Actually, the Dead Are Not Dead - Una forma de ser 17. Oktober 2020 - voraussichtlich 14. März 2021 Derzeit aufgrund der Pandemie geschlossen
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Actually, the Dead Are Not Dead Una forma de ser 17. Oktober 2020 – voraussichtlich 14. März 2021 Derzeit aufgrund der Pandemie geschlossen Gerd Arntz, Daniel Baker, Canciones de la guerra social contemporánea, Joy Charpentier, Ines Doujak, El Solitario / Francisco Lameyer, Toto Estirado, Flo 6x8, Robert Gabris, María García Ruiz, Gonzalo García-Pelayo, Israel Galván, Tony Gatlif, Helios Gómez, Francisco de Goya, Isaias Griñolo, Julio Jara, Hiwa K, Teresa Lanceta, Darcy Lange / Maria Snijders, Delaine Le Bas, Los Putrefactos, Máquinas de vivir, Ocaña, Otto Pankok, PEROU, Ragel, Pedro G. Romero, August Sander, Franz W. Seiwert, SEM/EN, Stalker, Ceija Stojka, Mario Maya y Teatro Gitano Andaluz, Luca Vitone, Rosario Weiss u. a. Francisco de Goya, El caballo raptor, aus der Serie Los Disparates (Die Torheiten), ohne Datum (c. 1815–19) Courtesy: Privatsammlung Berlin
Actually, the Dead Are Not Dead. Una forma de ser basiert auf und wurde produziert in Zusammenarbeit mit Bergen Assembly 2019 Kurator*innen María García Ruiz, Pedro G. Romero in Zusammenarbeit mit den weiteren Mitgliedern der Bergen Assembly 2019 Core Group Murat Deha Boduroğlu, Banu Cennetoğlu, Hans D. Chirst, Iris Dressler, Hiwa K, Katia Krupennikova, Viktor Neumann, Paul B. Preciado, Simon Sheikh, Emma Wolukau-Wanambwa Gefördert von Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg Kulturamt der Stadt Stuttgart Baden-Württemberg Stiftung Stiftung Landesbank Baden-Württemberg Marli Hoppe-Ritter-Stiftung zur Förderung der Kunst Prolab Fotofachlabor GmbH > Actually, the Dead Are Not Dead. Politiken des Lebens 29. Februar – 23. August 2020 (Unterbrechung: 13. März bis 7. Mai 2020) > Actually, the Dead Are Not Dead. Techniken des Werdens (Arbeitstitel) 10. April – 20. Juni 2021 2
Einführung Mit Una forma de ser (Eine Form des Seins, des Lebens) setzt der Württembergische Kunstverein seine Ausstellungreihe Actually, the Dead Are Not Dead fort, die auf die gleichnamige Bergen Assembly 2019 zurückgeht. Die Ausstellung, die vom 17. Oktober 2020 bis (voraussichtlich) 14. März 2021 stattfindet, beschäftigt sich mit den Beziehungen zwischen dem Fest und dem Feld des Politischen. Sie untersucht das Fest als soziale und kollektive Bühne der Emanzipation und Selbstbestimmung und geht den ästhetischen und poetischen Formen nach, die sich daraus seit dem 19. Jahrhundert insbesondere im Umfeld der Subkulturen der Rom*nja, Flamencos und Bohèmes gebildet haben. Das Fest als ästhetischer Rahmen der Verkehrung sozialer Verhältnisse (Karneval) sowie der Durchdringung von Ausgelassenheit und Rebellion, Folklore und Avantgarde wird dabei nicht nur historisch, sondern insbesondere in Bezug auf die Gegenwart ausgelotet. Dabei verbindet die Ausstellung bildende Kunst, Musik und Tanz ebenso miteinander wie die avancierten Künste und Populärkultur: Francisco de Goya mit dem vielfach preisgekrönten zeitgenössischen Flamencotänzer Israel Galván; August Sander und seine Fotografien der Kölner „Lumpenbälle“ mit dem spanischen Undergroundkünstler Ocaña; die modernistischen Grafiker Gerd Arntz und Helios Gómez mit Ceija Stojka; die andalusische Bohèmekultur des 19. Jahrhunderts mit einem an neuer Musik geschulten Flamenco. Die Kurator*innen der Ausstellung, Pedro G. Romero und María García Ruiz, beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit Flamenco und den Beziehungen zwischen der Stereotypisierung, Romantisierung und Ausgrenzung europäischer Rom*nja. Zugleich geht es ihnen darum, aufzuzeigen, welche entscheidende Rolle Rom*nja und andere marginalisierte Gruppen für die Entwicklung der Avantgarden gespielt haben. So ist der Flamenco Mitte des 19. Jahrhunderts im urbanen Umfeld der Rom*nja, Bohème und des sogenannten Lumpenproletariats der Vororte Sevillas und anderer andalusischer Städte entstanden: als Gegenbewegung zu einem damals wachsenden Folklorismus in Andalusien. Diese moderne, avantgardistische künstlerische Manifestation wird erstmals von Serafín Estébanez Calderón 1838 in seinem Text Asamblea General (Generalversammlung) beschrieben. Was Calderón hier im Wesentlichen beobachtet, ist eine Reihe von Kris, den politischen Versammlungen der andalusischen Rom*nja, bei denen die Gemeinschaften aus Málaga, Cádiz und Sevilla ihre Angelegenheiten und Streitigkeiten regelten und die immer mit einem Fest verbunden waren. 3
Dieser Text sowie eine der Grafiken, die der Goya nahestehende Künstler Francisco Lameyer dafür anfertigte, sind Ausgangspunkt der Ausstellung, ebenso wie die Serie Los Disparates von Francisco de Goya selbst: Eine Serie düsterer, karnevalesker und grotesker Szenarien mit vielfältigen Anspielungen auf die damalige politische Situation. Von hieraus spannt die Ausstellung mit Künstler*innen wie Delaine Le Bas, Daniel Baker, Robert Gabris oder Teresa Lanceta den Bogen zur zeitgenössischen Kunst. Eine wichtige lokale Referenz stellt der Stuttgarter Vagabundenkongress dar, der 1929 von Gregor Gog einberufen worden war und unweit der damals neuen Weißenhofsiedlung auf dem Killesberg stattfand. Bereits 1982 haben sich der Württembergische Kunstverein und weitere Kunstinstitutionen im Rahmen der Ausstellung Wohnsitz: Nirgendwo mit diesem Kongress und seinen Umfeldern beschäftigt. 2014 widmete ihm das Stuttgarter Theater Rampe ein Reenactment. Vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen von Lockdown und sozialer Distanz hat das thematische Feld der Ausstellung eine neue Bedeutung erhalten: Ist doch das Fest, das für soziale und körperliche Nähe schlechthin steht, derzeit Inbegriff des pandemischen Sündenfalls. Darüber hinaus sind bestimmte soziale Gruppen wie die Rom*nja von der Corona-Pandemie und ihren Folgen besonders stark betroffen und hat sich ihre bereits lange davor bestehende gesellschaftliche Ausgrenzung noch verschärft. Insofern greift die Ausstellung auch raumpolitische Aspekte auf. Unter dem Titel Una forma de ser geht es den Kurator*innen darum, die Gemeinschaften der Rom*nja, Flamencos und Bohèms jenseits von Identitätspolitiken im Hinblick auf Formen und Strategien der politischen Subjektivierung zu verhandeln. Selbstbilder, Fremdbilder und deren verkehrende Aneignung erzeugen dabei eine Reihe von Spannungsverhältnissen, die kaum aufzulösen sind, aber vielleicht einen Beitrag zu einer differenzierten Auseinandersetzung mit diesen Bildern leisten können. Zur Ausstellung erscheint eine Broschüre. Das geplante Diskurs-, Performance- und Vermittlungsprogramm wird gemäß der pandemischen Entwicklungen online und / oder onsite stattfinden. Bereits im Rahmen der ersten Ausstellung der Reihe, die aufgrund der Pandemie unterbrochen und verlängert wurde, hat der Kunstverein ein Shutdown Programm initiiert, das die Fragen und Themen des Projektes in verschiedenen Onlineformaten vertieft. 4
Die Kurator*innen María García Ruiz geb. 1981, lebt in Barcelona, Spanien María García Ruiz ist Künstlerin, Kuratorin und Forscherin. Von 2015 bis 2016 war sie Research Fellow in Residence am Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid. Ihre künstlerische Arbeit wurde unter anderem in der Wiener Sezession (2014), dem MUSAC in Leon (2018) und Fabra i Coats in Barcelona (2018) gezeigt. Gemeinsam mit Pedro G. Romero kuratierte sie verschiedene Ausstellungen über die Beziehungen zwischen Flamenco, Rom*nja-Kulturen und Moderne, unter anderem im Württembergischen Kunstverein im Rahmen der Ausstellung Utopian Pulse. Flares In The Darkroom (2015). García Ruiz war Ko-Kuratorin der Bergen Assembly 2019. Pedro G. Romero geb. 1964 in Aracena, Spanien; lebt in Sevilla und Barcelona, Spanien Pedro G. Romero arbeitet in den Bereichen Kunst, Theorie, Literatur, Film, Musik, Theater und Tanz. Er ist Kunst- und Literaturkritiker, Essayist und Flamenco-Experte. Seit 2000 arbeitet er am Archivo F.X., das Dokumente des antiklerikalen Bildersturms während des spanischen Bürgerkriegs mit avantgardistischen und zeitgenössischen künstlerischen Positionen verbindet, und an Máquina P.H., das sich den Beziehungen zwischen Flamenco und der Moderne widmet. Der Württembergische Kunstverein hat bereits mehrfach mit Romero zusammengearbeitet, wie im Rahmen der Ausstellung Utopian Pulse. Flares In The Darkroom (2015) und widmete ihm 2012 die Einzelausstellung Archivo F.X. Wirtschaft, Ökonomie, Konjunktur. Er war Ko-Kurator der Bergen Assembly 2019. Romeros Projekte wurden u. a. auf der documenta 14 in Athen und Kassel (2017), der 31. Bienal de São Paulo (2014), der Manifesta 8 in Murcia und Cartagena (2010), dem katalanischen Pavillon auf der 53. Biennale in Venedig (2009) und dem Sculpture Center in Long Island City (2008) präsentiert. Er hat zahlreiche Choreografien für den Flamenco- Tänzer Israel Galván geschrieben und Ausstellungen wie Poesía Brossa im MACBA in Barcelona (zusammen mit Teresa Grandas, 2017–18), Friedensvertrag für DSS 2016 in San Sebastian (2016) und Die spanische Nacht: Flamenco, Avantgarde und Populärkultur im Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía in Madrid (2007) kuratiert. Er war Ko-Kurator der Bergen Assembly 2019. 5
Werke in der Ausstellung Courtesy (wenn nicht anders erwähnt): Die Künstler*innen Daniel Baker geboren 1979 in Bath, Großbritannien, lebt in London, Großbritannien Mirrored Library (Gespiegelte Bibliothek), 2008 Serie aus Hinterglasmalereien, Emailfarbe und Blattsilber auf Plexiglas Courtesy: Stiftung Kai Dikhas, Berlin Die Mirrored Library des Künstlers und Rom*nja-Aktivisten Daniel Baker basiert auf einer Sammlung von Büchern über „Gypsies“, deren Titel jeweils seitenverkehrt als Hinterglasmalerei auf eine Plexiglasplatte übertragen wurden. Jede Platte, die dem Originalformat des ursprünglichen Buches entspricht, ist zudem mit Blattsilber vergoldet, wodurch ein spiegelnder Effekt entsteht. Baker verhandelt in dieser Arbeit die vielschichtigen Barrieren der Wissensaneignung, denen Rom*nja ausgesetzt sind, und zugleich die Erfahrung, das stumme Subjekt eines Diskurses, eines Wissens über anstatt von Rom*nja, zu sein. Serafín Estébanez Calderón / Francisco Lameyer S.E.C.: geboren 1799 in Málaga, Spanien, gestorben 1867 in Madrid, Spanien; F.L.: geboren 1825 in El Puerto de Santa María, Spanien, gestorben 1877 in Madrid, Spanien Asamblea general (General Assembly), 1883-1847 Veröffentlicht in Serafín Estébanez Calderón, Escenas andaluzas, Don Baltasar González Presse, Madrid, 1847, 1. Ausgabe, Courtesy: Pedro González Romero Der Text Asamblea general von Serafín Estébanez Calderón (auch El Solitario genannt) entstand zwischen 1838 und 1847 in verschiedenen Versionen, die von einem Bericht über das Leben der Rom*nja bis zu einer touristischen Schilderung Andalusiens reichen. Was Calderón hier eigentlich 6
beschreibt, ist eine Reihe von kris, den politischen Zusammenkünften andalusischer Rom*nja, bei denen die Gruppen aus Málaga, Cádiz und Sevilla über verschiedene Angelegenheiten verhandelten. Diese kris waren auch Feste, bei denen kein Unterschied zwischen den politischen, wirtschaftlichen und festlichen Bereichen gemacht wurden. Da Francisco de Goya als idealer Künstler galt, Calderóns Erzählung zu illustrieren, wurde der Goya-Anhänger Francisco Lameyer damit beauftragt. Calderón und Lameyer zählten zu den Künstlern, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts der Bohème in Spanien angehörten. Ihr Werk ist ein direktes Zeugnis des Lebens der damals neuen städtischen Unterschicht, die vor allem in Andalusien einen Artikulationsraum schuf, der als Flamenco bekannt werden sollte. Joy Charpentier geboren 1991, lebt und arbeitet in Montpellier, Frankreich Auswahl von 7 Fanzines und 5 Postkarten, 2016–2020 darunter Fags Hate God, Cold Dish, Retour à Dale Farm, Nous les Gitans, Fiona Book Pro Verschiedene Formate, Faksimiles Courtesy: Galerie Alarcón Criado, Sevilla Flamenco ist ein Begriff, der, wie queer, zunächst eine abwertende Bedeutung hatte, als Beleidigung und Demütigung gemeint war und mit Minderwertigkeit, Verbrechen und Prostitution gleichgesetzt wurde. Mittlerweile wird er von seinen Repräsentant*innen mit Stolz verwendet. Die Arbeiten von Joy Charpentier greifen diese Verschiebung und positive Aneignung auf. Als Manouche und Homosexueller erlebt er Ausgrenzung, Verachtung sowie das emanzipierende Potential der Verkehrung ursprünglich verletzender Fremdbezeichnungen auf doppelte Weise. Ines Doujak geboren 1959 in Klagenfurt, Österreich, lebt in Wien, Österreich Sing Along! (Sing mit!), 2019 Skulptur, verschiedene Materialien, 180 x 100 x 140 cm; Heftreihe Ausstellungsansicht Bergen Assembly 2019, Bergen Kjøtt 7
Die eine kranke Kartoffel gebärende transsexuelle Figur in dieser mehrschichtigen Klang-Skulptur basiert auf einer Collage von Zeichnungen aus medizinischen Büchern des 19. Jahrhunderts über Hautkrankheiten: Bücher, die mit ihren gleichermaßen Schauer und Lust erzeugenden Bildern die Konstruktion des Monströsen wesentlich hervorgebracht haben. Die Figur steht auf einer überdimensionalen mumifizierten Ratte: dem Tier, das in europäischen Erzählungen als Inbegriff der Angst vor Krankheitsübertragung erscheint, am prominentesten in Bram Stokers Roman Dracula. Die Skulptur spielt ein Repertoire von neuen Liedern ab, die den derzeitigen Arbeiter*innenkämpfen gewidmet sind und von verschiedenen Künstler*innen geschrieben und interpretiert wurden. Diese musikalischen Elemente rücken die Skulptur auch in die Nähe der Legende des Rattenfängers von Hameln, dessen Musik nicht nur die Ratten, sondern auch die Kinder der Stadt verführte. Eine der Stimmen gehört dem Sänger Niño de Elche, der sich selbst als Ex-Flamenco bezeichnet und den erhabenen quejío jondo – eine besonders schmerzbetonte Form des Flamencogesangs – zu einer Groteske verschoben hat. Toto Estirado geboren 1939 in Usagre, Spanien, gestorben 1994 in Badajoz, Spanien Schizoide Zeichnungen (Das Denkmal 1, 1978; Das Denkmal 5, 1977; Persönliche Notizen, 1977; Persönliche Notizen 3), 1978 4 Zeichnungen, je 30 x 20 cm Courtesy: Pedro González Romero Bar in Alameda, 1978 Dämmerung am Teich, 1978 Zeichnung, 30 x 20 cm Zeichnung, 30 x 20 cm Courtesy: Pedro González Romero Courtesy: Pedro González Romero Schattenzeit, 1978 Gras und Tau, 1978 Zeichnung , 30 x 20 cm Zeichnung, 30 x 20 cm Courtesy: Pedro González Romero Courtesy: Pedro González Romero 8
Toto Estirado war ein schizophrener Künstler, der sich in psychiatrischer Behandlung befand. Die Werke, die er von 1968 bis 1977 unter der Einwirkung verschiedener Psychopharmaka schuf, verhandeln politische Themen als Praktiken des Festes. Sein Schwerpunkt hatte sich verlagert: von der Suche nach Selbsterkenntnis hin zu einer Interpretation der Zeitgeschehnisse – die Unruhen von 1968, der Anti-Franco-Kampf, der politische Übergang etc. – als Krankheit. In diesem Sinne kann sein Werk als das Symptom einer bestimmten Epoche und eines bestimmten Ortes betrachtet werden: eines politischen Widerstands, der in Form von rauschenden Festen, Karneval und Rummel erlebt wurde. Flo6X8 Kollektiv, gegründet 2008, Spanien Voz flamenca en el parlamento (Flamencostimme im Parlament), 2014 Videodokumentation einer Intervention im Andalusischen Parlament, Farbe, Sound, 3’10” Flo6x8 ist ein Kollektiv von Aktivist*innen, das in seinen öffentlichen Aktionen und Interventionen Flamenco als Protestform einsetzt. Am 24. Juli 2014 drangen Mitstreiter*innen der Gruppe, zunächst unbemerkt, in das andalusische Parlament in Sevilla ein, als dieses den so genannten „Sitz 110“ einführte, der die Bürger*innenbeteiligung fördern soll. Drei Flamencosänger*innen, zwei Frauen und ein Mann, unterbrachen die Sitzung, als der Sprecher der sozialistischen Fraktion das Wort ergriff. Ihr Gesang richtete sich gegen die von der Regierung geplanten Sparmaßnahmen. Alle drei wurden noch während des Gesangs vom Ordnungspersonal aus dem Saal entfernt. Das Video zeigt eine Dokumentation dieser Aktion. Mit dieser Aktion weist Flo6x8 auf die Widersprüche und Ausschlüsse der Volksvertretung hin. Robert Gabris geboren 1986 in Hnúšťa, Slowakei, lebt in Wien, Österreich You Will Never Belong Into My Space (Replica of My Father‘s House. Model 1:20), 2020 Fotografie nach Modell, 293 x 454 cm 9
© VG Bild-Kunst, Bonn 2020 „Das Foto illustriert eine komplett verzerrte Realität und hinterfragt, ob wir nur glauben, behaupten oder wissen. Wie funktioniert die Übermittlung von falschen, illustrativen, völlig absurden Bildern und wie schnell werden sie von uns als Wahrheit akzeptiert? Auf diesem Foto thematisiere ich eine unerträglich harte Form der Ausgrenzung meines biologischen Vaters aus der Gesellschaft. Er selbst hat es als die „absolute Raumtrennung“ bezeichnet und gemeint „Du [an die slowakische weiße Gesellschaft gerichtet] wirst nie in meinen Raum gehören“, so wie er nie ein gleichwertiger Teil dieser Gesellschaft sein durfte. Ich bediene mich eines total übertriebenen Narrativs über uns – grelle Farben, Magie und Aberglaube – und übermittle somit die Absurdität dieser zwei Gegenpole. Das Model des Hauses meines Vaters wurde im Maßstab 1:20 gebaut, abfotografiert und ein Abzug in Originalgröße gedruckt. Alles was auf diesem Abzug zu sehen ist, hat nichts mit der Realität zu tun. Trotzdem bleibt die Frage offen: wie real kann man eine Illusion übermitteln?“ (Robert Gabris) Gonzalo García Pelayo geboren 1947 in Madrid Vivir en Sevilla, 1978 Video, Farbe, Ton, 108‘ Vivir en Sevilla gilt als Schlüssel- und Meisterwerk des Musikproduzenten, Radiosprechers, Filmemachers und zeitweise professionellen Glückspielers Gonzalo García Pelayo. Der Film steht für jene Generation der spanischen Übergangszeit zwischen Diktatur und Demokratie, der sogenannten Transicíon, die es in ihrer gegenkulturellen Lebensweise nach Sevilla führte. Die 10
Erzählung über die Beziehung, das Beziehungsende und die neuen Liebschaften von Ana und Miguel sowie über einen Maler, der aus seinem Londoner Exil zurück nach Sevilla kehrt, bilden den Rahmen für ein dichtes Gewebe aus Spielszenen, dokumentarischen und musikalischen Elementen. Dabei werden zahlreiche damals aktuelle Geschehnisse aufgegriffen, wie die Besetzung der Giralada, des Glockenturms (und ehemaligen Minaretts) der Kathedrale von Sevilla, durch Werftarbeiter*innen, dem durch einen Polizisten verübten Mord an Enrique Mesa (alias Quique) oder die Machenschaften der in Palmar de Troy nahe Sevilla angesiedelten Sekte namens Palmarianisch-katholische Kirche. Der Film ist ein Paradebeispiel dafür, wie ein Flamenco-Kino, das auf flamencoweise gemacht ist, sein sollte: Ein Kino, das über die Darstellung von Musik und Tanz hinausgehend eine Raum-Zeit sowie bestimmte Gesten und Lebensweisen aufruft, die dem Flamenco ähnlich sind. In den Politiken der Freude, die den gesamten Film durchdringen, manifestiert sich die Konfrontation zwischen bestimmten Haltungen und der historischen Zeit, der Zeit des politischen Übergangs, in der sie sich bildeten. María García Ruiz geboren 1981 in Valdepeñas, Spanien, lebt in Barcelona Virgencica, Virgencica!, 2016 Videoinstallation, 13’ María García Ruiz’ Video kreist um das Dorf La Virgencica, das 1963 gebaut wurde, um die Rom*nja, die nach der Überschwemmung der Höhlen von Sacromonte in Granada evakuiert werden mussten, aufzunehmen. Die Architekt*innen entwarfen ein modernes System aus vorgefertigten Modulen, das einige der räumlichen Qualitäten des Gemeinschaftslebens in den Höhlen aufgriff. Ruiz führte mit einigen ehemaligen Bewohner*innen von La Virgencica ein Reenactment durch. Zunächst wurde eines der architektonischen Module nachgebaut, dieses bewohnt und schließlich mit einem Bulldozer zerstört. Der gesamte Prozess wurde zum Fest, Ritus, Denkmal und zur Pilgerfahrt. Der ephemere Charakter der Konstruktion und die Leichtigkeit der Materialien verweisen auf die Zerbrechlichkeit der Erinnerung, insbesondere bei bestimmten Gemeinschaften. 11
Israel Galván geboren 1973 in Sevilla, Spanien La Fiesta, 2017 Videodokumentation der gleichnamigen Performance Video, Farbe, Ton, 90‘ Courtesy: Israel Galván Company Der Tänzer und Choreograph Israel Galván zählt zu den herausragenden Figuren des zeitgenössischen Flamencos. Über La Fiesta (Das Fest) schreiben García Ruiz und Romero: „Und so stellt sich heraus, dass es da ein Gespür für das Gemeinsame gibt, für Kollektivität, dafür, wie sich Namen im Rausch des Festes auflösen und verschwinden. Die Feiernden sind nicht mehr sie selbst, und ihr Selbstverlust ist der Gewinn des Festes … Wie löst man sich auf und bewahrt seine Singularität? … Dein Bauch ist zu klein, nimm meinen. Nimm meinen Hintern, schau, wie er sich bewegt! Reicht dein Arm, dein Bein, dein Ohr nicht aus? Hier sind meine. Ich reiße mir die Augen aus und leihe sie dir … In der chaotischen Welt der Feste trägt der Mensch den Esel, aber hier sind Mensch und Esel Brüder und Schwestern. Ein Fest, ja, aber machen wir uns nichts vor. Feste sind das Leben selbst. Kriege sind es auch. Ein Kampf. Kampfszenen. Sieh nur, wie diese sieben, die sieben in unserer Fiesta, dem Raum gegenüberstehen. Gegen was können sich sieben auf einer Theaterbühne ruhende Körper auflehnen? Gegen den Boden, gegen die Schwerkraft. Architektur ist reine Diktatur. Sie stellen alles auf den Kopf, weil auch sie sich durch den Raum, durch die Materialität unterdrückt fühlen. Die Struktur eines Gebäudes ist am deutlichsten zu sehen, wenn es brennt. Launen und revolutionäres Geschwätz vermischen sich im Unsinn. Es ist ein Fest und es ist ein Krieg gegen den Raum und gegen die Zeit. So viele Dinge! Hass und Lebenslust zugleich. Das gleiche Leben.“ Tony Gatlif geboren 1948 in Algier, Algerien, lebt in Paris Vengo, 2000 Film, Farbe, Ton, 90' 12
Vengo ist ein gefeierter Film des in Algerien geborenen französischen Filmemachers Tony Gatlif. Er besteht im Wesentlichen aus einer Aneinanderreihung großartiger Darbietungen von Flamenco- und Nicht-Flamenco-Künstler*innen mit Orestes Villasan Rodríguez als Star dieses intensiven Musicals. Auf der einen Seite ist es interessant zu sehen, wie Gatlif die orientalistischen Fantasien einsetzt, die seit Prosper Mérimées Roman Carmen im mythologisierten Andalusien spielen und deren Versatzstücke Banditen, Schmuggler, verhängnisvolle Liebe, Prostituierte, Randexistenzen und Kriminelle sind. Was diese vertraute Ordnung stört ist Orestes, dessen antinormativer Gang das eigentliche Leitmotiv und die zentrale Metapher des Films darstellt. Mit einer manifestartigen Kraft führt Vengo den behinderten Helden in die Kultur des Flamencos ein, die eine Tradition von Tänzer*innen mit Behinderung aufweist, die von Balthasar Maté, El Mate sin pies (der fußlose Mate), bis zum Maestro Enrique El cojo (der Krüppel), dem Gründer der sevillanischen Tanzschule, reicht. Während des gesamten Films nimmt niemand aus der Welt der marginalen Rom*nja Notiz von der angeblichen Beeinträchtigung durch Orestes. Seine Behinderung wird nur innerhalb der Mainstream-Gesellschaft und des Wohlfahrtsstaates diskriminiert, was Vengo subtil kritisiert. Helios Gómez geboren 1905 in Sevilla, Spanien, gestorben 1956 in Barcelona, Spanien Días de Ira (Tage des Zorns), 1930 Mappe mit 28 Drucken, publiziert von der Internationalen Arbeiter-Assoziation Berlin (Faksimiles) Besinnung und Aufbruch: Monatsblätter freiheitlicher Bücherfreunde, August 1930 13
Willi Jadau (Hrsg.); Gestaltung Titelblatt: Heliós Gomez Courtesy: Deutsche Schillergesellschaft e. V. / Deutsches Literaturarchiv Marbach Helios Gómez war eine Schlüsselfigur der libertär-anarchistischen und kommunistischen Agitprop, die während der Zweiten Republik und des Spanischen Bürgerkriegs entstand. Die Mappe Días de Ira schuf er zur Unterstützung der Internationalen Arbeitervereinigung (IWA) 1930 in Berlin und als Teil der deutschen konstruktivistisch-sozialistischen Avantgarde. In seinem Selbstporträt als Flamencogitarrist für das Titelbild der Zeitschrift Crónica (Oktober 1936) verband Gómez seine künstlerische Sprache mit der Kultur jener Gemeinschaft, aus der er stammte. Helios Gómez war stets offen für einen feierlichen Charakter seiner Werke, die Kritik und Fest in einer Weise verbanden, die den reimenden Couplets der blinden Bänkelsänger ähnelt, die eine der poetischen Quellen des Flamencos sind. Dieser doppelte Charakter bringt die Bedeutung von Künstler*innen wie Helios Gómez perfekt zum Ausdruck, der nicht nur ein persönliches Werk schuf, sondern auch an verschiedenen Kunstszenen teilnahm und diese etablierte. Gómez war ein aktiver Kämpfer, stand zu verschiedenen Zeiten mit der CNT (Nationaler Gewerkschaftsbund), der IWA und der Kommunistischen Partei in Verbindung und wurde des Terrorismus und der politischen Rebellion beschuldigt. In seinen letzten Lebensjahren, als er im Modelo-Gefängnis in Barcelona einsaß und nachdem er die Konzentrationslager in Südfrankreich und Nordalgerien überstanden hatte, wurde Gómez sich der Notwendigkeit einer politischen Subjektivierung der Rom*nja bewusst und begann eine Reihe von Forschungsprojekten zu diesem Thema. Francisco de Goya geboren 1746 in Fuendetodos, Spanien, gestorben 1828 in Bordeaux, Frankreich Nr. 21 aus der Serie Tauromaquia (1. oder 4. Auflage), Radierung, 1814-16 Courtesy: Privatsammlung Berlin Félix Augustin Milius, Porträt Francisco de Goyas (nach Goya), o.J. Courtesy: Privatsammlung Berlin Los Proverbios (Die Sprichwörter), auch bekannt als Los Disparates (Die Torheiten), 1815-23 18 Radierungen, je 30 x 43 cm, 3. Auflage, 1903 Courtesy: Privatsammlung Berlin 14
Die Serie Los Disparates radikalisiert eines der Charakteristika im Spätwerk von Francisco de Goya: die Darstellung traumartiger oder karnevalesker Szenen mit starkem, oft rätselhaftem politischem Inhalt. Aufgrund der oft erwähnten Zweideutigkeit dieser Serie hat dessen Interpretation die ideologische Skala von rechts nach links und umgekehrt durchlaufen, während Goya eine Polyphonie aus Stimmen, Perspektiven und Vorstellungen geschaffen hat. Träume und Fantasie erlauben es ihm, verschiedene Welten zu kombinieren. In den Blättern tauchen oft Randfiguren aus der Unterwelt auf (Rom*nja, Hexen, Banditen, Prostituierte, Zuhälter, Kriminelle). Die Frauen, Männer und Monster, die im Kreis tanzen oder auf einer Decke in die Luft geworfen werden, illustrieren beliebte Spiele, aber sie verweisen auch auf die revolutionäre Zeit, in der die Zeitgenossen Goyas lebten, und den damit verbundenen Rollentausch. Goyas festliche, humorvolle Szenen sind lebendige Aufrufe zum politischen Handeln und eine Einladung, neue Lebensformen auszuprobieren. Francisco de Goya / Rosario Weiss R.W.: geboren 1814 in Madrid, Spanien; gestorben 1843 in Madrid, Spanien Dibujos dobles (Doppelte Zeichnungen), 1821-1824 Tinte und Gouache auf Papier 7 Blätter, je 15 x 10 cm, Faksimile-Reproduktionen Das Interessante an diesen Zeichnungen, die Rosario Weiss im Alter von knapp zehn Jahren auf der Rückseite der Skizzenbücher ihres Paten (oder Vaters?) Francisco de Goya anfertigte, ist die Möglichkeit, dass es sich dabei durchaus um Kommentare zu den Zeichnungen ihres Lehrers auf der Vorderseite handeln könnte. In vielerlei Hinsicht beeinflusste das Traumhafte ihrer kindlichen Kritzeleien Goyas eigene fantastische Vorstellungskraft. Auf einer Seite malte Goya einen wilden Soldaten, auf der Rückseite zeichnete Rosario eine Frau mit Fächer. Der tattrige geisterhafte Mönch ist von Goya, die beiden toten Mönche auf der Rückseite von Rosario. Ein bequemer Schlitten scheint die Antwort des Mädchens auf die seltsame Figur zu sein, die Goya schreien lässt, dass sie sehr müde sei. Diese Skizzen scheinen eine Verspieltheit zwischen Meister und Schülerin 15
anzudeuten, eine Version des Spiels der Gegensätze, der auf dem Kopf stehenden Welt, die Goya gegen Ende seines Lebens interessierten. Dies Zeichnungen sind auf die Zeit datiert, kurz bevor Goya in Begleitung der jungen Rosario und ihrer Mutter, die damals wahrscheinlich seine Lebensgefährtin war, ins Exil nach Frankreich ging. Als sie in Bordeaux ankamen, bestand Goya mit außerordentlicher Leidenschaft und Vehemenz auf Rosarios künstlerischer Professionalisierung. Er war sich des damals politischen Charakters dieses Ansinnens sehr bewusst. Isaías Griñolo Geboren 1963 in Bonares, Huelva, Spanien, lebt und arbeitet in Sevilla, Spanien Utopía Pueblo (Stadt der Utopie), 2014 Malerei auf Leinwand, 200 x 300 cm La FIERA en SEVILLA (Utopía pueblo), 1652-1917-2013 Video, Farbe, Ton ,33‘43‘‘ Die Videoarbeit von Isaías Griñolo basiert auf den Erfahrungen der Gruppe Los Flamencos, die aus dem Sänger Niño de Elche, dem Dichter Antonio Orihuela und Griñolo selbst bestand, mit den Schnittstellen von Flamenco und Aktivismus. Konkret geht es um die Corrala Utopia: einem von verschiedenen Familien besetzten und selbst verwalteten Raum in Sevilla, der zu einem Emblem des Kampfes gegen die Privatisierung von und Spekulation mit Immobilien sowie für das Recht auf Wohnraum wurde. Der Flamenco und der (liturgische) Ort des Festes fungierten dabei als soziales Bindeglied. Julio Jara geboren 1971 in Toledo, Spanien Los Mil y Un Cartones (Tausendundein Pappkartons), 2019 Interventionen am Robin Hood Huset und in der Stadtmission, Bergen Videodokumentation; Serie von Kartons (Rekonstruktionen der Originale) Julio Jara arbeitet für ein Wohnungslosenheim der katholischen Stiftung San Martín de Porres im Stadtviertel Caño Roto in Madrid, das sich um Transgendermenschen kümmert. Er ist dort für Pflege, Verwaltung und Kochen zuständig. In diesem Zusammenhang bietet er auch künstlerische Workshops an. So ist das Projekt Los Mil y Un Cartones entstanden, bei dem die Teilnehmer*innen ihre Erfahrungen der ersten Nacht auf der Straße artikulieren. Der gleichwertige Austausch zwischen jenen, die helfen, und jenen, den geholfen wird, ist für ihn ausschlaggebend. Im Rahmen der Bergen Assembly 2019 hat er in Zusammenarbeit mit der Stiftung Robin Hood Huset für Menschen in Not und der Stadtmission diesen Workshop in Bergen durchgeführt. Dabei sind das in der Ausstellung zu sehende Video und die Papptafeln entstanden. 16
Hiwa K geboren 1975 in Sulaimaniyya, Irak Moon Calendar (Mondkalender), 2007 Video, Farbe, 12‘16‘‘ Courtesy: der Künstler, Prometeo Gallery di Ida Pisani, Milan, Lucca; KOW, Berlin, Madrid Hiwa K tanzt auf dem Gelände von Amna Souraka, einem der berüchtigten politischen Gefängnisse des Regimes von Saddam Hussein, auch bekannt als Red Security Building (rotes Sicherheitsgebäude), Flamenco. Er tanzt im Rhythmus seines eigenen Herzschlags, den er immer wieder durch ein Stethoskop abhört. Sein Herzrhythmus und das Trommeln seiner Füße harmonieren miteinander. Hiwa Ks Aktion hat etwas von einem psycho-geographischen Sensor, als sei sein Körper eine Art Schmerzdetektor. Selten war die Politisierung von Rhythmus so deutlich. Beim Flamenco steht der Rhythmus gleichermaßen für das Fest wie für die Tragödie. Teresa Lanceta geboren 1951 in Barcelona, Spanien, lebt in Mutxamel, Spanien 8, rue de la Bahía, Barcelona; Plaça real, 13; Bonaire, 46; Don Felipe, 13; Gardunya, 9; Hospital, 56; Jerusalem, 8; Montera, 43; Obrador, 5; Santísima faz, 3, seit den 1980er Jahren Diverse Wandteppiche, variierende Maße © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 17
Teresa Lanceta hat viele Jahre in der Nähe des Barrio Chino in Barcelona, des Flohmarktes El Rastro in Madrid, in den Stadtvierteln Arenal und Triana in Sevilla oder den Hügeln von Granada mit Rom*nja-Gemeinschaften zusammengelebt, -gearbeitet und gefeiert. Dies hat sich nachhaltig auf ihre künstlerische Praxis ausgewirkt. In jedem Haus, in dem sie wohnte, ist ein Wandteppich entstanden, der nach der jeweiligen Adresse benannt ist. Momente eines Lebens, biografische Schnipsel, Freude und Trauer haben sich in diese eingeschrieben. Los Putrefactos (Die Verfaulenden) Pepín Bello, Luis Buñuel, Salvador Dalí und Federico García Lorca Diverse Materialien Um 1925, nachdem Federico García Lorca, Luis Buñuel, Salvador Dalí und Pepín Bello sich durch ihre geneinsame Zeit in der Residencia de Estudiantes in Madrid näher gekommen waren, entstand der Name Los Putrefactos, die Verfaulenden. Er diente als Bezeichnung für alles, was der Gruppe altmodisch, bürgerlich, rührselig, akademisch und hegemonial vorkam. Ihre Karikaturen, humorvollen Texte und Gedichte vereinte sie auf nahezu geheimbündlerische Weise. Der berühmte Film Un Chien Andalou von Buñuel und Dalí aus dem Jahr 1929 spiegelt die Ideen der Gruppe geradezu sprichwörtlich wider, wenn er zum Beispiel die verrottenden Esel auf den Klavieren zeigt: wobei die Kritik hier einem der Gründer der Gruppe, García Lorca, galt. Wie der Kritiker Rafael Santos Torroella schrieb, waren homosexuelle Beziehungen das unterdrückte Thema, das die Gruppe verband und spaltete. Bello hinterließ verschiedene schriftliche Berichte darüber, wie der Geist von Los Putrefactos die drei Künstler dauerhaft beeinflusst hat. So finden sich Spuren davon in Werken wie Lorcas Dichter in New York (1936-40), Buñuels Der Würgeengel (1862) und Dalís Der tragische Mythos von Millets Angelus (1935-63). Lumpenbälle Gerd Arntz / August Sander / Franz Wilhelm Seiwert Gerd Arntz, Zwölf Häuser der Zeit, 1927 Serie von 12 Holzschnitten, Faksimile-Nachdrucke Franz Wilhelm Seiwert, Hochdruck-Postkarten für Lumpenbälle, um 1925-32 Auswahl von fünf Exemplaren, Faksimile-Nachdrucke August Sander, Köln wie es war, 1929-31 Lumpenball-Serie, Auswahl von zehn, und Coellen aus Rand und Band, Faksimile-Nachdrucke, mit freundlicher Genehmigung des Kölnischen Stadtmuseum, Köln 18
August Sander, Köln wie es war, 1929-31, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020 Die Fotografien von August Sander, die Grafiken von Franz Wilhelm Seiwert und die Illustrationen von Gerd Arntz, die hier unter dem Titel Lumpenbälle zusammengefasst sind, spiegeln das Interesse eines Teils der konstruktivistisch-sozialistischen Avantgarde an den subalternen, unterprivilegierten Klassen wider. Der Titel bezieht sich auf die Kostümfeste, die die Gruppe Kölner Progressive während des Kölner Karnevals von 1925 bis 1933 in der Kneipe Em Dekke Tommes durchführten. In diesen Werken manifestiert sich der Wunsch, eine Form des Festes auszuprobieren, die mit der Unterwanderung der sozialen Ordnung einhergeht, die dem Karneval seit jeher innewohnt: die Umkehrung der Geschlechter, Transvestismus, die Zerrüttung der sozialen Rollen oder das auf den Kopf stellen der politischen Ordnung. Der Begriff Lumpenbälle, den die Kölner Progressiven für ihre Feste wählten, verweist nicht nur auf das von Karl Marx und Friedrich Engels so verhasste Lumpenproletariat, sondern auch auf das ‚schlechte‘ Kostüm, das in einer Ökonomie des Widerstands aus Resten, Fetzen und Abfallstoffen zusammengeschustert wurde. Tatsächlich war der Kölner Karneval vor den Lumpenbällen eine recht steife Angelegenheit. Pedro G. Romero nach Guy Debord mit verschiedenen Künstler*innen P.G.R.: geboren 1964 in Aracena, Spanien, lebt in Sevilla, Spanien Canciones de la Guerra Social Contemporánea (Lieder des zeitgenössischen sozialen Krieges), 2019 Diverse Materialien (Dokumente, Publikationen, Videodokumentationen von Performances) Mit: Niño de Elche, Javiera de la Fuente, Isaías Griñolo, Los Planetas, María Marín, Tomás de Perrate, Proyecto Lorca, María Salgado / Fran MM Cabeza de Vaca, José lsmael Sierra Canción para los obreros de Seat (Lied für die Seat-Arbeiter*innen), 2019 Los Planetas, Niño de Elche, Performer Andrés Duque, Video Video, 6:35’ Nana de esta pequeña era (Wiegenlied dieses kleinen Zeitalters), 2019 19
María Salgado, Fran MM Cabeza de Vaca, Canción Luis Gillardini González (Lied für Luis Performance, Musik, Video Gillardini González), 2019 Video, 13:28’ Tomás de Perrate, Performer Isaías Griñolo, Video Gracias a la vida (Dank an das Leben), 2019 Video von einem Konzert im Rahmen der Javiera de la Fuente, José lsmael Sierra, Bergen Assembly 2019, 4:50’ Performer Isaías Griñolo, Video Canción Gabriel Botifoll Gómez (Lied für Video von einem Konzert im Rahmen der Gabriel Botifoll Gómez), 2019 Bergen Assembly 2019, 11:52’ Tomás de Perrate, María Marín, Proyecto Lorca, Performer Epitafio para un extranjero (Epitaph für einen Isaías Griñolo, Video Fremden), 2019 Video von einem Konzert im Rahmen der María Marín, Performer Bergen Assembly 2019, 6:59’ Isaías Griñolo, Video Video von einem Konzert im Rahmen der Presos de Segovia (Die Gefangenen von Bergen Assembly 2019, 5:48’ Segovia), 2019 María Marín, Proyecto Lorca, Performer Canción de parla (Sprechendes Lied), 2019 Isaías Griñolo, Video Tomás de Perrate, Performer Video von einem Konzert im Rahmen der Isaías Griñolo, Video Bergen Assembly 2019, 9:09’ Video von einem Konzert im Rahmen der Bergen Assembly 2019, 5:25’ La cárcel de Segovia (Das Gefängnis von Segovia), 2019 Canción de las barricadas de Cádiz (Lied der Proyecto Lorca, Performer Barrikaden von Cádiz), 2019 Isaías Griñolo, Video Tomás de Perrate, María Marín, Performer Video von einem Konzert im Rahmen der Isaías Griñolo, Video Bergen Assembly 2019, 6:45’ Video von einem Konzert im Rahmen der Bergen Assembly 2019, 9:45’ In den späten 1970er-Jahren unternahm Guy Debord zahlreiche Reisen auf der Iberischen Halbinsel. In Spanien und Frankreich stand er in Kontakt mit Gruppierungen der 20
Autonomiebewegung. Vor diesem Hintergrund beschloss er, ein Liederbuch über das zu verfassen, was er euphemistisch "spanische Neodemokratie" nannte. Debord dachte an die Lieder des Spanischen Bürgerkriegs, die er auswendig kannte, an die von Federico García Lorca zusammengestellten und von La Argentinita gesungenen Volkslieder sowiedie in Paris lebenden spanischen, lateinamerikanischen und europäischen Liedermacher*innen. Bereits 1968 hatte Debord eine französische Version des populären Liedes ¡Ay Carmela! verfasst, das er dem Gedenken an die stalinistische Unterdrückung der CNT und POUM auf den Straßen von Barcelona im Mai 1937 widmete. Debord veröffentlichte 1981 eine erste Liedersammlung unter dem Titel Canciones de la Guerra Social Contemporánea (Lieder des zeitgenössischen sozialen Krieges) und schrieb die Autorenschaft Unos Iconoclastas, einer Gruppe aus der Autonomiebewegung, zu. Canciones de la Guerra Social Contemporánea ist ein Projekt von Pedro G. Romero, das sich der Rekonstruktion und Verbreitung des von Debord unter diesem Titel zusammengestellten Liederbuchs widmet. Siebenundzwanzig Lieder wurden bislang auf unterschiedliche Weise neu interpretiert. Pedro G. Romero und María García Ruiz Machines For Living (Wohnmaschinen), 2018 Mehrteilige Installation mit Modellen, Plänen, Fotos und Videos diverser Stadtentwicklungsprojekte Modelle von MedioMundo Arquitectura Ausstellungsansicht CentroCentro, Madrid, 2017, Foto: Lukasz Michalak Homes for a Gypsy Community von César Portela und Pascuala Campos, 1970-72, Campañó, Pontevedra, Spanien 21
Foto: Anna Turbau Motor dieses Wohnprojektes war die Idee, die Gemeinschaft der Rom*nja in die Landschaft zu integrieren, basierend auf der Metapher der Karawane und des Kornspeichers. Pilotis, die Säulen, die in der modernistischen Architektur so häufig zu finden sind, wurden verwendet, um die Häuser vom feuchten Boden zu isolieren und eine vielseitige Nutzung zu ermöglichen, mit Gehegen für die Tiere in den unteren und trocknen Lagerräumen im oberen Teil des Hauses. Methodisch sollte der Grundriss kreisförmig und auf die Schule und andere öffentliche Räume, die nie gebaut wurden, ausgerichtet sein. Die Struktur der Anlage war den Veränderungen, die jede lebendige Wohnkultur mit sich bringt, auf Dauer nicht gewachsen. Heute ist sie ein marginalisierter Ort, der von Kriminalität und Drogenhandel dominiert ist. Quinta da Malagueira von Álvaro Siza, 1977-1988, Évora, Portugal Álvaro Sizas Projekt zielte darauf ab, einen Teil der portugiesischen Stadt Malagueira, der zu jener Zeit hauptsächlich eine Mülldeponie und das Zuhause wechselnder Rom*nja-Gemeinschaften war, zu sanieren. Die Landschaft mit einem See, Wald und einigen Wiesen gab dabei die Anordnung der Häuser vor. Der Plan sah den Bau von Reihenhäusern entlang diverser Infrastrukturen vor: einem Kanal aus vorgefertigten Betonblöcken, mit Leitungen für Wasser und Elektrizität, der von dem Modell des antiken römischen Aquädukts inspiriert war. Der Entwurf sah überdies kleine Variationsmöglichkeiten in der Kombination von Innen- und Außenmauern sowie Innenhöfen in verschiedenen Konfigurationen vor. So sollte eine gewisse Monotonie der Anlage durchbrochen werden. Die Häuser konnten je nach Wachstum der Familien in Breite und Höhe erweitert werden. Einige der Häuser wurden Rom*nja-Familien zugeteilt. Cité du soleil von Georges Candilis, 1961-69, Avignon, Frankreich Die erste Rom*nja-Stadt, die in den 1960er-Jahren in Frankreich gebaut wurde (lässt man das Konzentrationslager Saliers, das auch als Cité de gitans bekannt war, außer Acht), basierte auf der Form des Kreises, der auf die Gemeinschaft, die sich um das Feuer versammelt – ein Feuer, das im öffentlichen Raum schon damals nicht mehr erlaubt war – sowie auf das Speichenrad als Symbol der Rom*nja verweisen sollte. Alle Anstrengungen dieses Projektes konzentrierten sich auf die Form als primäres Mittel zur Raumdisziplinierung. Die Folge davon war eine Instabilität des Lagers, die schließlich zu dessen Verschwinden führte. 22
Gao Lacho Drom von Enrique Marimón, 1969, Álava, Spanien Inspiriert von Georges Candilis Cité du soleil wurde das Projekt Gao Lacho Drom von Enrique Marimón in einem doppelten Ring organisiert. Wie fast alle utopischen Modelle scheiterte es, da es die Veränderungen durch die Bewohner*innen nicht verkraftete: Schwimmbäder, die an unerwarteten Orten geschaffen wurden, Kochen im Freien, die Haltung von Tieren in Bereichen, die dafür nicht vorgesehen waren, erweiterter Raumbedarf durch Familienzuwachs. La Virgencica von Cruz López Müller, Santiago de la Fuente Viqueira, Miguel Seisdedos González, Luis Labiano Regidor de Vicuña, José Luis Aranguren Enterría y Antonio Vallejo Acevedo,1963, Granada, Spanien Modell von MedioMundo Arquitectura Das Modell einer Höhle ist der Ausgangspunkt für dieses futuristische Stadtentwicklungsprojekt, das an die Häuser der Rom*nja in den Höhlen von Sacromonte erinnert. Dies erklärt die sechseckigen Module, die auf den kreisförmigen Grundriss und die Tiefe einer Höhle, eines Hauses ohne Fenster, verweisen sollen. Nach den Überschwemmungen in den Jahren 1962 und 1963 wurden die Höhlen von Sacromonte als Wohnungen aufgegeben, so dass nur noch die Häuser übrigblieben, die zur Unterhaltung dienten. Der Übersiedlung nach La Virgencica – einem Komplex von Plattenbauten, der von Beginn an als Provisorium gedacht war – dauerte mehr als zwanzig Jahre, in denen die Gebäude stark verfielen. Die Bienenstock-Struktur des Projektes ist typisch für eine modernistische Stadtentwicklung, die versuchte, die Einheit und Autonomie von Gemeinschaften durch biologistische Metaphern zu verwirklichen. La Virgencica war die Heimat einer starken lokalen Bewegung, die sich gegen die Franco-Diktatur erhob. 1970 wurde – mit Hilfe der HOAC (der Bruderschaft der Arbeiter der Katholischen Aktion), der Jesuiten und anderer religiöser Organisationen – ein berühmter Baustreik organisiert, bei dem drei Arbeiter von der Polizei des Franco-Regimes getötet wurden. Lange Zeit fungierte sie als vorübergehende Unterkunft für Rom*nja-Familien, die auf eine Wohnung in einer der neuen Wohnsiedlungen der Stadt warteten. Darcy Lange und Maria Snijders D.L.: geboren 1946 in Urenui, Neuseeland, gestorben 2005 in Auckland, Neuseeland M.S.: geboren 1957 Tilburg, Niederlande, lebt in Auckland, Neuseeland Aire del Mar, 1988-94/2019 Multimedia-Performance, Rekonstruktion der Arbeit Mit freundlicher Genehmigung von Darcy Lange Estate und Maria Snijders Produzent: Tabakalera, San Sebastian in Zusammenarbeit mit Govett Brewster Art Gallery, Neuseeland, Darcy Lange Estate, Neuseeland; Technische Unterstützung: Tractora Koop. E; Digitalisierung von Dias und Bildbearbeitung: Clara Sánchez-Dehesa, Jabi Soto; Digitalisierung von Videos: Nga Taonga Sound and Vision, Wellington, Neuseeland; künstlerische Leitung: Pedro G. Romero, Mercedes Vicente 23
Der neuseeländische Künstler Darcy Lange reiste ab den 1970er Jahren häufig zum Cortijo Espartero in Morón de la Frontera in Sevilla, um mit Diego del Gastor, dem damals bedeutendsten Flamencogitarristen, zu arbeiten und bei ihm Flamencogitarre zu studieren. Unter dem Pseudonym Paco Campaña trat Lange selbst bis zu seinem Tod 2005 als Flamencogitarrist auf. Er integrierte den Flamenco überdies in zwei seiner großen Multimedia-Opern: People of the World (1983-84) und Aire del Mar (1988-94). In der von Lange selbst so genannten audiovisuellen Umweltoper Aire del Mar, in der Diego del Gastor und seine Leute sowie Paco Campaña auftraten, verglich er die Kämpfe der Maori und der Rom*nja gegen die kolonialen Unterdrücker sowie im Hinblick auf die Verteidigung der Natur miteinander. In San Sebastian, Bergen und Stuttgart wurde und wird diese Performance als Installation und Live-Event wiederaufgeführt. Delaine le Bas geboren 1965 in Worthing, England, lebt und arbeitet in Worthing, England Witch Hunt (Hexenjagd), 2009 Installation (Papier, Stoff, Stickereien, Objekte), Maße variabel Courtesy: Stiftung Kai Dikhas, Berlin Ausstellungansicht WKV, Foto: Florian Model 24
Sprachliche Unterschiede sind in Großbritannien seit langem eine Quelle von Konflikten und Misstrauen. Bis heute wird die Sprache der abertausenden Rom*nja, die hier leben, im offiziellen Lehrplan nicht berücksichtigt. Im Umkehrschluss haben diejenigen, die diese Sprache nie verstanden haben, sie für magische Zeichen und Hexerei gehalten. So wurden insbesondere die britischen Rom*nja als Hexen bezeichnet wie Hunderte von Gerichtsverfahren und Romane belegen. Delaine Le Bas greift diesen Kurzschluss auf und leitet daraus eine Vielzahl von widerständigen Gesten, Zeichen und Handlungen ab. Sie richten sich gegen die Vereinnahmung der Rom*nja als Sündenböcke in Krisenzeiten, die von den durch Pest oder Cholera verursachten Pandemien bis zu den Wirtschaftskrisen der kolonialen und industriellen Phase des Kapitalismus reichen; gegen Intoleranz, Vertreibung, Wohnungslosigkeit, mangelnde soziale Unterstützung, Verzerrung der Geschichte und Identität der Rom*nja. Ocaña y sus muchachas flamencas Jornadas Libertarias Internacionales, 1977 Dokumentation einer Intervention während des Internationalen Anarchistenkongresses Jornadas Libertarias in Barcelona, Spanien, 22.-25. Juli 1977 Digitale Diashow mit Fotografien von Eduard Omedes Der 1977 von der Confederación Nacional del Trabajo (CNT) in Barcelona organisierte Internationale Anarchistenkongress, zielte darauf ab, die anarchistische Tradition in Verbindung mit den neuen libertären Denkrichtungen zu bringen. Die Zeitschrift Ajoblanco, die über den Kongress berichtete, veröffentlichte einen Artikel, in dem die völlige Freiheit der sexuellen Praktiken gefordert wurde. Als Zusatz zum offiziellen Programm improvisierten Ocaña und sein Ballett eine Abschlussparty, die Fandangos und Fellatio, Sevillana-Tanz und Sexrausch, parodistische Kundgebungen und öffentliches Urinieren umfasste. Der nationale Vorstand der CNT beschwerte sich über diese Aktion, aber die Organisatoren drohten mit Rücktritt, wenn diese Vorführungen nicht am Ende jedes abends fortgesetzt würden. Das Ausmaß des Skandals veranlasste Ocaña dazu, den Begriff „Libertataria“ zu prägen. Er war der Ansicht, dass Geschlechterdebatten von zentraler politischer Bedeutung seien, und bestand darauf, sein eigenes, anzügliches Vokabular durchzusetzen: Schwuchtel statt Schwuler, Transvestit statt Drag Queen, Hure und Stricher statt 25
Prostituierte und Gigolo. Ocaña y sus muchachas flamencas war der improvisierte Name für die Aufführungen von Pepe Ocaña, Nazario, Camilo und anderen Freunden. Otto Pankok geboren 1893 in Mühlheim an der Ruhr, Deutschland, gestorben 1966 in Wesel, Deutschland Diverse Kohlezeichnungen Courtesy (alle): Pankok Museum Haus Esselt, Hünxe Gaisa von Auschwitz zurück, 1948 Pataran raucht, 1929 Roda steckt Zigarre an, 1929 Kohlezeichnung, 150 x 100 cm Kohlezeichnung, 120 x 100 cm Zigeunerbursche Kartusch, 1931 Roda mit Hut, 1929 Kohlezeichnung, 100 x 120 cm Kohlezeichnung, 117 x 100 cm Zigeunerin, 1931 Pataran mit offenem Mund, 1929 Kohlezeichnung, 108 x 100 cm Kohlezeichnung, 118 x 100 cm Zigeuner, 1931 Patum, 1929 Kohlezeichnung, 118 x 89 cm Kohlezeichnung, 120 x 100 cm Zigeuner Bubala, 1931 Tomasa Büste, 1929 Kohlezeichnung, 120 x 100 cm Kohlezeichnung, 100 x 120 cm Junger Zigeuner Kartusch, 1931 Patum mit losem Haar, 1929 Kohlezeichnung, 120 x 100 cm Kohlezeichnung, 100 x 117 cm Raklo liest, 1933 Kohlezeichnung, 100 x 120 cm 26
Gaisa von Auschwitz zurück, 1948, Fisili, 1933 Kohlezeichnung,100 x 120 cm Kohlezeichnung, 100 x 118 cm Der expressionistische Künstler Otto Pankok, der sich 1919 in Düsseldorf niederließ, trat noch im selben Jahr der Künstler*innengruppe Junges Rheinland bei. Insgesamt 56 seiner Gemälde sollen später von den Nationalsozialist*innen aus deutschlandweiten Museen beschlagnahmt und einige davon 1937 in der Ausstellung Entartetet Kunst in München gezeigt werden. 1929 unternahm der Künstler eine Reise nach Spanien, um sich von den Schrecken des ersten Weltkriegs zu erholen. Etwa die Hälfte der Werke Pankoks, die hier zu sehen sind, entstanden während dieser Zeit. Die Eindrücke aus dem Museum Prado mit seinen Meisterwerken von Francisco de Goya und Diego Velázquez haben sich in diese ebenso eingeschrieben wie die Lebensweisen der Landarbeiter*innen und katalanischen Bauern und Bäuerinnen aus dem Empordà. Zurück in Deutschland freundete sich Pankok zwei Jahre später mit den Sinti*zze an, die in der sogenannten „wilden Siedlung“ Heinefeld (heute Unterrath) in Düsseldorf lebten. Seit 1925 hatte sich auf dem Gebiet der Golzheimer Heide diese informelle Siedlung etabliert, in der Wohnungs- und Arbeitslose, Künstler*innen sowie Sinti*zze-Familien lebten. Pankok hatte hier von 1931 bis 1934 ein Atelier, wodurch er die Sinti*zze kennenlernte. Die Siedlung wurde ab 1935 von den Nationalsozialist*innen geräumt, die auf dem Gelände im Rahmen der Ausstellung Schaffendes Volk (1937) ein neues Stadtviertel, die Schlageterstadt, errichteten – unter anderem mit Musterwohnungen, die die Vorstellungen der Faschist*innen vom „neuen Bauen“ repräsentierten. Die Sinti*zze-Familien wurden zunächst in einer Baracken-Siedlung isoliert und später in verschiedene Konzentrationslager gebracht. Nur wenige überlebten den Holocaust. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm Pankok Kontakt zu ihnen auf und unterstützte sie in ihrem Kampf um Entschädigung. Die andere Hälfte der hier von Pankok gezeigten Werke spiegeln seine Verbundenheit zu den Sinti*zze wider. PEROU / Sébastien Thiéry PEROU – Pôle d’Exploration des ressources urbaines (Cluster zur Erforschung städtischer Ressourcen) Considérant … (In Anbetracht dessen… ), 2013 Video, 28’35” Regie: Sébastien Thiéry, Stimme: Yves-Noël Genod PEROU ist ein Kollektiv, das sich mit Prozessen urbaner Ausgrenzung beschäftigt. Das Video Considérant dokumentiert den Prozess, das Gelingen und die Zerstörung eines Projektes in einer Rom*nja-Siedlung in Ris-Orangis nahe Paris an dem Rom*nja, Einheimische, Künstler*innen, Architekt*innen, Student*innen und andere beteiligt waren. Gemeinsam hatten sie die Siedlung saniert, eine Versammlungsstätte errichtet, gearbeitet und Feste gefeiert: unter anderem mit dem Flamencotänzer Israel Galván. Auf der Bildebene wird dieser Prozess – bis zum brutalen Abriss der Siedlung durch die Polizei – nachgezeichnet. Auf der Tonebene wird der Brief vorgelesen, den die Behörden zur Begründung der Zerstörung verfasst haben: eine technokratische, paternalistische 27
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