Die flüchtige Würde Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten und Ausgrenzung

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Die flüchtige Würde Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten und Ausgrenzung
Die
          flüchtige
            Würde

Versorgung traumatisierter
     Geflüchteter zwischen
         Menschenrechten
          und Ausgrenzung
        Tagungsdokumentation der BAfF-Tagung
                   Stuttgart, 27.–29. Mai 2019
Die flüchtige Würde Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten und Ausgrenzung
Impressum

Herausgeberin
Bundesweite Arbeitsgemeinschaft
der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge
und Folteropfer – BAfF e. V.
Paulsenstraße 55–56, 12163 Berlin
Tel.:  +49 (0) 30 – 310 124 63
E-Mail: info@baff-zentren.org
Web:    www.baff-zentren.org

Redaktion & Layout: Daniela Krebs
Umschlagfoto: © CL. / photocase.de
Die in dieser Tagungsdokumentation enthaltenen Texte sind Transkriptionen der von den
Referent*innen gehaltenen Vorträge sowie deren Präsentationen. Die Rechte an den Inhalten
liegt bei den Referent*innen.
© BAfF e. V. 2020. Alle Rechte vorbehalten.

Die Tagung „Die flüchtige Würde“ wurde veranstaltet von der BAfF, der Landesarbeitsgemeinschaft Psy-
chosozialer Zentren in Baden-Württemberg und der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart.

Gefördert durch:

Diese Publikation wurde über das Projekt
„Traumatisierungsketten durchbrechen
– Handlungsunsicherheiten überwinden
– Schutzsysteme stärken“ aus Mitteln des
Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds
kofinanziert.
Die flüchtige Würde Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten und Ausgrenzung
Die flüchtige
Würde
Versorgung traumatisierter
Geflüchteter zwischen
Menschenrechten und
Ausgrenzung

Tagungsdokumentation

Stuttgart-Hohenheim,
27. – 29. Mai 2019

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Die flüchtige Würde Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten und Ausgrenzung
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Die flüchtige Würde Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten und Ausgrenzung
Die Flüchtige Würde
Eine adäquate gesundheitliche Versorgung ist ein Menschenrecht und ebenso eine Voraus-
setzung für eine gelingende Integration. Viele Geflüchtete benötigen Hilfe, um Kriegs- und Ge-
walttraumata zu überwinden. Aber gerade hier mangelt es an Rückhalt, an personellen, an
finanziellen Kapazitäten für diese Arbeit. Und leider deuten Gesetzesinitiativen wie das „Geord-
nete-Rückkehr-Gesetz“ zunehmende Tendenzen der Abschottung an den europäischen Außen-
grenzen sowie Entwicklungen wie die verhinderte Seenotrettung im Mittelmeer nicht gerade da-
rauf hin, dass sich das in absehbarer Zeit zum Positiven ändern wird. Der Titel der Tagung wurde
als „Die flüchtige Würde – Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten
und Ausgrenzungen“ scheint zunehmend Wiederhall zu finden in migrationspolitischen Entwick-
lungen Deutschlands und Europas. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen können wir nicht
oft genug daran erinnern, dass die gesundheitliche Versorgung von Geflüchteten kein Akt der
Güte, keine Geste der Großzügigkeit, kein Ausdruck des guten Willens ist. Es ist ein international
verbrieftes Menschenrecht und in diesem Sinne ein zentraler Wegweiser für staatliches Handeln
in der Migrationspolitik. Es ist daher umso wichtiger, dass wir uns zusammen über die aktuellen
Herausforderungen, über vorhandene Best Practice Ansätze im Feld auszutauschen und gege-
benenfalls neue Lösungen und Handlungsstrategien zu entwickeln, sowie diese dann auch an
entsprechender Stelle zu platzieren.

Die Tagung „Die flüchtige Würde. Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschen-
rechten und Ausgrenzung“ wurde gemeinsam organisisert und durchgeführt von der Bundes-
weiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer
(BAfF), der Landesarbeitsgemeinschaft Psychosoziale Zentren Baden-Württemberg und der
Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und fand vom 27. – 29. Mai 2019 im Tagungshaus
Stuttgart Hohenheim statt. Die Texte in dieser Tagungsdokumentation sind Transkriptionen der
Vorträge, die auf der Tagung von den Referent*innen gehalten wurden.

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Die flüchtige Würde Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten und Ausgrenzung
Die flüchtige Würde Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten und Ausgrenzung
Inhaltsverzeichnis

Vorwort..................................................................................................................... 8

Psychotherapeutische und psychosoziale Arbeit mit geflüchteten Kindern und
Jugendlichen.......................................................................................................... 10

Überlebende von Menschenhandel (Zwangsprostitution): Mobilisierung von
Widerstandskräften in der Beratung und Psychotherapie................................... 14

Aus der IS-Gefangenschaft nach Baden-Württemberg: Evaluation des
Sonderkontingents für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem
Nordirak.................................................................................................................. 18

Nach der Europawahl: Wie wirkt sich das Wahlergebnis auf die europäische
Migrationspolitik aus?............................................................................................ 24

Modellprojekt Sprachmittler*innenpool.............................................................. 34

Therapie und Beratung an der Seite der Betroffenen – (wie) wirken sich
emanzipatorische Ansätze in unserer alltäglichen Arbeit aus?........................... 40

Postulat Diversität der Finanzierung – Fachlichkeit optimieren, Selektion
verhindern.............................................................................................................. 44

Braucht es Verfahrensberatung im PSZ?............................................................... 52
Die flüchtige Würde Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten und Ausgrenzung
Vorwort

 Prof. Dr. Dr. Jan Ilhan Kizilhan,
 DHBW Villingen-Schwenningen
 Der Titel dieser Tagung lautet „Die flüchtige      Diese Hoffnung können wir alle vermitteln.
 Würde“ und über die Bedeutung der Würde            Und ich glaube, das ist auch ein Zeichen von
 wird viel gesprochen. Ich möchte in meiner Be-     Anstand und von Würde, eine Pflicht und ein
 grüßung über die Hoffnung sprechen.                Menschenrecht.

 Bis vor kurzem war ich noch im Irak. Dort          In den letzten sechs Jahren bin ich viel im Irak
 kommen langsam die letzten Frauen und              und in afrikanischen Ländern gewesen und
 Kinder frei, die zum Teil vier, fünf Jahre lang    bin dadurch politischer geworden. Mir wurde
 in IS-Gefangenschaft gewesen sind. Ich habe        dort bewusster, dass wir nicht einfach Men-
 dort die dreizehnjährige Sera getroffen. Sie       schen in einem geschlossenen Raum behan-
 konnte sich nicht erinnern, wer sie ist oder wo-   deln und uns nur damit beschäftigen können,
 her sie kommt. Sera kannte nur ihren Namen         wie wir Symptome reduzieren können. Trauma
 und sprach weder Kurdisch, noch Arabisch,          kommt aus der Gesellschaft und kann nicht
 sondern Tadschikisch. Sie war von einem            losgelöst davon betrachtet werden. Ich wer-
 IS-Kämpfer verschleppt worden, der einige          de nie die Worte eines achtjährigen Mädchens
 Jahre grausame Dinge mit ihr gemacht hat,          vergessen, die mir sagte: „Doktor, warum sind
 die sie alle verdrängt hat. Gerade heute habe      die Menschen so böse?“. Ich könnte Ihnen
 ich eine Mail von Sera bekommen und sie be-        jetzt hunderte Theorien aus der Aggressions-
 richtete darin, dass ihre Erinnerung wieder da     forschung erläutern, aber dennoch habe ich
 ist. Sie konnte sich wieder an die Namen ihrer     keine wirkliche Antwort auf diese Frage. Und
 Eltern erinnern und hat mittlerweile auch eini-    gleichzeitig weiß ich, dass in der Menschheits-
 ge Verwandte wiedergefunden. Ihre Mutter ist       geschichte über 500 Millionen Menschen durch
 allerdings noch in IS-Gefangenschaft.              Menschenhand umgebracht worden sind, 15
                                                    Millionen der indigenen Völker aus Süd- und
 Wir hören in unserer Arbeit immer wieder Er-       Nordamerika, 40 Millionen während der Zeit
 zählungen von Erlebnissen, die wir uns nicht       von Dschingis Khan, 60 Millionen während
 vorstellen können, Dinge, die so grausam sind,     des Zweiten Weltkrieges, und viele weitere.
 dass jeglicher gesunde Menschenverstand das        Menschen töten Menschen – und auch jetzt,
 nicht nachvollziehen kann. Im Irak haben wir       in diesem Augenblick, töten Menschen andere
 das Institut für Psychotherapie und Psychot-       Menschen. Das ist eine Realität, die wir sehen
 raumatologie an der Universität Dohuk im           müssen.
 Nordirak aufgebaut. Wir versuchen dort Psy-
 chotherapeut*innen nach dem deutschen Psy-         Ich sehe aber auch einen Hoffnungsschimmer:
 chotherapeutengesetz auszubilden, weil wir         Wir entwickeln uns weiter – zwar oft nur sehr
 glauben, dass wir auch direkt vor Ort helfen       langsam, aber auch das gehört zu unserem
 müssen. In der Zwischenzeit habe ich mehrere       Wesen als Mensch. Und vielleicht müsste man
 Tausend Frauen und Kinder gesehen.                 noch viel stärker für diese Veränderung kämp-
                                                    fen. Dafür stehen Sie als Mitarbeitende in den
 An dieser Stelle möchte ich Ihnen allen danken.    Psychosozialen Zentren auch ein. Sie lassen
 Denn ohne die Arbeit der Psychotherapeut*in-       sich nicht entmutigen, Sie kämpfen für die
 nen und Mitarbeiter*innen in den Psychosozi-       Menschen. Manchmal müssen wir aber auch
 alen Zentren hätten sehr viele Menschen oft-       Anfragen ablehnen, weil wir nicht ausreichend
 mals keine Hoffnung mehr. Wir merken, wie          Kapazitäten haben. Das haben wir auch am
 wichtig es für diese Menschen ist, für sie da zu   Beispiel jesidischen Frauen gesehen, die 2015
 sein. Und oft reicht es, einfach nur zuzuhören     nach Baden-Württemberg kamen. Viele von Ih-
 und bei den Menschen zu sein. Wenn wir etwa        nen aus den Psychosozialen Zentren und sehr
 mit den Frauen aus dem Irak zusammensitzen         viele Ehrenamtliche haben geholfen und die
 und ihnen zuhören und ihren Schmerz teilen,        Anteilnahme der Menschen war riesig – und
 dann bedanken sie sich oftmals dafür. Durch        ist es noch immer. Doch die Kapazitäten sind
 die Gespräche wissen sie, dass sie nicht allein    eben begrenzt. An dieser Stelle müsste noch
 sind. Und oft gibt ihnen das bereits Hoffnung.     mehr Druck auf die Politik ausgeübt werden,

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Die flüchtige Würde Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten und Ausgrenzung
weil das Personal nicht ausreicht, die finanziel-   Es ist wichtig, den Menschen vor Ort zu helfen.
len Mittel nicht ausreichen, um alle Menschen,      Und es ist wichtig, die Öffentlichkeit noch stär-
die Hilfe benötigen, zu unterstützen.               ker zu informieren. Wir dürfen als Psychothe-
                                                    rapeut*innen in den Traumazentren nicht nur
Wir haben in der westlichen Welt auch ein Bild      in unseren eigenen Kreisen bleiben. Denn wir
von Psychotherapie entwickelt, das nicht im-        wissen, dass wir wichtige Arbeit leisten. Aber
mer für alle Fälle funktioniert. Wir sind in un-    die Welt weiß das oftmals nicht, wie wichtig
serer Arbeit manchmal ratlos, weil die Vorstel-     die Arbeit der Psychosozialen Zentren und
lung vom Wesen der Psyche nicht universell          der Traumazentren ist. Und zu einer guten
ist und nicht immer überall gleich ist und die      psychotherapeutischen Arbeit gehört auch Öf-
Techniken, die wir gelernt haben, dann nicht        fentlichkeitsarbeit. Wir müssen die Menschen
immer funktionieren. Das ist eine Herausfor-        sensibilisieren und sie dafür gewinnen, unse-
derung auch für die Arbeit der Traumazentren.       re Arbeit zu unterstützen und traumatisierten
Wir müssen uns gesellschaftlich, politisch und      Menschen zu helfen.
wissenschaftlich mit der Tiefe des Traumas
beschäftigen und auch mit den Auswirkun-            Ich denke, es ist eine historische Pflicht der eu-
gen von transgenerationalen und kollektiven         ropäischen Gesellschaft, Menschen in Not zu
Traumata auseinandersetzen. Denn die Aus-           helfen. Und wenn das nicht vor Ort möglich ist,
wirkungen dieser Traumata beeinflussen das          weil es die Zustände dort nicht erlauben, dann
individuelle Trauma. Das Trauma kommt aus           müssen wir Möglichkeiten schaffen, damit die-
der Gesellschaft und wir müssen eine gesell-        se Menschen hier zu uns kommen können und
schaftliche Lösung finden.                          Hilfe erhalten. Und dafür muss auch unser Ver-
                                                    sorgungssystem entsprechend angepasst wer-
Ein anderes Thema, das mich in der letzten          den. Wir brauchen ein Gesundheitssystem, in
Zeit beschäftigt, ist Gerechtigkeit. In der Psy-    dem auch Dolmetscher*innen bezahlt werden,
chotherapie sagen wir, dass wir keine Gerech-       in dem Fachkräfte entsprechend vorhanden
tigkeit herstellen können. Aber das Thema ist       sind und Sonderzulassungen erlaubt sind, um
für die Klient*innen und Patient*innen beson-       Kapazitäten zu erweitern. All dies ist nötig, um
ders wichtig. Sie fragen, wie sie eine Wieder-      zu einer gesunden Integration beizutragen. Wir
gutmachung erlangen können. Und gerade              können Geflüchtete nicht nur durch die Politik
auch im kulturellen Zusammenhang ist das            auffordern lassen, dass sie sich integrieren und
ein wichtiges Element. Wir forschen derzeit zu      Teil dieser Gesellschaft werden sollen. Son-
Wiedergutmachungsmöglichkeiten, denn nur            dern müssen diese Menschen vielmehr auch
so kann auch langfristig eine Versöhnung ent-       die Möglichkeit bekommen, gesund zu wer-
stehen.                                             den, damit sie sich integrieren und sich hier ein
                                                    gutes Leben aufbauen können.

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Die flüchtige Würde Versorgung traumatisierter Geflüchteter zwischen Menschenrechten und Ausgrenzung
Psychotherapeutische und psychosoziale
 Arbeit mit geflüchteten Kindern und
 Jugendlichen

 Veronika Herz, Dipl.-Sozialpädagogin, Refugio Villingen-
 Schwenningen e.V.
 Manchmal werden Fragen laut, warum braucht                           Prozent auch in der psychosozialen Arbeit und
 es Sozialpädagogik und psychosoziale Unter-                          einer Asylverfahrensberatung eingebunden.
 stützung in der Arbeit mit traumatisierten Ge-
 flüchteten? Und warum braucht man es auch                            Aber was leistet die psychosoziale Arbeit? Zum
 in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen?                          einen geht es hier immer wieder um das The-
 Warum braucht man die psychosoziale Arbeit                           ma Clearing, zum anderen wird in der psycho-
 und die Psychosozialen Zentren?                                      sozialen Arbeit bei uns im Zentrum stark das
                                                                      Case Management übernommen. Das heißt,
 Dazu möchte ich zuerst ein paar Zahlen vor-                          wir als Sozialarbeiter*innen versuchen, den
 stellen, wie viele Minderjährige und unbeglei-                       Psychotherapeut*innen ein Stück weit den
 tete Minderjährige im bundesweiten Schnitt in                        Rücken freizuhalten, indem wir sozial-, asyl-
 den Psychosozialen Zentren vertreten sind.                           rechtliche und behördliche Angelegenheiten
                                                                      herauslösen und indem wir Begegnungsräume
 Aus dem Versorgungsbericht der BAfF geht                             und Gemeinschaftserleben schaffen durch Ak-
 hervor, dass im Jahr 2016 in den Psychosozia-                        tionen, die wir innerhalb unserer Einrichtung
 len Zentren sieben Prozent begleitete Minder-                        anbieten. Darüber hinaus sorgen wir mit Ko-
 jährige und sieben Prozent unbegleitete min-                         operationspartner*innen mit dafür, dass eine
 derjährige Flüchtlinge behandelt wurden.                             Stabilität auch im Außen, sprich der Lebens-
                                                                      welt der Unterstützten entsteht. Das ist ein
 Bei Refugio Villingen-Schwenningen haben wir                         ganz wichtiger Faktor. Denn die Klient*innen
 insgesamt 26 Prozent unbegleitete Minderjäh-                         bringen natürlich Anliegen mit, die vom origi-
 rige und Kinder und Jugendliche – unbegleite-                        nären Auftrag her nicht unbedingt alle in der
 te Minderjährige zählen wir bis 21 Jahren dazu,                      Therapie zu bearbeiten sind. Und insofern ar-
 weil einige dieser jungen Menschen dann noch                         beiten wir hier in diesem Spannungsfeld, das
 Jugendhilfe erhalten. Damit liegen wir mit un-                       ich hier als Triangel dargestellt habe.
 serem Zentrum auch etwas über dem Schnitt
 der Zentren in Baden-Württemberg. Dort liegt                         Abgesehen von der Bearbeitung der Sympto-
 der Durchschnitt bei 9 Prozent – in der Statis-                      me, wird nachgefragt, was bei den Klient*in-
 tik von 2018. Von diesen 26 Prozent Minder-                          nen im Leben derzeit im Vordergrund steht.
 jährigen, Kindern und Jugendlichen sind 60                           Da werden – wenn wir in diesem Bild bleiben

 Prozentualer Anteil von minderjährigen Klient*innen in den 32 Psychosozialen Zentren im Jahr 2016. © BAfF e.V.

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– die verschiedenen Seiten der Triangel be-         eine Basis und Perspektive aufzubauen. Wir
sprochen und herausgearbeitet: Liegen die           haben immer wieder Menschen bei uns, die
Herausforderungen derzeit eher im Alltag, im        ein Abschiebeverbot bekommen und ich gehe
Lebensumfeld oder im Bereich des Asylverfah-        davon aus, dass dies auch in anderen Psycho-
rens? Es wird eruiert, was gebraucht wird von       sozialen Zentren so ist. Ich arbeite in diesem
den Klient*innen, damit in der Psychotherapie       Bereich schon ein paar Jahre, aber 2019 hat-
der Fokus komplett auf die therapeutische Ar-       te ich den ersten Fall, bei dem es so war, dass
beit gelegt werden kann. Dementsprechend ist        das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
es notwendig, dass wir in der psychosozialen        (BAMF) den Fall noch einmal komplett auf-
Arbeit diese Felder auch anschauen.                 gerollt hat. Und ich gehe davon aus, dass es
                                                    in den kommenden Jahren zunehmen wird,
Bei uns im Zentrum sind die Asylverfahrensbe-       dass Aufenthaltstitel wieder in einem Wieder-
gleitung und Integrationsarbeit sehr relevante      aufgreifens- / Rücknahmeverfahren überprüft
Bereiche, was an Bedarf in den letzten Jahren       wird, insbesondere bei Menschen mit Abschie-
deutlich zugenommen hat. Um dafür zu sor-           beverbot und dafür müssen wir uns wappnen.
gen, dass die Menschen auch eine Bleibepers-        Solange die Menschen noch bei uns sind und
pektive haben – abgesehen vom Asyl und den          versorgt werden können, müssen wir ihnen
Gesetzesverschärfungen (Stichwort Migrati-          auch Hilfen und Informationen bieten. Und
onspaket 2019) – ist es von großer Bedeutung,       deshalb appelliere ich hier ganz deutlich, den
dass wir den Menschen schon während sie bei         Fokus immer wieder auf diese Themen zu le-
uns in den Psychosozialen Zentren sind, eine        gen und Menschen darin zu unterstützen, eine
Unterstützung anbieten, dass die Weichen ge-        langfristige Perspektive zu bekommen.
stellt werden können, um hier in Deutschland

Manfred Kiewald, Dipl.-Psychologe, Refugio Villingen-
Schwenningen
Im Bereich Kinderpsychotherapie erhalten wir        Begegnung, Offenheit, Ermutigung und An-
viele Anfragen aus Kindergärten und Schulen.        regung – das sind Einstellungen, die hilfreich
Wir erleben dabei immer wieder, dass dieses         sind.
Hilfemodell bei Eltern zu Irritationen führen
kann und es sehr viel Aufklärungsarbeit be-         Psychotherapie darf so früh als möglich be-
darf, damit sie mitmachen und ihren Kindern         ginnen. Unsere Erfahrung zeigt, dass wir bei
eine Therapie ermöglichen. Es gibt anderer-         Kindern relativ schnell, oft schon nach 10 bis
seits viele Fälle, in denen die Eltern bereits im   15 Stunden Psychotherapie, wunderbare Fort-
Psychosozialen Zentrum in Therapie angebun-         schritte erreichen. Über traumatisierte Kinder
den sind und ihre Kinder irgendwann kom-            haben wir eben bereits von Herrn Kizilhan eini-
men, weil sie ein Thema, was sie etwa in der        ges gehört – es ist beeindruckend, wie Kinder
Schule oder mit Freund*innen oder Zuhause           ihre schrecklichen Erfahrungen verarbeiten
beschäftigt, bearbeiten wollen.                     können.

Wir versuchen in der Kinderpsychotherapie           Bei uns werden Kinder in der Regel angemel-
stets eine enge Zusammenarbeit mit den El-          det, weil sie destruktives Verhalten oder see-
tern, mit dem Kindergarten, der Schule und          lischen Rückzug zeigen. Sie können sich nur
den Integrationsmanager*innen oder den Mit-         schwer oder manchmal gar nicht mehr auf das
arbeiter*innen des Jugendamts zu gestalten,         soziale Umfeld einlassen oder sich integrieren.
u.a. im Rahmen von gemeinsamen Hilfeplan-           Als Beispiel möchte ich von einem fünfjährigen
gesprächen.                                         Jungen erzählen, der vor mir sitzt und einfach
                                                    nicht in der Lage ist, zu interagieren oder in
Diagnostik ist oftmals schwierig, gerade, wenn      irgendeiner Form Kontakt aufzunehmen oder
Kinder bereits ab vier Jahren zu uns kommen.        gar eine soziale Interaktion zu gestalten. Das
Es ist wichtig, sich auf das Kind einzulassen       war erschreckend. Nach drei, vier Monaten hat
und eine sinngebende Beziehung herzustellen.        er begonnen, sich zu öffnen und einzulassen,
Aus meiner Erfahrung gelingt dann seelische         so dass sich vieles zum Positiven hin veränder-
Genesung. Es braucht in allen Fällen emoti-         te. Und es war schön, dies zu sehen und die
onale Sicherheit. Diese ist ein ganz zentraler      erfreuliche Veränderung begleiten zu dürfen.
Punkt, damit ein Kind ankommen und sich auf         Es gibt inzwischen auch zahlreiche stärkende
eine Therapie einlassen kann. Die Haltung der       Methoden, die wir in der Kinderpsychothera-
Psychotherapeut*innen ist: Bereitschaft zur         pie einbringen können. Gerade kreative Ver-

                                                                                                  11
fahren helfen bei Kindern gut, weil sie anregen     sie leiden. Traumatisierte Kinder müssen ge-
 und lebendig machen. Die Freude als heilende        schützt und gesehen werden, damit sie zu in-
 Energie ist in der Therapie mit traumatisierten     nerer Ruhe finden können, sie brauchen Halt
 Menschen besonders wichtig. Sie dient als Ge-       und Orientierung. Und das können wir ihnen in
 genpol gegen das viele Negative, welches die        einer Kinderpsychotherapie bieten.
 jungen Menschen erlebt haben und worunter

 Andreas Mattenschlager, Dipl.-Psychologe,
 Psychologische Familien- und Lebensberatung Ulm
 Ich möchte Ihnen unser Kooperationsprojekt          machen sollen und es zu etwas bringen sollen.
 vorstellen, das wir seit 2015 mit dem Behand-       Wir erleben, dass die Kinder häufig sehr loyal
 lungszentrum für Folteropfer in Ulm, Refugio        mit diesem Auftrag sind und entsprechend
 Villingen-Schwenningen und der Psychologi-          tapfer schweigen und ehrgeizig versuchen, ih-
 schen Familien- und Lebensberatung in Ulm           ren Weg auch tatsächlich zu gehen.
 durchführen. Wir haben seit 2015 die finanzi-
 elle Möglichkeit erhalten, mit traumatisierten      2015 haben wir bereits mit offenen Angeboten
 Flüchtlingskindern zu arbeiten. Den Kern stellt     gestartet, um auch Kinder zu erreichen, die
 dabei die Einzelfallarbeit dar. Zu Beginn gab es    sonst nicht zu uns finden würden. Wir haben
 viele Anmeldungen, vor allem von unbegleite-        ein kunsttherapeutisches Atelier etabliert, das
 ten Minderjährigen, die sich an uns wandten.        einmal in der Woche stattfindet. Wir machen
 Das lag sicher auch daran, dass die Unterbrin-      sehr viele Gruppenangebote mit Kindern – teil-
 gung in den Jugendhilfeeinrichtungen und die        weise auch mit den Eltern. Im Moment sind wir
 Vernetzung mit den Kolleg*innen dort dazu           dabei, viele Kooperationen mit Schulen auf
 geführt haben, dass sie relativ schnell auf Hil-    den Weg zu bringen. Das ist oft eine sehr gute
 febedarfe aufmerksam wurden und nach Un-            Möglichkeit für die Eltern, Hilfen in Anspruch
 terstützung gesucht wurde. Es ist viel schwieri-    zu nehmen, weil sie ein Signal aus der Schule
 ger, an die Kinder zu gelangen, die gemeinsam       bekommen, dass dort etwas schief läuft mit
 mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen          ihren Kindern und sie Unterstützung erhalten
 sind.                                               können. Diese können sie deutlich einfacher
                                                     und leichter annehmen, als wenn das nur aus
 Zu Beginn unseres Projektes haben wir sehr          dem psychosozialen Bereich kommt.
 viel über unsichtbares Leiden geschrieben
 – darüber, dass Kinder in kollektivistischen        Von Anfang an haben wir aber auch aufsuchen-
 Gesellschaften weniger mit ihren individuel-        de Beratungsangebote durchgeführt. Wir sind
 len Bedürfnissen im Vordergrund stehen. Das         systematisch in eine große Gemeinschaftsun-
 kann dazu führen, dass sie leichter übersehen       terkunft in Ulm gegangen, wo zeitweise bis zu
 werden. Wir haben es häufig auch mit einer          900 Personen untergebracht waren. Dort ha-
 Parentifizierung der Kinder zu tun, d.h. sie        ben wir mit Familien gesprochen und sie teils
 übernehmen Rollen in den Familien, die über-        regelmäßig gesehen. Das war wichtig, um zu
 fordernd für sie sind, darunter auch die der        sehen, wie es den Kindern geht und auch, um
 Eltern. Die Kinder können dann oftmals keine        Vertrauen aufzubauen. So konnten wir sehen,
 Schwächen eingestehen oder zugeben, dass es         welche Kinder besonders belastet sind und
 ihnen in diesen Rollen nicht gut geht.              welche Kinder mehr Unterstützung brauchen,
                                                     als sie bisher haben. Wir haben viel informiert,
 Wir haben zu Beginn des Projektes Anfang            was es an Angeboten gibt und wo man weitere
 2015 gesehen, dass es oftmals auch die Hel-         Unterstützung finden kann. Und wir versuchen
 fer*innen waren, die die Kinder nicht im Blick      früh zu sehen, was für Ressourcen die Kinder
 hatten. Der Fokus lag meist zuerst auf den Er-      selbst mitbringen, welche Fähigkeiten und
 wachsenen. Es ging darum, die ersten, drin-         Stärken sie haben. Das kann in der Therapie
 gendsten Bedürfnisse abzudecken – die Kinder        dann ganz wunderbar genutzt werden und die
 sind dann oftmals einfach mitgelaufen. Hier         Kinder können dadurch weiter empowert wer-
 ändert sich zum Glück deutlich unsere Wahr-         den.
 nehmung.

 Innerfamiliär ist es oft so, dass bei unbegleite-
 ten Minderjährigen die Eltern ihre Kinder als
 sehr stark erleben und ihnen einen Auftrag mit-
 geben, dass sie hier in Deutschland ihren Weg

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13
Überlebende von Menschenhandel
 (Zwangsprostitution): Mobilisierung von
 Widerstandskräften in der Beratung und
 Psychotherapie

 Dipl.-Theologin Doris Köhncke,
 FrauenInformationsZentrum FIZ, Stuttgart

 Dipl.-Psychologe Dieter David, PBV Stuttgart, Zentrum
 der Beratung, Begutachtung & Psychotherapie für
 Überlebende traumatischer Gewalt
 Das FrauenInformationsZentrum (FIZ) und die         In unserer Zusammenarbeit geht es meist um
 PBV Stuttgart arbeiten in vielen Fällen Hand in     Betroffene von Menschenhandel, speziell mit
 Hand. Wie das gelingt, werden wir kurz vorstel-     dem Fokus auf Zwangsprostitution. In unserer
 len.                                                Beratungsarbeit im FIZ und der PBV Stuttgart
                                                     beraten wir Betroffene aus ganz verschiede-
 Das Fraueninformationszentrum ist eine Fach-        nen Ländern. Es gibt Betroffene aus Deutsch-
 beratungsstelle für Migrantinnen und geflüch-       land, aus europäischen Ländern und in den
 tete Frauen. Ein spezifischer Teil unserer Arbeit   letzten Jahren auch eine große Gruppe aus
 ist die Arbeit mit Betroffenen vom Menschen-        vorwiegend westafrikanischen Ländern. Oft-
 handel. Wir bieten psychosoziale Beratung,          mals sind das Frauen, die über Menschenhan-
 Case Management und auch Asylverfahrens-            del aus Nigeria und Nachbarländern berichten.
 beratung bei Frauen im Asylverfahren an. Der        Im FIZ haben wir im Jahr 2018 136 Betroffene
 Träger des FIZ ist der Verein VIJ, der sich das     von Menschenhandel begleitet, davon waren
 Motto „Vielfalt, Integration, Jetzt“ gegeben        82 Frauen im Asylverfahren. Von diesen 136
 hat und Mitglied des Diakonischen Werkes            waren 80 Prozent der Frauen aus Nigeria.
 Württemberg ist. Wir kooperieren mit der PBV
 insbesondere bei Fällen, in denen Frauen psy-       Die Frauen kommen dabei größtenteils aus
 chosomatische Beschwerden haben und the-            prekären Ausgangssituationen, häufig familiär
 rapeutische Unterstützung wünschen.                 schwierigen Situationen, sind emotional und
                                                     oftmals auch ökonomisch stark belastet.
 Das PBV Stuttgart ist ein Zentrum, das psycho-
 logische und medizinische Beratung, Begut-          Viele der Frauen sind in einem gewaltvollen
 achtung und Psychotherapie für Überlebende          Umfeld aufgewachsen, oftmals sind die Mäd-
 traumatischer Gewalt anbietet. Wir beraten          chen schon frühzeitig weggegeben worden
 nicht nur Geflüchtete, sondern auch andere          und die Jugend war dann durch Gewalter-
 Gruppen, absolut jede*n, der*die traumati-          fahrungen geprägt. Sie geraten dann an Men-
 sche Gewalt (Gewalterlebnisse, die mit Todes-       schenhändler*innen, die sie gefügig machen
 nähe verbunden ist) überlebt hat, kann zu uns       und dafür oftmals die biografischen Merkmale
 kommen. Unser Träger ist die Evangelische Ge-       der Frauen und gerade diese frühen Gewalter-
 sellschaft Stuttgart, die wiederum Mitglied des     fahrungen und die familiären Bindungen mit
 Diakonischen Werks Württemberg ist. Neben           einbeziehen.
 der klinischen Arbeit – wie medizinische und
 psychologische Therapie und psychologische          Bei Menschenhandel wird in der Regel die Not,
 sowie psychiatrische Begutachtung – legen wir       die Armut oder auch die Gewaltsituationen, in
 sehr viel Wert darauf, dass durch therapiebe-       denen Frauen, Männer und auch Kinder leben,
 gleitende Maßnahmen (in homogenen Grup-             ausgenutzt. Jemand nimmt wahr, dass es da
 pen) Ressourcen also persönliche und externe        jemanden in einer schwierigen Lage gibt, und
 Widerstandskräfte (nach A.Antonovsky) unse-         bietet „Hilfe“ an. Diese Hilfe ist eine Täuschung.
 rer Patientinnen und Patienten aktiviert und        Es werden Arbeit und eine gute Zukunft ver-
 mobilisiert werden.                                 sprochen, so dass die Menschen ihr Leben

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verbessern können. Aus diesen Gründen sa-          zu einem gesicherten Aufenthaltsstatus. Wir
gen die Frauen dann auch zu und freuen sich,       geben den Frauen Informationen zu ihren
dass sie beispielsweise einen Job in Italien als   Rechten und erläutern Handlungsmöglich-
Friseurin annehmen, Geld verdienen und viel-       keiten, z.B. auch, die Polizei zu rufen, wenn
leicht noch einmal zur Schule gehen können.        sie akut von Gewalt bedroht oder betroffen
Sie hoffen darauf, ihre Familie unterstützen zu    sind. Wir versuchen, mit den Frauen ihre Men-
können. Doch die Realität sieht dann ganz an-      schenhandelserfahrungen aufzuarbeiten. Die
ders aus. Fast 70 Prozent der Frauen berichten,    psychologische Beratung machen die Kol-
dass ihr Weg über Libyen oder andere arabi-        leg*innen vom PBV, wir vom FIZ kümmern
sche Staaten geführt hat, in denen sie das erste   uns vorwiegend um das Asylverfahren und
Mal gezwungen wurden, als Sexarbeiterinnen         eventuelle Verwaltungsgerichtsverfahren, in
zu arbeiten. Die Berichte über die – vor allem     denen das Erlebte relevant ist. Wir bereiten
sexuelle – Gewalt, die insbesondere schwarze       sie auf die Anhörungen bei Gericht vor, damit
Frauen dort erlebt haben, sind so brutal, dass     sie ihre Erinnerungen strukturieren können
selbst einige unserer Therapeut*innen da an        und verfassen sehr ausführliche Stellungnah-
ihre Grenzen stoßen.                               men, in denen wir auch den Weg der Frauen
                                                   schildern und unsere fachliche Bewertung ab-
In Europa geraten sie ebenfalls in Ausbeu-         geben. Darin erläutern wir auch, wie sich der
tungssituationen, sie müssen immens hohe,          Menschenhandel vollzieht und wo die weite-
fiktive „Schulden“ zurückzahlen, werden zur        re Gefährdung für die Frauen liegt. In diesem
Prostitution gezwungen – häufig auch mit Ge-       Prozess ist es uns wichtig, zu würdigen, was
walt. Die Frauen werden im Grunde wie Skla-        die Frauen erlebt – und überlebt – haben. Zum
vinnen oder wie Dienstmägde gehalten und           einen, das Leid, die Scham und Schuldgefühle
über Jahre hinweg sehr schlecht behandelt          anzuerkennen, zum anderen auch die Stärken
und systematisch ausgebeutet.                      zu sehen. Gerade, wenn es um sexuelle Aus-
                                                   beutung geht, spielt Scham eine große Rolle.
Die Betroffenen sind meist extrem psychisch        Wir versuchen, diese Schamgefühle zu lösen,
als auch körperlich gezeichnet und leiden un-      soweit das möglich ist.
ter akuten Formen verschiedener Traumafol-
gestörungen, unter anderem auch unter Post-        Im Menschenhandelssystem kommen Frauen
traumatischer Belastungsstörung (PTBS) oder        oftmals aus einem religiösen Umfeld. Das wird
akuten vorübergehenden psychotischen Stö-          von den Täter*innen ausgenutzt und ihnen da-
rungen. Viele leiden auch unter psychosoma-        mit extrem viel Angst gemacht. Wir versuchen,
tischen Symptomen, die weit in die Kindheit        sie auch religiös oder spirituell zu stärken, da-
zurückreichen können.                              mit sie sich selbstbewusst aus dieser Ausbeu-
                                                   tung befreien können und befreit weiterleben
Im FIZ leisten wir psychosoziale Beratung und      können, ohne sich schuldig zu fühlen.
Case Management, was den Frauen Sicherheit
und Stabilität vermittelt. Wir beraten aufent-     In der Beratung und Therapie in der PBV Stutt-
haltsrechtlich und schaffen es im Idealfall bis    gart wird primär mit traumafokussierter Psy-

                                                                                                   15
chotherapie gearbeitet. Auch die Zusammen-         pen regelmässig teilnehmen, sich die Dauer
 arbeit mit Mediziner*innen (FÄ für Psychiatrie     der psychologische ambulante Traumathera-
 und FÄ für Kardiologie und internistische Me-      pie um durchschnittlich 25 Prozent verkürzt.
 dizin haben regelmässige Sprechstunden in          Wir werden somit durch die Arbeit der Trai-
 unserem Zentrum) )ist besonders wichtig, um        ner*innen in den Rehagruppen sehr entlastet.
 körperliche Leiden von psychosomatischen
 Beschwerden zu unterscheiden, ihre Wider-          Oftmals beziehen wir auch religiöse Aspekte
 standskräfte zu stärken.                           mit in die Beratungen mit ein, da beinahe alle
                                                    unserer Klient*innen aus afrikanischen Län-
 In der PBV arbeiten wir seit sieben Jahren viel    dern, die zu uns kommen, einer katholischen
 mit Rehagruppen. Es sind dies therapiebeglei-      oder neo-protestantischen Glaubensrichtung
 tende Massnahmen wie Mal- oder Zeichen-            angehören und tiefgläubige Frauen sind. Wir
 gruppen, Gruppen Selbstverteidigung unter          versuchen, sie wieder zu stärken, damit sie
 anderem auch für die jesidischen Frauen (ehe-      sich wieder eine vitale Lebensperspektive auf-
 malige Sex-oder Arbeitssklavinnen der Terror-      bauen können. Und auch wieder menschliche
 miliz IS) und deren Kinder. In diesen Rehagrup-    Verbundenheit erfahren zu können. Viele der
 pen werden keine psychotherapeutischen             Frauen möchten sich gerne verlieben und Kin-
 Interventionen durchgeführt, Die Klient*innen      der haben. Aber sie haben Angst, sich Männern
 können in diesen Gruppen u.a. Selbstvertei-        zu öffnen, weil sie diese Lücke in ihrer Biografie
 digung für Frauen erlernen, Malen, Zeichnen        haben, die Jahre der Zwangsprostitution, die
 oder auch Badminton spielen lernen oder in         sie oftmals verschweigen müssen. Das Wich-
 der Schneiderwerkstätte Grundlagen dieses          tigste ist dann, dass sie das Gefühl erhalten,
 Handwerks üben. In diesem Bereich erleben          wieder Kontrolle über ihr Leben zu erlangen.
 unsere Klient*innen den nicht-klinischen, also     Und dass ist als geflüchtete Person im Exilland
 non-pathologischen Bereich der PBV Stutt-          Deutschland auch nicht immer einfach. Wir
 gart. Es gibt dort eine offenere Atmosphäre        versuchen aber sie auf diesem Weg so gut es
 und wir haben festgestellt, dass sich bei denje-   geht und respektvoll zu unterstützen.
 nigen Klient*innen, die auch an den Rehagrup-

16
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Aus der IS-Gefangenschaft nach
 Baden-Württemberg: Evaluation des
 Sonderkontingents für besonders
 schutzbedürftige Frauen und Kinder aus
 dem Nordirak

 Jana Denkinger, M.Sc. Psychologin, Abteilung für
 psychosomatische Medizin und Psychotherapie,
 Universitätsklinikum Tübingen
 Im Nordirak ist am 3. August 2014 der Isla-       So wie es dieser jungen Frau ergangen ist, die
 mische Staat im Sindschar-Gebirge, an der         mit 17 Jahren dann nach Deutschland kam,
 Grenze zu Syrien, eingefallen. Die dortige Be-    ist es auch sehr vielen anderen Jesidinnen er-
 völkerung, die vor allem aus Jesid*innen be-      gangen. Hochrechnungen zufolge handelte es
 stand, ist ihm zum Opfer gefallen. Wir haben      sich ungefähr um 6.800 Jesid*innen, die ent-
 im Rahmen der Evaluation, die wir am Unikli-      führt wurden – vor allem Frauen und Kinder.
 nikum Tübingen durchgeführt haben, viele In-      Zeitgleich wurde ein Großteil der männlichen
 terviews mit Überlebenden geführt. Aus einem      Bevölkerung direkt umgebracht, etwa 3.100
 dieser Gespräche mit einer jungen Frau möch-      Menschen im August 2014. Viele konnten nach
 te ich berichten. Sie war ungefähr 15 Jahre alt   monatelanger Gefangenschaft fliehen. Schät-
 und sie hat uns die Geschehnisse beschrieben:     zungen zufolge waren dies 4.300 Jesid*innen.

     „Ich bereitete mich gerade auf meine          Der Genozid an den Jesid*innen fand im Au-
     Abschlussklausuren für die 9. Klasse          gust 2014 statt. Bereits zwei Monate später,
     vor, als der IS in unsere Region ein-         im Oktober 2014, wurde das Sonderkontin-
     drang. Ich schaute nach draußen und           gent für besonders schutzbedürftige Frau-
     sah, dass die Straßen voller Menschen         en und Kinder aus dem Nordirak durch das
     waren, die aus dem Dorf rannten. Also         Staatsministerium Baden-Württemberg ge-
     versuchten auch wir zu fliehen. Der           schaffen. Die ersten Frauen konnten Anfang
     Weg war voller Menschen. Ein Auto             2015 nach Deutschland gebracht werden. Als
     stellte sich uns in den Weg. Plötzlich        Zielgruppe wurden 1.100 Frauen und Kinder
     kamen zwei IS-Kämpfer auf uns zu. Sie         angeführt, die nach Deutschland gebracht
     verlangten all unser Geld, unser Gold         werden sollten. 1.000 von ihnen wurden von
     und unsere Handys. Ich glaubte noch           Baden-Württemberg aufgenommen, 100 von
     daran, dass sie uns wieder gehen las-         Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Das
     sen. Ich konnte nicht klar denken. Um         Projekt war zunächst auf drei Jahre angelegt.
     5 Uhr nahmen sie alle Mädchen von 10          Ziel dabei war es, die Aufgenommenen in si-
     bis 30 Jahren und steckten sie in Busse       cherer Umgebung medizinisch, pädagogisch
     nach Mossul.“                                 und psychotherapeutisch zu versorgen und
                                                   am Ende des Projekts einen Übergang in die
 Sie berichtete dann weiter, wie sie in Mossul     Regelversorgung zu ermöglichen. Wir haben
 ankam und sie sagte:                              das Projekt am Uniklinikum Tübingen wis-
                                                   senschaftlich begleitet und vor allem die Ver-
     „Um 12 Uhr kamen wir in Mossul an             sorgung analysiert. Dabei ging es uns um die
     und wurden in eine große Sporthalle           psychosoziale und die psychotherapeutische
     gebracht. Drei Stockwerke voller je-          Versorgung, aber auch Belastungen, Bedarfe
     sidischer Frauen. IS-Kämpfer kamen            und Ressourcen, die vorhanden waren, und
     und zitierten Verse aus dem Koran.            zwar von drei Gruppen: den Frauen, den auf-
     Sie sagten uns, wir sollen unser altes        genommenen Kindern und den im Projekt täti-
     Leben vergessen, unseren Familien-            gen Mitarbeiter*innen.
     namen und die ganze Vergangenheit.
     Wir würden jetzt ein neues Leben be-
     ginnen.“

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Bilder von den jessidischen Kindern über ihre Zeit im Irak und in Deutschland.
© Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen

                                                                                                 19
Für die Evaluation haben wir drei Studien                            der Frauen überschritten in ihren Angaben ei-
 durchgeführt. Begonnen wurde im April 2017                           nen kritischen Wert zum Zeitpunkt der ersten
 mit einer Befragung der Mitarbeiter*innen.                           Befragung 2017. Bei einer zweiten Erhebung
 Bei einem Netzwerktreffen wurden Frage-                              ein Jahr später ergab sich im Mittel keine Ver-
 bodenerhebungen durchgeführt, erweitert                              änderung.
 durch Einzel- und Fokusgruppeninterviews.
 Anschließend wurde eine Befragung der Frau-                          Ähnliches zeigt sich auch bei den Kindern. Mit
 en durchgeführt, bei der wir mit 116 Frauen                          ihnen haben wir verschiedene Bilder gemalt
 sprechen konnten. Es gab hierzu verschiedene                         über ihre Zeit im Irak und in Deutschland im
 Fragebögen und offene Interviews. Ergänzend                          Vergleich. Dabei wurde deutlich, wie präsent
 wurde im Oktober 2018 ein kleines Malprojekt                         die Bilder aus dem Irak noch sind.
 organisiert, um eine Untersuchung mit den
 Kindern durchführen zu können.                                       Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die
                                                                      Mitarbeitenden, die mit den Frauen und Kin-
 Ich möchte ein paar der zentralen Ergebnisse                         dern tagtäglich arbeiten. Bei der ersten Be-
 vorstellen: In den Interviews mit den Frauen                         fragung haben wir überprüft, wie hoch die
 wurde eine enorme Bandbreite an Gewalter-                            Prävalenz der Sekundärtraumatisierung bei
 fahrungen deutlich. Die Interviews wurden in-                        den Mitarbeiter*innen ist, also die Übertra-
 haltsanalytisch ausgewertet und es konnten 19                        gung von posttraumatischen Symptomen wie
 Kategorien verschiedener Gewalterfahrungen                           Intrusionen, Vermeidung und Übererregung.
 identifiziert werden. Die Erfahrungen reichten                       In der Befragung kam raus, dass etwa ein Vier-
 von Überfällen, Raub, sexualisierter Gewalt,                         tel (23 Prozent) der Mitarbeitenden sich selbst
 Körperverletzung hin zu Folter und Menschen-                         so stark belastet gefühlt haben, dass man von
 handel. Es zeigt eine enorme Bandbreite, was                         Sekundärtraumatisierung sprechen kann. Das
 die Frauen in durchschnittlich 6,8 Monaten Ge-                       ist auf den ersten Blick kein erfreuliches Bild.
 fangenschaft durchleben mussten. Wir sind zu                         Es gibt aber auch noch eine andere Seite und
 dem gleichen Ergebnis gekommen, wie auch                             zwar, wenn man sich die Arbeitszufriedenheit
 die UN schon 2016: es handelt sich um einen                          der Mitarbeitenden anschaut. Diese ist sehr
 Genozid, der ausgeführt wurde, um systema-                           hoch. Es gab keine*n einzige*n Mitarbeiter*in,
 tisch das Jesid*innentum zu zerstören. Das hat                       die*der im unterdurchschnittlichen Bereich
 natürlich Folgen für die Betroffenen.                                lag mit der Arbeitszufriedenheit – trotz der
                                                                      enormen Belastung. Ungefähr die Hälfte liegt
 Wir haben bei den Befragungen mit den Frau-                          im durchschnittlichen Bereich der Arbeitszu-
 en auch Fragen zu PTBS gestellt. 93 Prozent                          friedenheit und ungefähr die Hälfte liegt im

     Bilder von den jessidischen Kindern über ihre Zeit im Irak und in Deutschland.
     © Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen

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Bilder von den jessidischen Kindern über ihre Zeit im Irak und in Deutschland.
© Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen

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Bilder von den jessidischen Kindern über ihre Zeit im Irak und in Deutschland.
 © Abteilung für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Universitätsklinikums Tübingen

 überdurchschnittlichen Bereich. Wenn wir                          ausgelegt. Oftmals waren die Männer zu dem
 uns einen Vergleich anschauen zwischen den                        Zeitpunkt der Befragung noch vermisst, einige
 Mitarbeitenden im Sonderkontingent und Mit-                       waren wieder aufgetaucht, wurden aber nicht
 arbeitenden der regulären Flüchtlingsversor-                      mit ins Projekt aufgenommen. Es wurde den
 gung, zeigt sich, dass die Mitarbeiter*innen im                   Frauen kommuniziert, dass ihre Männer im
 Sonderkontingent sogar weniger belastet sind                      Rahmen des Familiennachzugs nachkommen
 als Mitarbeiter*innen der regulären Versor-                       können. Aber dies gestaltete sich nicht so ein-
 gung. Dies ist ein interessantes Ergebnis, da es                  fach, wie sich die Frauen das erhofft haben. Es
 sich bei den Aufgenommenen im Sonderkon-                          wurde auch kritisiert, dass es Familienmitglie-
 tingent um eine extrem stark traumatisierte                       der gab, die schon in Deutschland waren, aber
 Patient*innengruppe handelt.                                      aufgrund der Regelungen des Sonderkontin-
                                                                   gents nicht mit den Frauen zusammenziehen
 Die Zufriedenheit zeigt sich auch in der Gruppe                   konnten.
 der befragten jesidischen Frauen. Obwohl sie
 auch nach einigen Jahren in Deutschland noch                      Bei den Kindern haben wir die Bilder zum
 stark belastet sind, antworteten 91 %, dass sie                   Nordirak mit den Bildern zu Deutschland ver-
 hier und mit dem Projekt sehr zufrieden sind.                     glichen. Viele der Kinder haben sehr positive
 Die drei am häufigsten genannten Gründe                           Bilder über ihr Leben in Deutschland gemalt.
 hierfür waren Sicherheit (keine Angst zu ha-                      Einige haben eine Schule gemalt, oder das
 ben, umgebracht zu werden), die Erfüllung der                     Fußballspielen. Ein Mädchen hat sich auf die
 Grundbedürfnisse (sichere Unterbringung, Es-                      Einkaufsmöglichkeiten in Deutschland bezo-
 sen, medizinische Versorgung, der Zugang zu                       gen und dazu gesagt: „Deutschland ist Sicher-
 Bildung) und eine bessere Zukunft für die Kin-                    heit und dass wir Essen bekommen.“ Bei den
 der. In der Befragung wurde auch nach Kritik-                     Kindern sind es also sehr ähnliche Themen wie
 punkten gefragt. Von den Frauen wurden hier                       bei den Frauen.
 oft Probleme in der Unterbringung angegeben
 (viele Frauen und Kinder lebten auf zu engem                      Abschließend lässt sich sagen, dass man zwar
 Raum, die Standorte waren sehr unterschied-                       auf der einen Seite eine sehr hohe Belastung
 lich, es gab teilweise nur eine schlechte Anbin-                  bei den Frauen, bei den Kindern und bei den
 dung an den öffentlichen Nahverkehr und da-                       Mitarbeitenden sehen kann. Aber gleichzeitig
 mit geringere Anbindung an den öffentlichen                       auch eine sehr hohe Zufriedenheit mit dem
 Raum oder größere Städte), getrennte Fami-                        Sonderkontingent, mit dem Programm, mit
 lien und der Ausschluss der Verwandten im                         dem Leben in Deutschland und auch bei den
 Irak. Das Projekt war nur für Frauen und Kinder                   Projektmitarbeitenden mit ihrer Arbeit.

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23
Nach der Europawahl: Wie wirkt sich
 das Wahlergebnis auf die europäische
 Migrationspolitik aus?

 Maximilian Pichl, Universität Kassel
 Es ist nicht einfach, zwei Tage nach der Euro-     diese Europawahl ganz entscheidende Weg-
 pawahl zu umreißen, wie sich das Wahlergeb-        marken dafür stellen wird, wie es mit der EU
 nis auf die zukünftige europäische Migrations-     weitergeht. Das ist alles relativ komplex, aber
 politik auswirken wird. Das ist natürlich immer    ich werde versuchen, Ihnen einige Antworten
 ein bisschen wie in die Glaskugel blicken. Ich     zu präsentieren, wie sich dies auf die Migrati-
 will hier auch nicht so wirken wie die üblichen    onspolitik der EU auswirken könnte.
 Politikwissenschaftler*innen auf Phönix, die
 ich nach Wahlen immer ganz schrecklich fin-        Es steht u.a. die Frage im Raum, ob es zur
 de, weil sie irgendwelche halb garen Thesen        Bildung einer neuen rechten Fraktion im Eu-
 in den Raum werfen. Und deswegen interes-          ropäischen Parlament kommen wird. Es gibt
 sieren mich jetzt auch weniger diese perso-        zu diesem Thema schon einige Vorarbeiten
 nellen Fragestellungen, die jetzt wieder durch     aus den vergangenen Jahren. Ich werde hier
 die Presse gejagt werden. Daran sieht man,         kurz umreißen, welches Migrationsprojekt die
 dass diese Europawahl wieder sehr national-        Rechten im EU-Parlament verfolgen und was
 staatlich betrachtet wird. Denn es geht dabei      das auch für die europäische Migrationspolitik
 auch ganz viel um die Zukunft der SPD- und         insgesamt bedeutet. Zum Abschluss möchte
 CDU-Parteivorsitzenden etc.                        ich dann generell auf die EU-Migrationspolitik
                                                    eingehen und die ganz konkreten Auswirkun-
 Das ist für unsere Fragestellung aber erst ein-    gen von den Wahlergebnissen skizzieren. Hier-
 mal irrelevant. Ich will Ihnen hier eher einen     zu werde ich auch versuchen, den aktuellen
 gewissen Parforceritt präsentieren durch die       Stand des Gesetzgebungsprozesses in der Eu-
 verschiedenen Aspekte der europäischen             ropäischen Union zu reflektieren.
 Migrationspolitik und vielleicht auch ein paar
 strukturelle Antworten geben, was sich jetzt       Beginnen möchte ich mit ein bisschen Insti-
 durch diese Europawahl vielleicht verändert.       tutionskunde, damit wir alle auf demselben
 Dieses Ergebnis ist ein kompliziertes Ergebnis     Stand sind und wissen, warum diese Ergebnis-
 und sehr typisch für die europäische Union,        se eigentlich auf welche Art und Weise relevant
 nämlich sehr uneindeutig.                          sind und was die grundlegenden Elemente des
                                                    europäischen Gesetzgebungsverfahrens sind.
 Wie Sie vielleicht wissen, ist das europäische     Das ist nicht ganz unwichtig, um zu verstehen,
 Migrations- und Flüchtlingsrecht vorrangig ge-     wie das EU-Parlament gegenüber dem Europä-
 genüber dem nationalen Recht, das heißt seit       ischen Rat aufgestellt ist und wie sich das aus-
 den 2000er Jahren hat die Europäische Union        wirken wird auf die nächsten Gesetzgebungs-
 immer mehr Kompetenzen in diesem Bereich           verfahren. Das europäische Recht besteht im
 hinzugewonnen. Wenn die Europäische Union          Wesentlichen aus zwei Elementen – den Richt-
 in diesem Bereich auch gesetzgeberisch tätig       linien und den Verordnungen. Richtlinien ken-
 wird, verdrängt das die nationalen Normen.         nen Sie aus Ihrem Arbeitsbereich sicher mit der
 Von daher ist die Frage nach der Zukunft des       EU-Aufnahmerichtlinie. Eine Richtlinie muss
 europäischen Migrationsrechts eine ganz zen-       im Rahmen einer bestimmten Frist von den
 trale Frage auch für die Weiterentwicklung des     einzelnen Mitgliedsstaaten umgesetzt werden.
 deutschen Asylsystems.                             Sie überlässt den Mitgliedsstaaten aber immer
                                                    auch Ermessens- und Interpretationsspielräu-
 In meinem Vortrag möchte ich folgende Aspek-       me. Das heißt, im nationalen Gesetzgebungs-
 te streifen: Zuerst betrachten wir die Ergebnis-   verfahren können noch immer eigene Ausge-
 se und schauen, was sich da verschoben hat.        staltungen erfolgen. Es ist ein Umsetzungsakt
 Diese Europawahl wurde bereits im Vorfeld          durch den Nationalstaat.
 zur Schicksalswahl ausgerufen, vor dem Hin-
 tergrund des Brexits von Großbritannien. Vor       Im Gegensatz dazu gelten Verordnungen auf
 dem Hintergrund des autoritären Rechtsrucks        europäischer Ebene unmittelbar. D.h., wenn
 in der Europäischen Union wurde gesagt, dass       die Europäische Union tätig wird, bedarf es kei-

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nes weiteren Gesetzgebungsaktes in Deutsch-        berisch aktiv zu werden. Das Europäische Par-
land oder anderen Mitgliedsstaaten- Das eu-        lament hat durch den Lissaboner Vertrag 2009
ropäische Recht wirkt dann aus sich selbst         eine Stärkung erhalten.
heraus. Als Beispiel hierfür möchte ich die
Dublin-Verordnung nennen, die die Zuständig-       Wenn die EU-Kommission einen Gesetzge-
keit für Asylverfahren in Europa regelt. Diese     bungsvorschlag auf den Weg gebracht hat,
muss nicht noch einmal in den Mitgliedsstaa-       dann gibt es ein Wechselspiel zwischen dem
ten umgesetzt werden, sondern gilt unmittel-       EU-Parlament und dem Minister*innenrat in
bar. Europarecht steht über nationalem Recht       verschiedenen Verfahrensstufen, bis am Ende
und von daher sind auch diese Fragestellun-        ein Gesetz der EU zustande kommt. Dieses
gen über die Auswirkungen des europäischen         Geflecht ist durchaus stark an einem Konsens
Migrationsrechts dementsprechend relevant.         ausgerichtet und basiert daher auf vielen Kom-
                                                   promissen. Dies führt dazu, dass die einzelnen
Wie kommt es also zu Richtlinien und Verord-       Fraktionen und auch die einzelnen Abgeordne-
nungen? Die Gesetzgebung in Europa zeich-          ten einen extrem großen Einfluss auf die euro-
net sich durch ein institutionelles Dreieck aus,   päische Gesetzgebung haben. Deshalb ist auch
bestehend aus Europäischer Kommission,             die Frage, wer ins EU-Parlament geschickt
Europäischem Parlament und EU-Rat (auch            wird, besonders relevanter. Die einzelnen Ab-
Minister*innenrat genannt). Die Europäische        geordneten im Europäischen Parlament haben
Kommission wird diskutiert als europäische         viel mehr Möglichkeiten, weil sie als Berichter-
Regierung. Aus allen EU-Mitgliedsstaaten wer-      statter*innen in den Verfahren darauf Einfluss
den Kommissar*innen benannt, die dann ein-         nehmen können, wie diese Gesetzgebungen
zelne Gesetzgebungsvorschläge auf den Weg          vonstattengehen.
bringen können. Das Europäische Parlament
wird direkt gewählt bei den Europawahlen           Ein guter Film, der das anschaulich zeigt, ist
von allen wahlberechtigten EU-Bürger*innen.        „Democracy“, ein Dokumentarfilm, der die
Der Minister*innenrat besteht aus je einer*m       Gesetzgebung zur neuen Datenschutzgrund-
Vertreter*in pro Mitgliedsstaat. In diesem ins-    verordnung (DSGVO) filmisch darstellt. Dort
titutionellen Dreieck läuft das europäische Ge-    kann man wirklich gut sehen, wie dieses euro-
setzgebungsverfahren ab und es kann immer          päische Gesetzgebungsverfahren funktioniert.
nur von der Europäischen Kommission aus-
gehen, sie hat das Initiativrecht. Diese stark     Ich möchte kurz die Europawahl 2014 in Er-
exekutiv beeinflusste Gesetzgebung wird in-        innerung rufen und die Kräfteverteilung im
nerhalb der Europäischen Union oft kritisiert.     EU-Parlament anschauen. Diese war sehr klas-
Das EU-Parlament kann aber der Kommission          sisch verteilt. Es gab eine Mehrheit von der
antragen, in bestimmten Bereichen gesetzge-        Europäischen Volkspartei (EVP) – zu dieser ge-

© S. Hermann & F. Richter // pixabay.de

                                                                                                  25
hören in Deutschland die CDU und CSU – und        die Parteipräferenzen in den einzelnen Mit-
 den Sozialist*innen und Sozialdemokrat*in-        gliedsstaaten sind. Die Sozialdemokrat*innen
 nen – zu denen die SPD gehört. Die EVP hatte      und Sozialist*innen haben noch die Mehrheit
 einen schmalen Vorsprung gegenüber den So-        in Portugal, Spanien, Schweden und den Nie-
 zialdemokrat*innen. Was interessant war, ist,     derlanden errungen. In Frankreich und Italien
 dass es gleich drei rechte oder nationalkonser-   haben wir Wahlgewinner*innen aus dem ext-
 vative Fraktionen gab – je nachdem, wie man       rem rechten Lager – also der Rassemblement
 sie betiteln mag. Das waren die ECR, die EFDD     Nationale, der vorherige Front Nationale unter
 und die ENS. Zusätzlich waren noch die Libera-    Marine Le Pen, lag in Frankreich vor En Marche
 len mit der ALDE im EU-Parlament als Fraktion     von Emmanuel Macron. Matteo Salvini mit der
 vertreten - mit der FDP in Deutschland – sowie    Lega Nord hat auch sehr deutlich in Italien ge-
 die Grünen und die GUE/NGL mit der europäi-       wonnen. Wir haben auch eine Bestätigung der
 schen Linken. Die Sitzverteilung war mit einer    PiS-Regierung in Polen, die ja sehr umstritten
 klaren Mehrheit der Europäischen Volkspartei      ist und mit Rechtstaatsverfahren seitens der
 und der Sozialdemokrat*innen. Diese beiden        Europäischen Union konfrontiert ist. Auch in
 Fraktionen haben auch in den vergangenen 40       Belgien gab es einen Wahlerfolg der extrem
 Jahren der Europäischen Union aufgrund die-       Rechten.
 ser absoluten Mehrheit im EU-Parlament im-
 mer sehr stark auch die Posten in der EU-Kom-     Und dann haben wir viele Gewinne der EVP,
 mission geprägt.                                  also beispielsweise in Deutschland mit der
                                                   CDU. Ungarn ist noch ein Sonderfall, auf den
 Diese Verteilung hat sich mit der Europawahl      wir noch zu sprechen kommen. Denn die Par-
 2019 doch stark verändert. Es gibt massive        tei Fides von Viktor Orbán wurde anfangs noch
 Abstürze sowohl bei der Europäischen Volks-       rein formal zur Europäischen Volkspartei ge-
 partei als auch bei den Sozialdemokrat*innen      zählt, da sie bis zu dieser Wahl dort vertreten
 – teilweise hier mit fast 40 verlorenen Sitzen.   waren. Mit ihren 13 Abgeordneten stellt sich
 Dies liegt auch daran, dass manche ur-sozi-       noch die Frage, ob sie in dieser Fraktion vertre-
 aldemokratischen Parteien in der EU pulver-       ten bleiben.
 isiert wurden. So etwa die Sozialist*innen
 in Frankreich, die auch traditionell eine der     Wie wurde in Deutschland gewählt? In den Ta-
 wichtigsten Parteien für die EU waren. Viele      gen nach der Wahl gab es eine große Debatte
 EU-Kommissionspräsident*innen und EU-Be-          über die Grünen als große Erfolgssieger bei
 amt*innen stammten aus der Sozialistischen        dieser Wahl. Sie haben dort auch ihr histo-
 Partei Frankreichs. Diese wurden durch Em-        risch bestes Ergebnis errungen. Aber dies ist
 manuel Macron uns sein En Marche-Bündnis          natürlich auch eine sehr westdeutsche Erzäh-
 jedoch pulverisiert und stehen in Frankreich      lung. Denn wenn man sich Ostdeutschland
 nur noch bei fünf Prozent. Auch die deut-         anschaut, hat vor allem die AfD in vielen Lan-
 schen Sozialdemokrat*innen haben stark zu         desteilen die meisten Stimmen erhalten. Und
 kämpfen. Es gibt einen erheblichen Zuwachs        man muss sich nochmal klarmachen, dass
 bei der liberalen Fraktion. Das kommt vor al-     wir 2019 auch die Landtagswahlen in Thürin-
 len Dingen dadurch zustande, dass hier viele      gen, Brandenburg und Sachsen haben. Und
 Stimmen von diesem En Marche-Bündnis von          in Sachsen und Brandenburg stand die AfD in
 Emmanuel Macron eingehen – also vor allem         Umfragen vor der CDU. In Bayern hat die CSU
 ein Zuwachs auf Kosten der Sozialdemokratie       weiterhin die Mehrheit, da gibt es einige we-
 in Frankreich.                                    nige grüne Hochburgen. Und die Sozialdemo-
                                                   krat*innen haben insgesamt extrem schlecht
 Zusätzlich soll es eine neue Fraktion geben,      abgeschnitten. Das muss man sich ein biss-
 die durch den italienischen Lega-Nord-Chef        chen ins Gedächtnis rufen, wenn man die Me-
 Matteo Salvini initiiert wurde, die Allianz der   dienberichterstattung über den Gewinn der
 europäischen Völker und Nationen. Diese hat       Grünen gelesen hat. Es ist schon ein historisch
 ebenfalls erheblichen Zuwachs bekommen.           einmaliges Ergebnis, denn die große Koalition
 Dies hängt damit zusammen, dass auch aus          zwischen Europäischer Volkspartei und den
 anderen rechten Fraktionen Abgeordnete hin-       Sozialdemokrat*innen wird keine Mehrheit
 über gewechselt sind.                             mehr im Europa-Parlament haben. Und das
                                                   hat natürlich massive Auswirkungen auf die
 Auch die Grüne Fraktion hat einen deutlichen      Besetzung der EU-Kommission. Hier wird dann
 Zuwachs bekommen, was Großteils auch an           die Frage diskutiert werden müssen, wer die
 den Ergebnissen aus Deutschland liegt.            Mehrheit für sich organisieren kann. Und wäh-
                                                   rend man das früher noch ausdealen konnte
 Wenn wir uns anschauen, wie Europa gewählt        – etwa bei der letzten Wahl, als Martin Schulz
 hat, sehen wir eine sehr große Spaltung, wie      gesagt hat, er wird EU-Parlamentspräsident

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