichtete dann weiter, wie sie in Mossul Regelversorgung zu ermöglichen. Wir haben ankam und sie sagte: das Projekt am Uniklinikum Tübingen wis- senschaftlich begleitet und vor allem die Ver- „Um 12 Uhr kamen wir in Mossul an sorgung analysiert. Dabei ging es uns um die und wurden in eine große Sporthalle psychosoziale und die psychotherapeutische gebracht. Drei Stockwerke voller je- Versorgung, aber auch Belastungen, Bedarfe sidischer Frauen. IS-Kämpfer kamen und Ressourcen, die vorhanden waren, und und zitierten Verse aus dem Koran. zwar von drei Gruppen: den Frauen, den auf- Sie sagten uns, wir sollen unser altes genommenen Kindern und den im Projekt täti- Leben vergessen, unseren Familien- gen Mitarbeiter*innen. namen und die ganze Vergangenheit. Wir würden jetzt ein neues Leben be- ginnen.“ 18
Bilder von den jessidischen Kindern über ihre Zeit im Irak und in Deutschland. © Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen 19
Für die Evaluation haben wir drei Studien der Frauen überschritten in ihren Angaben ei- durchgeführt. Begonnen wurde im April 2017 nen kritischen Wert zum Zeitpunkt der ersten mit einer Befragung der Mitarbeiter*innen. Befragung 2017. Bei einer zweiten Erhebung Bei einem Netzwerktreffen wurden Frage- ein Jahr später ergab sich im Mittel keine Ver- bodenerhebungen durchgeführt, erweitert änderung. durch Einzel- und Fokusgruppeninterviews. Anschließend wurde eine Befragung der Frau- Ähnliches zeigt sich auch bei den Kindern. Mit en durchgeführt, bei der wir mit 116 Frauen ihnen haben wir verschiedene Bilder gemalt sprechen konnten. Es gab hierzu verschiedene über ihre Zeit im Irak und in Deutschland im Fragebögen und offene Interviews. Ergänzend Vergleich. Dabei wurde deutlich, wie präsent wurde im Oktober 2018 ein kleines Malprojekt die Bilder aus dem Irak noch sind. organisiert, um eine Untersuchung mit den Kindern durchführen zu können. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Mitarbeitenden, die mit den Frauen und Kin- Ich möchte ein paar der zentralen Ergebnisse dern tagtäglich arbeiten. Bei der ersten Be- vorstellen: In den Interviews mit den Frauen fragung haben wir überprüft, wie hoch die wurde eine enorme Bandbreite an Gewalter- Prävalenz der Sekundärtraumatisierung bei fahrungen deutlich. Die Interviews wurden in- den Mitarbeiter*innen ist, also die Übertra- haltsanalytisch ausgewertet und es konnten 19 gung von posttraumatischen Symptomen wie Kategorien verschiedener Gewalterfahrungen Intrusionen, Vermeidung und Übererregung. identifiziert werden. Die Erfahrungen reichten In der Befragung kam raus, dass etwa ein Vier- von Überfällen, Raub, sexualisierter Gewalt, tel (23 Prozent) der Mitarbeitenden sich selbst Körperverletzung hin zu Folter und Menschen- so stark belastet gefühlt haben, dass man von handel. Es zeigt eine enorme Bandbreite, was Sekundärtraumatisierung sprechen kann. Das die Frauen in durchschnittlich 6,8 Monaten Ge- ist auf den ersten Blick kein erfreuliches Bild. fangenschaft durchleben mussten. Wir sind zu Es gibt aber auch noch eine andere Seite und dem gleichen Ergebnis gekommen, wie auch zwar, wenn man sich die Arbeitszufriedenheit die UN schon 2016: es handelt sich um einen der Mitarbeitenden anschaut. Diese ist sehr Genozid, der ausgeführt wurde, um systema- hoch. Es gab keine*n einzige*n Mitarbeiter*in, tisch das Jesid*innentum zu zerstören. Das hat die*der im unterdurchschnittlichen Bereich natürlich Folgen für die Betroffenen. lag mit der Arbeitszufriedenheit – trotz der enormen Belastung. Ungefähr die Hälfte liegt Wir haben bei den Befragungen mit den Frau- im durchschnittlichen Bereich der Arbeitszu- en auch Fragen zu PTBS gestellt. 93 Prozent friedenheit und ungefähr die Hälfte liegt im Bilder von den jessidischen Kindern über ihre Zeit im Irak und in Deutschland. © Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen 20
Bilder von den jessidischen Kindern über ihre Zeit im Irak und in Deutschland. © Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen 21
Bilder von den jessidischen Kindern über ihre Zeit im Irak und in Deutschland. © Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen überdurchschnittlichen Bereich. Wenn wir ausgelegt. Oftmals waren die Männer zu dem uns einen Vergleich anschauen zwischen den Zeitpunkt der Befragung noch vermisst, einige Mitarbeitenden im Sonderkontingent und Mit- waren wieder aufgetaucht, wurden aber nicht arbeitenden der regulären Flüchtlingsversor- mit ins Projekt aufgenommen. Es wurde den gung, zeigt sich, dass die Mitarbeiter*innen im Frauen kommuniziert, dass ihre Männer im Sonderkontingent sogar weniger belastet sind Rahmen des Familiennachzugs nachkommen als Mitarbeiter*innen der regulären Versor- können. Aber dies gestaltete sich nicht so ein- gung. Dies ist ein interessantes Ergebnis, da es fach, wie sich die Frauen das erhofft haben. Es sich bei den Aufgenommenen im Sonderkon- wurde auch kritisiert, dass es Familienmitglie- tingent um eine extrem stark traumatisierte der gab, die schon in Deutschland waren, aber Patient*innengruppe handelt. aufgrund der Regelungen des Sonderkontin- gents nicht mit den Frauen zusammenziehen Die Zufriedenheit zeigt sich auch in der Gruppe konnten. der befragten jesidischen Frauen. Obwohl sie auch nach einigen Jahren in Deutschland noch Bei den Kindern haben wir die Bilder zum stark belastet sind, antworteten 91 %, dass sie Nordirak mit den Bildern zu Deutschland ver- hier und mit dem Projekt sehr zufrieden sind. glichen. Viele der Kinder haben sehr positive Die drei am häufigsten genannten Gründe Bilder über ihr Leben in Deutschland gemalt. hierfür waren Sicherheit (keine Angst zu ha- Einige haben eine Schule gemalt, oder das ben, umgebracht zu werden), die Erfüllung der Fußballspielen. Ein Mädchen hat sich auf die Grundbedürfnisse (sichere Unterbringung, Es- Einkaufsmöglichkeiten in Deutschland bezo- sen, medizinische Versorgung, der Zugang zu gen und dazu gesagt: „Deutschland ist Sicher- Bildung) und eine bessere Zukunft für die Kin- heit und dass wir Essen bekommen.“ Bei den der. In der Befragung wurde auch nach Kritik- Kindern sind es also sehr ähnliche Themen wie punkten gefragt. Von den Frauen wurden hier bei den Frauen. oft Probleme in der Unterbringung angegeben (viele Frauen und Kinder lebten auf zu engem Abschließend lässt sich sagen, dass man zwar Raum, die Standorte waren sehr unterschied- auf der einen Seite eine sehr hohe Belastung lich, es gab teilweise nur eine schlechte Anbin- bei den Frauen, bei den Kindern und bei den dung an den öffentlichen Nahverkehr und da- Mitarbeitenden sehen kann. Aber gleichzeitig mit geringere Anbindung an den öffentlichen auch eine sehr hohe Zufriedenheit mit dem Raum oder größere Städte), getrennte Fami- Sonderkontingent, mit dem Programm, mit lien und der Ausschluss der Verwandten im dem Leben in Deutschland und auch bei den Irak. Das Projekt war nur für Frauen und Kinder Projektmitarbeitenden mit ihrer Arbeit. 22
23
Nach der Europawahl: Wie wirkt sich das Wahlergebnis auf die europäische Migrationspolitik aus? Maximilian Pichl, Universität Kassel Es ist nicht einfach, zwei Tage nach der Euro- diese Europawahl ganz entscheidende Weg- pawahl zu umreißen, wie sich das Wahlergeb- marken dafür stellen wird, wie es mit der EU nis auf die zukünftige europäische Migrations- weitergeht. Das ist alles relativ komplex, aber politik auswirken wird. Das ist natürlich immer ich werde versuchen, Ihnen einige Antworten ein bisschen wie in die Glaskugel blicken. Ich zu präsentieren, wie sich dies auf die Migrati- will hier auch nicht so wirken wie die üblichen onspolitik der EU auswirken könnte. Politikwissenschaftler*innen auf Phönix, die ich nach Wahlen immer ganz schrecklich fin- Es steht u.a. die Frage im Raum, ob es zur de, weil sie irgendwelche halb garen Thesen Bildung einer neuen rechten Fraktion im Eu- in den Raum werfen. Und deswegen interes- ropäischen Parlament kommen wird. Es gibt sieren mich jetzt auch weniger diese perso- zu diesem Thema schon einige Vorarbeiten nellen Fragestellungen, die jetzt wieder durch aus den vergangenen Jahren. Ich werde hier die Presse gejagt werden. Daran sieht man, kurz umreißen, welches Migrationsprojekt die dass diese Europawahl wieder sehr national- Rechten im EU-Parlament verfolgen und was staatlich betrachtet wird. Denn es geht dabei das auch für die europäische Migrationspolitik auch ganz viel um die Zukunft der SPD- und insgesamt bedeutet. Zum Abschluss möchte CDU-Parteivorsitzenden etc. ich dann generell auf die EU-Migrationspolitik eingehen und die ganz konkreten Auswirkun- Das ist für unsere Fragestellung aber erst ein- gen von den Wahlergebnissen skizzieren. Hier- mal irrelevant. Ich will Ihnen hier eher einen zu werde ich auch versuchen, den aktuellen gewissen Parforceritt präsentieren durch die Stand des Gesetzgebungsprozesses in der Eu- verschiedenen Aspekte der europäischen ropäischen Union zu reflektieren. Migrationspolitik und vielleicht auch ein paar strukturelle Antworten geben, was sich jetzt Beginnen möchte ich mit ein bisschen Insti- durch diese Europawahl vielleicht verändert. tutionskunde, damit wir alle auf demselben Dieses Ergebnis ist ein kompliziertes Ergebnis Stand sind und wissen, warum diese Ergebnis- und sehr typisch für die europäische Union, se eigentlich auf welche Art und Weise relevant nämlich sehr uneindeutig. sind und was die grundlegenden Elemente des europäischen Gesetzgebungsverfahrens sind. Wie Sie vielleicht wissen, ist das europäische Das ist nicht ganz unwichtig, um zu verstehen, Migrations- und Flüchtlingsrecht vorrangig ge- wie das EU-Parlament gegenüber dem Europä- genüber dem nationalen Recht, das heißt seit ischen Rat aufgestellt ist und wie sich das aus- den 2000er Jahren hat die Europäische Union wirken wird auf die nächsten Gesetzgebungs- immer mehr Kompetenzen in diesem Bereich verfahren. Das europäische Recht besteht im hinzugewonnen. Wenn die Europäische Union Wesentlichen aus zwei Elementen – den Richt- in diesem Bereich auch gesetzgeberisch tätig linien und den Verordnungen. Richtlinien ken- wird, verdrängt das die nationalen Normen. nen Sie aus Ihrem Arbeitsbereich sicher mit der Von daher ist die Frage nach der Zukunft des EU-Aufnahmerichtlinie. Eine Richtlinie muss europäischen Migrationsrechts eine ganz zen- im Rahmen einer bestimmten Frist von den trale Frage auch für die Weiterentwicklung des einzelnen Mitgliedsstaaten umgesetzt werden. deutschen Asylsystems. Sie überlässt den Mitgliedsstaaten aber immer auch Ermessens- und Interpretationsspielräu- In meinem Vortrag möchte ich folgende Aspek- me. Das heißt, im nationalen Gesetzgebungs- te streifen: Zuerst betrachten wir die Ergebnis- verfahren können noch immer eigene Ausge- se und schauen, was sich da verschoben hat. staltungen erfolgen. Es ist ein Umsetzungsakt Diese Europawahl wurde bereits im Vorfeld durch den Nationalstaat. zur Schicksalswahl ausgerufen, vor dem Hin- tergrund des Brexits von Großbritannien. Vor Im Gegensatz dazu gelten Verordnungen auf dem Hintergrund des autoritären Rechtsrucks europäischer Ebene unmittelbar. D.h., wenn in der Europäischen Union wurde gesagt, dass die Europäische Union tätig wird, bedarf es kei- 24
nes weiteren Gesetzgebungsaktes in Deutsch- berisch aktiv zu werden. Das Europäische Par- land oder anderen Mitgliedsstaaten- Das eu- lament hat durch den Lissaboner Vertrag 2009 ropäische Recht wirkt dann aus sich selbst eine Stärkung erhalten. heraus. Als Beispiel hierfür möchte ich die Dublin-Verordnung nennen, die die Zuständig- Wenn die EU-Kommission einen Gesetzge- keit für Asylverfahren in Europa regelt. Diese bungsvorschlag auf den Weg gebracht hat, muss nicht noch einmal in den Mitgliedsstaa- dann gibt es ein Wechselspiel zwischen dem ten umgesetzt werden, sondern gilt unmittel- EU-Parlament und dem Minister*innenrat in bar. Europarecht steht über nationalem Recht verschiedenen Verfahrensstufen, bis am Ende und von daher sind auch diese Fragestellun- ein Gesetz der EU zustande kommt. Dieses gen über die Auswirkungen des europäischen Geflecht ist durchaus stark an einem Konsens Migrationsrechts dementsprechend relevant. ausgerichtet und basiert daher auf vielen Kom- promissen. Dies führt dazu, dass die einzelnen Wie kommt es also zu Richtlinien und Verord- Fraktionen und auch die einzelnen Abgeordne- nungen? Die Gesetzgebung in Europa zeich- ten einen extrem großen Einfluss auf die euro- net sich durch ein institutionelles Dreieck aus, päische Gesetzgebung haben. Deshalb ist auch bestehend aus Europäischer Kommission, die Frage, wer ins EU-Parlament geschickt Europäischem Parlament und EU-Rat (auch wird, besonders relevanter. Die einzelnen Ab- Minister*innenrat genannt). Die Europäische geordneten im Europäischen Parlament haben Kommission wird diskutiert als europäische viel mehr Möglichkeiten, weil sie als Berichter- Regierung. Aus allen EU-Mitgliedsstaaten wer- statter*innen in den Verfahren darauf Einfluss den Kommissar*innen benannt, die dann ein- nehmen können, wie diese Gesetzgebungen zelne Gesetzgebungsvorschläge auf den Weg vonstattengehen. bringen können. Das Europäische Parlament wird direkt gewählt bei den Europawahlen Ein guter Film, der das anschaulich zeigt, ist von allen wahlberechtigten EU-Bürger*innen. „Democracy“, ein Dokumentarfilm, der die Der Minister*innenrat besteht aus je einer*m Gesetzgebung zur neuen Datenschutzgrund- Vertreter*in pro Mitgliedsstaat. In diesem ins- verordnung (DSGVO) filmisch darstellt. Dort titutionellen Dreieck läuft das europäische Ge- kann man wirklich gut sehen, wie dieses euro- setzgebungsverfahren ab und es kann immer päische Gesetzgebungsverfahren funktioniert. nur von der Europäischen Kommission aus- gehen, sie hat das Initiativrecht. Diese stark Ich möchte kurz die Europawahl 2014 in Er- exekutiv beeinflusste Gesetzgebung wird in- innerung rufen und die Kräfteverteilung im nerhalb der Europäischen Union oft kritisiert. EU-Parlament anschauen. Diese war sehr klas- Das EU-Parlament kann aber der Kommission sisch verteilt. Es gab eine Mehrheit von der antragen, in bestimmten Bereichen gesetzge- Europäischen Volkspartei (EVP) – zu dieser ge- © S. Hermann & F. Richter // pixabay.de 25
hören in Deutschland die CDU und CSU – und die Parteipräferenzen in den einzelnen Mit- den Sozialist*innen und Sozialdemokrat*in- gliedsstaaten sind. Die Sozialdemokrat*innen nen – zu denen die SPD gehört. Die EVP hatte und Sozialist*innen haben noch die Mehrheit einen schmalen Vorsprung gegenüber den So- in Portugal, Spanien, Schweden und den Nie- zialdemokrat*innen. Was interessant war, ist, derlanden errungen. In Frankreich und Italien dass es gleich drei rechte oder nationalkonser- haben wir Wahlgewinner*innen aus dem ext- vative Fraktionen gab – je nachdem, wie man rem rechten Lager – also der Rassemblement sie betiteln mag. Das waren die ECR, die EFDD Nationale, der vorherige Front Nationale unter und die ENS. Zusätzlich waren noch die Libera- Marine Le Pen, lag in Frankreich vor En Marche len mit der ALDE im EU-Parlament als Fraktion von Emmanuel Macron. Matteo Salvini mit der vertreten - mit der FDP in Deutschland – sowie Lega Nord hat auch sehr deutlich in Italien ge- die Grünen und die GUE/NGL mit der europäi- wonnen. Wir haben auch eine Bestätigung der schen Linken. Die Sitzverteilung war mit einer PiS-Regierung in Polen, die ja sehr umstritten klaren Mehrheit der Europäischen Volkspartei ist und mit Rechtstaatsverfahren seitens der und der Sozialdemokrat*innen. Diese beiden Europäischen Union konfrontiert ist. Auch in Fraktionen haben auch in den vergangenen 40 Belgien gab es einen Wahlerfolg der extrem Jahren der Europäischen Union aufgrund die- Rechten. ser absoluten Mehrheit im EU-Parlament im- mer sehr stark auch die Posten in der EU-Kom- Und dann haben wir viele Gewinne der EVP, mission geprägt. also beispielsweise in Deutschland mit der CDU. Ungarn ist noch ein Sonderfall, auf den Diese Verteilung hat sich mit der Europawahl wir noch zu sprechen kommen. Denn die Par- 2019 doch stark verändert. Es gibt massive tei Fides von Viktor Orbán wurde anfangs noch Abstürze sowohl bei der Europäischen Volks- rein formal zur Europäischen Volkspartei ge- partei als auch bei den Sozialdemokrat*innen zählt, da sie bis zu dieser Wahl dort vertreten – teilweise hier mit fast 40 verlorenen Sitzen. waren. Mit ihren 13 Abgeordneten stellt sich Dies liegt auch daran, dass manche ur-sozi- noch die Frage, ob sie in dieser Fraktion vertre- aldemokratischen Parteien in der EU pulver- ten bleiben. isiert wurden. So etwa die Sozialist*innen in Frankreich, die auch traditionell eine der Wie wurde in Deutschland gewählt? In den Ta- wichtigsten Parteien für die EU waren. Viele gen nach der Wahl gab es eine große Debatte EU-Kommissionspräsident*innen und EU-Be- über die Grünen als große Erfolgssieger bei amt*innen stammten aus der Sozialistischen dieser Wahl. Sie haben dort auch ihr histo- Partei Frankreichs. Diese wurden durch Em- risch bestes Ergebnis errungen. Aber dies ist manuel Macron uns sein En Marche-Bündnis natürlich auch eine sehr westdeutsche Erzäh- jedoch pulverisiert und stehen in Frankreich lung. Denn wenn man sich Ostdeutschland nur noch bei fünf Prozent. Auch die deut- anschaut, hat vor allem die AfD in vielen Lan- schen Sozialdemokrat*innen haben stark zu desteilen die meisten Stimmen erhalten. Und kämpfen. Es gibt einen erheblichen Zuwachs man muss sich nochmal klarmachen, dass bei der liberalen Fraktion. Das kommt vor al- wir 2019 auch die Landtagswahlen in Thürin- len Dingen dadurch zustande, dass hier viele gen, Brandenburg und Sachsen haben. Und Stimmen von diesem En Marche-Bündnis von in Sachsen und Brandenburg stand die AfD in Emmanuel Macron eingehen – also vor allem Umfragen vor der CDU. In Bayern hat die CSU ein Zuwachs auf Kosten der Sozialdemokratie weiterhin die Mehrheit, da gibt es einige we- in Frankreich. nige grüne Hochburgen. Und die Sozialdemo- krat*innen haben insgesamt extrem schlecht Zusätzlich soll es eine neue Fraktion geben, abgeschnitten. Das muss man sich ein biss- die durch den italienischen Lega-Nord-Chef chen ins Gedächtnis rufen, wenn man die Me- Matteo Salvini initiiert wurde, die Allianz der dienberichterstattung über den Gewinn der europäischen Völker und Nationen. Diese hat Grünen gelesen hat. Es ist schon ein historisch ebenfalls erheblichen Zuwachs bekommen. einmaliges Ergebnis, denn die große Koalition Dies hängt damit zusammen, dass auch aus zwischen Europäischer Volkspartei und den anderen rechten Fraktionen Abgeordnete hin- Sozialdemokrat*innen wird keine Mehrheit über gewechselt sind. mehr im Europa-Parlament haben. Und das hat natürlich massive Auswirkungen auf die Auch die Grüne Fraktion hat einen deutlichen Besetzung der EU-Kommission. Hier wird dann Zuwachs bekommen, was Großteils auch an die Frage diskutiert werden müssen, wer die den Ergebnissen aus Deutschland liegt. Mehrheit für sich organisieren kann. Und wäh- rend man das früher noch ausdealen konnte Wenn wir uns anschauen, wie Europa gewählt – etwa bei der letzten Wahl, als Martin Schulz hat, sehen wir eine sehr große Spaltung, wie gesagt hat, er wird EU-Parlamentspräsident 26
Sie können auch lesen