Russland und Europa: Entfremdung - Gesamteuropäische Friedensordnung? - Brill
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KAPITEL 4 Russland und Europa: Entfremdung Gesamteuropäische Friedensordnung? Im Verhältnis zwischen Europa und Russland ist die Annexion der Krim und der Krieg in der östlichen Ukraine der Moment der Wahr- heit. Die sogenannte Ukraine-Krise brachte eine Entwicklung ans Licht, die spätestens nach dem Ende des Kalten Kriegs begonnen hatte: Die Entfremdung zwischen Europa und Russland. Sie wurde zeitlich verdichtet, auf nur etwa 4 Monate. Der Ablauf der Ereignisse zeigt eine erstaunliche Beschleunigung der Geschichte. Die Ukraine-Krise begann Ende November 20131. Auslöser war die Weigerung des damaligen Präsidenten der Ukraine, Wiktor Januko- witsch, das lange ausgehandelte Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Die Ukraine wurde vom russischen Präsidenten Wladimir Putin stattdessen gedrängt, sich der Eurasischen Wirt- schaftsgemeinschaft anzuschließen. Auf dem Platz der Unabhängig- keit in Kiew (Majdan Nesaleschnosti) forderten Bürger die Absetzung Janukowitschs und seiner Regierung sowie Neuwahlen. Mit dem EU-Abkommen verbanden sie die Hoffnung nicht nur auf Wohlstand, sondern vor allem auf einen Rechtsstaat und die Bekämpfung der Kor- ruption. Die Proteste weiteten sich aus. Im Dezember 2013 befanden sich zeitweilig mehrere Hunderttausend Menschen auf dem „Euro majdan“. Im Februar 2014 eskalierten die Konflikte mit den Sicher- heitskräften. Über 120 Todesopfer waren zu beklagen. Ein von den Au- ßenministern Deutschlands (Frank-Walter Steinmeier), Frankreichs (Laurent Fabius) und Polens (Radoslaw Sikorski) vermittelter Vertrag zwischen Präsident Janukowitsch und der Opposition sah vorgezo- gene Neuwahlen, eine Verfassungsreform sowie die Beendigung und Untersuchung der Gewaltanwendung vor. Er konnte den Konflikt aber nicht beenden. Am Tag der Unterzeichnung flüchtete Janukowitsch nach Russland. In Kiew kam es zu einem Machtwechsel. Noch im Februar 2014 landeten ca. 2000 russische Soldaten auf der Krim. Im März 2014 folgte unter diesen Bedingungen ein Referen- Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
96 4. Russland und Europa dum über den künftigen Status der Krim. Es ergab eine fast 97% Mehrheit für den Anschluss an Russland. Präsident Putin verkündete vor Föderationsrat und Duma den Beitritt der Krim zu Russland. Kurz zuvor hatten in der östlichen Ukraine, in den Oblasten Donezk und Luhansk, bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen von Russ- land unterstützten Milizen und russischen Soldaten auf der einen Seite und ukrainischen Streitkräften und Milizen auf der anderen Seite begonnen. Die Separatisten riefen die Unabhängigkeit der soge- nannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk aus und rissen dort die Macht an sich. Der Konflikt entwickelte sich zu einem Krieg, der bis heute anhält und insgesamt über 13 000 Todesopfer kostete. Die Ukraine, Russland und die OSZE bemühen sich im Format einer Kon- taktgruppe um eine Beendigung des Krieges. Die „Minsker“ Abkom- men sehen eine Feuerpause, den Abzug schwerer Waffen, einen Sonderstatus für einige Teile der Ost-Ukraine, die Durchführung von lokalen Wahlen sowie die Kontrolle der ukrainischen Regierung über die Grenze mit Russland vor. Über die Umsetzung der Abkommen verhandeln die Ukraine, Russland, Deutschland und Frankreich im sogenannten „Normandie-Format“. Bundeskanzlerin Angela Merkel spielte hierbei zeitweise eine besonders aktive Rolle. Nicht nur der Westen verurteilte die Annexion der Krim und die russische Beteiligung am Krieg im Donbass als Bruch des Völker- rechts. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen stellte fest, dass die Annexion der Krim eine Verletzung der territorialen Integ- rität der Ukraine bedeutet. Vor allem aus europäischer Sicht war das Vorgehen Russlands in der Ukraine eine Zäsur. Es stellte die Ord- nung in Frage, die sich die Mitgliedsstaaten der OSZE in der „Charta von Paris“ 1990 gegeben hatten. In ihr wurde die Teilung Europas als überwunden, der Kalte Krieg als beendet erklärt. Mit seiner Unter- schrift hatte sich auch Russland zur Demokratie als einziger Regie- rungsform bekannt sowie zur Achtung der territorialen Integrität und des Gewaltverbots. Schließlich hatte Russland der Ukraine 1994 eine Sicherheitsgarantie gegeben. Zusammen mit den Nuklear- mächten USA und Großbritannien hatte es sich im „Budapester Me- morandum“ verpflichtet, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine, Kasachstans und Weißrusslands zu achten, als Gegen- leistung für den Verzicht dieser Staaten auf die Nuklearwaffen, die zur Zeit der Sowjetunion auf ihrem Territorium gelagert waren. Die- ser Vertrauensbruch fügte nicht nur der Ukraine, sondern dem Re- Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
4. Russland und Europa 97 gime der Nichtverbreitung insgesamt und damit der internationalen Ordnung großen Schaden zu. Er bestärkt diejenigen Staaten, die in Nuklearwaffen die Garantie ihrer Existenz und Souveränität sehen. Die EU und die USA verhängten Sanktionen gegen Russland. Die G 8 schlossen Russland als Mitglied aus. Trotz unterschiedlicher, vor allem wirtschaftlicher Interessen, trat der Westen hierbei in großer Geschlossenheit auf und bewies hierdurch seine Handlungsfähig- keit. Die Ukraine-Krise aber ist nicht gelöst. Aus der Sicht strategi- scher Diplomatie stellt sich weniger die Frage, welche Seite Recht hat, sondern wie die gefährliche Entfremdung zwischen Europa und Russland abgewendet werden kann. Sie hatte lange vor der Ukraine- Krise eingesetzt. Die Ukraine-Krise ist ein Konflikt zwischen Europa und Russland um die Ukraine. Sie brachte das bedeutendste Projekt der Europäischen Diplomatie nach dem 2. Weltkrieg endgültig zum Scheitern: Die Gesamteuropäische Friedensordnung, eine regionale Ordnung, die Russland einschließen sollte. Hierin liegt die epochale Bedeutung der Ukraine-Krise. Die strategische Bedeutung der Ukraine für Russland wurde von führenden Experten im Westen durchaus gesehen. Der frühere Si- cherheitsberater des amerikanischen Präsidenten Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, wies der Ukraine bereits 1997 einen wichtigen Platz auf dem „eurasischen Schachbrett“ zu: „Ihre schiere Existenz als unabhängiger Staat trägt zur Transformation Russlands bei. Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein eurasisches Imperium zu sein. Ohne die Ukraine kann Russland zwar einen imperialen Status anstreben, aber es würde dann ein vornehmlich asiatischer Staat“2. Vor allem im Hinblick auf die heute zunehmende Orientierung Russlands nach Asien, seiner angestrebten Partnerschaft mit China, erweist sich das Urteil Brzezinskis im Rückblick als eine erstaunli- che Voraussage. Präsident Putin sieht eine mögliche Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO als direkte Bedrohung Russlands. Seine Wahrnehmung ist eine Tatsache, die strategische Diplomatie in Rechnung stellen muss. Deshalb wertet der heute führende Vertreter der sogenannten „Realistischen Schule“ der Internationalen Beziehungen, John J. Me- arsheimer, die Ukraine Krise als einen Fehler des Westens: „Die Krise zeigt, dass Realpolitik relevant bleibt … und dass Staaten, die sie ig- norieren, dies auf eigene Gefahr tun“3. Er meint hiermit Europa und die USA. Ihnen gibt er die Verantwortung für den Ausbruch der Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
98 4. Russland und Europa Krise. Sie hätten nicht gesehen, dass eine mögliche Erweiterung der EU oder gar der NATO um die Ukraine ein klassischer Fall des Si- cherheitsdilemmas sei, eine Verletzung der Sicherheitsinteressen Russlands, die das Land aus strategischen Gründen nicht hinneh- men könne. Mehreren Mitgliedern der NATO war auf ihrem Gipfel im April 2008 in Bukarest dieses Problem durchaus bewusst. Vor allem Deutschland und Frankreich widersetzten sich dem Anliegen der USA, den Beitrittsprozess für die Ukraine und Georgien formal einzu- leiten. Um aber Geschlossenheit zu demonstrieren, stellte die NATO in einer Erklärung in allgemeiner Form fest: „Beide Länder werden Mitglieder der NATO werden“4. Was ein diplomatischer Kompromiss sein sollte, wurde von Russland wörtlich genommen. Präsident Putin bewertete eine mögliche Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die NATO als direkte Bedrohung Russlands. Die Intervention russi- scher Streitkräfte in Georgien im August 2008 musste jeden Zweifel über die Entschlossenheit Russlands zerstreuen. Der Dialog zwischen Europa und Russland wird dadurch er- schwert, dass beide Seiten in unterschiedlichen Kategorien denken. Rechtliche und strategische Analyse stehen sich schwer vereinbar gegenüber. Die Intervention in Georgien, die Annexion der Krim und die Unterstützung der Separatisten in der Ukraine sind ohne Zweifel Brüche des Völkerrechts. Die Glaubwürdigkeit Europas be- steht darin, die Prinzipien der Schlussakte von Helsinki und der Charta von Paris zu verteidigen. Die NATO kann nur glaubwürdig bleiben, wenn sie die mittel- und osteuropäischen Staaten durch eine erhöhte militärische Präsenz schützt. Andererseits ist der stra- tegische Wert der Ukraine und vor allem des Marinestützpunktes Sewastopol für Russland unbestritten. Er wird letztlich auch im Wes- ten anerkannt. Die NATO ist vor allem durch Schiffe ihrer Mitglieder Türkei, Bulgarien und Rumänien im Schwarzen Meer präsent. Bei einer Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO konnte Putin nicht ausschließen, dass Sewastopol auch von der Allianz genutzt wird. Eine seriöse Analyse kann die vitalen Sicherheitsinteressen Russ- lands nicht ignorieren. Andererseits fand der Gipfel von Bukarest 5 Jahre vor der Ukra- ine-Krise statt. Weder die Ukraine noch Georgien haben in naher Zukunft Aussicht auf eine Mitgliedschaft in der NATO. Kann die bis- herige Erweiterung der NATO überhaupt den Ausbruch der Ukraine- Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
4. Russland und Europa 99 Krise erklären? Ist es überhaupt die „hardpower“ der NATO, die Russland fürchtet, oder ist es nicht eher die „softpower“ der EU? Die EU war sich der Attraktivität ihres Modells auch für Staaten aus Ost- europa und dem Kaukasus durchaus bewusst. Sie stellte diesen Staa- ten, eben auch der Ukraine, 2009 eine sogenannte „Östliche Partner- schaft“ in Aussicht. Diese versprach den Ausbau des Handels und Hilfe bei Reformen nach dem Vorbild der EU. Ihr lag aber auch die unausgesprochene Absicht zu Grunde, eine Mitgliedschaft in der EU zu ersetzen und damit letztlich auszuschließen. Russland aber fühlte sich herausgefordert. Außenminister Sergej Lawrow fragte sich öffentlich: „Was ist die östliche Partnerschaft anderes als ein Be- mühen, die europäische Einflusssphäre auszudehnen?“5 So geopoli- tisch dachte die EU damals nicht. Sie verstand ihre eigene Strategie nicht. Die neuen Partner im Osten wurden mit der Übernahme des „acquis communautaire“, der Gesetzte und Verordnungen der EU dieser ja immer ähnlicher. Sie setzten sich aus der Sicht Russlands damit auch dem politischen Einfluss des Westens aus. Die EU musste die Geopolitik erst noch entdecken. Die Jahre zwischen dem Angebot der „Östlichen Partnerschaft“ 2009 und dem Ausbruch der Ukraine-Krise im November 2013 waren ein „offenes Fenster“ der Diplomatie6. Die EU und Russland verhan- delten über ein „Partnerschafts- und Kooperationsabkommen“, das nichts Geringeres versprach als eine wirtschaftliche Modernisierung Russlands. Der wichtigste europäische Partner Russlands, Deutsch- land, erklärte die „Modernisierungspartnerschaft“ zu seiner offiziel- len Politik gegenüber Russland. Dmitri Medwedew, der 2008 ge- wählte Präsident Russlands, hatte seinerseits nicht nur die Schwäche der russischen Wirtschaft erkannt, er schien auch bereit, Konse- quenzen zu ziehen. Die internationale Finanzkrise von 2008, vor allem aber der langfristige Verfall des Ölpreises hatte die Verwund- barkeit der von den internationalen Rohstoffpreisen abhängigen russischen Wirtschaft wieder ins Bewusstsein gerufen. Präsident Putin selbst hatte bereits im Februar 2008, also vor dem Ausbruch der internationalen Finanzkrise erklärt: „Wenn wir den gegenwärti- gen Pfad weiter beschreiten, werden wir nicht in der Lage sein, die Sicherheit unseres Landes oder seine normale Entwicklung zu ge- währleisten. Wir werden sogar unsere Existenz aufs Spiel setzen“. Sein Nachfolger Medwedew aber ging einen entscheidenden Schritt weiter. Er forderte „rechtsstaatliche Reformen“7. Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
100 4. Russland und Europa Die westliche Politik der Modernisierungspartnerschaft schien zuerst auf fruchtbaren Boden zu fallen. Sollte sich das Modell EU, ihre Diplomatie der „soft power“ als erfolgreich erweisen? Wie konnte es dann zu dieser Entfremdung zwischen Europa und Russ- land kommen, die offenbar durch die Ukraine-Krise ausgelöst wurde? 2012 kehrte Wladimir Putin als Präsident Russlands zurück. Er wandte sich zunächst einem anderen Projekt als der Modernisie- rung Russlands zu, dem Ausbau der Zollunion zwischen Russland, Belarus und Kasachstan zu einer Wirtschaftsunion. Was auf den ers- ten Blick als eine regionale Integration nach europäischem Vorbild aussah, war in Wahrheit ein Gegenmodell zur EU. Letztlich sollte es gerade der Übertragung von Regeln der EU auf die engere Nachbar- schaft Russlands oder gar deren Annäherung an die EU entgegen- wirken. Die „Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft“ und die im Mai 2014 unterzeichnete „Eurasische Wirtschaftsunion“ sind geopoliti- sche Projekte, der Versuch, ehemalige Republiken der Sowjetunion unter russischen Einfluss zu bringen. Deshalb machten Verhandlun- gen zwischen EU und Eurasischer Wirtschaftsunion damals wenig Sinn. Warum schloss sich aber das „offene Fenster“ der Diplomatie? Im Dezember 2011 kamen auf dem Bolotnaja-Platz in Moskau bei mehreren Demonstrationen geschätzte 100 000 Menschen zusam- men, um gegen Fälschungen bei der Wahl zur Duma am 4. Dezember 2011 zu demonstrieren. Es waren die größten Kundgebungen dieser Art seit dem Zerfall der Sowjetunion. Die Regierungspartei „Einiges Russland“ hatte bei den Parlamentswahlen erhebliche Verluste erlit- ten, Putin selbst dann bei den Präsidentschaftswahlen am 4. März 2012. Russland stand zwar keine „farbige Revolution“ bevor, wie es sie bei seinen Nachbarn 2003 in Georgien, 2004 in der Ukraine und 2005 in Kirgisien gegeben hatte. Die Politik einer vorsichtigen Modernisie- rung Russlands und der damit verbundenen Öffnung gegenüber dem Westen aber hatte Erwartungen in der Bevölkerung genährt, die nicht erfüllt werden konnten. Hierin bestand ja die „soft power“ der EU. Präsident Putin entschied, die Stabilität in seinem Land durch Abgrenzung vom Westen zu sichern. Eine Modernisierung Russ- lands nach westlichem Vorbild sollte verhindert werden. Sie war mit dem „System Putin“ nicht vereinbar. In dieser Logik darf es dann vor allem keine Modernisierung der Ukraine geben, im Kernland der historischen Rus. Deshalb warf Putin in seiner Rede vor dem Födera- tionsrat und der Staatsduma Russlands am 18. März 2014 dem Wes- Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
4. Russland und Europa 101 ten vor, mit seiner Annäherung an die Ukraine „Eindämmungspoli- tik“ zu betreiben und eine „rote Linie“ überschritten zu haben. Putin will verhindern, dass die Ukraine erfolgreich und zu einem Modell für Russland wird. Deshalb will er die Ukraine dauerhaft schwächen. So erklärt sich die russische militärische Präsenz in der Ost-Ukraine, aber auch die Behinderung der ukrainischen Schifffahrt zwischen Schwarzem und Asowschen Meer durch die russische Marine. Hier- durch leiden vor allem die wichtigen ukrainischen Häfen am Asow- schen Meer, Mariupol und Berdjansk. Die russische Strategie ist gefährlich. Die gewaltsame Blockade des Zugangs zum Asowschen Meer in der Straße von Kertsch durch die russische Marine im November 2018 ist nicht nur ein Verstoß gegen das Völkerrecht, vor allem die Seerechtskonvention der Ver- einten Nationen und den russisch-ukrainischen Vertrag von 2003. Letzterer sicherte die gemeinsame Nutzung des Asowschen Meeres zu. Das russische Vorgehen hat auch das Potenzial zur Eskalation. Die westliche Diplomatie muss immer damit rechnen, dass Russ- land testet, wie weit es gehen kann. Es möchte seine Machtstellung im Schwarzem Meer ausbauen, was direkte Folgen für die Anrainer hat, die Mitglieder von EU und NATO sind, Bulgarien und Rumä- nien. Der NATO-Generalsekretär bezeichnete die Lage jedenfalls als sehr ernst. Der ukrainische Präsident forderte daraufhin die NATO auf, mit ihrer Marine im Asowschen Meer präsent zu sein, „um der Ukraine beizustehen und für ihre Sicherheit zu sorgen“8. Wäre die Ukraine Mitglied der NATO, stellte sich die Frage nach militärischem Beistand in allem Ernst. Vorerst aber ist die europäische Diplomatie gefragt. Europa und Russland schätzen die Kosten einer militärischen Auseinanderset- zung als zu hoch ein. Das russische Interesse beschränkt sich darauf, die Ukraine zu schwächen. Timothy Snyder nannte dieses Vorgehen „strategischen Relativismus“. Er begründete ihn mit einer Analyse der inneren Ordnung Russlands. „Angesichts der Kleptokratie im eigenen Land und der eigenen Abhängigkeit von Rohstoffexporten konnte weder die Macht des russischen Staates zunehmen, noch die russi- sche Technologie den Rückstand auf Europa oder Amerika aufholen. Allerdings war relative Macht durch die Schwächung anderer zu er- werben: zum Beispiel durch eine Invasion in der Ukraine, um sie von Europa fernzuhalten“9. Mit einer solchen Strategie Russlands muss die westliche Diplomatie auch in Zukunft rechnen. Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
102 4. Russland und Europa Die Ukraine-Krise war der Moment der Wahrheit, nicht der Ur- sprung der Entfremdung zwischen Europa und Russland. Diese setzte spätestens mit dem Ende des Kalten Krieges ein. Die lange Linie dieses problematischen Verhältnisses aber ließe sich noch wei- ter zurückverfolgen, bis in das 17. Jahrhundert, als Russland zum Teil des sogenannten „Konzerts der Mächte“ in Europa geworden war. Die europäische Diplomatie gegenüber Russland hatte immer vor mehreren Rätseln gestanden: Gehört Russland zu der regionalen Ordnung, die Europa zu gestalten versuchte, oder ist es ein eigen- ständiges Imperium zwischen Europa und Asien? Welches sind seine nationalen Interessen? Besitzt Russland eine Strategie, oder ist sein Verhalten taktisch zu deuten, als Reaktion auf äußere oder innere Einflüsse? Hängt das Schicksal Russlands nicht überhaupt hauptsächlich von seiner inneren Ordnung ab? Sind das Zaren- reich, die Sowjetunion und das Russland Wladimir Putins nicht auch deshalb unfähig zur Modernisierung gewesen, weil die jewei- lige innere Ordnung es nicht zuließ? Schließlich waren die europä- ischen Diplomaten sich immer im Unklaren darüber, wie die Macht Russlands einzuschätzen ist. Russland schüchterte Europa einer- seits schon durch seine schiere Größe ein. War es nicht aber eher ein „Koloss auf tönernen Füßen“, wie man das Zarenreich im 19. Jahrhundert nannte? Der Wiener Kongress von 1815 war deshalb einer der größten Er- folge europäischer Diplomatie, weil er eine regionale Ordnung be- gründete, die im Großen und Ganzen 100 Jahre, bis zum Ersten Welt- krieg Bestand hatte. Der Krimkrieg (1853-56) sowie die italienischen und deutschen Einigungskriege (1859-71) konnten diese Ordnung nicht erschüttern. Sie wurde von den fünf damaligen europäischen Großmächten Russland, Österreich, Großbritannien, Preußen und Frankreich getragen. Das Gewicht Russlands und von Zar Alexan- der I. auf dem Wiener Kongress beruhte vor allem darauf, dass es dem französischen Kaiser Napoleon Bonaparte 1812, bei seinem Ver- such, Russland zu erobern, die erste große Niederlage beigebracht hatte. Die europäische Diplomatie, vor allem diejenige des Reichskanz- lers Otto von Bismarck, zielte in der Folge grundsätzlich auf eine Einbindung Russlands in die europäischen Angelegenheiten. Der „Drei-Kaiser Vertrag“ und der „Rückversicherungsvertrag“ dienten diesem deutschen Interesse. Bismarck wurde von den wichtigsten Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
4. Russland und Europa 103 politischen Kräften im Reichstag, Zentrum, Nationalliberalen und Sozialdemokraten, gedrängt, eine Konfrontation mit Russland zu vermeiden. Für den Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Herbert von Bismarck, Sohn Otto von Bismarcks, beruhte die „ganze Zu- kunft“ des Reiches darauf, „dass wir den russischen Krieg vermei- den“. Otto von Bismarck stellte klar, dass seine Russlandpolitik „keine Machtpolitik, sondern eine Sicherheitspolitik“ sei. In dieser Begründung liegt eine Konstante deutscher Russlandpolitik, die bis heute anhält. Bismarck bezeichnete Russland allerdings als den schwierigsten Partner in seinem „Spiel mit den fünf Kugeln“ der europäischen Großmächte. Er konnte auch die tatsächliche Macht des russischen Reiches nicht einschätzen. Ihm wird das Wort zugeschrieben, dass „Russland nie so schwach oder stark (ist), wie es scheint“10. Nach Auffassung des Historikers Klaus Hildebrand spekulierte Bismarck „angesichts der äußeren Unüberwindbarkeit Russlands auf dessen innere Dekomposition und die voranschreitende Zeit dabei“11. Die- ses Konzept des Umgangs mit Russland, ihm zwar von einer Position der Stärke aus zu begegnen und langfristig auf seine durch die in- nere Ordnung begründete Schwäche zu setzen, findet sich bis heute immer wieder in der europäischen Diplomatie. Auch die Diplomatie der Eindämmung der Sowjetunion im Kal- ten Krieg beruhte auf diesem Konzept. Sie wurde als bloße Politik der Stärke oft missverstanden. Der damalige Leiter des Planungssta- bes im amerikanischen Außenministerium und ehemalige Gesandte der Botschaft in Moskau, George F. Kennan, hatte diese Diplomatie in seinem „Langen Telegramm“ von 1946 konzipiert. Schon der Titel, unter dem dieses Telegramm ein Jahr später als Artikel in der Zeit- schrift Foreign Affairs unter dem Pseudonym „X“ erschien, weist auf das eigentliche Anliegen Kennans hin, nämlich „die Ursprünge des sowjetischen Verhaltens“12 zu untersuchen. Hieraus wollte er die Di- plomatie gegenüber der Sowjetunion entwickeln. Kennan kam zu dem Schluss, dass die Sowjetunion „den Keim des eigenen Verfalls“ in sich trägt und – in der Auseinandersetzung mit dem Westen – die „schwächere Partei“ sei. Kennan empfiehlt also gerade nicht die mi- litärische Konfrontation und das Kräftemessen, zu dem es dann aber gekommen ist. Eindämmung ist für ihn eine langfristige Diplo- matie, die auf „Geduld, Festigkeit und Wachsamkeit“ setzt, und der „Sowjetunion die Möglichkeit für ein Entgegenkommen“ gibt. Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
104 4. Russland und Europa Eindämmung war ein amerikanisches Konzept, entwickelt für den Umgang mit der anderen Supermacht im Kalten Krieg. Die Kuba- Krise 1962, die die USA und die Sowjetunion an den Rand einer nuk- learen Konfrontation führte, legte zwar den Abbau der Spannungen, also Entspannungspolitik nahe. Der Begriff der „Detente“ aber, den Präsident Richard Nixon benutzte, blieb in den Kategorien der Bipo- larität, bezog sich vornehmlich auf die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen. Das deutsche Konzept der Entspannung hingegen brachte ein genuin europäisches Interesse zum Ausdruck, nämlich die Teilung Europas zu überwinden und eine regionale Ordnung her- vorzubringen, in der die Sowjetunion ihren Platz finden könne. Es ist kein Zufall, dass Entspannungs- und Ostpolitik eine deutsche Erfin- dung ist. Die Teilung Europas riss Deutschland in zwei Teile. Auf ihren Territorien sollten sich die Nuklearwaffen mittlerer und kurzer Reichweite beider Seiten konzentrieren. Die Entspannungspolitik lag im deutschen Interesse. Deshalb wurde sie von der amerikanischen Regierung auch als eine Art Nationalismus argwöhnisch betrachtet. Die deutsche Entspannungspolitik konnte sich aber auf eine gemein- same Strategie der NATO berufen. 1967 stellte der maßgeblich vom Auswärtigen Amt in Bonn geprägte Bericht des damaligen belgischen Außenministers Pierre Harmel zur Lage der NATO fest, dass militäri- sche Sicherheit und eine Politik der Entspannung kein Widerspruch sind. Diese Strategie gilt bis heute. Die Idee einer Gesamteuropäischen Friedensordnung lässt sich mindestens bis zum Wiener Kongress von 1815 zurückverfolgen. Sie war auch damals der Versuch, den gesamten Kontinent auf gemein- same Prinzipien zu verpflichten. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass das Konzept einer Gesamteuropäischen Friedensordnung im Kalten Krieg ursprünglich eine Idee der Sowjetunion war. 1966 be- schloss der Warschauer Pakt, dem Westen eine „Konferenz über Fra- gen der Europäischen Sicherheit“ vorzuschlagen. Die erste Konfe- renz fand 1973 in Helsinki statt. Die Ironie besteht darin, dass die ursprüngliche Idee in ihr Gegenteil verkehrt wurde. Die Sowjetunion verfolgte mit ihrer Initiative das Ziel, die Nachkriegsordnung, zu der ihre Herrschaft über Mittel- und Osteuropa gehörte, vertraglich zu festigen. Deshalb sah der Westen das Konzept mit großem Miss- trauen. Der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher aber er- kannte damals als einer der wenigen Staatsmänner, dass der „Hel- Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
4. Russland und Europa 105 sinki-Prozess“ auch so gestaltet werden kann, dass er im westlichen Interesse ist13. Die zehn Prinzipien der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von 1975 erfüll- ten ja nicht nur die Forderungen der Sowjetunion nach Unverletz- lichkeit der Grenzen und Nichteinmischung in innere Angelegen- heiten. Diese Prinzipien sollten den Besitzstand der Sowjetunion sichern. Sie standen aber gleichberechtigt neben der Achtung der Menschenrechte, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker sowie der Zusammenarbeit der Staaten. Dies wiederum waren Prinzipien, die auf Wandel angelegt waren, nicht auf die Bewahrung des Status quo. Schließlich war die KSZE ein Rahmen, der die Überwindung der Blöcke ermöglichte. Die Schlussakte enthält die Empfehlung: „Die Konferenz findet außerhalb der militärischen Bündnisse statt“. Die KSZE war ein gesamteuropäischer Prozess, der nach der Vorstellung von Staatsmännern wie Genscher in eine gesamteuropäische Frie- densordnung münden sollte. Die KSZE war eine Innovation der Dip- lomatie. Genscher drückte es in seinen Erinnerungen so aus: „Die KSZE wurde keine einmalige Zusammenkunft, auf der alle Regie- rungschefs in Europa durch einen völkerrechtlich gültigen Vertrag den gegenwärtigen politischen gesellschaftlichen und territorialen Status quo völkerrechtlich besiegelten. Sie entwickelte sich im Ge- genteil zu einem dynamischen Prozess, der auf die Überwindung der Teilung des Kontinents gerichtet war“14. Nach dem Ende des Kal- ten Kriegs wurden die Prinzipien der Schlussakte von Helsinki sowie das Recht der freien Wahl der Bündnisse in der Charta von Paris 1990 bekräftigt. Der Westen war davon überzeugt, den Kalten Krieg über- wunden und eine Gesamteuropäische Friedensordnung geschaffen zu haben. Umso mehr musste er schließlich die Annexion der Krim und den Krieg in der Ost-Ukraine als einen Verstoß gegen diese Ord- nung wahrnehmen. Die Sowjetunion war schließlich der Verlierer des Kalten Krieges. Sie brach innerhalb weniger Monate zusammen. Russland handelte damals aus einer Position der Schwäche heraus und war nicht in der Lage, seine Interessen zu wahren. Sowohl die Mitgliedschaft des ver- einten Deutschlands in der NATO als auch die sich bald abzeich- nende Erweiterung der NATO lagen eindeutig nicht im sowjetischen bzw. russischen Interesse. Hieran wurde Präsident Michail Gorbat- schow während der Zwei-plus-Vier Verhandlungen von Generälen Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
106 4. Russland und Europa und Funktionären der KPdSU ja auch erinnert. Der Putsch vom Au- gust 1991 gegen Gorbatschow kam aus ihren Reihen. Sein Erfolg hätte ein normales Verhältnis zwischen Europa und Russland un- möglich gemacht. Mehrere westliche Staatsmänner sahen die gesamteuropäische Perspektive durch die Erweiterung der NATO in Gefahr. Diese wurde nicht erst nach der Auflösung des Warschauer Paktes in Washington und den europäischen Hauptstädten diskutiert. Außenminister Hans-Dietrich Genscher wollte die Bündnisse „überwinden“. Der amerikanische Präsident Bill Clinton versprach sich von der Erwei- terung der NATO ursprünglich keinen strategischen Vorteil für den Westen. Er wollte zudem den russischen Präsidenten Boris Jelzin stützen, den er als wertvollen Partner der USA entdeckt hatte. Der Aufnahme Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns 1997 stimmte er dann aber vor allem aus innenpolitischen Gründen zu. Die Republikaner nutzten dieses Thema im Wahlkampf. Der Nutzen der NATO-Erweiterung für den Westen wurde schließlich von dem Diplomaten in Frage gestellt, der im Kalten Krieg die richtige Strate- gie für den Umgang mit der Sowjetunion ersonnen hatte. George F. Kennan hielt 1997 die anstehende Erweiterung der NATO für einen verhängnisvollen Fehler und überdies für nicht notwendig. Seine Warnung war prophetisch: Sie „wird die nationalistischen, antiwest- lichen und militaristischen Tendenzen in der öffentlichen Meinung Russlands anheizen; sie wird sich nachteilig auf die russische Demo- kratie auswirken; sie wird in den Ost-West Beziehungen die Atmo- sphäre des Kalten Kriegs wiederbeleben und die russische Außen- politik in eine Richtung treiben, die uns ganz und gar nicht gefallen dürfte. … Sie (die Russen) würden nicht aufhören, sie (die NATO- Erweiterung) als eine Zurückweisung durch den Westen zu ver- stehen und sich für Sicherheitsgarantien und eine hoffnungsvolle Zukunft anderswohin orientieren“15. Genauso ist es schließlich ge- kommen. Der Westen aber beschränkte sich darauf, den friedlichen Charak- ter der NATO zu betonen und daran zu erinnern, dass der Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten deren Wunsch nach Sicherheit entsprach. Diese Staaten hatten gemäß der Charta von Paris das Recht auf freie Bündniswahl. Sie fühlen sich durch ihre Mitglied- schaft in der NATO sicherer. Es stellt sich aber die Frage, ob die Si- cherheit der NATO insgesamt durch die Erweiterung des Bündnisge- Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
4. Russland und Europa 107 biets bis an die Grenze Russlands erhöht worden ist. Die Spannungen zwischen NATO und Russland sind jedenfalls heute höher als in den ersten Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges. Das Sicherheitsdi- lemma verschärfte sich. Die Glaubwürdigkeit der NATO hängt daran, dass die Sicherheits- garantie für ihre bisherigen Mitglieder nicht in Frage gestellt wird. An neue Mitglieder aber sollte der Maßstab des Nordatlantikver- trags angelegt werden. Sein Anliegen ist die Sicherheit des gesamten Bündnisgebietes, nicht nur die Sicherheit einzelner Mitglieder. Arti- kel 10 des Vertrags nennt als Bedingung für den Beitritt eines Staates, dass dieser „zur Sicherheit des nordatlantischen Gebiets“ beiträgt16. Die Staaten, denen auf dem Gipfel in Bukarest 2008 eine Perspektive des Beitritts gegeben wurde, die Ukraine und Georgien, sind hierzu nicht in der Lage. Präsident Jelzin hatte sich 1997 zwar mit dem Bei- tritt Polens, der Tschechischen Republik und Ungarns abgefunden. Er machte aber damals schon klar, so wie später auch Putin, dass die Aufnahme der Ukraine als eine direkte Bedrohung Russlands gewer- tet werde. Der Westen übersieht, dass die russische Perzeption eine eigene strategische Realität besitzt. Dabei hatte schon die Entspannungs- politik der siebziger Jahre ihren Erfolg der Anerkennung der Realitä- ten des Kalten Krieges zu verdanken. Die Entfremdung zwischen Europa und Russland wird von der Frage begleitet, wer Recht hat. Strategische Diplomatie aber beginnt mit der Analyse der Interessen und der Macht der Akteure, sowie ihrer Perzeptionen. Der Dialog mit Russland sollte zum Kern des Problems vordringen, der gemein- samen Analyse der beiderseitigen Sicherheitsinteressen. Sie sind eine Realität. Für den damaligen Sicherheitsberater Bundeskanzler Helmut Kohls, Horst Teltschik, der für seine realistische Entspan- nungspolitik bekannt war, sind sie „legitim“ und „ernst zu nehmen“17. Die Anerkennung von Sicherheitsinteressen bedeutet kein stilles Einverständnis mit Einflusszonen. Im Verhältnis zwischen Europa und Russland bestätigte sich das „eherne Gesetz“ der internationa- len Sicherheit, das sogenannte „Sicherheitsdilemma“: Das Interesse einer Seite an Sicherheit berührt das Interesse der anderen Seite. Das Ergebnis ist Instabilität. Deshalb sind Sicherheitsinteressen Ver- handlungsgegenstände. Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
108 4. Russland und Europa Die Schwäche Russlands Russland versteht sich auch heute als Großmacht. Es ist aber frag- lich, ob es diese Rolle überhaupt ausfüllen kann. Mit den USA und China, den anderen Polen der Multipolaren Welt, ist Russland jeden- falls nicht auf Augenhöhe. Seine Versuche, verlorene Größe durch besondere Einflusssphären im „nahen Ausland“ zurückzugewinnen, sind fehlgeschlagen. Die Ukraine und Georgien wenden sich dem Westen zu. In Zentralasien gewinnt China an Einfluss. Präsident Putin „handelt aus strategischer Schwäche, die er als taktische Stärke tarnt“18. So lautet das Urteil Henry Kissingers. Während die Macht der USA und Chinas auf wirtschaftlicher Stärke beruht, steht der Anspruch Russlands auf „tönernen Füßen“. Die russi- sche Wirtschaft ist zu ca. drei Viertel abhängig vom Export von Gas und Öl und das in einer Zeit, in der die Preise dieser Rohstoffe langfris- tig verfallen. Eine Modernisierung der Wirtschaft ist nicht in Sicht. Mit seinem BIP steht Russland (2017) an 12. Stelle der großen Volkswirt- schaften der Welt, ungefähr auf der Höhe von Spanien19. Gleichzeitig leistet es sich Ausgaben für das Militär von über 5 Prozent des BIP, was auf Kosten der Investitionen in die Zukunft, in Bildung und Forschung geht. Dabei macht der russische Militärhaushalt nur etwa ein Zehntel des amerikanischen aus. Russland ist dabei, sich zu „überdehnen“, wie das Paul Kennedy in seiner Analyse von Aufstieg und Fall großer Mächte nennt. Der einzige Bereich, in dem Russland mit den USA kon- kurrieren kann, sind Nuklearwaffen. Der Status Russlands als Groß- macht beruht vor allem darauf. Letztlich ist Russlands Bedeutung in der internationalen Politik eine Frage der Perzeption von außen. Das Land ist weder eine Demokratie noch ein Rechtsstaat. Seine vermeintliche Stabilität beruht auf einer spezifischen Verbindung von Geld und Macht, von Oligarchen und Bürokraten. Jede Veränderung dieses Systems wird als eine Gefährdung der Stabilität gesehen. Des- halb scheut der russische Präsident die wirtschaftliche und politische Öffnung. Jede Modernisierung wäre aus Moskauer Sicht eine direkte Bedrohung des eigenen Systems und derer, die es tragen. Auch deshalb grenzt sich die russische Regierung vom Westen ab und sucht den Konflikt. Jede Diplomatie, die auf die Modernisierung Russland setzte, musste scheitern. Die westliche Unterstützung für Präsident Michail Gorbatschow gründete auf der falschen Hoffnung, dass dessen Reformen Erfolg Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
4. Russland und Europa 109 haben würden. Diese aber waren letztlich nur mehr oder weniger der Versuch, Reformen innerhalb des Systems der sozialistischen Plan- wirtschaft durchzuführen. Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin vollzog einen Bruch mit diesem System. Er verließ sich auf meist amerikanische Berater und wollte eine schnelle Einführung der Marktwirtschaft. Vor allem deshalb wurde er von westlichen Staats- männern unterstützt. Die Folgen des „wilden Kapitalismus“ aber waren wirtschaftliche Krisen und die Verarmung von großen Teilen der Bevölkerung. Die Marktwirtschaft hatte in Russland in einer Weise begonnen, die sie diskreditierte. In den Augen der Bevölke- rung diente sie vor allem der schnellen Bereicherung von Oligarchen bei der Privatisierung von früherem Staatsvermögen. Die Demokratie, die aus westlicher Sicht die Marktwirtschaft begleiten sollte, hatte sich mit Perestroika und Glasnost zuerst hoffnungsvoll entwickelt. Unter Präsident Jelzin aber verkam sie zu politischem Chaos. Der ganze Ansatz der westlichen Diplomatie ge- genüber Russland stand in Frage. Wladimir Putin wurde im Jahr 2000 auch deshalb Präsident Russlands, weil er die Kontrolle des Chaos und der Oligarchen versprach. Sein Erfolg in Wahlen und Umfragen beruhte darauf, dass er diese Ziele in den Augen der Bevölkerung erreichte. Die vermeintliche Stabilität des politischen Systems Russlands verleitete die europäische Diplomatie dazu, auf die Modernisierung des Landes zu setzen. Die deutsche Russlandpo- litik wurde zu einer „Modernisierungspartnerschaft“ (Frank-Walter Steinmeier). Sie scheiterte schließlich nicht nur am Zerwürfnis zwi- schen Europa und Russland, das die Annexion der Krim und der Krieg in der Ukraine angerichtet hatte. Sie stieß an die Grenzen der inneren Ordnung Russlands, einer Gemengelage von Beamten, Poli- tikern und Oligarchen. Diese ließen eine Modernisierung, die ihre eigenen Interessen gefährdeten, nicht zu. Die innere Ordnung Russlands kann man das „System Putin“20 nennen. Es ist in seiner jetzigen Gestalt nicht reformierbar. Seine Stabilität beruht auf der sogenannten „Machtvertikale“, an deren Spitze der Präsident der Russischen Föderation steht, so wie früher der Zar oder der Generalsekretär der KPdSU. Das Gefüge der Macht um Präsident Putin herum ist informell und sehr komplex. Es be- steht aus Unternehmern, Vertretern der staatlichen Wirtschaft (Gaz- prom, Rosneft, militärisch-industrieller Komplex u.a.) und Wegge- fährten Putins, vor allem aus dem Bereich der Geheimdienste Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
110 4. Russland und Europa (Silowiki). Zwischen den Gruppen gibt es Koalitionen aber auch Konflikte. Sie müssen vom Präsidenten austariert werden. Das „Sys- tem Putin“ ist anfällig. Seine Schwäche liegt vor allem im Fehlen de- mokratischer Institutionen. Sie würden eine Bedrohung für die „Machtvertikale“ sein. Der Westen macht Putin für den von Russland eingeschlagenen Weg persönlich verantwortlich. Inwieweit aber kann man davon ausgehen, dass Putin klare Entscheidungen treffen und durchsetzen kann? Das „System Putin“ ist auf jeden Fall ein autoritäres. Eine Tei- lung der Gewalten im westlichem Sinn gibt es nicht. Die Exekutive beherrscht die Legislative, die Judikative und die „Vierte Gewalt“, die Medien. Die Sicherheitskräfte arbeiten eng mit den Staatsanwalt- schaften (Prokuratury) zusammen. Die Bürger haben so weder eine Chance, Gerechtigkeit zu finden noch eine Zivilgesellschaft als Op- position aufzubauen. Sie können dem System wenig entgegenset- zen. Andererseits ist das „System Putin“ unberechenbar. Es hat etwas von organisierter Verantwortungslosigkeit. Wem lassen sich die Ent- scheidungen zurechnen? Wie lassen sich erratische oder offenkun- dig irrationale Entscheidungen verstehen? Selbst die deutsche Bun- deskanzlerin Angela Merkel, die Russland kennt und Putin oft traf, scheint ratlos. Sie kommt zu dem Schluss, dass „Putin in einer eige- nen Welt lebt“21. Ehemalige Mitarbeiter der Präsidialverwaltung im Kreml22 berichten, dass Putin weniger direkt durch Kontrolle regiert als vielmehr indirekt, auch dadurch, dass er andere über seine Ab- sichten im Ungewissen lässt. Die Entscheidungen, zu denen es dann kommt, seien manchmal eher das Ergebnis einer Art Wettbewerb unter denen, die dem Kreml nahestehen. Als Beispiel wird die Un- terstützung der Separatisten in der Ukraine genannt. Diese wurden ursprünglich von einigen ukrainischen Oligarchen ermutigt und fi- nanziert, die wirtschaftliche Interessen im Donbass hatten und Be- ziehungen zur russischen Regierung, Als dann tatsächlich auch rus- sische Freiwillige die Grenze zur Ukraine überschritten, gab Putin sich zuerst als reiner Beobachter der Vorgänge aus. Die Theorie der indirekten Entscheidungen im „System Putin“ kann allerdings nicht die offenkundige Unterstützung der Separatisten durch das russi- sche Militär erklären oder die wenig konstruktive Haltung Russlands in den Verhandlungen nach dem Minsker Abkommen. Es fragt sich, ob die Annexion der Krim und der Krieg in der Ukraine auf einer Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
4. Russland und Europa 111 Strategie Präsident Putins beruhten oder eher Reaktionen in einer Kette von Ereignissen waren23. Die Schwäche Russlands liegt vor allem in der Korruption begrün- det. Sie kostet den russischen Staat ca. 300 Mrd. US Dollar jährlich. Die Kapitalflucht wird mit bisher über 300 Mrd. US Dollar angegeben. Ca. 110 Oligarchen besitzen ca. 35% des Volksvermögens. Karen Dawi- sha nennt Russland schlicht eine „Kleptokratie“24. Die wirtschaftliche und politische Macht ist in wenigen Händen konzentriert, da der Wohlstand des Landes fast ausschließlich aus dem Verkauf von Roh- stoffen, vor allem Öl und Gas erwirtschaftet wird. In dieser Hinsicht ist Russland ein Rentier-Staat wie z.B. Saudi-Arabien. Diejenigen, die im Energiesektor Entscheidungen treffen, brauchen den Zugang zum Kreml. Gleichzeitig sind sie gehalten, sich aus der Politik herauszuhal- ten. Diese Machtelite verfolgt nur das kurzfristige Ziel, den Besitz- stand zu wahren und zu vermehren. Sie wehrt sich gegen jede Kon- kurrenz von außen, die mit einer Diversifizierung der Wirtschaft verbunden wäre. Ihr kurzfristiges persönliches Interesse überlagert das langfristige nationale Interesse, die russische Wirtschaft von der Abhängigkeit von den internationalen Rohstoffpreisen zu befreien. Die Modernisierung Russlands, Reformen und eine entsprechende Außenpolitik werden von dieser Machtelite verhindert, selbst in einer Zeit, in der die russische Wirtschaft im Niedergang ist. Zu den Mitteln der westlichen Diplomatie gegenüber Russland zählen die Sanktionen. Sie zielen auf diese politischen und wirt- schaftlichen Eliten. Erfüllen sie ihren Zweck? Sind sie der Weisheit westlicher Russlandpolitik letzter Schluss? Es ist klar, dass die Sank- tionen der russischen Wirtschaft schaden. Der Internationale Wäh- rungsfonds (IWF) schätzte, dass allein die Sanktionen, die wegen der Annexion der Krim verhängt wurden, schon bis 2015 1 bis 1,5% des Wachstums der russischen Wirtschaft kosteten25. Betroffene Fir- men müssen mit Milliarden-Beträgen aus dem russischen Haushalt gestützt werden. Die jüngsten Sanktionen der USA, die mit der Ein- mischung Russlands in die amerikanischen Präsidentschaftswahlen begründet wurden, setzten den Rubel stark unter Druck. Die ent- scheidende Frage für die westliche Diplomatie aber ist doch, ob die Sanktionen das Verhalten Russlands ändern. Dies aber ist nicht zu erkennen. Allerdings könnten die Sanktionen die Beziehung zwischen Re- gierung und Oligarchen nachhaltig ändern. Diese Beziehung war Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
112 4. Russland und Europa immer prekär gewesen. Die Oligarchen wissen, dass Putin die Priva- tisierungen der 1990er Jahre nie wirklich akzeptierte. Er stellte sie aber auch nicht in Frage, weil er die Loyalität der Oligarchen braucht. Diese Loyalität wird unter dem Druck der Sanktionen auf eine harte Probe gestellt. Die Regierung versucht, die Kontrolle über die Res- sourcen zu verstärken. Das gegenseitige Misstrauen wächst. Die Oli- garchen reagieren auf diese Situation auf unterschiedliche Weise, was ihre Verhandlungsmacht gegenüber der Regierung schwächt. Auf jeden Fall hängt ihr Schutz von der Nähe zur Regierung ab. Des- halb versuchen sie, Bündnisse mit Personen aus der Umgebung von Putin einzugehen. Aber auch diese Bündnisse leiden unter Druck. Jedenfalls kann die Regierung die Oligarchen immer weniger schüt- zen, vor allem je mehr Oligarchen auf den Sanktionslisten stehen. Diejenigen, die bisher von Sanktionen nicht betroffen sind, suchen eher Distanz zur Regierung. Sie wollen vor allem ihre Geschäftsbe- ziehungen im Ausland nicht verlieren. Es ist nicht klar, wie lange der Appell Putins, gegen die westlichen Sanktionen zusammenzuste- hen, noch wirken kann. Der Soziologe Georg Simmel stellte das Gesetz auf, dass die Stärke einer Gruppe vom Druck abhängt, der von außen auf die Gruppe ausgeübt wird.26 Sanktionen wären dann kontraproduktiv. Tatsäch- lich haben sich einige Oligarchen aus dem engeren Kreis um Putin noch näher an den Präsidenten gebunden. Dies gilt z.B. für den Vor- standsvorsitzenden von Rosneft, Igor Setschin, oder die Brüder Ar- kady und Boris Rotenberg. Sie sind von den Sanktionen stark betrof- fen, Geschäftspartner distanzieren sich. Gleichzeitig werden sie von Putin mit Staatsaufträgen belohnt. Das Unternehmen Arkady Ro- tenbergs baute die neue Brücke zur Krim und plant eine andere zur Insel Sachalin im Fernen Osten Russlands. Der Wettbewerb und damit die Wirtschaft in Russland werden weiter geschwächt27. Das Gesetz Georg Simmels könnte seine Wirkung verlieren. Die Nähe zum Kreml schützt nicht zuverlässig. Willkürliche Festnahmen kön- nen auf Weisung aus dem Kreml erfolgen, zumindest von Seiten der Sicherheitsdienste. Jeden kann es treffen, sogar den früheren Wirt- schaftsminister Alexej Uljukajew, oder im Jahr 2019 einen Senator aus dem Föderationsrat. Die staatlichen Institutionen verlieren wei- ter an Legitimität. Die Unsicherheit in der Geschäftswelt führt führt dazu, dass die Kapitalflucht aus Russland zunimmt und weitere Oli- garchen ins Exil gehen. Auch dies schwächt die russische Wirtschaft. Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
4. Russland und Europa 113 Unsicherheit mag für Präsident Putin ein Herrschaftsinstrument sein. Für Russland ist sie eine Ursache seiner Schwäche. Putin versucht, die Legitimität seines Systems durch andere Mit- tel wiederzuerlangen. Hierin liegt die Herausforderung für die west- liche Diplomatie. Außenpolitische Abenteuer, wie die Annexion der Krim und die Wiederbelebung des russischen Nationalismus brach- ten Putin Zustimmungsraten in der Bevölkerung von zeitweilig über 80%. Die Diplomatie der Abgrenzung vom Westen und der Demons- tration nationaler Größe auch in der Außenpolitik war scheinbar erfolgreich, verliert jetzt aber seine Wirkung. Insofern autoritäre Systeme überhaupt stabil sein können, ist Russland aber noch rela- tiv stabil. Die führenden Russland-Experten der USA sahen im Jahr 2016 die Macht Präsident Putins in den nächsten Jahren gefestigt28. Sie gestehen ihm zu, dass er seinen Regierungsstil zu einem System politischer Kontrolle erfolgreich institutionalisiert habe. Zudem sei eine Alternative zu Putin derzeit nicht in Sicht. Der Präsident könne auf absehbare Zeit mit der Zustimmung der Bevölkerung rechnen. Die Opposition wiederum sei angesichts der zunehmenden Repres- sion im Land sehr vorsichtig geworden. Schließlich beruhe die ge- genwärtige Stabilität des „System Putin“ darauf, dass die wirtschaft- liche und politische Machtelite ein Interesse am Status quo hätte, der ihren Besitzstand sichert. Dieser Konsens aber beginnt in jüngs- ter Zeit zu bröckeln. Putin wird als Präsident bis zum Jahr 2024 regieren. Worauf muss sich Europa in den nächsten Jahren bzw. für die Zeit nach Putin ein- stellen? Wird die russische Außenpolitik weiter dem „Primat der Innenpolitik“ folgen und nicht dem langfristigen nationalen Inter- esse an Modernisierung und Öffnung? Nicht erst seit den Protesten der Bevölkerung gegen die Reform der Pensionen im Laufe des Jah- res 2018 kündigt sich ein Wandel an. Seit ca. drei Jahren sinken die Zustimmungsraten für Putin und die politische Führung in den Umfragen29. Fast die Hälfte der Bevölkerung beklagt die sozialen und wirtschaftlichen Probleme des Landes, vor allem die Ungleich- heit. Das Vertrauen in den Präsidenten nimmt ab. Immer mehr Rus- sen sind der Auffassung, dass ihr Land sich in eine falsche Richtung bewegt. Dies gilt inzwischen auch für die Außenpolitik. Die Begeisterung für die Annexion der Krim legte sich. Der Nationalismus allerdings festigt sich zu einem Konsens in Russland30. Die europäische Diplo- Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
114 4. Russland und Europa matie sollte sich darauf einstellen, dass sich der außenpolitische Kurs des russischen Präsidenten kaum ändern wird. Er wird höchs- tens versuchen, sich mehr der Wirtschaft und Innenpolitik Russ- lands zuzuwenden. Reformen aber sind nicht zu erwarten. Die Dis- tanz zwischen Putin und seinem inneren Kreis auf der einen und Teilen der Exekutive auf der anderen wächst zwar. Diejenigen, die die Notwendigkeit von Reformen sehen, haben aber kaum Zugang zum Präsidenten. Putin nimmt die Sanktionen mit einer gewissen Resignation hin. Er ist davon überzeugt, dass der Westen in jedem Fall den Druck auf Russland aufrechterhalten oder sogar erhöhen will. Deshalb wird er sich den Sanktionen nicht beugen. Er sieht die Konfrontation mit dem Westen und die Isolierung Russlands inzwi- schen gleichsam als eine Bedingung der russischen Souveränität. Putin glaubt an die „geopolitische Einsamkeit“ Russlands31. Lehren für die europäische Diplomatie Russland mag eine Großmacht sein, aber seine Macht sollte nicht überschätzt werden. Dies bedeutet nicht, dass Russland nicht ge- fährlich werden kann. Präsident Putins Außenpolitik aber ist weit weniger strategisch, als dies im Westen allgemein angenommen wird. Sie ist oft genug bloße Reaktion, die Wahrnehmung von Gele- genheiten. Putins Diplomatie ist immer auch opportunistisch. Dies ist die wichtigste Lehre für die europäische Diplomatie. Wladimir Putin lenkt seit dem Jahr 2000 als Präsident die Geschi- cke seines Landes, auch wenn er von 2008 bis 2012 seinem Peters- burger Vertrauten Dmitri Medwedew die Präsidentschaft überließ. Seine Amtszeit bietet dem Historiker ausgezeichnetes Anschau- ungsmaterial dafür, welche Rolle der historischen Persönlichkeit in der Geschichte zukommt. Deshalb war es ein Fehler des Westens, die öffentlichen Äußerungen Putins nicht ernst zu nehmen und in ihnen nur Propaganda zu vermuten. Es wurde übersehen, dass er mehrfach sehr gezielt auf internationale Entwicklungen reagierte. Hätte man die Logik dieser Äußerungen verstanden, wäre der Dialog mit Russland vielleicht leichter gefallen. Vor allem zwei Reden Putins belegen einen deutlichen Wandel seiner Haltung. Beide hielt er nicht von ungefähr in Deutschland, die Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
4. Russland und Europa 115 eine in deutscher Sprache 2001 vor dem Deutschen Bundestag, die andere 2007 auf der Münchner Sicherheitskonferenz32. Die Rede vor dem deutschen Bundestag stand auch unter dem Eindruck der terro- ristischen Anschläge vom 11. September 2001 in den USA. Präsident Putin hatte Präsident George W. Bush als erster Staatschef seiner So- lidarität im Kampf gegen den Terrorismus versichert. Dieser war auch im nationalen Interesse Russlands, das vom Terrorismus im Kaukasus bedroht ist. Somit gab es gemeinsame Interessen mit dem Westen, die Grundlage einer Zusammenarbeit bot. Diese Chance der Diplomatie aber wurde nicht genutzt. Die Rede vor dem Deutschen Bundestag richtete sich nicht nur an die USA, sondern vor allem an Europa und natürlich Deutschland. Putin appellierte an Deutschland, mit Russland das „europäische Haus“ zu bauen. Er griff nicht von ungefähr den Terminus Michail Gorbatschows auf, der Deutschland nach dem Ende des Kalten Krie- ges zu einer neuen Ostpolitik inspiriert hatte. Der Gegensatz der Rede von 2001 zur Rede von 2007 könnte nicht größer sein. Letztere ist eine Abrechnung mit dem Westen. Die Kritik an der Erweiterung der NATO ist dabei nicht neu. Die Zäsur liegt in der Beschwörung einer multipolaren Welt, in der sich Russland in die Reihe aufstei- gender Mächte wie China stellt. Nicht mehr die gesamteuropäische Friedensordnung, das „europäische Haus“, sondern die multipolare Welt ist der Rahmen, in dem Putin fortan denkt. Die starke Veränderung im Denken Putins widerspricht der An- nahme einer verborgenen Strategie Russlands, wie sie sich in man- chen Verschwörungstheorien findet. Sie legt nahe, dass das Handeln Putins eher ein Lernprozess ist, zumindest Reaktion auf äußere und innere Entwicklungen. Auch russische Zeitzeugen der Präsident- schaft Putins kommen zu diesem Schluss. Der frühere Chefredak- teur des heute einzigen unabhängigen Fernsehsenders in Russland, „Doschd“ (Regen), Michail Zygar, konnte die russische Regierung von sehr nahe beobachten. Für ihn entbehrt die Ära Putin jeglicher Logik: „Die Kette von Ereignissen … offenbart die Abwesenheit eines klaren Plans oder einer klaren Strategie von Seiten Putins oder sei- ner Gefolgsleute. Alles was geschieht, sind taktische Schritte, Reakti- onen in Echtzeit auf äußere Einflüsse, ohne jedes objektive Ziel“33 In den ersten Jahren seiner Amtszeit hatte Putin versucht, Russ- land als strategischen Partner von Europa und den USA ins Spiel zu bringen. Die Erweiterungen der NATO bis an die Grenze Russlands, Hans-Dieter Heumann - 9783657785698 Downloaded from Brill.com03/07/2022 01:45:37PM via free access
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