Rückseiten des Schönen - archimaera
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Matthias Schirren (Berlin/ Kaiserslautern) Rückseiten des Schönen Gustav Theodor Fechners Die Tagesansicht gegenüber der Nachtansicht (1879) als architektonisch-weltanschauliches Programm bei Bruno Taut Wenn man von Rückseiten spricht, sind Kehrseiten nicht weit. Dass Bruno Taut in seinen Exilschriften der frühen dreissiger Jahre immer wieder die un- zusammenhängende Parallelität von Tokonoma und Abort im japanischen Wohnhaus thematisiert, geht auf die Lehre des Psychophysikers Gustav The- odor Fechner zurück. Auch für künstlerische Visionen beanspruchte Taut den Status von Parallelwelten. Schon seine spektakulärste Utopie, das pa- zifistische Mappenwerk Alpine Architektur, hatte er, bevor er es der Republik von Weimar in die Wiege legte, Wilhelm II. andienen wollen, dem obersten Kriegsherrn der Deutschen im Ersten Weltkrieg. Tauts Beteiligung, von Ja- pan aus, an dem von den Nazis ausgeschriebenen Wettbewerb "Häuser der Arbeit" (1934) muss vor diesem Hintergrund gesehen werden. Gleichwohl bleibt ein Schimmer utopischer Hoffnung. http://www.archimaera.de ISSN: 1865-7001 urn:nbn:de:0009-21-52114 März 2021 #9 "Rückseiten" S. 27-42
"Aber von den Sternen her klingt, noch beschäftigen wird, und schil- wenn die Stille der Nacht dert das erste Alleinsein des – zusam- kommt, auch zu uns noch jene Har- men mit seiner Lebensgefährtin – per monie der Sphären, von welcher Schiff gerade auf der Inselgruppe Ein- die Pythagoreer sagten, dass nur das getroffenen in einem traditionellen ja- Geräusch der Welt sie panischen Wohnhaus. übertäube; eine unauflösliche meta- physische Stimmung, welche jeder Nachdem er zunächst das der eigent- Beweisführung zu Grunde lag und sie lichen Toilette vorgelagerte Pissoir be- alle überleben wird." schrieben hat, das wie diese nur über eine Veranda außerhalb der Wohn- Wilhelm Dilthey, 1883 räume zu erreichen ist, lokalisiert er schließlich den Abort mit folgenden Worten: Was ihm die Rückseite des Schö- "Hinter dem t o k o n o m a [sic!, ms] nen war, exemplifizierte der Architekt war das Klosett, natürlich im Fußbo- Bruno Taut (1880-1938) mehrfach am den vertieft, zum Hocken; es war mit Abort, also dem Raum der niedersten der Wasserleitung zur Spülung ver- Notdurft, die man aus guten Grün- bunden, für solche ländlichen Verhält- den allein vollzieht. In seinem Klas- nisse geradezu vorbildlich. Man musste siker Houses and People of Japan, den mit einer Tempellaterne hinauswandeln Portraitfotografie Bruno Taut der 1933 vor den Nazis aus Deutsch- und schlüpfte dort in die bereitstehen- und Lebensgefährtin Erica Wit- land Geflüchtete Mitte der 1930er im den Strohpantoffeln."2 tich auf einer Terrasse des Im- Stile einer Tagebuchreportage über perial Hotels in Tokio, Mai 1933 seine eigenen Wohnerfahrungen im Die Toilette selbst beschreibt Taut Repro aus: Manfred Speidel Land der aufgehenden Sonne zu Pa- im unmittelbaren Anschluss mit fol- (Hg): Bruno Taut in Japan, Das pier brachte, kommt er schon im Ein- genden Worten: "Ich stellte eine vor- Tagebuch, Erster Band 1933, Ber- leitungskapitel darauf zu sprechen. Es zügliche bauliche Anlage fest: das Klo- lin 2013, S. 42. trägt den Titel "Kontraste", was uns sett hatte oben ein Schiebefenster mit Glas und außerdem unten dicht am Fußboden ein ganz schmales; diese An- lage ist sehr gut für die Ventilation aus- gedacht." Abschließend deutet er das Gesehene philosophisch: "Für mich gab es dabei auch eine Be- trachtung von kultureller Tragwei- te: direkt Wand an Wand so unge- heure Gegensätze – hier die elemen- tarste Notdurft und dort auf der ande- ren Seite derselben Wand das geistige Zentrum des Hauses, das tokonoma mit seinen Kunstwerken, dem Räu- chergefäß und der Blumenkunst. Mir schien das geradezu ein Symbol zu sein, das Japan in unübertrefflichem Kontrast für zwei ganz entgegenge- setzte Welten geschaffen hat, für die Welt des nur Nützlichen und die des rein Geistigen. Ich spann meine Ge- danken aus, suchte mich [sic! ms] über die Beziehungen dieser beiden Welten klar zu werden, die hier ganz präzise als Hinterseite und Vorderseite zum Ausdruck kamen. Ich stellte schließ- lich fest, dass das Notwendige trotz seiner primären Voraussetzungen in dem Grade sauber und gepflegt ist, in dem drüben das Kulturelle hochgehal- ten wird."3 28
on Die Auflösung der Städte für den Wohnsitz der Weltweisen in einer städtelosen Zukunft imaginiert hatte: nahe einem Tempel, zu dem die Gläu- bigen pilgern.4 Entsprechend philoso- phisch-reflexiv heißt es im Tagebuch: "Die Rückseite unseres Tokonomas (ich zünde eben den schönen Weih- rauch wieder einmal an) mit seinem schönen Bild und dem Korb von Rok- ansai, also seine Rückseite ist – Klosett und Pissoir. Dort: 'Bedürfnis', Tech- nik, Notwendigkeit, hier: nichts, gar nichts davon, nicht die geringste 'Not- wendigkeit'. Zwei Welten! Heute [ge- meint ist die weltpolitische Lage 1934, ms] herrscht die Rückseite mit all ih- ren Notwendigkeiten, Kanonen, Politik usw., und sie verlangt von der Vorder- seite, daß sie sich nach ihr richten soll. Diese aber verkümmert, sobald sie sich im geringsten [sic! ms] danach richtet (siehe Kunst unter politischem Diktat, z.B. in Rußland und anderswo). Das Klosett kann das Tokonoma nie be- einflussen. Doch umgekehrt würde das Klosett zu einem Dreckstall mit eben- solchen Manieren, wenn das Toko- noma mit seiner Formschöpfung real oder ideell verschwände. Dann wird das 'Notwendige' selber nur zu einem Dreck. Im Tokonoma (als Begriff und als Tatsache) liegt Stille, Abseitigkeit vom Notwendigen; darum liegt in ihm schöpferische Kraft."5 Ganz oben: Bruno Taut, Grund- Die Parallelität von "Nützlichem" Tauts In-Verhältnis-Setzung von "Nütz- riss (samt eingezeichneter An- und "rein Geistigem" lichem" und "rein Geistigem" als "Hin- sichten von der Umgebung) ter- und Vorderseite" ist keine bloße des ersten von Taut und seiner Der theoretisch-konzeptionelle Rang, Gleichung von Nützlichem und Gei- Lebensgefährtin 1933/34 be- den Taut seinen hier erläuterten Über- stigem, wie sie die unverständige An- wohnten, traditionellen Hauses legungen zu Rück- und Vordersei- wendung der Formel "form follows in Japan. Toilette und Pissoir te zumaß, ist als hoch einzuschätzen. function" nur zu leicht kurzschließt. oben rechts, nur von der Ver- Taut fiktionalisierte für seine Dar- Behauptet wird gerade nicht das anda aus zugänglich. (Aus: Taut stellung Beobachtungen und Über- bruchlose Auseinanderhervorgehen Das japanische Haus, vgl. Anm. legungen, die im Oktober des Jahres des "rein Geistigen" aus dem "Nütz- 3, S. 29, Abb. 30). 1934 in seinem echten Tagebuch ver- lichen". Taut vermeidet zwar die ge- zeichnet sind, als er sich bereits über läufige Rede von den zwei Seiten ei- Oben: Bruno Taut, Teilschnitt ein Jahr in Japan aufhielt. ner Medaille, doch kann das Bild der und -ansicht der Lage von Toko- Münze die von Taut an dieser Stelle noma und Toilette im traditio- Damals hatte er mit Erica Wittich seit gemeinte Parallelität erläutern helfen. nellen japanischen Haus (Aus: einigen Wochen das traditionelle ja- Auch Kopf und Zahl einer Münz- Taut Das japanische Haus, vgl. panische Wohnhaus Senshintei am prägung gehören zwei verschiedenen Anm. 3, S. 16, Abb. 20 Tempel Shorin-zan bei Takasaki be- Welten an: die Zahl der alltäglichen zogen. Es liegt auch den entspre- Welt des rechnenden Kalküls und chenden Zeichnungen in Houses and des Marktes, während der Kopf (oder People of Japan zugrunde. Für Taut das Hoheitszeichen, heute auf Geld- hatte sich mit dem Einzug in das scheinen tatsächlich oftmals durch ländliche Haus auch die Vision er- Kulturgüter wie Kunstwerke, he- füllt, die er in seiner Buchpublikati- rausragende Bauten oder Porträts be- 29
rühmter Persönlichkeiten ersetzt) für tive den lieben Gott enthalten könnte, eine symbolische Welt jenseits des rief unter den späteren Klassikern von Kalküls steht. Weimar noch um 1800 den bekannten Spinozastreit hervor.6 Wenn Taut gerade von dem Nichtzu- sammenhängenden des von ihm im Als wissenschaftliche Disziplin konsti- japanischen Haus engst beieinander tuierte sich eine messende Psychophy- Lokalisierten – Tokonoma und Toi- sik erst in der Mitte des 19. Jahrhun- lette – begeistert war, so verweigerte derts. Ein wichtiger Gewährsmann in er sich einem simplifizierenden Den- diesem Zusammenhang ist der Leip- ken, ohne bloß irrational zu argumen- ziger Gustav Theodor Fechner (1801- tieren. In ihrer Verbindung sind beide 1887). Welten jenem psychophysischen Par- allelismus vergleichbar, mittels dessen Fechner publizierte 1860 sein zweibän- sich die aufkommenden Naturwissen- diges Werk Elemente der Psychophy- schaften seit Leibniz das Zugleich von sik, in dem er unter anderem mithilfe Physischen und Psychischen im Men- von Logarithmen das Verhältnis phy- Unten: Porträtfotografie Gustav schen vorstellten, ohne eine – Horri- sischer Reize zum psychischen Erle- Theodor Fechner. (Österrei- bile dictu – direkte Beeinflussung des ben zu bestimmen suchte.7 Dafür, dass chische Nationalbibliothek Psychischen durch Physisches anneh- sich Taut mit diesem Buch auseinan- Wien, Bildarchiv). men zu müssen. Sie lag – Folge der dersetzte, gibt es jedoch keine Belege, christlichen Weltsicht, in der Geist und es erscheint auch wenig wahr- Rechts: Gustav Theodor Fech- und Materie streng getrennt zu den- scheinlich, dass er es getan hätte. Viel- ner: Die Tagesansicht gegenüber ken waren – noch lange außerhalb je- fach belegt ist hingegen Tauts schwär- der Nachtansicht. Leipzig, 1879, der Vorstellung. Die Skandalansicht, merische Begeisterung für ein anderes Faksimile des Titelblattes. dass die Materie selbst Geist, respek- Buch Fechners, das in seiner Breiten- wirkung für das 20. Jahrhundert gar nicht überschätzt werden kann und das den alten Parallelismus der Psy- chophysik noch einmal konstruktiv zuspitzte. Ich meine die Schrift Die Ta- gesansicht gegenüber der Nachtansicht, in der der Spross einer sächsischen Pfarrersfamilie 1879 seine explizit re- ligiöse – wo schon nicht christliche – Kritik an dem, was er für die wissen- schaftliche Nachtsicht seiner Epoche hielt, essayistisch-erzählerisch zwar, aber mit systematischem Anspruch zusammenfasste.8 30
Die Nachtansicht des modernen phy- Seite stellte. Sein Kniff war die Paral- sikalischen Weltbildes war für Fech- lelisierung dessen, was er Tages- und ner, der sich damit in den Spuren Nachtansicht nannte, zu Vorder- und von Goethes naturwissenschaftlichen Rückansicht, mitunter auch zu Außen- Schriften, der Naturphilosophie Fried- und Innenansicht ein- und dersel- rich Wilhelm Joseph Schellings und ben Sache. Der Außenansicht (Rück- Lorenz Okens wusste, so etwas wie die ansicht) entsprach dabei das physi- Rückseite einer Tagesansicht, in deren kalisch Messbare, der Innenansicht intuitiver Helle allein sich anschau- (Vorderseite, das ist das auf den ersten endes Denken entfalten kann. Als Blick Frappierende, Verwirrende) die "Nachtansicht" bezeichnete Fechner psychisch empfundene Sicht, also das, jene physikalischen Modelle, die Licht was wir tatsächlich sinnlich verarbei- und Schall als bloße Wellenfrequenzen ten, was sich vorerst noch dem Mess- definieren, die in den rezipierenden baren vielfach entzog, dafür aber spe- Organen Auge und Ohr lediglich Re- kulativer Ausdeutung offenstand. Das aktionen verursachen, ohne damit von Fechner mitaufgestellte und bis auch etwas von ihrem Wesen preiszu- heute gültige Weber-Fechnersche Ge- geben. Sie belässt den Menschen mit setz thematisierte die mathematisch seinen Wahrnehmungen und Emp- definierbare Schwelle, die ein objek- findungen, so die Kritik Fechners, in tiv vorhandener physischer Reiz über- einem metaphysischen Dunkel. Da- schreiten muss, um subjektiv wahrge- gegen setzte Fechner eine ebenso reli- nommen zu werden. giös motivierte wie psychohygienisch argumentierende "Tagesansicht", die Psychophysik Licht und Schall als immanente Rea- litäten eines übergreifenden, am Ende Fechner huldigte auch in seiner Pu- blikationspolitik einem Parallelismus. Rechts: Gustav Theodor Fech- Seine das reduktionistische Welt- ner: Vorschule der Ästhetik. Leip- bild der Naturwissenschaften ironisie- zig, Breitkopf und Härtel, 1876. renden und kritisierenden Schriften Faksimile des Titelblattes. ließ er im Gegensatz zu denen, die er als zünftiger und wissenschaftlich an- erkannter Physiker verfasste, mitun- ter pseudonym erscheinen.9 Für seine posthume kulturkritische Breitenwir- kung unter Berliner Naturalisten und Neoromantikern der Jahrhundert- wende war aber vor allem das Narrativ der Genesung ausschlaggebend, wie sie die Biographie Fechners zu verbür- gen schien und zwar als Triumph sei- ner Tages – (also Innensicht) über die veräußerlichte Nachtansicht der Epo- che. Die Überwindung einer psycho- physischen Krankheit, die ihn etwa in der Mitte seines Lebens befiel, hat man zurecht als eine Art "geistiger Pu- göttlichen Bewusstseins zu verstehen bertät" (Gert Mattenklott) gedeutet, versucht, in dem die Materie und in die vom Werk selbst kaum zu trennen ihr die Menschen als ihre höchste Be- ist. Am zunächst aussichtslos erschei- wusstwerdung, sich als Teil eines grö- nenden, schließlich aber doch glück- ßeren, beseelten Organismus begrei- lichen Verlauf der Krankheit nahm fen, den sie selbst bilden und auf den nicht nur das bürgerliche Leipzig An- sie somit auch durch ihr Denken und teil, sondern bald auch große Teile Handeln Einfluss haben. Fechner plä- der gelehrten Welt überhaupt. Bet- dierte für eine Verbindung religiösen tina von Arnim, einst eine Muse der Glaubens mit naturwissenschaftlicher Romantiker, versuchte von Berlin aus Analyse. Aber nicht, indem er sie über an das Bett des Kranken vorzudrin- einen Kamm schor, sondern indem gen, musste aber unverrichteter Din- er dem, was physikalisch messbar ist, ge wieder abreisen. Fechner überstand eine fundierte Glaubensansicht an die die Krankheit, indem er sich von der 31
Bruno Taut: "Europa das Helle. äußeren Welt vollkommen abschloss, Nach seiner Genesung, drei Jahre spä- Asien das Hellere im Dunkel der nur noch im verdunkelten Zimmer ter, wandte sich Fechner vermehrt psy- farbigen Nacht", Blatt 25 der saß und über lange Zeit so gut wie chophysischen Phänomenen zu. Deren Alpinen Architektur, Bleistift-, gar nichts mehr zu sich nahm. Umso Untersuchung versuchte er 1860 in den Feder- und Aquarellzeichnung leuchtender und eben auch metaphy- Elementen der Psychophysik zu einer (Akademie der Künste, Berlin, sisch tiefer empfand er die Farben und eigenen wissenschaftlichen Disziplin Nachlass Bruno Taut, ALP-10-30). das sinnliche Erscheinen der Welt auszubauen. Mit ihr gehört Fechner nach der Überwindung seiner Krank- zu den Wegbereitern einer experimen- heit, was er alsbald philosophisch-reli- tellen Psychologie in Deutschland, wie giös ausdeutete.10 sie insbesondere von Wilhelm Wundt (1832-1920) weitergeführt wurde, der Als Nachkomme einer Dynastie von 1886 auch die vielbeachtete Totenrede evangelischen Pfarrern ist Gustav The- auf Fechner hielt.11 Daneben sorgten odor Fechner 1801 in Groß Särchen bei seine nun stets unter eigenem Namen Bad Muskau in der Lausitz geboren. publizierten naturphilosophischen und An seiner Heimatuniversität Leipzig, ans Esoterische grenzenden Bücher der er sein Leben lang treu blieb, absol- Aufsehen. Neben der erwähnten Ta- vierte er zunächst ein Medizinstudium gesansicht gegenüber der Nachtansicht, bevor er sich in den 1820er Jahren der gehörten dazu Nanna oder über das Physik zuwandte und unter anderem Seelenleben der Pflanzen (1848), sowie zu "Maßbestimmungen über die galva- das dreibändige Zend Avesta oder über nische Kette" (1831 bei Brockhaus), also die Dinge des Jenseits. Vom Standpunkt im weitesten Sinne über den Elektro- der Naturbetrachtung aus (1851). magnetismus, publizierte. 1834 wur- de er an der Leipziger Universität auf Fechners Bedeutung für die Architek- eine ordentliche Professur für Physik tur des 20. Jahrhunderts ist vielfach berufen. Mit Experimenten zu sub- greifbar. Unter seinen Verehrern ragt jektiven Farberscheinungen im Auge Bruno Taut hervor, der sich sowohl im befasst, die seine Sehfähigkeit extrem elitären Korrespondenzzirkel der 1920 beanspruchten, erkrankte er 1840 an von ihm ins Leben gerufenen Gläser- besagter rätselhafter Augenkrankheit, nen Kette als auch in seinem Zeichen- die ihn vorübergehend erblinden ließ werk Alpine Architektur implizit und und zwischenzeitlich auch seine Fä- explizit auf Fechner bezog. Wenn Taut higkeit zu denken außer Kraft setzte. im Kapitel "Erdrindenbau" der Alpi- 32
Bruno Taut: "Felsgegenden nen Architektur mit Blick auf den sich als rote Fäden. In Hinsicht auf Taut ist in Tirol", Blatt 17 der Alpinen immer nur zur Hälfte im Sonnenlicht vor allem das von Scheerbart aus Architektur, Feder und Pin- befindlichen Erdkörper "Europa das den Fechnerschen Schriften entwi- selzeichnung (Akademie der Helle, Asien das Hellere – im Dunkel ckelte Thema eines Aufgehens des je- Künste, Berlin, Nachlass Bruno der farbigen Nacht" feiert, so ist das weils Niedrigeren im Höheren von Taut, ALP-10-17). eine ebenso komplexe Bezugnahme Bedeutung sowie eine Philosophie, die auf Fechner wie das gesamte Projekt Künstlern und Weltweisen ein mys- seiner in der Zeichnungsfolge darge- tisches Mitwirken von innen her an stellten architektonischen Bearbei- Aufbau und Höherentwicklung des tung von Alpen und Erdrinde zur mo- Erdkörpers zuschreibt. In seinem Ro- ralischen Besserung der Welt. man Die Seeschlange von 1901 ist es der Sonderling Hans Lorenz, der in Spätestens über den Dichter Paul einem Haus am Meer lebt und einem Scheerbart (1863-1915), den Taut Kapitän Karl Schwarz von seinen Ver- 1913 im Umfeld der Berliner Sturm- suchen berichtet, durch Introspektion galerie Hertwarth Waldens kennen zur Gesundung des Erdinneren bei- lernte, dürfte Taut mit der Fechner- zutragen. Im Asteroidenroman Les- schen Tagesansicht bekannt geworden abendio übernimmt es der gleichna- sein. Scheerbarts literarische Phan- mige Held als Seher und Techniker, tastik hatte schon seit den 1890er Jah- sein Volk anzuführen und zugleich als ren vielfach Anleihen bei Fechner eigenschaftsloses Medium die Gesetze gemacht.12 Und in Scheerbarts uto- des Alls am Fernrohr zu erforschen. pischem Geist hatte Taut während des Beide Romane zählte Bruno Taut im Ersten Weltkriegs die Alpine Archi- Anhang seiner Publikation Die Stadt- tektur geschaffen, nachdem der Pazi- krone (1919) zu den "architektonischen fist Scheerbart selbst 1915 "am Kriege", Dichtungen" Paul Scheerbarts.14 Den wie Taut meinte, in Berlin gestorben 15. Oktober vermerkt noch das Japan- war.13 tagebuch Tauts als Todestag Scheer- barts. Und auch in der Schrift Ja- Fechnersche Motive durchziehen Scheer- pan mit europäischen Augen gesehen barts Dramen, Dramolette und nur vor- (1935), wir kommen auf sie zurück, dergründig eindimensional fortschritts- deutet Taut eine "heute ziemlich land- emphatisch erscheinende Pamphlete wie läufige Meinung" nämlich, dass das die berühmte Glasarchitektur von 1914 Notwendige über die bloß künstle- 33
rischen Liebhabereien zu setzen sei, Fechners, löst beim Betrachter an- ganz Scheerbart-Fechnersch "als das dere Assoziationen aus als eine gelb Symptom für eine Erkrankung des Pla- gefärbte Holzkugel. Und bei einem neten Erde, die bei den Menschen zu- Tisch, so Fechner, beeindruckt das äs- tage tritt."15 thetische Bewusstsein nicht nur die Anordnung von Flächen, Körpern Fechner, Sitte, Fischer, Scheerbart, und Farben in einem abstrakten, rein Taut zu denkenden Wahrnehmungsraum, sondern mindestens ebenso seine Allerdings verdankte Taut Scheer- Nutzbarkeit im Alltag. bart wohl nicht seine erste Lesebe- gegnung mit Fechner. An die Seite zu Kurz: Fechner setzte gegen den stren- stellen ist der Schrift Die Tagesansicht gen Geist der Abstraktion, den die mo- gegenüber der Nachtansicht in Hin- derne Naturwissenschaft dem Men- sicht auf Taut noch Fechners Vorschu- schen abverlangt, das versöhnende le der Ästhetik. Sie erschien 1876 erst- Prinzip der Empathie, das es dem Men- mals und wurde bis in die 1920er Jah- schen erlaubt, sich bei den Dingen, die re aufgelegt. Ihr dürfte Taut bereits ihn unmittelbar umgeben, einfühlend während der Stuttgarter Lehrjahre zu verorten. Was könnte sich als phi- bei Theodor Fischer in den Nuller- losophisch-religiöser Überbau besser jahren des 20. Jahrhunderts begegnet eignen für die künstlerische Tätig- sein. Im Gegensatz zu ihren philoso- keit eines Architekten, der es doch mit phischen Vorläuferinnen und Schwe- den sicht- und fühlbaren Dingen auf stern bei Baumgarten, Kant und He- der Welt zu tun hat und gerade nicht, gel, deren Vorgehen Fechner als "Äs- wie die bloßen Theoretiker, mit deren thetik von Oben" abtat, verstand sich schematischen Schattenbildern. Die seine Vorschule als "Ästhetik von Un- Tagesansicht gegenüber der Nachtan- ten". Darunter subsummierte Fechner sicht ist unter Fechners Schriften die ein streng induktives Verfahren. Vor für seinen mitreißend spekulativen allem zwei Architekten des Späthisto- Stil am meisten typische, nicht zuletzt rismus und der sogenannten Früh- deshalb, weil der Kontrast von Tag moderne des 20. Jahrhunderts, Ca- und Nacht als rhetorisches Gegensatz- millo Sitte16 und, wohl in Abhängig- paar besonders dankbar ist. Ist in den keit von diesem, Theodor Fischer hat Schriften der Romantiker häufig die Fechner damit beeinflusst. Camillo Nacht Zuflucht für eine alternative Sittes Plädoyer für mitunter krumme Weltsicht, die an der Rationalität des und abwechslungsreiche Straßenfüh- Tages kein Genügen findet, so berief rungen bauen auf Fechners Theorie der Naturwissenschaftler Fechner ge- über die notwendige Mannigfaltigkeit rade dasjenige in den Zeugenstand des Einheitlichen ebenso auf, wie sich seiner Weltfrömmigkeit, was er in der Theodor Fischers gemäßigter, mehr Helle des Tages im Leipziger Rosental, auf Stimmungsreize denn auf histo- wo er täglich spazieren gegangen sein risch korrekte Stilzitate setzender Hi- soll, ganz unmittelbar mit seinen Sin- storismus auf die Fechnersche, soge- nen wahrnahm: blühende, von Insek- nannte Assoziationstheorie berufen ten umschwirrte Pflanzen auf einer konnte. Letztere besagt, dass nicht al- Sommerwiese und zwitschernde Vö- lein die vom Auge wahrgenommene gel im Wald. Form den ästhetischen Eindruck be- stimmt, sondern vielmehr gerade die Der künstlerische Kontrast mit der jeweiligen Form in der Psyche des Individuums als inneres Erlebnis Tauts Analyse von Tokonoma und verbundenen Assoziationen.17 Toilette im japanischen Wohnhaus zeichnet eine hohe Sensibilität für Was Kant lediglich als "anhängende künstlerische Kontrastwirkungen aus. Schönheit" gelten lassen wollte, stellte Vorder- und Hinterseite der Archi- Fechner in ein Zentrum seiner Kunst- tektur meinten für Taut zwar auch lehre. Man könnte ihn als Vater einer "Welten", wie er in offensichtlicher explizit gegenständlichen Ästhetik be- Anspielung auf die Fechnerschen Ta- zeichnen, die die Phänomenologie des ges- und Nachtansichten schreibt. 20. Jahrhunderts präfigurierte.18 Eine Aber indem er diesen Parallelismus Orange, so ein gern zitiertes Beispiel innerhalb seines Buches unter der 34
Bruno Taut: "Ratten im Mond- Kapitelüberschrift "Kontraste" sub- nicht ohne Grund behaupten, die ja- licht" (Aus: Taut Das japanische summierte, erzielte er auch einen panische Architektur habe hier ihren Haus, vgl. Anm 3, S. 19, Abb. 24). rhetorisch-kompositorischen Effekt. raffiniertesten Ausdruck gefunden".19 Bei Taut macht sich hier der genuin westlich geschulte künstlerische Ent- Wo Jun’ichiro sich ganz dem po- werfer bemerkbar, wie übrigens auch etisch-pastosen Helldunkel seiner in seiner Stellung zu hygienischen Schattenwelt verschreiben kann, bricht Fragen, auf die wir weiter unten noch bei Taut alsbald westliches Hygiene- einmal zurückkommen werden. denken durch, von dem er, nachvoll- ziehbar, geprägt bleibt. Dem nächt- Wie anders gegenüber der Tautschen lichen Treiben der im traditionellen Schilderung man das Spezifische des Japan wohlgelittenen Ratten auf Aborts in japanischen Wohnhäu- Dach und Holzgesimsen seiner (fik- sern und Tempelanlagen gerade auch tiv) ersten Bleibe in Nippon widme- im Hinblick auf die kulturelle Dif- te Taut in Houses and People of Ja- ferenz zum Westen schildern kann, pan zwar die stimmungsvolle Zeich- lässt ein Blick in Tanizaki Jun’ichiro nung "Ratten im Mondlicht". Den- Lob des Schattens erkennen, das etwa noch legten sich seine Gefährtin und zeitgleich zu Tauts Japanbuch nie- er nach dem Erlebnis, das sie aus dem dergeschrieben wurde, allerdings Schlaf gerissen hatte, mit der Gewiss- aus der japanischen Perspektive. Es heit nieder: "Morgen gehen wir ihnen gehört an diese Stelle, auch wenn bestimmt zuleibe, und wenn wir mit Jun’ichiro mit den zitierten Worten unserem Hass auf Leben und Tod ge- nicht den dem Wohngrundriss ein- gen diese Seuchenverbreiter und Zer- verleibten Abort meint, sondern den störer den Japanern noch so wehe abseits von Tempeln und Häusern tun."20 angelegten, der auch bei Taut öfters erwähnt wird, allerdings als längst In Otto Wagners begriffsprägender Pu- überlebtes Relikt. Von ihm schreibt blikation Moderne Architektur (Erst- Jun’ichiro: auflage 1895) waren nicht nur Bäder und Toiletten architekturtheoretisch "In der Tat, es gibt keinen geeig- geadelt worden, sondern wurde mo- neteren Ort, um das Zirpen der In- derne Hygiene überhaupt themati- sekten, den Gesang der Vögel, eine siert, mit Auswirkungen bis in die ge- Mondnacht, überhaupt die vergäng- fliesten Oberflächen der von Wagner liche Schönheit der Dinge zu jeder in Wien und anderswo errichteten der vier Jahreszeiten auf sich wirken öffentlichen Bauten. Dass dies bei zu lassen, und vermutlich sind die al- Wagner unter der gleichzeitigen Er- ten Haiku-Dichter ebenda auf zahl- hebung des Begriffs "Notwendigkeit" lose Motive gestoßen. So könnte man zur zentralen Kategorie, zur "Herrin" 35
der Kunst geschieht, verdient in Hin- Handlungen machten. […] Aus die- sicht auf Taut Beachtung, kann aber sem Grund äußerte sich die Kultur hier nicht weiterverfolgt werden. Nur der Siegervölker und Machthaber al- so viel sei angefügt: Die Worte "ar- ler Zeiten darin, dass sie sich ihrer ei- tis sola domina necessitas" also: "die genen kulturellen oder künstlerischen alleinige Herrin der Kunst ist die Schwäche bewusst waren und, ob sie Notwendigkeit" wiederholt der hu- siegten oder besiegt wurden, die Kunst manistisch gebildete Wagner gebets- außerhalb solcher Ereignisse bleiben mühlenhaft in seinem Buch.21 Das ließen."22 Anklingen Ot to-Wagnerscher Mo- tive in frühen Bauten Tauts, nicht nur Auch im Orient hatte er vergleich- in seinen Mietshausfassaden, son- bares gefunden: dern gerade auch in den berühmten Ausstellungsbauten der Vorkriegs- "Es gibt Friedensverträge, in denen zeit bis hin zum Kölner Glashaus von die Sieger die großen Künstler des be- 1914, in dem der berühmte gläserne siegten Volkes zu sich herüber nah- Fußboden aus dem Schaltersaal von men, ihnen den Auftrag zu großen Wagners Hauptwerk wiederkehrt, der Bauten erteilten, sie mit Ehren über- Wiener Postsparkasse (fer tiggestellt häuften und sogar große Tempelan- 1905), ist hinwiederum evident und lagen nach den Namen dieser Künst- förm lich mit Händen zu greifen. ler des Feindesvolks benannten, wie es zum Beispiel in der Geschichte Hin- Resümee, politische Implikationen terindiens gefunden worden ist."23 und Ausblick Der Emigrant Bruno Taut war im Alles also nur Schall und Rauch? Der März 1933 beruflich enttäuscht aus der Vorhang zu und alle Fragen offen? Sowjetunion ins Berlin der sogenann- ten nationalsozialistischen Machtü- In dem bereits erwähnten Bändchen bernahme zurückgekehrt. Dort, im Japan mit europäischen Augen ge- Umfeld einer der ersten sogenannten sehen, das er gleichzeitig zu Houses Säuberungen, für die man den von and People of Japan abfasste, wid- den Nazis selbst gelegten Reichstags- mete Taut dem seiner Ansicht nach brand als Anlass vorgab, nur knapp so signifikant unzusammenhän- den Nazischergen entkommen, betei- genden Beieinander von Tokonoma ligte sich Taut zur Zeit der Abfassung und Toilette im japanischen Wohn- dieser Zeilen von Japan aus mithilfe haus das komplette Eingangskapi- des deutschen Konsulats an dem von tel, um schließlich bei seinem japa- der Naziorganisation Deutsche Ar- nischen Publikum fremdländische beitsfront ausgeschriebenen Wettbe- Künstler, und damit nicht zuletzt werb für "Häuser der Arbeit".24 sich selbst, für mögliche kulturelle Aufgaben, respektive Bauprojekte So sehr Tauts Verhalten politisch aus auch jenes Regimes ins Spiel zu brin- heutiger Sicht verwundern mag, steht gen, das damals gerade von Japan aus es doch für eine eigentümliche, sein die Achse zu den Nationalsozialisten ganzes Werk durchziehende Kon- in Deutschland aufbaute. Und nicht sequenz, die ihrerseits auf eben die nur für dieses. Taut argumentierte strikte Unterscheidung von bloß mit den wandernden Baumeistern Notwendigem auf der einen Seite Europas in Mittelalter und Neuzeit und einer alles überbietenden Kunst und folgerte: des Schönen auf der anderen Seite zurückzuführen ist. Auch seine Al- "Die Kunst stand demnach, wenn man pine Architektur, jenes zeichnerische sich modern ausdrücken will, über Opus magnum, das Taut der jun- der Nation. Und die Größe der natio- gen Weimarer Republik in die Wie- nalen Führer äußerte sich darin, dass ge gelegt hatte und das er in einer sie diese Rangstufe [gemeint ist die der fiktiven Zukunft des Jahres 1994, in Kunst gegenüber den übrigen, den der Regierungszeit eines "Bundes- bloß "notwendigen" Bereichen des kanzlers von Europa" vollendet se- menschlichen Lebens, auch des Poli- hen wollte, 25 hatte er in den letzten tischen, ms] nicht nur theoretisch er- Monaten des Ersten Weltkrieges mit kannten, sondern zum Axiom ihrer einem aufwendigen Widmungsblatt 36
Bruno Taut: Haus der Arbeit, noch dem obersten Herrn eben je- nungen der Alpinen Architektur, Wettbewerb Deutsche Arbeits- nes Krieges angedient, gegen den das aber das Papier ist viel dünner und front, (Akademie der Künste, Werk doch eigentlich gerichtet war: schmiegsamer als deren Karton. Bru- Berlin, Bruno-Taut-Sammlung, Kaiser Wilhelm II. persönlich. Im no Taut hat es kunstvoll gefaltet und Nr. 371 F. 1 & F. 2). Nachlass von Tauts damaligen Mit- es gleichsam zu einem wendbaren streiter, dem Kritiker Adolf Behne, Rahmen verräumlicht, indem er auch hat sich die entsprechende Gruß- seine Rückseite in die Gestaltung mit adresse erhalten. Ihr müssen wir uns einbezogen hat. abschließend noch zuwenden. Sie ge- hört wie die eben aufgezählten poli- Berlin, den 2. August 1918, ist der tischen Implikationen, wo nicht zur Brief an seinen unteren Ecken da- Rück-, so doch zur Kehrseite eines tiert. Damals waren die 30 Zeich- Selbstverständnisses, das das Künst- nungen der späteren Buchpublika- lerische vom Politischen so kategori- tion Alpine Architektur bereits ge- al getrennt sehen wollte wie Tag und schaffen, aber noch nicht gedruckt. Nacht– und enthält am Schluss, zum Seit Anfang November 1917, genau Glück, doch noch so etwas wie einen gesagt: seit Allerheiligen 1917 waren Lichtblick. sie entstanden, zunächst in der Gar- tenstadt Gronauer Wald bei Bergisch Die kalligraphische Anlage des Gladbach, wo Taut bis Juni 1918 in Blattes, auf das vor Jahren ein ent- einer Ofenfabrik tätig war, um un- legen publizierter Artikel aufmerk- abkömmlich gestellt zu sein, sprich: sam machte, 26 entspricht den Zeich- nicht zum Militär eingezogen zu wer- 37
Bruno Taut, Zeichnerische Grußadresse an Kaiser Wilhelm II. vom August 1918. Vorder- und Rückseite (Akademie der Künste, Berlin, Adolf-Behne-Archiv, Behne 582). 38
und schließlich als "Repräsentanten des deutschen Idealismus" feiert, die weitere Arbeit am utopischen Werk der Alpinen Architektur als Grund für eine weitere Freistellung schmackhaft zu machen. So wie einer der Vorfahren des Kaisers, nämlich Friedrich Wil- helm der IV., Karl Friedrich Schinkel gefördert habe, indem er ihm den Aus- bau und die architektonische Gestal- tung Berlins übertragen habe, so möge Wilhelm II. nun ihn, den Architekten Bruno Taut, bei der Verwirklichung seines Alpenbauprojekts unterstüt- zen: "Dieser Bau", heißt es im Zentrum des Textes, "so ungeheuer und so losge- löst von allem, was man bisher Archi- tektur nannte, soll keinen praktischen Zeck haben; sein Zweck ist, die Freude an der Schönheit zu wecken, die Völ- ker zu einem sichtlichen Ausdruck ih- rer Einheit zu sammeln und durch die Wucht der Aufgabe die menschliche Willenskraft einzuspannen, sodass ihr jede Ausschweifung ins Bösartige un- möglich wird." Nicht sein utopisches Projekt, viel- mehr das Ansinnen, ihn zum Mili- tär einzuziehen, wogegen er Wilhelm II. bittet, seinen "machtvollen Arm auszustrecken", erschien dem Archi- tekten Taut realitätsfern: "Wie soll ich für den Kriegsdienst verwendungsfähig sein, der ich alle meine Kräfte gegen ihn richte. Ich sehe im Franzosen, im Eng- länder nur meinen Bruder, genauso wie in meinem Landsmann." Taut war sich sicher, dass auch bei den obersten Kriegsherren der Entente, bei Zar Ni- kolaus, bei König Georg und bei dem Amerikanischen Präsidenten Woo- drow Wilson, an die er sich gleich nach Kriegsende zu wenden versprach, Inte- resse für sein Projekt zu wecken sei. Auf der Rückseite des Briefes sind die einzelnen Zeichnungen der Alpi- nen Architektur so verzeichnet, dass ihre Auflistung dem Adressaten gleich Bruno Taut: Zeichnerische Gruß- den, später dann, ab Juni 1918 wohl in ins Auge springen sollte, wenn er den adresse an Kaiser Wilhelm II. Berlin. noch gefalteten Brief in Empfang neh- vom August 1918. Details men würde. Gegenüber findet man die (Akademie der Künste, Berlin, Taut hat mit diesem Brief bei Kaiser Daten von Tauts bürgerlicher Existenz, Adolf-Behne-Archiv, Behne 582). Wilhelm II. um seine damals offen- also gewissermaßen die Rückseite sei- sichtlich gefährdete, weitere Freistel- ner allein dem Schönen gewidmeten lung vom Militär einkommen wol- Idealexistenz auf der Vorderseite: Sein len. Und er stand nicht an, dem Kai- Geburtsdatum, seine Verbandszuge- ser, den die gipfelbekrönte Anrede als hörigkeiten (Deutscher Werkbund "machtvollen Schirmherrn der Künste", und Bund Deutscher Architekten), als "Vorkämpfer des Menschenfriedens" seine damalige Privatwohnung in der 39
Virchowstraße im Nordosten Berlins, Der Lichtblick findet sich beim letz- seine Büroadresse in der Linkstraße, ten Punkt der Aufzählung. Dort heißt ganz in der Nähe vom Potsdamer Platz, es: "Militaria". Darunter, mit Bleistift: und die Reihe seiner Bauten, Sied- "Gott sei Dank! Keine." lungen, Wettbewerbs- und Preiserfolge der Vorkriegszeit. Wie schön! Anmerkungen: 2 Bruno Taut: Das japanische Gustav Theodor Fechner, Das Haus und sein Leben (Houses unendliche Leben. Berlin, 1984. Der Beitrag basiert zu Teilen and People of Japan 11937). 5. Sowie systematisch: M. Hei- auf einem Keynote-Vortrag, Auflage, Berlin, 2005, S. 16. delberger: Die innere Seite der den ich zur Tagung (Re)building Natur. Gustav Theodor Fechners the Alps? 100 years from the 3 Ebd., S. 16-17. wissenschaftlich-philosophische publication of 'Die alpine Weltauffassung. Frankfurt/Main Architektur' by Bruno Taut an 4 Bruno Taut: Die Auflösung 1993. der Università della Svizzera der Städte. Hagen, 1919, S. 17. italiana (USI), Mendrisio, im 9 So z.B. Fechners unter November 2019 gehalten habe. 5 Bruno Taut, Tagebucheintrag dem Pseudonym "Dr. Mises" Ich danke den organisierenden vom 14. 10. 1934 (Auszug). In: 1836 im Verlag des Leipziger Initiator*Innen Sonja Hilde- Manfred Speidel (Hg). Bruno Taut Buchhändlers und Komponisten brand und Roberto Leggero in Japan. Das Tagebuch. Zweiter Christian F. Grimma zuerst sowie den Teilnehmer*Innen Band 1934. Berlin, 2015, S. 233. publiziertes Büchlein vom Leben des Kongresses für Anregung nach dem Tode. Es erschien ab und Kritik. 6 Vgl. hierzu Eckart Förster, der zweiten Auflage, Hamburg "Wie wird man Spinozist." und Leipzig 1866, unter seinem Tauts Alpine Architektur In: Derselbe: Die 25 Jahre der bürgerlichen Namen. erschien unter der Jahreszahl Philosophie. Eine systematische 1919. Ausgeliefert wurde Rekonstruktion. 3. Auflage, 10 Zu dieser Sicht Gert Mat- sie allerdings erst 1920. Als Frankfurt am Main, 2018, S. tenklott,: "Exkurs über Gustav architektonisch-weltanschau- 87-106. Zu den Auswirkungen Theodor Fechner." In: Derselbe: liches Konzept ist sie nach wie bis zu Taut siehe Matthias Blindgänger. Physiognomische vor so begeisternd-fragwürdig Schirren: "Deus sive Natura. Essais. Frankfurt am Main, wie verstörend-aktuell. Das Bruno Tauts Alpine Architektur Suhrkamp, 1986, S. 148-157. Dispositiv von Vorder- und Hin- im Lichte Goethes und in terseite erweist sich für eine Erich Kästners Fliegendem 11 J. E. Kuntze: Gustav Theodor kritische Sicht als besonders Klassenzimmer." In: Gisela Fechner (Dr. Mises). Ein deutsches fruchtbar. Den Herausgebern Mettele / Sandra Kerschbaumer Gelehrtenleben. Leipzig, 1892. von archimaera gilt deshalb für (Hg.). Romantische Urbanität: Gerhard Hennemann: "Fechner, ihre inspirierende Ausschrei- Transdisziplinäre Perspektiven Gustav Theodor.” In: Neue bung mein zweiter, keineswegs vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Deutsche Biographie 5 (1961), nachrangiger Dank. Köln, 2020, S. 123–144. S. 37-38. [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-bio- 1 Wilhelm. Dilthey: Einleitung 7 Gustav Theodor Fechner: graphie.de/pnd118532154. in die Geisteswissenschaften. Elemente der Psychophysik. 2 html#ndbcontent Versuch einer Grundlegung für Bde. Leipzig, 1860. das Studium der Gesellschaft und 12 Hierzu Mechthild Rausch: der Geschichte. Bd. 1, Leipzig, 8 Gustav Theodor Fechner: "Irdisches Vergnügen in Glas. 1883, S. 364. Dilthey bezieht Die Tagesansicht gegenüber der Nachwort." In: Paul Scheerbart: sich im Umfeld dieser nahezu Nachtansicht. Leipzig, 1879, Das graue Tuch und zehn Prozent poetischen Passage, die Fechner mehrere Wiederauflagen, zum Weiß. Ein Damenroman (1914). wie Dilthey selber trotz oder Teil in Auszügen, bis weit in das Hrsg. v. M. Rausch. München, gerade wegen der nächtlichen 20. Jahrhundert. Das Interesse 1986, S. 149-163. Sowie Szenerie wohl eher der im frühen 20. Jahrhundert neuerdings: Charlotte Kurbjuhn: Fechnerschen "Tagesansicht" wurde durch die von Fechner "Hinter Glas: Imaginationen des zugeordnet hätte, zustimmend scheinbar leibhaftig verkörperte modernen Hauses in utopischen auf Fechners vier Jahre zuvor Leib-Seele Problematik im wis- Romanen Paul Scheerbarts und erschienene Charakterisierung senschaftlich-metaphysischen frühen Architekturentwürfen des reduktionistischen Welt- Diskurs der Zeit angezogen. Vgl. Bruno Tauts." In: Zeitschrift für bildes der Naturwissenschaft als hierzu essayistisch charakte- Germanistik, Neue Folge XXX "Nachtansicht". risierend Gert Mattenklott: (2020), Heft 1 , S. 24-49. 40
13 Vgl. hierzu, Matthias Sittes Städtebau. Salzburg, Manfred Speidel, Berlin, 2011, S. Schirren: "Empathie und astrale München, 2003, S. 38-50. 14. Phantastik. Die ästhetisch-mo- ralische Dimension der Alpinen 17 Hierzu zusammenfassend 23 Ebd. S. 13. Architektur." In: Derselbe: Bruno Schirren 2020, S. 127 (vgl. Anm. Taut, Alpine Architektur. Eine 6). 24 Abgebildet bei Speidel 2015, Utopie. München, 2004, S. 8-27, S. 90. vgl. Anm. 5. insbesondere S. 15-18. 18 Dass Fechner in Briefkontakt mit Franz Brentano stand, ist 25 Bruno Taut: "Rede des 14 Ebd., S. 88. bezeichnend. Vgl. hierzu Mauro Bundeskanzlers von Europa Antonelli (Hg.): Franz Brentano am 24. April 1993 vor dem 15 Bruno Taut: Japans Kunst mit und Gustav Theodore Fechner, Europäischen Parlament." In: europäischen Augen gesehen, Briefwechsel über Psychophysik, Sozialistische Monatshefte 25. verfasst 1935. Hrsg., mit einem 1874-1878. Berlin, 2015. Jahrgang (1919), Heft 11, S. Nachwort und Erläuterungen 816-819. versehen von Manfred Speidel, 19 Tanizaki Jun’ichiro: Lob Berlin, 2011, S. 8. des Schattens. Entwurf einer 26 Eva Maria Barkhofen: "Das japanischen Ästhetik. 5. Auflage, Bergkristallhaus lebt! Neue 16 Hierzu vor allem: Karin Zürich, 1990, S. 12. Quellen zur ‚Alpinen Architek- Wilhelm / Detlef Jessen-Klin- tur‘ von Bruno Taut." In: Der Bär genberg: Formationen der Stadt. 20 Taut 2005, S. 20, vgl. Anm. 2. von Berlin. Jahrbuch des Vereins Camillo Sitte weitergelesen für die Geschichte Berlins, 60. (Bauwelt Fundamente, Bd. 132). 21 Hierzu zuletzt Andreas Folge, Berlin, 2011, S. 89-104. Basel, Berlin, Boston, 2006, Nierhaus: "Hygiene mit Otto dort insbesondere S. 40-42. Wagner. Zur Reinlichkeit der Siehe auch K. Wilhelm: "Städ- modernen Architektur." in: Wien tebautheorie als Kulturtheorie, Museum Magazin. Ausgabe Camillo Sittes »Der Städtebau vom 25.3.2020, abgerufen nach seinen künstlerischen am 28.09.2020 unter https:// Grundsätzen«.” In: L. Musner / magazin.wienmuseum.at/ G. Wunberg / Ch. Lutter (Hg.). hygiene-mit-otto-wagner. Cultural Turn, Zur Geschichte der Kulturwissenschaften. 2001, 22 Bruno Taut: Japans Kunst S. 89-109 (P); Zuvor auch G. mit europäischen Augen Reiterer: Augensinn. Zu Raum gesehen (1934). Hrsg. und mit und Wahrnehmung in Camillo einem Nachwort versehen von 41
Sie können auch lesen