Ein S mmEr na htS tra m - musiktheater - Oper in drei Akten von Benjamin Britten - Theater Pforzheim

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Ein S mmEr na htS tra m - musiktheater - Oper in drei Akten von Benjamin Britten - Theater Pforzheim
Musiktheater —
     Oper in drei Akten
     von Benjamin Britten
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Ein S mmEr na htS tra m - musiktheater - Oper in drei Akten von Benjamin Britten - Theater Pforzheim
Ein S mmEr na htS tra m - musiktheater - Oper in drei Akten von Benjamin Britten - Theater Pforzheim
EIN SOMMERNACHTSTRAUM
                                   Oper in drei Aufzügen
                                   von Benjamin Britten

   25. MÄRZ                        Libretto von Benjamin Britten und
                                   Peter Pears nach William Shakespeare
      2021                         Deutsche Übertragung nach
                                   August Wilhelm von Schlegel
    PREMIERE                       eingerichtet von Ernst Roth
  GROSSES HAUS                     Uraufführung 11. Juni 1960, Aldeburgh
THEATER PFORZHEIM
                                   Aufführungsdauer: ca. 2 ¾ Stunden
                                   Pause nach dem zweiten Akt

      Oberon – Nicholas Hariades
      Titania – Elisandra Melián
      Puck – Joanna Lissai
      Theseus – Lukas Schmid-Wedekind
      Hippolyta – Dorothee Böhnisch
      Lysander – Dirk Konnerth
      Demetrius – Paul Jadach
      Hermia – Jina Choi
      Helena – Stamatia Gerothanasi/Helena Steiner
      Zettel (Pyramus) – Nico Wouterse
      Squenz – Aleksandar Stefanoski
      Flaut (Thisbe) – Philipp Werner
      Schnock (Löwe) – Klaus Geber
      Schnauz (Wand) – Lilian Huynen
      Schlucker (Mond) – Arthur Canguçu/Albrecht von Stackelberg
      Spinnweb (Elfe) – Stamatia Gerothanasi (stimmlich),
                         Philipp Werner (mimisch)
      Bohnenblüte (Elfe) – Helena Steiner (stimmlich), Lilian Huynen
                             (mimisch)
      Senfsamen (Elfe) – Dorothee Böhnisch (stimmlich),
                           Aleksandar Stefanoski (mimisch)
      Motte (Elfe) – Jina Choi (stimmlich), Klaus Geber (mimisch)
      Fünfte Elfe – Arthur Canguçu/Albrecht von Stackelberg
      Elfenchor – Dorothee Böhnisch, Jina Choi, Stamatia Gerothanasi,
                   Helena Steiner
      Badische Philharmonie Pforzheim
      Musikalische Leitung – Philipp Haag
      Inszenierung – Thomas Münstermann
      Bühnenbild und Kostüme – Thomas Mogendorf
      Lichtdesign – Andreas Schmidt
      Dramaturgie – Christina Zejewski
      Diese Operninszenierung wurde unter Wahrung der Arbeitsschutzrichtlinien und
      Corona-Verordnungen des Landes Baden-Württemberg produziert.

      Die Aufführungsrechte liegen beim Musikverlag Boosey & Hawkes,
      Bote & Bock GmbH für Hawkes Son (London) Ltd.

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ZUM INHALT
Akt I                                  Da tritt eine Gruppe Hand-
Im dämmrigen Wald in der               werker auf, die sich anlässlich
Nähe von Athen begrüßen die            der Hochzeit von Herzog
Elfen Spinnweb, Bohnenblüte,           Theseus als Laienschauspieler
Senfsamen und Motte Puck.              versuchen möchte. Während
Puck ist im Gefolge des Elfen-         der Spielleiter, der Zimmer-
königs Oberon unterwegs, der           mann Peter Squenz, die Rollen
sich mit seiner Frau Titania zu        für das Schauspiel „Pyramus
einem letzten vergeblichen             und Thisbe“ unter den anderen
Versuch trifft, ihren Ehestreit        Handwerksmeistern Flaut,
über ein aus der Menschenwelt          Schnock, Schnauz und Schlucker
entführtes Kind zu schlichten.         verteilt, tut sich der Weber Zettel
Um die Natur vor dem tota-             durch seine großen schau-
len Chaos zu bewahren – und            spielerischen Ambitionen hervor.
seinen verletzten Stolz zu rä-
chen –, lässt Oberon von Puck          Unterdessen hat Puck einen
ein magisches Kraut besorgen,          schlafenden „jungen Athener“
das Titania in das nächstbeste         im Wald entdeckt und mit
wilde Tier verliebt machen soll.       dem magischen Pflanzensaft
                                       besprengt. Allerdings ist es
Während Oberon auf Pucks               Lysander und nicht Demetrius,
Rückkehr wartet, eilen Lysander        der in Liebe zu Helena ent-
und Hermia, ein junges Paar            brennt, während Hermia sich
aus der athenischen Aristokra-         erwachend im Wald verlas-
tie, durch den Wald. Die beiden        sen findet und verzweifelt.
wollen gemeinsam durchbren-            Auch Oberon hat endlich sein
nen. Hermias eigentlicher Ver-         eigentliches Verwünschungs-
lobter Demetrius hat jedoch            opfer entdeckt und träufelt
von Hermias Freundin Helena            der schlafenden Titania das
von der geplanten Flucht               Aphrodisiakum ins Auge.
er fahren und folgt ihnen in
Begleitung von Helena, die un-         Akt II
sterblich in Demetrius verliebt        Während der Proben zu „Pyra-
ist und dies unterwürfig zur           mus und Thisbe“ entfernt sich
Schau stellt. Oberon beobach-          der Hauptdarsteller, Weber
tet Helenas Selbsterniedrigung         Zettel, kurz von der Truppe.
mitleidig und beauftragt den           Puck lässt sich diese Gelegen-
zurückgekehrten Puck, ei-              heit zu einem Schabernack
nen Teil des Zauberkrauts zu           nicht nehmen und zaubert
behalten und auf „den jungen           Zettel einen Eselskopf. Trotzig
Athener“ anzuwenden, auf               ob der erschrockenen Reaktion
dass dieser Helenas Liebe              der anderen Handwerksmeis-
erwidern möge.                         ter singt Zettel ein Lied, von

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dem Titania erwacht. Das Zau-
berkraut entfaltet abermals
seine Wirkung: Hals über Kopf
hat sich die Elfenkönigin in
den vereselten Zettel verliebt
und lässt ihm von ihren Elfen
den Hof machen. Das Kind ist
vergessen. Nach einem großen
Fest voller Musik legen sich
Titania und Zettel gemeinsam
schlafen.

Als Demetrius die Lichtung
betritt, um sich schlafen zu
legen, freut sich Oberon, end-
lich den Athener, der bisher
die Liebe der armen Helena
verschmäht, wiederzusehen.
Helena fühlt sich derweil von
Lysander, der ihr unablässig
seine Liebe bekundet, verspot-
tet. Als nun auch Demetrius
erwacht und Helenas Schön-
heit preist, kommt es zu einem
gewaltigen Streit unter den           Am Hofe von Athen sprechen
vier jungen Leuten, für den           die beiden aus dem Wald zu-
Oberon Puck verantwortlich            rückgekehrten Liebespaare bei
macht. Puck erhält von Obe-           Herzog Theseus vor und bitten
ron ein Gegenmittel, mit dem          um die Erlaubnis zur Vermäh-
er den Zauber an Lysander             lung. Theseus erklärt sich
rückgängig machen soll.               einverstanden, denn anlässlich
                                      seines eigenen Hochzeitsta-
Akt III                               ges mit der Amazonenkönigin
Der Spuk der Nacht geht zu            Hippolyta ist er hervorragen-
Ende: Oberon löst Titania vom         der Laune. Hippolyta jedoch ist
Zauber, die beiden schlie-            verbittert und nur voller Häme
ßen Frieden. Puck sorgt für           gegenüber allem und jedem.
die Entzauberung Lysanders.           Erst die tragische Schlusssze-
Auch Zettel ist wieder der Alte       ne von „Pyramus und Thisbe“
und wundert sich über seinen          kann ihr Herz scheinbar erwei-
vermeintlichen Traum. Pünkt-          chen. Nach der erfolgreichen
lich zur Premiere von „Pyra-          Aufführung segnet das könig-
mus und Thisbe“ findet er zur         liche Elfenpaar das Haus der
allgemeinen Freude zu seiner          Sterblichen und Puck erklärt
Truppe zurück.                        das Stück für beendet.

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EIN SCHNELLSCHUSS WIRD
ZUM SENSATIONSERFOLG
Die Entstehung von Benjamin Brittens
„Ein Sommernachtstraum”
Von Christina Zejewski
Erst im August 1959 entschied          dem simultanen Agieren sehr
sich Benjamin Britten zu der           unterschiedlicher Personen-
für Sommer 1960 geplanten              gruppen resultierende Flexibi-
Neueröffnung der restaurierten         lität der Erzählung in William
Jubilee Hall, einem der Spielor-       Shakespeares Komödie „A Mid-
te des von Aldeburgh Festivals,        summer Night's Dream“ hatte
eine abendfüllende Oper zu             Britten schon lange fasziniert,
komponieren. Aufgrund dieser           sodass er sich kurzerhand
kurzfristigen Entscheidung             entschied, gemeinsam mit
blieben ihm lediglich neun             Pears die Shakespeare-Komö-
Monate für die Komposition             die zu kürzen und mit Musik zu
– und die Suche nach einem             unterlegen.
geeigneten Libretto. Die aus
                                       Britten und Pears nehmen an
                                       Shakespeares Text zwar zahl-
                                       reiche Striche vor – nur etwa
                                       die Hälfte des Texts schafft es
                                       in die Oper –, verändern aber
                                       kein Wort und fügen nur fünf
                                       Worte neu hinzu: Da sie die
                                       gesamte Eröffnungsszene des
                                       Schauspiels am Fürstenhof
                                       von Athen streichen, müssen
                                       sie dem Publikum den Grund
                                       für Hermias Flucht aus Athen
                                       nachliefern: Auf der Flucht
                                       durch den Wald erinnert Lysa-
                                       nder Hermia daran, dass sie
                                       fort müssen, weil das atheni-
                                       sche Gesetz Hermia „zwingt
                                       zur Heirat mit Demetrius“. Mit
                                       der Hofszene verschwindet
                                       nicht nur Hermias Vater als
                                       Figur, der dort seinen einzigen

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Auftritt hatte, sondern auch          Shakespeares, der die Komödie
die symmetrische Anlage, die          in ihrer ersten Fassung ohne
die Liebespaare am Ende aus           Akt- oder Szeneneinteilung
dem Wald wieder bei Theseus           skizziert hat: Alles in diesem
anlangen lässt: Bei Shakespe-         Wald ist geisterhaft-fantas-
are führt die Handlung aus            tisch und genau das Gegenteil
der realen Welt ins Reich der         der starren Regeln und Kon-
Fantasie und wieder zurück.           ventionen am (athenischen)
Britten und Pears machen              Hof. Was passiert wann und
stattdessen die Magie des             wo? Was ist Realität, was
Elfenkönigs Oberon text- und          Traum? Diese Grundanlage
musikdramaturgisch zu ihrem           des „Sommernachtstraums“
roten Faden: Die Oper beginnt         macht ihn wiederum für eine
im Feenwald, in dem die Elfen         Vertonung noch attraktiver:
den Einfluss von Oberons und          Bei der Übertragung einer
Titanias Gemütslage auf das           literarischen Vorlage in Musik-
Gleichgewicht der Natur be-           theater finden zwangsläufig
singen, und endet mit Oberons         Raffungen und Dehnungen
Segensspruch für die Neuver-          der Zeit statt. Eine Erzählung
mählten.                              oder ein Schauspiel präsentiert
                                      die Handlung traditionell mit
Die stärkere Betonung der             wenigen Ausnahmen bis ins
Magie ermöglicht daneben              zwanzigste Jahrhundert hinein
ein ausgeprägteres Spiel mit          sukzessive oder sogar im aris-
der Darstellung von Raum und          totelischen Sinne nach stren-
Zeit – vermutlich ganz im Sinne       gen zeitlichen Vorgaben; die

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Liebespaare gleichzeitig an
                                         verschiedenen Stellen durch
                                         den Wald und sind wie bereits
                                         bei Shakespeare ironischerwei-
                                         se die am wenigsten poetisch
                                         sprechenden bzw. singenden
                                         Figuren des Stücks: Vor allem
                                         im Gegensatz zu Elfen und
                                         Handwerkern weisen ihre
                                         Passagen kaum klare Melodie-
                                         bögen auf. Die greifbareren, je
                                         nach Situation schmachten-
                                         den oder gehetzt nachschla-
                                         genden Streicherklänge der
                                         Liebenden und urig-hüpfenden
Oper hingegen springt statt-             Holz- und deftigen Blechblä-
dessen oft von einer Affektdar-          serfarben der Handwerker
stellung zur nächsten und stellt         wirken zwar geerdeter als die
eigentlich gleichzeitige Hand-           ätherischen Ritornelle der als
lungen hintereinander dar.               „Misterioso“ bezeichneten
                                         Elfenmusik, sind aber doch
Die Auftrittsszenen der Lieben-          nur in deren verwobenen
den beispielsweise legt Britten          zeitlich-räumlichen Rahmen
als simultane Ereignisse an,             eingebettet. Das gleiche gilt
indem er Oberon seine Ver-               auch für die Figur Puck, die
wünschung „Sei es ein Löwe,              durch ihren Sprechgesang
sei’s Wolf, sei’s Stier, nasweiser       ein Alleinstellungsmerkmal
Aff‘ oder Pavian“ wiederholen            aufweist. Passend zu ihren
lässt, bevor Demetrius mit               scharfen, rhythmischen Rezi-
Helena auftritt: Das Gespräch            tationen wird sie musikalisch
zwischen Lysander und Hermia             von einer Trommel und schel-
über ihre Flucht, Oberons Er-            misch-sprunghaften Trompete
läuterungen zum Zauberkraut              charakterisiert. Im zweiten Akt
gegenüber Puck und der Auf-              übernimmt eine Schlafmusik
tritt von Helena und Demetri-            die zeitgliedernde Funktion
us ereignen sich parallel – fast         der Ritornelle: Sie ordnet den
hörbar dehnt sich die Zeit und           Streit der Liebenden, der in
zerfließt unter den sphärischen          einem elaborierten Quartett
Tremoli der Streicher, den               seinen Höhepunkt findet, mit
Arpeggien des Cembalos und               Titanias Liebesabenteuer mit
der Harfen und den mystisch              dem vereselten Webermeister
anmutenden Schwingungen                  Zettel zeitlich gleich. Beim
von Gong und Glockenspiel,               Fest zu Zettels Ehren lassen
die der Elfenwelt zugeordnet             die Elfen auf der Bühne eine
sind. Dazwischen eilen die               pastoral-heitere Flötenmusik

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erklingen, die Zettel erst           Striche: Ziemlich willkürlich
tanzen, dann mitsingen und           kommt der plötzliche Auftritt
schließlich einschlafen lässt.       von Theseus und Hippolyta
                                     daher, die als weltliches Ge-
„Es ist eine der Ironien der         genpaar zu Oberon und Titania
Theatergeschichte, dass diese        ebenfalls einen Disput aus-
Opernfassung die reichhaltigs-       handeln. Ein royaler Marsch
te und sinngetreuste Inter-          mit stereotypen Punktierun-
pretation von Shakespeares           gen, Synkopen und Fanfaren
Intentionen ist, die die Bühne       kündigt das Herzogspaar an,
zu unseren Lebzeiten sehen           bevor es die Szene betritt.
wird.“ – W. Moelwyn Merchant         Musikalisch völlig eigenständig
                                     präsentiert sich das Schauspiel
Der dritte Akt trägt selbstbe-       „Pyramus und Thisbe“, das die
wusst die Konsequenzen der           Handwerker nun aufführen:
vorhergehenden inhaltlichen          Im Gegensatz zum Rest der

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Oper besteht die „Schauspiel-         Schauspiels sind musikalisch
musik“ ausschließlich aus             überdeutlich charakterisiert,
melodisch-eingängigen, mehr           wodurch das übertriebene
oder minder tonalen Passagen          Spiel, aber eben auch die Lei-
und traditionellen Satzarten          denschaft der Laiendarsteller
wie einem Totenmarsch. Selbst         hörbar wird.
Filmmusikelemente wie das
typische Mickeymousing greift         Auf der inhaltlichen Ebene
Britten hier auf: Thisbe trip-        bleibt wegen des direkten
pelt zu langsamen Trillern auf        Übergangs der Ankunft der
die Bühne, Pyramus drückt             beiden Liebespaare zum
seine aufbrausenden Gefühle           Schauspiel der Handwerker
zu dramatischen Läufen aus,           kein Platz mehr für die eigent-
das gesungene Löwenbrüllen            liche Hochzeitszeremonie: Bei
zeichnet sich durch zahlreiche        Britten und Pears erhalten
Crescendi aus, und ein I-Ah           die drei Hochzeitspaare ihren
hört man in Zettels Repliken          Segensspruch und gehen
auch noch, nachdem er bereits         gemeinsam zu Bett – ohne
von Puck enteselt ist und in          zuvor tatsächlich geheiratet zu
einer feinfühligen Arie über          haben. Damit brechen sie nun
seinen scheinbaren Traum              auch außerhalb des Feenwal-
sinniert. Alle Figuren des            des alle Regeln.

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ZWISCHEN MEERESWOGEN
UND ESELSGERÄUSCHEN
Ein Gedankenspaziergang zu Benjamin
Brittens Leben und Wirken
Von Inken Meents

Es ist ein kleiner, unscheinba-         lauf, der mit Ausnahme eines
rer Ort an der Ostküste Eng-            Amerika-Aufenthalts immer
lands, Lowestoft in der Graf-           dieses Fleckchen Erde als
schaft Suffolk, wo Benjamin             Lebensmittelpunkt angibt,
Britten 1913 geboren wurde.             als auch, als auch seine Musik
Nur einen ausgiebigen Tages-            wider: Mit seiner besonderen
spaziergang davon entfernt              Klangsprache fängt Britten
liegt Aldeburgh, der Ort, in            sowohl lyrische Gedichte,
dem Britten 1948 gemeinsam              englische Volksweisen und
mit seinem Lebensgefährten              religiöse Texte als auch klang-
Peter Pears ein großes welt-            gewaltige Szenerien mit
weit bekanntes Musikfestival            Meereswogen und Lebenswelten
begründete und schließlich              von Seemännern wie in sei-
1976 starb. Als Britten 1934 das        nen berühmten Opern „Peter
renommierte Royal College of            Grimes“ oder „Billy Budd“ ein.
Music in London als studierter
Komponist verließ, fasste er            Eine weitere Inspirationsquelle
zunächst den Entschluss, nicht          für Britten war seine lebens-
mehr in diese Ödnis zurückzu-           lange Liebesbeziehung zum
kehren. Er unternahm von ihm            Tenor Peter Pears. Die beiden
als „Thinking walks“ bezeich-           lernten sich kurz nach dem
nete Spaziergänge durch die             Tod von Brittens Mutter ken-
Großstadt, reiste, lernte inte-         nen, einer weiteren wichtigen
ressante Persönlichkeiten wie           Bezugsperson für Britten, die
den Dichter W. H. Auden oder            seinen musikalischen Werde-
Leute aus der Filmbranche               gang maßgeblich förderte.
kennen.                                 Pears half Britten über den
                                        Verlust der Mutter hinweg
Doch gerade diese „Öde“, die            und begleitete ihn fortan in
friedliche Ruhe und das Meer            allen Lebenslagen. Oft schrieb
zogen Britten immer wieder              Britten Stücke für ihn und sie
zurück in ihren Bann. Das               veranstalteten gemeinsam
spiegeln sowohl sein Lebens-            Konzerte.

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„Ich bin hier als dein Mundstück        „The Little Sweep“ Stücke für
und ich lebe in deiner Musik –          Kinder und auch in seinen an-
My darling, I love you.“ – Peter        deren Werken Partien für Kin-
Pears                                   der und Kinderchöre. Daneben
                                        hinterließ der Zweite Weltkrieg
Der spezielle Klang von Brit-           beim Pazifisten Britten seine
tens Musik ist vor allem ge-            Spuren: Sein eindrucksvolles
prägt von der britischen Ba-            „War Requiem“ wurde 1962 in
rockmusik Henry Purcells und            der vom Krieg zerstörten und
zeitgenössischen Einflüssen             wiedererbauten Kathedrale in
von Arnold Schönberg, Gustav            Coventry uraufgeführt.
Mahler und der Filmmusik.
Schon früh vertonte Britten zu-         Diese vielseitigen Eindrücke
dem spielerisch Tiergeräusche           wusste Britten einmalig in Musik
von Wespen oder Eseln, kom-             zu verwandeln – die Küstenödnis
ponierte mit „A Young Person’s          erwies sich somit als ein die
Guide to the Orchestra“ oder            Fantasie beflügelndes Kleinod.

                                   12
WAS KANN PASSIEREN, WENN
ICH MEINE GEORDNETEN
LEBENS- UND DASEINSEBENEN
VERLASSE?
Interview mit Regisseur
Thomas Münstermann
Wer auch das andere Stück             sche Globe-Architektur, die
mit Shakespeare-Bezug, das            wir ähnlich wie in dem Stück
in dieser Spielzeit im Theater        auseinandernehmen, denn die
Pforzheim Premiere hatte,             Szenen im Wald von Theben
gesehen hat, wird in Ihrem            stehen ja dafür, dass man sich
„Sommernachtstraum“ eini-             nicht in gewohnter Ordnung,
ges wiedererkennen. Warum             in gewohnter Struktur, Archi-
haben Sie sich zusammen               tektur und Zivilisation bewegt.
mit Ihrem Bühnenbildner               Die Holzstützen des Globe
Thomas Mogendorf dafür                Theaters können außerhalb
entschieden, Teile der Kulisse        dieser Strukturen fantasie-
aus „Shakespeare in Love“ zu          mäßig für Bäume stehen. Bei
verwenden?                            Shakespeare gibt es viele Bei-
                                      spiele für ein derartiges Spiel.
Das Bühnenbild von „Sha-              Shakespeare ist so imaginati-
kespeare in Love“ zeigt ein           onsstark in seinen Szenenbe-
Shakespeare-Theater. Zu               hauptungen, dass es eigent-
Shakespeares Zeit kannte              lich oft gar kein Bühnenbild
man das Bühnenbild als einen          braucht, weil alles durch die
stückspezifischen Aufbau              Sprache in das Vorstellungs-
nicht. Man hat in einer vor-          vermögen des Publikums
handenen Theaterarchitektur           projiziert wird.
gespielt und diese durch Kraft
der Imagination, Verabredung          Der andere Gedanke ist:
und Behauptung zu einem               Die Stücke von Shakespeare
Theaterraum gemacht, der              spielen immer auf verschie-
den jeweiligen Topos, den             denen Ebenen. Sie spielen
Spielort, darstellte. Und             zum einen in der Welt, die sie
demselben Prinzip folgend             beschreiben. Und diese Welt
nutzen wir jetzt die Theater-         ist oft fiktiv. Das Theben, das
architektur aus „Shakespeare          er beschreibt, ist eine Fan-
in Love“, eine elisabethani-          tasie, und die bei ihm immer

                                 13
wieder vorkommenden illyri-            Dieser geträumte, fiktive
schen Haine sind Orte der              Raum ist im „Sommernachts-
Vorstellung. Shakespeare ist in        traum“ der Elfenwald, in dem
all diesen Ländern nie gewe-           verrückterweise Liebespaare
sen und hat überhaupt keine            wie Handwerker gleicherma-
Vorstellung davon. Es ist nur          ßen auf Elfen treffen. Was be-
eine Anmutung einer ande-              deutet dieser Wald den einzel-
ren Welt jenseits der eigenen          nen Figuren und wie verhalten
Zivilisation. Zum anderen              sie sich in diesem geträumten
spielen seine Stücke aber              Raum unterschiedlich?
auch immer auf dem Theater.
Denn seine Grundbehauptung             Es gibt ja im Grunde genom-
ist ja durchgehend die, dass,          men zwei Arten von Wesen in
ein Leben zu führen, immer             diesem Stück: Wesen, die wir
auch Teil eines Spiels zu sein         im weitesten Sinne als tat-
bedeutet. Ein weiterer Gedan-          sächliche betrachten würden,
ke, der damit korrespondiert,          nämlich die Liebespaare, das
ist der, dass das Leben nicht          Herrscherpaar Theseus und
nur ein poetischer Traum,              Hippolyta, wenn auch wie
sondern tatsächlich auch im            aus einer Sage entsprungen
Sinne der Philosophie nur eine         erscheinend, und die Hand-
geträumte Ebene ist. Und das           werker, also Menschen ei-
parallelisiert er miteinander.         ner realen Welt, und auf der
Deswegen braucht es bei Sha-           anderen Seite Wesen einer
kespeare eigentlich nie kon-           nicht-realen Welt, also einer
krete Räume und Anlässe.               Parallelwelt. Die kann man

                                  14
eine poetische nennen, aber             aber auch ein geiler Satyr,
auch eine zauberische, wobei            vielleicht auch mal ein zyni-
das eine in das andere über-            scher alter Mann, der Experi-
gehen kann. Für die realen              mente betreibt. Ein wechsel-
Wesen ist der Wald ein Ort, wo          haftes Wesen, das alles kann
ihre Zivilisation und alles, was        und nichts. Letztlich ein Motor
sie in ihrem normalen Leben             des Theaters. Deshalb lässt
reglementiert, aufgehoben               Shakespeare den Puck auch
sind. Dort dürfen und müssen            einen Epilog sprechen. Puck
sich die Figuren anders verhal-         verkörpert das theatralische
ten: Handwerker dürfen dort             Prinzip in diesem Stück und
Theater spielen und sich aus            vermittelt damit zwischen
ihrer zweckhaften Existenz              dem Realen und Irrealen, dem
wegbewegen, und Liebespaa-              Konkreten und dem Abstrak-
re können erproben, ob ihre             ten, zwischen den kultivierten
erzwungenen Konstellationen             und den natürlichen Ebenen.
überhaupt zutreffend sind und           Er ist auch unser Führer durch
Bestand haben. Es ist ein Ort,          diese Welt, nimmt uns an die
an dem Gesetze außer Kraft              Hand und kommentiert das
gesetzt und Dinge überprüft             Geschehen. Da mag sich auch
werden können, bis dieses               jeder – und das ist das Ver-
Experiment so gefährlich wird,          gnügen an Puck – mit seiner
dass Shakespeare es abbricht            eigenen Fantasie hineinden-
– und zwar genau durch die              ken, was Puck ist.
Kräfte des poetischen Raums,
die es in Gang gesetzt haben.           Um noch einmal zurück auf
Damit wird das Ganze zur                das Verhältnis von Spiel und
Erfahrung des Auslotens: Was            Bühnenbild zu kommen:
kann passieren, wenn ich mei-           Im „Sommernachtstraum“
ne geordneten Lebens- und               selbst gibt es ja auch ein Spiel
Daseinsebenen verlasse?                 im Spiel, als die Laienschau-
                                        spielgruppe aus Handwerkern
Eine Figur, die ja grundsätz-           „Pyramus und Thisbe“
lich Freude an der Regellosig-          aufführt.
keit hat, ist Puck.
                                        Manch einer kennt vielleicht
Der Puck ist ein bestimmtes,            heute den Film „Inception“
immer wieder erscheinendes              von Christopher Nolan. Dort
Prinzip, das wir, wenn wir es           wird gezeigt, wie man durch
als Person sähen, uns in unter-         eine bestimmte Maßnahme
schiedlichsten Verkörperungen           aus dem realen Leben in eine
vorstellen könnten. Das kann            Traumebene kommen kann
mal ein frecher Lausbub sein,           und dann in dieser Traumebe-
der sich Streiche ausdenkt, im          ne auch wieder durch Anwen-
nächsten Moment vielleicht              dung solcher Maßnahmen in

                                   15
eine weiter darunter liegende           scheinlich unendlich viele –,
Traumebene und so weiter.               wird uns immer verborgen
Und so ist es bei Shakespeare           bleiben.
auch geschachtelt: Wir be-
kommen eine Theaterebene                Auch das heißt Theaterspielen:
gezeigt, auf der das Stück „Ein         Die Rolle zu spielen. In der
Sommernachtstraum“ spielt,              Rolle zum Beispiel zu übertrei-
und in dieser Theaterebene              ben, wie das die Handwerker
wird ein Theater gezeigt. Da            ja auch tun, um selbst zu
entstehen ganz merkwürdige              verstehen, was die Essenz des
Wirkungen, denn irgendwann              eigenen Daseins ist. Da ist der
werden wir selbst zu den Figu-          spielerische Akt ein Akt der
ren, die wir sehen. Die Figuren,        Selbstfindung: sich darin zu
die das Theater anschauen,              finden, wie es wäre, ein Pyra-
sind wir ja selbst. Shakespeare         mus oder eine Thisbe zu sein.
macht da eine unendliche Ver-           Es muss sich anderen gar nicht
schachtelungskette auf. Diese           erschließen. Das Ironische und
Spielereien kommen schon aus            gleichzeitig Tragisch-Bittere
der klassischen Philosophie.            ist, dass die Figuren, die eben
Das Philosophieren über unsere          selbst noch Teil einer Theater-
Existenz beinhaltet auch im-            demonstration waren, nämlich
mer wir unser eigenes Dasein            Demetrius, Lysander, Hermia
nicht nur reflektieren, son-            und Helena, die von Oberon
dern auch von einem anderen             und Puck als Teil einer Szene
Standpunkt aus betrachten               gesehen wurden – so habe ich
müssen. Und wie viele dieser            es auch inszeniert –, sich jetzt
Standpunkte es gibt – wahr-             darüber lustig machen, wie
                                        albern sich die Schauspieler
                                        unter ihnen benehmen. Wenn
                                        man gesehen hat, wie albern
                                        sie selbst sich zuvor im Wald
                                        verhalten haben, wird einem
                                        klar, dass es nur vom Betrach-
                                        tungsstandpunkt abhängt,
                                        ob man Sinn für sich selbst
                                        generieren kann. Nach außen,
                                        für den Betrachter, mag das
                                        Verhalten absurd und über-
                                        trieben erscheinen, für einen
                                        selbst aber ist es unbedingt
                                        identitätsstiftend.

                                        Wie wird die Identität der
                                        Laienschauspieler in Ihrer
                                        Inszenierung noch verhandelt?

                                   16
Mir war bei der strukturel-
len Betrachtung des Stücks
aufgefallen, dass tatsächlich
Handwerker und Elfen nie
gleichzeitig auftreten. Bei
Shakespeare waren die Kom-
panien nicht besonders groß
und Schauspieler schlüpften
ständig in andere Rollen.
Anders wären zum Beispiel
Königsdramen mit vierzig,
fünfzig Rollen zu der Zeit
nicht spielbar gewesen. Und
daraus haben wir den Ge-
danken entwickelt, dass bei
uns die Handwerker auch die
Elfen spielen könnten. Und
für mich hat das verblüffend
schön funktioniert, denn es
sind eben nicht nur dieselben
Schauspieler, sie erfüllen auch
die gleichen, sich aufeinan-
der beziehenden Funktionen:            Wir haben für den Fürsten
Die hilfreichen Geister, die im        Theater gespielt. Aber alles,
Elfenreich zu Dienst sein müs-         was war, einschließlich Fürs-
sen, sind auch diejenigen, die         ten, ist ja auch wie in einem
in der realen Welt die Arbeiten        Theater!
machen müssen. Reizvoll fand
ich zudem, dass eine weitere           Gibt es denn Figuren, die die-
Theaterschachtelung entsteht,          se Reflexion betreiben? Macht
wenn man sich irgendwann               sich innerhalb des Stücks
fragt: Spielen die Handwerker          irgendjemand Gedanken über
die Elfen oder sind die Hand-          das Geschehen?
werker die Elfen? Wissen sie,
dass sie das spielen? Oder sind        Klar, Zettel, der deswegen
das nur die Schauspieler, die          auch eine der spannendsten
Elfen spielen? Und das führe           Figuren der Weltliteratur ist. Es
ich zusammen: Puck erscheint           ist von Shakespeare meister-
den Handwerkern nach ihrem             haft angelegt, dass aus einem
Auftritt, als sie ihren Kram           wichtigtuerischen, geltungs-
zusammenpacken, und zeigt              süchtigen Charakter eine Figur
ihnen: Ihr seid Elfen. Und die         wird, die so durchgeschüttelt
Handwerker stehen da und               und mit so merkwürdigsten
wissen gar nicht mehr, wer sie         und auch schmerzlichsten
sind. Sie merken auf einmal:           Erfahrungen konfrontiert wird,

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dass sie wirklich ins Nachden-          hineinphilosophiert – so grün-
ken kommt und spürt, dass sie           delnd ist dieser Charakter erst
die Grenzen ihrer Erkenntnis-           einmal gar nicht.
fähigkeit erreicht. Zettel will
berichten, was er erlebt oder           Shakespeares starke Spra-
geträumt hat, und merkt,                che haben Sie anfangs schon
dass er an einem Punkt gar              erwähnt. Was war der An-
nicht mehr weiterkommt. Da-             lass für Ihre Entscheidung,
her verspricht er uns, über die-        den „Sommernachtstraum“
ses unbeschreibliche Erlebnis           im Theater Pforzheim in der
ein Stück schreiben zu lassen.          deutschen Übertragung nach
Dieses Stück sind alle Stücke           Schlegel zu zeigen?
von Shakespeare zusammen,
wenn man so will. Damit steht           Schlegel und Tieck haben
dieser Zettel in einer unglaub-         diese Übersetzung vor fast
lichen Verwandtschaft zu                zweihundert Jahren angefer-
großen Figuren der Literatur,           tigt und trotzdem erzeugt ihre
nicht nur bei Shakespeare, und          Übersetzung auch heute noch
hat viele Literaten und Dra-            einen sprachpoetischen Raum,
matiker dazu angeregt, diese            der vielleicht nicht der gleiche
Figur aufzunehmen und aus               ist wie bei Shakespeare, aber
ihr ganze Fantasiegebäude zu            ein adäquates Gebäude dar-
errichten. Denken wir an Arno           stellt, sodass sich die Sprache
Schmidts „Zettels Traum“,               auf die Imagination auswirken
eine der großen merkwürdigen            kann, was nicht möglich wäre,
literarischen Manifestationen           wenn ich für ein vornehmlich
des ausgehenden 20. Jahr-               deutsches Publikum Englisch
hunderts in Deutschland, in             spielte. Dann bliebe der direk-
der Schmidt ja das Verzetteln           te sprachlich-sinnliche Zu-
gleichzeitig zu einem litera-           gang verschlossen. Der zweite
rischen Prinzip gemacht hat.            Grund ist offensichtlich, dass
Bei Shakespeare ist die Figur           sehr viele Szenen wie die
nicht ohne Grund Weber. Da              Handwerkerszenen eine sehr
ist, glaube ich, der Gedanke            hohe Informationsdichte auf-
ein sehr bildhafter: Durch das          weisen und viele Pointen über
Verweben verschiedenster                die Sprache transportieren,
Erkenntnisstränge in verschie-          die man nur mit sehr fortge-
denen Diskussionen entsteht             schrittenen Englischkenntnis-
ein greifbares Gewebe. Aber             sen spontan nachvollziehen
er heißt bei Shakespeare nicht          könnte. Aber in so einer Hand-
Zettel, sondern Bottom, und             werkerszene ist es komischer,
das heißt „Grund“. Und ob das           wenn ich direkt weiß, was die
nun meint, dass er den Sa-              agierenden Figuren von sich
chen auf den Grund geht, am             geben.
Boden liegt oder ins Bodenlose

                                   20
PYRAMUS UND THISBE: „EIN
GANZ VORTREFFLICHES STÜCK“
Von Christina Zejewski
Der römische Dichter Publius          einer Verwandlung, die meist
Ovidius Naso, kurz Ovid ge-           ätiologisch die Erklärung für
nannt, verfasste zwischen             einen Sachverhalt bietet. Im
zwei und acht nach Christus           vierten Buch erklären bei-
die fünfzehn Bücher umfas-            spielsweise die Verse 55 bis 166,
sende Sammlung „Metamor-              wie die Früchte des Maulbeer-
phoseon libri“, die „Bücher           baums zu ihrer dunklen Farbe
der Verwandlungssagen“. Der           kamen.
metrischen Form nach sind
die „Metamorphosen“ ein               Der Maulbeerbaum mit seinen
Epos aus rund 12.000 Hexame-          schneeweißen Früchten auf
tern, deren Rhythmus Johann           Ninis Grab ist des Nachts der
Heinrich Voß in seiner bewähr-        geheime Treffpunkt der bei-
ten deutschen Übertragung             den verliebten Jugendlichen
nachahmt. Alle der etwa 250           Pyramus und Thisbe, deren
Geschichten, die in „chronolo-        Eltern ihnen eine Liebesbezie-
gischer“ Reihenfolge von der          hung verbieten. Sie können nur
Erschaffung der Welt bis zu           durch eine rissige Wand mitei-
Kaiser Augustus, Ovids damali-        nander sprechen. Eines Nachts
gem Mäzen, reichen, gipfeln in        trifft Thisbe kurz vor Pyramus

                                 21
erst von der Löwin, dann von
                                       Pyramus gefunden wird. Das
                                       Rinderblut, das vom Löwinnen-
                                       maul auf den Schal abgefärbt
                                       hat, hält Pyramus irrtümlich
                                       für Thisbes und ersticht sich
                                       vor Verzweiflung. Sein Blut
                                       spritzt die umhängenden
                                       Früchte rot. Als sie die Gefahr
                                       für gebannt hält, kehrt Thisbe
                                       schnellstmöglich zum Maul-
                                       beerbaum zurück, bringt sich
                                       beim Anblick von Pyramus‘
                                       Leichnam ebenfalls mit des-
                                       sen Schwert um und färbt die
                                       Maulbeeren noch dunkler.

                                       Die Geschichte der bis in den
                                       Tod in Liebe verbundenen Ju-
                                       gendlichen inspirierte William
                                       Shakespeare zwischen 1594
am Baum ein und wird von ei-           und 1598 gleich doppelt: Zeit-
ner Löwin mit blutverschmier-          gleich zur Komödie „Ein Som-
tem Mund überrascht, die               mernachtstraum“ schrieb er
nach dem Essen ihren Durst             an seiner Tragödie „Romeo und
am benachbarten Fluss stillen          Julia“, der wohl bekanntesten
möchte. Auf der Flucht verliert        Rezeption der Geschichte von
Thisbe ihren Schal, der später         „Pyramus und Thisbe“.

 Eine mäßige Ritze durchspaltete seit der Erbauung
 Schon die gemeinsame Wand der beiden verbundenen Häuser.
 Dieser Fehl, den keiner in ewigen Zeiten gespüret,
 Ward (was merkt nicht Liebe?) zuerst euch Liebenden merkbar;
 Und ihr bahntet der Stimme den Weg, auf welchem gesichert
 Oft liebkosende Red´ in gedämpfterem Lispel hindurchging.
 Wann sie davor sich gestellt, hier Thisbe, Pyramus jenseits,
 Und mit begegnendem Munde den Hauch voneinander geschöpfet:
 Neidische Wand, was trennst du die Liebenden? sagten sie oftmals.
 Was denn, wenn du einmal uns volle Vereinigung gönntest,
 Oder, ist dieses zuviel, dich öffnetest unseren Küssen?
 Aber nicht undankbar wir bekennen uns gerne verpflichtet,
 Dass du den Worten die Bahn zu gefälligen Ohren gewährtest.
 – Ovid, Metamorphosen, Buch 4, Vers 65–77

                                  22
SHAKESPEARE INSPIRIERT
Beim Schreibwettbewerb des Jungen Theaters Pforzheim ließen
sich junge Kreative von Puck und der magischen Blume beflügeln

Für seine Komödie „Ein Som-
mernachtstraum“ entwarf
Shakespeare Figuren, die
schnell einen festen Platz im
kulturellen Kanon Europas
fanden und bis heute immer
wieder rezipiert werden: Die
selbstbestimmte, naturver-
bundene Elfenkönigin Titania
ist ein originärer Charakter
des „Sommernachtstraums“.
Shakespeare benannte sie in
Anspielung auf die in Ovids
Metamorphosen beschrie-
benen Titanen, dem Vorgän-
gergeschlecht der bekannten
griechisch-römischen Götter.
Auch Oberon als Elfenkönig
weist vor der Shakespear’schen          „Mein guter Puck, komm her.
Adaption keine nennenswer-              Kennst du wohl noch das Kraut?
ten literarischen Auftritte auf:        Ich wies es dir.“ – Oberon in
Im französischen Versepos               „Ein Sommernachtstraum“
„Huon de Bordeaux“ aus dem
13. Jahrhundert assistiert er           Von Shakespeare inspirier-
zwar dem Titelhelden, aber              te Geschichten haben auch
die Figur geht auf den ger-             die Teilnehmerinnen unseres
manischen Alberich zurück,              Schreibwettbewerbs verfasst,
wie er als Schatzwächter im             in denen insbesondere Puck
Nibelungenlied auftritt. Die            und die magische Blume
Gestalt Puck wiederum ist in            vorkommen sollten. In der
der germanischen, baltischen            Geschichte „Der Kampf um
und keltischen Mythologie als           die Wiese“ von Jana Hofmann
schelmischer Hauself bekannt,           spielt Puck beispielsweise ei-
der den Bewohnerinnen und               nen Bauern, dessen Tiere seine
Bewohnern bei guter Behand-             Freundin, die magische Blume,
lung Gesundheit und Glück,              zu zertrampeln oder aufzufres-
bei schlechter Krankheit und            sen drohen, zahlreiche Streiche
Elend bringt.                           wie diesen:

                                   23
Majestät, dürftet den Garten
                                         nur mit Augenbinde betreten.
                                         Seht Ihr die Prinzessin an, so
                                         verwandelt Ihr euch in einen
                                         prächtigen Baum. Ist das nicht
                                         schön? Dann wäre der Zauber
                                         gebrochen, und die Prinzessin
                                         dürfte gehen.“ – aus „Pucks
                                         Zaubergarten“ von Ella Bram-
                                         beer (16 Jahre)

                                         In Paula Roths Rezeption von
                                         „Ein Sommernachtstraum“
                                         setzt Puck sich mit starkem
                                         Gerechtigkeitssinn gegen
                                         Diskriminierung ein und geht
                                         dabei so weit, dass er sein Hei-
                                         matdorf in Flammen aufgehen
„In der Nacht verwandelte sich           lässt. Zum Glück ist die magi-
Puck in ein Schaf. Die drei-             sche Blume in dieser Fassung
zehn Schafe waren alle wach.             kein Aphrodisiakum, sondern
Puck fragte die Schafe: „Was             ein Zeitumkehrer:
ist euer größter Wunsch?“ Die
Schafe antworteten: „Wir wä-
ren am liebsten alle frei. Dann
könnten wir die Welt erkun-
den.“ Puck verwandelte sich
wieder zurück in einen Elfen. Er
öffnete das Tor vom Zaun und
ließ die Schafe frei.“ – aus „Der
Kampf um die Wiese“ von
Jana Hofmann (10 Jahre)

In Ella Brambeers Geschichte
„Pucks Zaubergarten“ stellt
der unbefangene Puck dem
verzweifelten König, der um
das Leben seiner Tochter
fürchtet, hilfsbereit ein Ulti-
matum, das es aus Sicht des
Monarchen jedoch in sich hat:

„Und da wäre noch eine Klitze-
kleinigkeit, also echt kein Dra-
ma“, fuhr Puck fort. „Ihr, Eure

                                    24
„Siehst du diese Blume da?“,            „Tatsächlich erblickte Luna in
wollte der Mann wissen und              der Mitte der blauen Bäume
zeigte auf eine wunderschöne            eine gewöhnliche, jedoch rot
rote Pflanze, die strahlte wie          gesprenkelte Tulpe. Luna dreh-
tausend Sterne. „Was ist mit            te sich um und schaute Puck
ihr?“, hakte Puck nach. „Sie ist        fragend an. Dieser gab ihr
magisch. Rieche an ihr und die          ein Zeichen, sie solle mit der
Zeit wird zurückgedreht wer-            Pflanze reden. Das Mädchen
den. Dann könntest du alles             hatte in den letzten Stunden
richtig machen. Du hast es in           schon so viel Unrealistisches
der Hand.“ – aus „Ein Som-              erlebt, dass es ihr schon fast
mernachtstraum“ von Paula               normal vorkam, dass Tulpen
Roth (14 Jahre)                         reden.“ – aus „Lunas Sommer-
                                        nachtstraum“ von Jeanne
Und auch in den Geschichten             Mercier (13 Jahre)
von Jeanne Mercier und Hanna
Hofmann wird die Besonder-
heit der Beziehung zwischen
Puck und der Blume hervorge-
hoben.

„Die Blume kann: Sich verwan-
deln in alles, wenn sie jemand
ärgert, dann bekommt sie Sta-
cheln, die hart sind, und wenn
man freundlich ist, dann sind
die Stacheln weich. Sie kann
sich unsichtbar machen, in der
Nacht kann sie sich leuchtend
machen, und wenn Puck mal
wieder etwas angerichtet hat,
hilft sie ihm die Wahrheit zu
sagen. Sie kann auch tauchen,
wenn sie unsichtbar ist.“ – aus
„Puck und die Magische
Blume“ von Hanna Hofmann
(8 Jahre)

Die spannenden und äußerst unterschiedlichen Gewinnertexte
können in ihrer gesamten Länge auf der Internetseite des
Theaters gelesen werden unter

www.theater-pforzheim.de/das-theater/
junges-theater/schreibwettbewerb/gewinnertexte.

                                   25
VON DER ADAPTION ZUR
LITERATUROPER
Shakespeare-Opern im Wandel der
Jahrhunderte
Von Christina Zejewski
Brittens „Ein Sommernachts-            Bekannte Beispiele früher Sha-
traum“ ist zweifellos die              kespeare-Adaptionen, die sich
erfolgreichste Shakespeare-            vor allem ab dem späten 18.
Oper, die einen originalen             Jahrhundert großer Beliebtheit
Shakespeare-Text als einzi-            erfreuten, sind „Falstaff ossia
ge Grundlage ihres Librettos           Le tre burle“ (1799) mit einem
nutzt.“ – Mervyn Cooke                 Libretto von Carlo Prospero de
                                       Fransceschi und Musik von An-
Brittens und Pears‘ Libretto           tonio Salieri nach der Komödie
ist tatsächlich eine Shakespe-         „Die lustigen Weiber von Wind-
are-Adaption im Wortsinn,              sor“, Hector Berlioz‘ komische
also viel mehr eine behutsa-           Oper „Béatrice et Bénédict“
me Anpassung an die Erfor-             (1862) nach der Komödie „Viel
dernisse des Musiktheaters,            Lärm um nichts” und Charles
namentlich vor allem eine              Gounods „Roméo et Juliette“
Reduktion der Textmenge, als           (1867), zu der Jules Barbier
eine eigenständige textliche           und Michel Carré das Libretto
Aufbereitung des ursprüngli-           verfassten. Auch noch für Giu-
chen Stoffes, wie es noch bis          seppe Verdis späte Shakespe-
ins frühe 20. Jahrhundert bei          are-Opern „Otello“ (1887) und
den meisten auf literarischen          „Falstaff“ (1893) passte sein
Vorlagen basierenden Libretti          prominenter Librettist Arrigo
der Fall war. Die Aufbereitung         Boito gemeinsam mit dem
einer literarischen Vorlage für        Komponisten die Anzahl und
die Opernbühne bedeutete zu-           Gewichtung der Rollen auf die
meist, dass das Original zwar          Zusammensetzung eines tradi-
als Impulsgeber und Lieferant          tionellen Sängerensembles an
der Charaktere zur Verfügung           und gliederte die Handlung in
stand, aber sowohl in Szenen-          Abschnitte, die zu mehr oder
folge und Wortlaut, ja sogar           weniger alleinstehenden Num-
hinsichtlich des Handlungsor-          mern ausgearbeitet werden
tes oder der Namen der Prota-          konnten. Nicht fehlen darf in
gonistinnen und Protagonisten          einer romantischen Oper das
davon abweichen konnte.                obligatorische Liebesduett – ob

                                  26
es nun bei Shakespeare auf-              nun, einen Fluss aus Prosa zu
taucht oder nicht, ist belanglos.        vertonen, statt ein Stück in
                                         einzelnen Nummern abbilden
Zur gleichen Zeit jedoch ent-            zu müssen, und ungewöhnliche
standen die frühsten so ge-              Besetzungen zu präsentieren.
nannten Literaturopern in                Außerdem wird der Expressi-
Russland, das durch die stän-            vität des Gesangs mehr Be-
dige Präsenz führender italieni-         deutung eingeräumt als dem
scher Komponisten am Zaren-              sprachlichen Wohlklang. Ein
hof erst spät zu einer eigenen           Text muss nicht mehr ‚sang-
Librettotradition fand. Ange-            bar‘ sein, um ausdrucksstark
regt durch die Libretti Richard          vorgetragen werden zu dürfen.
Wagners, die bei Lesungen                Seitdem nutzen auch Shake-
als eigenständige prosaische             speare-Vertonungen wie Boris
Kunstwerke gefeiert wurden               Blachers „Romeo und Julia“
und mit dem bisherigen Regel-            (1950), Giselher Klebes „Die
werk der Librettisten brachen,           Ermordung Cäsars“ (1959, nach
indem sie völlig neue Hand-              „Julius Caesar“) und Christi-
lungsmotive und Figurenkons-             an Josts „Hamlet“ (2009) die
tellationen einführten, entwi-           originale sprachliche und se-
ckelte sich im 20. Jahrhundert           mantische Struktur der namen-
auch in Deutschland die Mode,            gebenden Dramen bzw. deren
bestehende literarische Vorla-           deutscher Übertragungen von
gen im Wortlaut zu vertonen,             Johann Joachim Eschenburg,
statt sich auf umständliche              August Wilhelm Schlegel und
Diskussionen mit einem Libret-           Ludwig Tieck. Diese Freiheit in
tisten oder einer Librettistin           der musikalischen Gestaltung
einzulassen. Die Veränderungen           kam Brittens vielseitigem Ge-
in der Tonsprache ermöglichen            staltungswillen entgegen.

                                         „Keine Begabung hat sich nach
                                          dem Zweiten Weltkrieg auf der
                                internationalen Musikbühne müheloser
                                     durchgesetzt als die des Engländers
                                   Benjamin Britten. Mit ihm tritt in den
                                 Kreis der Novatoren ein schöpferischer
                                       Eklektiker von so hohem Rang, so
                                  leichtem Gedankenflug und so großer
                                      amalgamierender Kraft, dass man
                                          an die Blütezeit der englischen
                                             Musik im Elisabethanischen
                                                 Zeitalter erinnert wird.“
                                          – Hans Heinz Stuckenschmidt

                                    27
LEITUNG                                IMPRESSUM

Intendant —
Thomas Münstermann

Verwaltungsdirektor —
Uwe Dürigen

Generalmusikdirektor —
Robin Davis

Chefdramaturg —
Peter Oppermann

Musikalische Assistenz —
Johannes Antoni, Immanuel Karle

Studienleitung —
Philipp Haag                           → Herausgeber
                                       Theater Pforzheim
Inspizienz —
Johannes Kriener                       → Intendant
                                       Thomas Münstermann
Regieassistenz / Abendspielleitung —
Janne Geest, Gabriele Rausch           → Verwaltungsdirektor
                                       Uwe Dürigen
                                       Spielzeit 2020/21,
                                       Großes Haus, Heft 4
Technische Direktion —
Thomas Kalkofen                        → Redaktion
                                       Christina Zejewski
Bühnenmeister / Theaterinspektion —
Johannes Arnolds                       → Basisentwurf
                                       DMBO – Studio für Gestaltung
Leiter der Werkstätten —               Pforzheim
Sebastian Dierer
                                       → Gestaltung
Gewandmeisterin — Ulrike Wenk          Jutta Porr, Christina Zejewski
                                       → Druck
Chefmaskenbildnerin —                  Nunnenmann GmbH, Herxheim
Andrea Dengler-Heiermann
                                       → Textnachweis
Leitung der Requisite —                Alle Texte sind Originalbeiträge für
Annette Pagani                         dieses Programmheft.

Leitung der Beleuchtungsabteilung —    → Bildnachweis
Andreas Schmidt                        Die Fotos der Produktion erstellte
                                       Sebastian Seibel bei der Orches-
Leitung der Tonabteilung —             terhauptprobe und Generalprobe
Jörg Linke                             am 18. und 19. März 2021.
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