S1-Leitlinie: Tumorgenetik - Diagnostik im Kontext maligner Erkrankungen

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S1-Leitlinie: Tumorgenetik - Diagnostik im Kontext maligner Erkrankungen
medizinische genetik 2022; 34(1): 53–68

Stellungnahmen und Leitlinien

S1-Leitlinie: Tumorgenetik – Diagnostik im
Kontext maligner Erkrankungen
https://doi.org/10.1515/medgen-2022-2112

Federführende Fachgesellschaften
Deutsche Gesellschaft für Humangenetik (GfH)
Deutsche Gesellschaft für Pathologie (DGP)

Expertengruppe
Stefan Aretz                               Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Bonn
Bernd Auber                                Institut für Humangenetik, Medizinische Hochschule Hannover
Daniela Aust                               Institut für Pathologie, Universitätsklinikum Dresden
Gustavo Baretton                           Institut für Pathologie, Universitätsklinikum Dresden
Falko Fend                                 Institut für Pathologie und Neuropathologie, Universitätsklinikum Tübingen
Laura Gieldon                              Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Heidelberg
Gudrun Göhring                             Institut für Humangenetik, Medizinische Hochschule Hannover
Lana Harder                                Institut für Tumorgenetik Nord, Kiel
Arndt Hartmann                             Pathologisches Institut, Universitätsklinikum Erlangen
Elke Holinski-Feder                        Medizinisch Genetisches Zentrum, München
Andreas Laner                              Medizinisch Genetisches Zentrum, München
Silke Laßmann                              Institut für Klinische Pathologie, Universitätsklinikum Freiburg
Sabine Merkelbach-Bruse                    Institut für allgemeine Pathologie und Anatomie, Universitätsklinikum Köln
Brigitte Schlegelberger                    Institut für Humangenetik, Medizinische Hochschule Hannover
Evelin Schröck                             Institut für klinische Genetik, Technische Universität Dresden
Christopher Schroeder                      Institut für Medizinische Genetik und Angewandte Genomik, Universitätsklinikum Tübingen
Felix Sahm                                 Institut für Pathologie, Abteilung für Neuropathologie, Universitätsklinikum Heidelberg
Peter Schirmacher                          Institut für Pathologie, Universitätsklinikum Heidelberg
Reiner Siebert                             Institut für Humangenetik, Universitätsklinikum Ulm
Albrecht Stenzinger                        Institut für Pathologie, Universitätsklinikum Heidelberg
Markus Tiemann                             Institut für Hämatopathologie, Hamburg
Sebastian Wagner                           Medizinische Klinik 2, Universitätsklinikum Frankfurt
Wilko Weichert                             Institut für Pathologie, Technische Universität München

Von den Fachgesellschaften/Verbänden benannte Mandatsträgerinnen und Mandatsträger
Nils Rahner                                 (Stellvertreterin: Verena Steinke-Lange; Berufsverband Deutscher Humangenetiker)
Karl-Friedrich Bürrig                       (Bundesverband Deutscher Pathologen)
Tanja Fehm                                  (Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe)
Sebastian Wagner                            (Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie)
Hanns-Georg Klein                           (Deutsche Gesellschaft für Klinische Chemie)
Felix Sahm                                  (Deutsche Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie)
Arndt Borkhardt                             (Stellvertreter: Markus Metzler; Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie)
Rita Schmutzler                             (Arbeitskreis erbliche Tumorerkrankungen (AET) der Deutschen Krebsgesellschaft)
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Diese S1 Leitlinie wird durch folgende Fachgesellschaften/Berufsverbände mitgetragen:
Berufsverband Deutscher Humangenetiker (BVDH)
Bundesverband Deutscher Pathologen (BDP)
Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe e.V. (DGGG)
Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO)
Deutsche Gesellschaft für Klinische Chemie (DGKL)
Deutsche Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie (DGNN)
Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH)
Arbeitskreis erbliche Tumorerkrankungen (AET) der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG)

                                                               8. Statement: Die Aussagekraft der tumorgenetischen
Inhaltsverzeichnis                                                 Diagnostik ist abhängig vom verwendeten Ausgangs-
                                                                   material – dies sollte durch entsprechende Angaben
FEDERFÜHRENDE FACHGESELLSCHAFTEN
                                                                   im Befundtext nachvollziehbar gemacht werden.
Expertengruppe
                                                               9. Bei der Untersuchung von Tumor- und nicht-
Von den Fachgesellschaften/Verbänden benannte Man-                 Tumorproben sollte die Herkunft und Qualität der
datsträgerinnen und Mandatsträger                                  Proben sachgerecht validiert werden.
Diese S1 Leitlinie wird durch folgende Fachgesellschaf-        10. Statement: Die tumorgenetische Diagnostik soll von
ten/Berufsverbände mitgetragen                                     entsprechenden qualitätssichernden Maßnahmen be-
                                                                   gleitet werden.
PRÄAMBEL
                                                               11. Statement: Bei der tumorgenetischen Diagnostik soll-
SPEZIFISCHE STATEMENTS                                             te berücksichtigt werden, dass auch Varianten im
1. Statement: Bei der Indikationsstellung zur tumorge-             Mosaikstatus nachgewiesen werden können, welche
   netischen Diagnostik soll geklärt werden, ob aus-               auch in anderen, nicht-tumortragenden Geweben,
   schließlich hinsichtlich diagnostisch oder therapeu-            z. B. in den Keimzellen, vorliegen können.
   tisch relevanter somatischer Varianten oder ob (auch)       12. Statement: Bei Verwendung von Blut oder Speichel als
   auf diagnostisch oder therapeutisch relevante patho-            nicht-Tumorprobe sollten mögliche klonale Ereignisse
   gene Keimbahnvarianten untersucht werden soll.                  berücksichtigt werden.
2. Statement: Die diagnostische und therapiesteuernde          13. Statement: Bei hämatologischen Neoplasien sind bei
   molekulare Diagnostik bei soliden Tumoren sollte in             der Untersuchung auf Keimbahnvarianten besondere
                                                                   Vorkehrungen bei der Auswahl des untersuchten Ge-
   die gesamte gewebebasierte Diagnostik sowie die in-
                                                                   webes zu treffen.
   terdisziplinäre Indikationsstellung und Therapieent-
                                                               14. Statement: Um therapeutisch relevante Varianten zu
   scheidung eingebettet sein.
                                                                   erkennen, kann die Liquid Biopsy in definierten kli-
3. Statement: Vor einer tumorgenetischen Diagnostik
                                                                   nischen Konstellationen als komplementäre Methode
   soll eine dem diagnostischen Umfang angepasste qua-
                                                                   zur gewebebasierten Analytik genutzt werden.
   lifizierte Aufklärung durchgeführt werden.
                                                               15. Statement: Die Liquid Biopsy wird stark durch
4. Statement: Die Untersuchung auf Keimbahnvarianten
                                                                   biologisch-klinische, präanalytische und analytische
   erfordert eine Aufklärung nach Gendiagnostikgesetz.
                                                                   Faktoren beeinflusst, die kontrolliert und bei der Ana-
5. Eine humangenetische Beratung sollte empfohlen                  lyse und Befundinterpretation beachtet werden müs-
   werden, wenn klinische oder familienanamnesti-                  sen.
   sche Hinweise auf ein Tumorrisikosyndrom (TRS) be-          16. Statement: Vor dem Einsatz einer ctDNA-Analyse zur
   stehen.                                                         Detektion von Varianten, die als prädiktive Biomar-
6. Statement: Eine Analyse von Nur-Tumor-Material                  ker oder therapeutische Zielstrukturen genutzt wer-
   kann eine erbliche Tumordisposition weder nachwei-              den können, sollte die histopathologische oder häma-
   sen noch ausschließen. Dies ist bei der Indikations-            tologische Diagnose stehen.
   stellung zu berücksichtigen.                                17. Statement: Für eine eindeutige Zuordnung von kon-
7. Statement: Bei Verdacht auf ein erbliches TRS sollte            stitutionellen und somatischen Varianten bei einer
   immer eine genetische Untersuchung auf Keimbahne-               tumorgenetischen Diagnostik von zirkulierender zell-
   bene angestrebt werden, die alle mit dem TRS assozi-            freier DNA („Liquid Biopsy“) ist eine parallele Analyse
   ierten Gene beinhaltet                                          von nicht-Tumor-DNA erforderlich.
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18. Statement: Die Nennung definierter präanalytischer       gnostischen Gesamtprozess, der von der Präanalytik des
    und analytischer Testparameter soll Bestandteil des      Probenmaterials über die Sequenzierung bis zur Identifi-
    diagnostischen Befundberichtes sein.                     zierung, Annotation und Klassifikation sowie klinischen
19. Statement: Genetische Varianten sollen nach definier-    Interpretation von Varianten reicht. Relevant ist die Ein-
    ten Nomenklatur-Standards beschrieben werden.            bettung der humangenetischen und molekularpathologi-
20. Statement: Bei paralleler Untersuchung an Tumor-         schen Analytik in einen klinischen Kontext, der u. a. die
    und Normalproben muss sichergestellt werden, dass        Indikationsstellung, Beratungsleistungen und ggf. Bera-
    relevante (potentiell) erbliche Varianten nicht pau-     tungen durch das interdisziplinäre Organboard oder das
    schal „maskiert“ werden.                                 molekulare Tumorboard umfasst.
21. Statement: Die Begriffe „Mutation“ bzw. „Polymor-             Durch den Einsatz einer umfangreichen Analytik pri-
    phismus“ sollen nicht zur Beschreibung von Varian-       mär an Tumor-DNA (sog. ‚tumor-only‘ Untersuchungen)
    ten in tumorgenetischen Befunden verwendet wer-          zur Identifizierung von somatischen therapeutischen Ziel-
    den.                                                     strukturen sowie diagnostischen und prädiktiven Bio-
22. Statement: In der tumorgenetischen Diagnostik soll       markern (einschließlich Resistenzmechanismen, die das
    die biologische und klinische Bewertung genetischer      Therapieansprechen vorhersagen), steigt auch die Wahr-
    Varianten mittels eines konsentierten Standards erfol-   scheinlichkeit, Varianten zu detektieren, die möglicher-
    gen.                                                     weise nicht auf die Krebszellen begrenzt sind, sondern
23. Statement: Bei allen umfangreichen tumorgeneti-          potentiell erbliche (konstitutionelle) Varianten darstellen.
    schen Untersuchungen an Tumormaterial sollten po-
                                                             Auch in der WES- und WGS- Analytik von Tumoren, die in
    tentiell erbliche Varianten, die mit einem TRS assozi-
                                                             der Regel unter Einschluss einer parallelen Analyse kon-
    iert sein könnten, berichtet werden.
                                                             stitutioneller Varianten (Keimbahnanalyse) durchgeführt
24. Statement: Die Ergebnisse von Variantenbewertungen
                                                             wird, spielt neben der Detektion somatischer Varianten die
    sollten in öffentlichen Datenbanken abgelegt werden.
                                                             Erkennung konstitutioneller Varianten eine wichtige Rol-
25. Statement: Bei umfangreichen tumorgenetischen Un-
                                                             le.
    tersuchungen ist eine interdisziplinäre Bewertung der
                                                                  Je nach Tumorart und betroffenem Gen, insbesondere
    Ergebnisse anzustreben.
                                                             bei Tumorsuppressor- und DNA-Reparaturgenen, kann bei
                                                             der Analyse von Tumormaterial die Wahrscheinlichkeit
QUELLEN/LITERATURANGABEN
                                                             des Vorliegens einer konstitutionellen Variante sogar hö-
APPENDIX                                                     her als die einer somatischen Veränderung sein (z. B. der
                                                             Nachweis einer BRCA1-Variante im Ovarialkarzinom) [1, 2].
                                                             Eine weitere Charakterisierung solcher Varianten hinsicht-
Präambel                                                     lich potentieller Erblichkeit ist je nach tumorgenetischem
                                                             Befund, Fragestellung und klinischem Kontext wichtig für
Die im Rahmen von Tumorerkrankungen in der Human-            die korrekte Einschätzung der klinischen Bedeutung, so-
genetik und der Pathologie durchgeführte molekulargene-      wohl für die untersuchte Person selber als auch für deren
tische Diagnostik ist eine wesentliche Voraussetzung für     Familie. Für die Indikation bei manchen zielgerichteten
die moderne, individualisierte Präzisionsmedizin und ge-     Therapien, z. B. der PARP-Inhibitor-Gabe im Rahmen einer
winnt daher für die Tumortherapie und -prävention zu-        Erhaltungstherapie beim metastasierten Adenokarzinom
nehmend an Bedeutung. Entsprechende Untersuchungen           des Pankreas, ist der Nachweis einer BRCA1- oder BRCA2-
werden immer umfassender eingesetzt und reichen von          Keimbahnvariante zurzeit sogar zwingend erforderlich.
der gezielten Analyse einzelner, klar umschriebener Re-           Darüber hinaus ist die Unterscheidung zwischen einer
gionen hin zu weit gefassten genetischen Analysen mit        somatischen oder konstitutionellen pathogenen BRCA1-
Hilfe sogenannter Genpanels oder Ganzexom- (WES) oder        Variante nicht nur für die untersuchte Patientin z. B. bzgl.
Ganzgenomanalysen (WGS). Die diagnostische Analyse           ihres deutlich erhöhten Brustkrebsrisikos, sondern auch
mittels großer Genpanels, des Exoms oder des Genoms          für weitere (asymptomatische) Familienangehörige medi-
wird in den kommenden Jahren eine zunehmende Rolle           zinisch relevant. Sie können nach humangenetischer Be-
spielen.                                                     ratung und Einwilligung nach dem Gendiagnostikgesetz
     Die Analysen, die in der Humangenetik und Moleku-       (GenDG) eine prädiktive (vorhersagende) Testung durch-
larpathologie durchgeführt werden, sollen in einem quali-    führen lassen, um zu klären, ob sie die pathogene Keim-
tätsgesicherten Umfeld erfolgen und umfassen einen dia-      bahnvariante geerbt haben und ein erhöhte Krebsrisiko
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tragen oder nicht. Ebenso ist im Umkehrschluss die kor-
rekte Einordnung einer Variante als „somatisch“ essenti-
                                                               Spezifische Statements
ell, um die fehlerhafte Diagnose eines erblichen Tumorri-
sikosyndroms zu vermeiden. Deswegen ist bei umfangrei-         1. Statement: Bei der Indikationsstellung
chen Untersuchungen eine parallele Sequenzierung von              zur tumorgenetischen Diagnostik soll
DNA aus Tumormaterial und peripherem Blut anzustreben             geklärt werden, ob ausschließlich
[3]. Alleine durch klinische Informationen oder die Famili-       hinsichtlich diagnostisch oder
enanamnese ist nur unzureichend feststellbar, ob eine Per-        therapeutisch relevanter somatischer
son möglicherweise eine Tumordisposition trägt. Solche
                                                                  Varianten oder ob (auch) auf diagnostisch
erblichen Tumorrisikosyndrome sind auch bei pauschal
als „sporadisch“, d. h. als Einzelfall in der Familie einge-
                                                                  oder therapeutisch relevante pathogene
schätzten Krebserkrankungen deutlich häufiger als bisher          Keimbahnvarianten untersucht werden
angenommen [4–7] und werden bei mindestens 10 % al-               soll
ler umfangreichen tumorgenetischen Untersuchungen ge-
                                                               Kommentar: Ziel der tumorgenetischen Diagnostik bei
funden [3, 8–10].
                                                               malignen Erkrankungen ist es, genetische Varianten zu
     Das Spektrum an genetischen Veränderungen in der
                                                               detektieren, die eine diagnostische, prognostische oder
tumorgenetischen Diagnostik ist sehr groß und umfasst
                                                               therapeutische Relevanz haben im Sinne einer prädikti-
von Einzelbasenveränderungen bis zu komplexen struk-
                                                               ven Biomarkeranalyse zur Therapiesteuerung. Somatische
turellen Varianten (wie bspw. Kopienzahlveränderungen
                                                               Varianten werden in der Regel durch die Analyse von
und in-frame Genfusionen), Signaturen und komplexe
                                                               Tumor-DNA nachgewiesen, wobei naturgemäß auch Keim-
Biomarker (bspw. Tumormutationslast (TMB) und geno-
                                                               bahnvarianten miterfasst werden. Hingegen werden kon-
mische Instabilität durch homologe Reparaturdefizienz
                                                               stitutionelle Varianten („Keimbahnvarianten“) in der Re-
(HRD)) ein wachsendes Feld an Alterationen, das eine spe-
                                                               gel durch die Untersuchung von Leukozyten-DNA aus ve-
zifische Expertise erfordert. Dies schließt auch eine dezi-
                                                               nösem Blut nachgewiesen, seltener und je nach Fragestel-
dierte Kenntnis der klinischen Studienlandschaft und der
                                                               lung (z. B. bei hämatologischen Neoplasien) auch aus an-
aktuellen Zulassungssituationen ein.
                                                               derem gesunden Gewebe.
     Die Durchführung sowohl einer gezielten als auch
                                                                    Sollen ausschließlich Keimbahnvarianten, die bei ver-
einer umfangreichen genetischen Diagnostik im Kontext
                                                               schiedenen Tumoren ebenfalls prädiktive therapeutische
maligner Erkrankungen und die Variantenbeschreibung
                                                               Relevanz haben, untersucht werden, soll zunächst eine
und -bewertung sollte daher interdisziplinär, evidenzba-
                                                               Keimbahnanalyse an Blut erfolgen, weil nur so das gesam-
siert und standardisiert erfolgen, um einen maximalen
                                                               te Spektrum möglicher Keimbahnvarianten sicher nach-
Nutzen für die Patienten zu erzielen.
                                                               gewiesen werden kann. Da die Unterscheidung zwischen
     Diese Leitlinie soll aufzeigen, welche Aspekte diesbe-
                                                               erblichen und somatischen Varianten je nach klinischer
züglich zu beachten sind.
                                                               Konstellation auf Grund der unterschiedlichen klinisch-
                                                               humangenetischen Implikationen eine hohe Relevanz auf-
                                                               weisen kann, ist bei umfangreichen Analysen und entspre-
                                                               chender klinischer Fragestellung eine parallele Sequen-
                                                               zierung von DNA aus Tumormaterial und peripherem Blut
                                                               anzustreben. Abbildung 1 zeigt die derzeitigen klinischen
                                                               Konstellationen auf, in denen die Keimbahn- und somati-
                                                               sche Analyse eine Rolle spielt.
S1-Leitlinie: Tumorgenetik – Diagnostik im Kontext maligner Erkrankungen |       57

Abb. 1: Patientenpfad Tumorgenetik. Je nach Intention der tumorgenetischen Diagnostik gibt es unterschiedliche Anforderungen an Aufklä-
rung und Einwilligung des Patienten (GenDG: Gendiagnostikgesetz).

2. Statement: Die diagnostische und                                  gnostik führen (bspw. falsch-negative Befunde bei Isola-
   therapiesteuernde molekulare Diagnostik                           tion von DNA aus nicht-tumor tragenden Gewebesegmen-
   bei soliden Tumoren sollte in die gesamte                         ten oder bei zu niedrigem Tumorzellgehalt) und soll daher
                                                                     nicht durchgeführt werden. Da verschiedene genetische
   gewebebasierte Diagnostik sowie die
                                                                     Aberrationen in unterschiedlicher Prävalenz mit bestim-
   interdisziplinäre Indikationsstellung und                         men Tumortypen vergesellschaftet sind, unterstützt die
   Therapieentscheidung eingebettet sein                             Korrelation zwischen dem histologischen Phänotyp und
                                                                     dem somatischen Genotyp des Tumors ebenfalls die dia-
Kommentar: Die molekularpathologische Diagnostik bei
                                                                     gnostische Plausibilitätsprüfung. Ein integrierter moleku-
soliden Tumoren ist immer in einen klinischen und
                                                                     larpathologischer Befund, der klinische, histopathologi-
histopathologischen Kontext eingebettet. Dieser Kontext
                                                                     sche und molekularpathologische Ergebnisse kontextua-
schließt die fachgerechte Indikationsstellung und inter-
                                                                     lisiert, ist daher ein wesentlicher Bestandteil der moleku-
disziplinäre Therapieentscheidung auf der Basis eines dia-           larpathologischen Analytik.
gnostischen Befundes ein. Darüber hinaus dient der kli-
nische und histopathologische Kontext der Plausibilitäts-
prüfung des molekularpathologischen Diagnostikprozes-                3. Statement: Vor einer tumorgenetischen
ses einschließlich des Ergebnisses und unterstützt somit                Diagnostik soll eine dem diagnostischen
die Qualität des molekularpathologischen Befundes. Die
                                                                        Umfang angepasste qualifizierte
isolierte molekularpathologische Untersuchung von DNA
                                                                        Aufklärung durchgeführt werden
oder RNA aus Tumorgewebe ohne Kenntnis der histopa-
thologischen (und ggf. immunhistologischen) Diagnose                 Kommentar: Je nach Umfang, Art und Intention der ge-
(Tumortyp) und der verwendeten Präanalytik, einschließ-              planten tumorgenetischen Diagnostik ist die Patientin/der
lich der Detektion und Einzeichnung des tumortragenden               Patient vor Durchführung über die Bedeutung und Trag-
Areals im Gewebeschnitt für die Nukleinsäureextraktion               weite der geplanten Untersuchung wirksam aufzuklären.
und der verwendeten Extraktionsmethoden, kann zu gra-                Dabei sollte berücksichtigt werden, dass die Untersu-
vierenden Fehlern in der molekularpathologischen Dia-                chung – außer wenn im Tumorgewebe auf einige wenige,
58 | S1-Leitlinie: Tumorgenetik – Diagnostik im Kontext maligner Erkrankungen

Tab. 1: Anforderungen an die Aufklärung vor tumorgenetischen Untersuchungen.

Untersuchungsziel (Intention)                                                  Aufklärung gemäß          Aufklärung gemäß
                                                                               Patientenrechtegesetz     Gendiagnostikgesetz
Gezielter Nachweis therapierelevanter Varianten im Tumorgewebe                 ja                        nein

Großes Panel/Exom/Genom an Tumormaterial, ggf. mit Hinweis                     ja                        nein (ggf. sekundär,
auf potentielle Keimbahnvariante                                                                         siehe Abb. 1)
Diagnostische Aussage zu therapierelevanten Keimbahnvarianten                  ja                        ja

bekannte somatische pathogene Treiber-Varianten (bspw.             zwingend vorgeschrieben. Eine Übersicht hinsichtlich der
fokussierte sog. Hotspot Panels) getestet wird – Hinweise          Anforderungen an die Aufklärung abhängig von den ver-
auf ein erbliches Tumorrisikosyndrom ergeben kann, und             schiedenen Untersuchungszielen ist in Tab. 1 dargestellt.
dass sich daraus potentiell Konsequenzen nicht nur für die              Eine zusätzliche präanalytische humangenetische Be-
Betroffenen selbst, sondern auch ihre Angehörigen erge-            ratung nach GenDG ist in der tumorgenetischen Diagnos-
ben können. In solchen Fällen sollte entweder primär oder          tik, auch bei Durchführung einer Keimbahndiagnostik,
sekundär (siehe Abb. 1) eine Aufklärung nach dem GenDG             meist nicht gefordert, da in aller Regel eine bereits er-
erfolgen. Im Patientenrechtegesetz (§ 630 c und e) wird auf        krankte Person untersucht wird, d. h. eine diagnostische
eine umfassende Aufklärungspflicht hingewiesen.                    genetische Untersuchung erfolgt.

4. Statement: Die Untersuchung auf                                 5. Statement: Eine humangenetische
   Keimbahnvarianten erfordert eine                                   Beratung sollte empfohlen werden, wenn
   Aufklärung nach Gendiagnostikgesetz                                klinische oder familienanamnestische
Kommentar: Das „Gesetz über genetische Untersuchun-
                                                                      Hinweise auf ein Tumorrisikosyndrom
gen bei Menschen“ (Gendiagnostikgesetz – GenDG) regelt                (TRS) bestehen
die Voraussetzungen für genetische Untersuchungen von
                                                                   Kommentar: Hierzu zählt z. B. das Auftreten weiterer Tu-
genetischen Eigenschaften. Als „genetische Eigenschaf-
                                                                   morerkrankungen bei der erkrankten Person selbst oder
ten“ werden laut GenDG „während der Befruchtung oder
                                                                   in deren Familie oder eine besondere histopathologi-
bis zur Geburt erworbene, vom Menschen stammende
                                                                   sche Diagnose, bspw. eines medullären Schilddrüsenkar-
Erbinformationen“ bezeichnet. Ererbte oder während der
                                                                   zinoms (hohe Wahrscheinlichkeit bzgl. des Vorliegens ei-
Befruchtung erworbene genetische Veränderungen sind
                                                                   nes RET-assoziierten Tumorrisikosyndroms (TRS)). Auch
meist in allen Körperzellen nachweisbar und werden dann
                                                                   wenn die humangenetische Beratung der erkrankten Per-
in aller Regel auch in der Analyse des Tumorgewebes de-
                                                                   son z. B. wegen fortgeschrittener Erkrankung nicht mehr
tektiert. Bei einer umfangreichen genetischen Diagnostik
                                                                   sinnvoll oder möglich ist, kann dennoch aufgrund der for-
an Tumormaterial kann somit auch eine relevante erbli-
                                                                   malgenetischen Risikoerhöhung eine Beratung von Fami-
che Variante nachgewiesen werden. Ob eine Aufklärung
                                                                   lienmitgliedern indiziert sein.
(und Einwilligung) nach GenDG vor einer tumorgeneti-
schen Diagnostik erfolgen muss, richtet sich primär nach
der Intention der geplanten Untersuchung. Ist es das vor-
rangige Ziel, in Tumor-DNA vorkommende „Biomarker“ zu
                                                                   6. Statement: Eine Analyse von
identifizieren, fällt dies zunächst nicht in den Geltungs-            Nur-Tumor-Material kann eine erbliche
bereich des GenDG. Dennoch kann je nach Kontext ent-                  Tumordisposition weder nachweisen noch
sprechend Patientenrechtegesetz eine umfassendere Auf-                ausschließen. Dies ist bei der
klärung indiziert sein, s. dazu auch Statement 3 sowie den            Indikationsstellung zu berücksichtigen
2. bzw. 3. Tätigkeitsbericht der Gendiagnostikkommission
(Tätigkeitsbericht für den Zeitraum 2013-2015, S. 51ff bzw.        Tumorgewebe beinhaltet somatische Varianten und Keim-
Tätigkeitsbericht für den Zeitraum 2016-2018, S. 15). Ist          bahnvarianten. Eine alleinige Tumorsequenzierung kann
der Nachweis einer Keimbahnvariante die Grundlage einer            somit pathogene Keimbahnvarianten – und damit ein erb-
zielgerichteten Therapie, ist eine Aufklärung nach GenDG           liches Tumorrisikosyndrom (TRS) – weder sicher nachwei-
S1-Leitlinie: Tumorgenetik – Diagnostik im Kontext maligner Erkrankungen |   59

sen noch ausschließen [11–13]. Sequenzierergebnisse, das      selbst als auch dessen Familie kann es fatale Folgen ha-
betroffene Gen, Tumorentität, Histologie und Familienvor-     ben, u. a. durch nicht angepasste Früherkennungsemp-
geschichte können allenfalls Hinweise auf ein TRS geben,      fehlungen, wenn eine mögliche doppelte Heterozygotie
welches ggf. unter Berücksichtigung des GenDG weiter ab-      nicht identifiziert wird.
geklärt werden sollte [12].
     Eine definitive Unterscheidung allein anhand von Tu-
morgewebe ist nicht möglich und bedarf daher bei be-          8. Statement: Die Aussagekraft der
reits erfolgter Tumoranalyse einer ergänzenden Analyse           tumorgenetischen Diagnostik ist
der Keimbahn-DNA. Daher handelt es sich bei einer aus-           abhängig vom verwendeten
schließlich im Tumorgewebe nachgewiesenen Genvarian-             Ausgangsmaterial – dies sollte durch
te um eine Tumorvariante. Der Begriff somatische Gen-
                                                                 entsprechende Angaben im Befundtext
variante kann folgerichtig nur dann verwendet werden,
wenn eine Keimbahngenese ausgeschlossen wurde. Von
                                                                 nachvollziehbar gemacht werden
den beteiligten Institutionen/Tumorboards sollten Algo-       Kommentar: Aus einer Vielzahl von Gründen (z. B. All-
rithmen etabliert werden, die festlegen, bei welchen kli-     tagstauglichkeit, Möglichkeit einer parallelen, qualitativ
nischen und molekularen Befundkonstellationen die Ab-         hochwertigen histologischen Aufarbeitung) wird heute in
klärung einer erblichen Variante empfohlen wird, s. dazu      der molekularpathologischen Diagnostik an Tumormate-
auch Statement 23.                                            rial in aller Regel DNA und RNA aus formalinfixiertem und
                                                              in Paraffin eingebettetem (FFPE) Gewebe verwendet. Dies
                                                              gilt insbesondere für alle sogenannten soliden Tumorer-
7. Statement: Bei Verdacht auf ein erbliches
                                                              krankungen, da die diagnostische Einordung des Tumor-
   TRS sollte immer eine genetische                           typs und mithin die Therapiesteuerung nach histologi-
   Untersuchung auf Keimbahnebene                             schen WHO-Kriterien erfolgt und die Konservierung der
   angestrebt werden, die alle mit dem TRS                    Probe mittels FFPE für die Histologie daher eine conditio
   assoziierten Gene beinhaltet                               sine qua non darstellt. Diese DNA ist jedoch im Vergleich
                                                              zu DNA aus unfixierten Zellen in aller Regel von minde-
Kommentar: Bei klinischem Verdacht auf ein erbliches
                                                              rer Qualität, unter anderem da die DNA stärker fragmen-
TRS sollte immer eine möglichst umfassende Untersu-
                                                              tiert ist und häufiger artifizielle Einzelbasenveränderun-
chung hinsichtlich ursächlicher erblicher Varianten auf
                                                              gen auftreten können [18–20]. Deshalb ist die Wahrschein-
Keimbahnebene erfolgen, die alle mit dem TRS assozi-
                                                              lichkeit, eine medizinisch relevante Variante zu überse-
ierten Gene umfasst, auch wenn in der genetischen Dia-
gnostik aus Tumormaterial bereits eine bestimmte, mögli-      hen oder durch Artefakte ein falsch-positives Ergebnis zu
cherweise erbliche Variante detektiert werden konnte. Ist     erhalten, bei der (alleinigen) Analyse von fixiertem Tu-
z. B. im Rahmen einer fokussierten Sequenzierung von Tu-      mormaterial höher als bei der Analyse von unfixiertem
mormaterial bei einer 28-Jährigen mit Mammakarzinom           Probenmaterial [21]. Eine Analyse dieses Materials, ein-
der V. a. eine erbliche TP53-Variante geäußert worden,        schließlich der Analyse komplexer struktureller Varian-
sollten dennoch in der Keimbahn-Diagnostik (i. d. R. aus      ten, wie bspw. Kopienzahlveränderungen und Genfusio-
Blut) alle mit einer Brustkrebsdisposition assoziierten Ge-   nen, ist dennoch erfolgreich möglich, bedarf aber einer be-
ne untersucht werden, nicht nur gezielt die in der Sequen-    sonderen Expertise, die die Bereiche Gewebeaufarbeitung
zierung des Tumormaterials beschriebene TP53-Variante.        einschließlich Pränanalytik, Sequenzierung, Datenanaly-
Dies ist sinnvoll, da es sich bei in Tumor-DNA nachgewie-     se und Befundinterpretation umfasst. In diesem Zusam-
senen pathogenen TP53-Varianten nur sehr selten um kon-       menhang sind der Tumorzellgehalt, die Menge und Quali-
stitutionelle Varianten handelt und deshalb Keimbahn-         tät der Nukleinsäuren [22], die eingesetzte Sequenzierme-
Varianten in anderen Genen für das frühmanifeste Auf-         thode, die Qualität der Sequenzierbibliothek, das Panel-
treten des Tumors verantwortlich sein können [12]. Dar-       design einschließlich der Verwendung von molekularen
über hinaus kann auch eine andere Keimbahnvariante,           Barcodes/Identifiers, die (horizontale) Coverage und (ver-
die z. B. nicht in der genetischen Diagnostik an Tumor-       tikale) Lesetiefe sowie die bioinformatische Auswertung
material identifiziert werden konnte, ursächlich sein. Au-    und Plausibilitätsprüfung durch Experten von wesentli-
ßerdem wurden vielfach Veränderungen in mehr als ei-          cher Bedeutung. Für die Genfusionsanalytik ist eine RNA-
nem Tumorrisikogen bei einer Person („doppelte Hetero-        oder kombinierte RNA/DNA Sequenzierung einer alleini-
zygotie“) beschrieben [14–17]. Sowohl für den Patienten       gen DNA-Sequenzierung vorzuziehen.
60 | S1-Leitlinie: Tumorgenetik – Diagnostik im Kontext maligner Erkrankungen

     Die Sensitivität für die Detektion größerer strukturel-   die entsprechenden Leitlinien und Vorgaben der Fachge-
ler Varianten wie einer Deletion ganzer Exons ist abhän-       sellschaften einzuhalten. Eine Akkreditierung ist anzu-
gig von der Qualität der eingesetzten DNA [23]. Auch aus       streben. Für akkreditierte Einrichtungen gelten die beson-
diesem Grund schließt eine unauffällige Tumorsequenzie-        deren Vorgaben der DAkkS bzw. der jeweiligen DIN ISO
rung ein erbliches TRS nicht aus, da pathogene struktu-        Ziffer (bspw. DIN ISO 15189 und 17020). Die Qualitätssi-
relle Varianten unerkannt bleiben können. In einer Viel-       cherung umfasst die gesamte diagnostische Prozessket-
zahl von Populationen sind strukturelle Varianten als häu-     te einschließlich der Präanalytik und Bioinformatik und
figer vorkommende Gründer-Varianten beschrieben wor-           eingesetzter Software zur Auswertung von Sequenzierda-
den, z. B. im BRCA1-, BRCA2-, CHEK2- oder dem APC-Gen          ten.
[24]. Für den Nachweis struktureller Keimbahnvarianten
ist eine Analyse i. d. R. aus Blut [11–13] unter Beachtung
der Vorgaben des GenDG notwendig.
                                                               11. Statement: Bei der tumorgenetischen
                                                                   Diagnostik sollte berücksichtigt werden,
                                                                   dass auch Varianten im Mosaikstatus
9. Statement: Bei der Untersuchung von                             nachgewiesen werden können, welche
   Tumor- und nicht-Tumorproben sollte die                         auch in anderen, nicht-tumortragenden
   Herkunft und Qualität der Proben                                Geweben, z. B. in den Keimzellen,
   sachgerecht validiert werden                                    vorliegen können

Kommentar: Bei Verwendung von DNA aus Zellen in                Kommentar: Postzygotische Mosaike genetischer Vari-
räumlicher Nähe zum Tumorgewebe für die Keimbahnana-           anten, die vor der Geburt entstanden sind, unterliegen
lytik kann es durch den „field effect“ (Vorkommen von Tu-      im Sinne einer „genetischen Eigenschaft“ dem Anwen-
morvarianten in benachbartem, histopathologisch als un-        dungsbereich des GenDG. Solche postzygotischen Mo-
auffällig klassifiziertem Gewebe [25]) fälschlicherweise zu    saike können bei der Analyse des Tumorgewebes detek-
                                                               tiert werden, sie können die Keimzellen betreffen und als
einem V. a. ein TRS kommen. Eine Diagnostik hinsichtlich
                                                               konstitutionelle Variante an Nachkommen vererbt wer-
erblicher Varianten an DNA aus Blut-Leukozyten ist auch
                                                               den.
aufgrund der bereits genannten technischen Limitierun-
                                                                    Der Verdacht auf das Vorliegen einer Variante in einer
gen (siehe Statement 8) gegenüber der genetischen Unter-
                                                               solchen Mosaikkonstellation kann sich ergeben:
suchung an fixierten Material zu bevorzugen.
                                                               – im klinischen Kontext
     Vor der Verwendung von DNA und RNA aus Tumor-
                                                               – aufgrund eines geringen Anteils einer Variante (vari-
gewebe solider Tumoren steht die histopathologische Dia-
                                                                    ant allele fraction,1 VAF) bei der Analyse von nicht tu-
gnose des Tumors oder die histopathologische Überprü-               mortragendem Gewebe
fung der zuvor gestellten Diagnose. Die histopathologi-        – aufgrund des Vorhandenseins derselben Variante in
sche Diagnostik bestimmt die Auswahl des geeigneten tu-             unterschiedlichen Geweben (beispielsweise syn- oder
mortragenden FFPE-Blockmaterials oder Frischgewebes,                metachronen Tumoren) einer Person
das für die molekularpathologische Untersuchung ver-
wendet wird. Ein Tumorzellgehalt von mindestens 30 %,          Die weitere Abklärung erfolgt unter Berücksichtigung des
unter Verwendung von Methoden zur Mikro- und Makro-            GenDG.
dissektion, ist anzustreben.

10. Statement: Die tumorgenetische
    Diagnostik soll von entsprechenden
    qualitätssichernden Maßnahmen                              1 Mit der variant allele fraction (auch variant allele frequency, VAF)
    begleitet werden                                           ist der relative oder absolute Anteil an Sequenz-„reads“ mit der von
                                                               der Referenzsequenz abweichenden Base in der untersuchten Probe
                                                               gemeint. Die Variantenallel-Frequenz wird auch als populationsge-
Kommentar: Bei jedweder tumorgenetischen Diagnostik
                                                               netischer Begriff verwendet und gibt an, wie häufig eine Abweichung
(Tumor und Blut) sind die entsprechend gültigen Richtli-       von der Referenzsequenz in einer bestimmten Population nachweis-
nien z. B. der Bundesärztekammer („RiLiBAeK“) [26] bzw.        bar ist.
S1-Leitlinie: Tumorgenetik – Diagnostik im Kontext maligner Erkrankungen   | 61

12. Statement: Bei Verwendung von Blut                          14. Statement: Um therapeutisch relevante
    oder Speichel als nicht-Tumorprobe                              Varianten zu erkennen, kann die Liquid
    sollten mögliche klonale Ereignisse                             Biopsy in definierten klinischen
    berücksichtigt werden                                           Konstellationen als komplementäre
                                                                    Methode zur gewebebasierten Analytik
Kommentar: Für die Untersuchung von gesundem, nicht
betroffenem Gewebe wird meist DNA aus Leukozyten bzw.
                                                                    genutzt werden
aus Speichel verwendet. Durch klonale Hämatopoese kön-          Kommentar: Die „Liquid Biopsy“ – die Analyse von im
nen allerdings auch bei nicht erkrankten, meist älteren         Blut (aber auch bspw. in Liquor, Urin, Pleuraerguss, As-
Personen oder nach Chemotherapie pathogene Varian-              zites, Zystenflüssigkeiten) zirkulierender zellfreier DNA
ten in hämatopoetischen Stammzellen entstehen. Solche           (cfDNA) – nimmt bei der Therapiesteuerung von malignen
in geringem Anteil vorkommenden klonalen Varianten              Erkrankungen einen immer größeren Stellenwert ein [32,
gehen mit einem erhöhten Risiko für eine hämatologi-            33]. Zu diesem Zwecke werden insbesondere zirkulierende
sche Neoplasie, aber auch weiteren nicht-neoplastischen         Tumorzellen oder Nukleinsäuren untersucht [34]. Klinisch
Erkrankungen, insbesondere kardiovaskuläre Erkrankun-           spielt derzeit vor allem die Sequenzierung frei zirkulieren-
gen, einher (Jaiswal et al., NEJM, 2014 und 2017). Die-         der, vom Tumor stammender DNA (ctDNA) aus dem Blut
se „klonale Hämatopoese mit unbestimmtem Potenzi-               [35–37] eine Rolle. In definierten klinischen Indikationen
al“ (CHIP) [27] kann somit das Vorliegen eines erb-             kann die Testung auf therapeutisch relevante, insbesonde-
lichen TRS vortäuschen. Dies wurde bisher u. a. für             re Resistenz-vermittelnde Varianten genutzt werden. Fer-
TP53-Varianten berichtet (fälschliche Diagnose eines Li-        ner wird das Monitoring einer onkologischen Erkrankung
Fraumeni-Syndroms) [28].                                        (bspw. zur Klärung der klinischen Fragestellung eines Re-
                                                                zidivs) in Studien untersucht [38, 39]. Die Liquid Biopsy
                                                                kann somit die gewebebasierte Analytik ergänzen.
13. Statement: Bei hämatologischen                                   Allerdings ist die gewebebasierte Analytik bei aus-
    Neoplasien sind bei der Untersuchung                        reichendem Tumorzellgehalt zur sicheren Erkennung der
    auf Keimbahnvarianten besondere                             in der molekular definierten Ersttherapie therapeutisch
    Vorkehrungen bei der Auswahl des                            nutzbaren Varianten, die üblicherweise früh in der Tu-
    untersuchten Gewebes zu treffen                             morigenese auftreten (Stammvariante, engl. truncal va-
                                                                riant), der Liquid Biopsy überlegen und soll daher ge-
Kommentar: Viele pathogene Varianten bei hämatologi-            nutzt werden. Eine Ausnahme besteht, wenn initial nicht
schen Erkrankungen, welche bisher als somatisch ange-           ausreichend repräsentatives Gewebe für eine molekula-
sehen wurden, können erblich sein [29–31]. Um diese erb-        re Analytik verfügbar ist. In diesem Fall kann eine Li-
lichen Varianten von somatischen Varianten zu differen-         quid Biopsy in Erwägung gezogen werden. Bei Verdacht
zieren, kann die parallele Analyse von nicht betroffenem        auf eine Resistenzentwicklung unter molekular definier-
Gewebe auch bei hämatologischen Neoplasien notwendig            ter Ersttherapie soll für eine weitere molekulare Tes-
sein. In diesem Rahmen muss darauf geachtet werden,             tung zur Identifizierung des Resistenzmechanismus und
dass die untersuchte Probe nicht mit Leukozyten versetzt        nachfolgender Zweittherapie, auch wegen der Möglich-
ist (was vor allem bei Speichelproben, in geringerem Aus-       keit eines nur histopathologisch nachvollziehbaren sog.
maß aber auch bei Mundschleimhaut-Abstrichen oder Fin-          Resistenz-vermittelnden Phänotyp-Switches [40], eine ge-
gernägeln der Fall sein kann). Um dies zu vermeiden, kön-       webebasierte Analytik der klinisch-radiologisch erkann-
nen zur Abgrenzung erblicher Varianten von somatischen          ten Rezidivläsion angestrebt werden. Wenn diese aus kli-
Varianten im Rahmen hämatologischer Neoplasien Nukle-           nischen Gründen (bspw. schwer erreichbare Tumorläsio-
insäuren z. B. aus Haarwurzeln oder Fibroblastenkulturen        nen, ECOG-Status des Patienten, Risiko einer Komplikati-
untersucht werden. Darüber hinaus können hämatopoeti-           on) nicht möglich ist, kommt die Liquid Biopsy als kom-
sche Zellen tumortypische genetische Veränderungen tra-         plementäres Verfahren in Betracht.
gen, ohne dass eine hämatologische Systemerkrankung
vorliegt (CHIP, s. Statement 12), sodass obligat eine Korre-
lation mit klinischen, hämatologischen und/oder hämat-
opathologischen Befunden erfolgen muss.
62 | S1-Leitlinie: Tumorgenetik – Diagnostik im Kontext maligner Erkrankungen

15. Statement: Die Liquid Biopsy wird stark                    16. Statement: Vor dem Einsatz einer
    durch biologisch-klinische,                                    ctDNA-Analyse zur Detektion von
    präanalytische und analytische Faktoren                        Varianten, die als prädiktive Biomarker
    beeinflusst, die kontrolliert und bei der                      oder therapeutische Zielstrukturen
    Analyse und Befundinterpretation                               genutzt werden können, sollte die
    beachtet werden müssen                                         histopathologische oder
                                                                   hämatologische Diagnose stehen
Kommentar: Zirkulierende, zellfreie DNA (cfDNA) kann
auch bei gesunden Probanden, unter physiologischer kör-        Kommentar: Die Dignitätsfeststellung und Typisierung
perlicher Belastung und bei nicht -onkologischen Erkran-       solider Tumoren gründet auf zyto- und histopathologi-
kungen im Blut detektiert werden [41–43]. Die tumor-           schen Kriterien, die durch die WHO festgelegt sind. Mole-
zugehörige ctDNA stellt häufig nur eine kleine Fraktion        kulare Analysen auf DNA- oder RNA-Ebene zur Identifizie-
der cfDNA dar. Das Vorhandensein von ctDNA bei einer           rung bestimmter Varianten, die in primär histologisch de-
Tumorerkrankung ist stark vom Tumortyp und Tumorsta-           finierten Tumorentitäten gehäuft vorkommen, sind für die
dium abhängig, wobei eine höhere Tumorlast (Stadium            Diagnosestellung unterstützend, aber als alleiniges Merk-
IV) prinzipiell mit höheren ctDNA Mengen assoziiert ist        mal im Hinblick auf die Diagnose und ihre Kriterien nicht
[44]: Es gibt jedoch Patienten, die als sogenannte „non-
                                                               hinreichend. Daher ist die kontextlose, alleinige Analy-
bzw. low-shedder“ bezeichnet werden und bei denen ei-
                                                               se von Varianten, die in ctDNA identifiziert wurden, für
ne ctDNA Analyse nicht möglich ist. Ein negatives Test-
                                                               primär diagnostische Zwecke, einschließlich der Bestim-
ergebnis schließt daher das Vorhandensein einer klinisch-
                                                               mung der Dignität und des Tumortyps, nicht geeignet. Stu-
therapeutisch relevanten Variante in einem Tumor nicht
                                                               dien zur Frage der Früherkennung von Tumoren mittels
aus. Neben diesen klinisch-biologischen Gesichtspunkten
                                                               blutbasierter Tests, einschließlich ethischer Fragestellun-
ist ein wesentlicher technischer Aspekt zu beachten: wie
                                                               gen, sind derzeit Gegenstand der Forschung und nicht Be-
auch bei der gewebebasierten Analytik besteht ein direkter
                                                               standteil der etablierten klinischen Versorgung [49].
Zusammenhang zwischen der Menge der DNA-Moleküle
pro Lokus, der Abdeckung und Lesetiefe pro Lokus und der
detektierbaren Allelfraktion einer Variante [34]. Die Sen-
sitivität einer Sequenzierung zur Detektion hängt daher
                                                               17. Statement: Für eine eindeutige
auch von der Molekülmenge an der entsprechenden Po-                Zuordnung von konstitutionellen und
sition ab. Dieser Aspekt spielt bei der Auswahl der geeig-         somatischen Varianten bei einer
neten Methode wie auch bei der Analyse und Interpreta-             tumorgenetischen Diagnostik von
tion der Ergebnisse eine entscheidende Rolle. Plasma ist           zirkulierender zellfreier DNA („Liquid
gegenüber Serum für die Analyse zu bevorzugen und eine             Biopsy“) ist eine parallele Analyse von
Stabilisierung bzw. Konservierung der cfDNA mittels spe-
                                                                   nicht-Tumor-DNA erforderlich
zieller Sammelröhrchen ist notwendig [45, 46]. Zu vermei-
den ist eine präanalytisch bedingte Dilution der ctDNA-        Kommentar: Im Gegensatz zur DNA aus Tumorgewebe,
Fraktion durch DNA lysierter Lymphozyten sowie eine De-        in dem die Tumorzellen zumeist durch eine Dissektion
gradation der cfDNA bzw. ctDNA [47]. Temperaturschwan-         angereichert werden, ist der Anteil der vom Tumor stam-
kungen und Erschütterungen beim Transport können die           menden DNA-Fragmente in der Zirkulation meist deutlich
cfDNA bzw. ctDNA negativ beeinflussen [48]. Das Einfrie-       geringer. Somit wird in einer tumorgenetischen cfDNA-
ren von Plasmaproben kann nur temporär erfolgen, auch          Diagnostik in der Regel zeitgleich prononciert DNA des hä-
bei -80 Grad Kühlung erfolgt eine Degradation von cfDNA
                                                               matopoetischen Systems analysiert. D. h. es kann sich bei
bzw. ctDNA. Diese Aspekte sind bei der Analyse und Be-
                                                               der cfDNA-Diagnostik nachgewiesen pathogenen Varian-
fundinterpretation zu beachten.
                                                               ten in mit einem TRS-assoziierten Gen um eine pathogene
                                                               konstitutionelle Variante handeln [50]. Aus diesen Grün-
                                                               den ist eine eindeutige Zuordnung von konstitutionellen
                                                               und somatischen Varianten im Rahmen einer tumorgene-
                                                               tischen cfDNA-Diagnostik nur durch die parallele Analyse
                                                               von DNA eines nicht tumortragenden Gewebes/von nicht-
                                                               Tumorzellen („nicht-Tumor-DNA“) möglich. Insbesondere
S1-Leitlinie: Tumorgenetik – Diagnostik im Kontext maligner Erkrankungen   | 63

bei der Diagnostik an cfDNA muss die Möglichkeit einer        19. Statement: Genetische Varianten sollen
CHIP (s. entsprechendes Statement 12) in Betracht gezo-           nach definierten Nomenklatur-Standards
gen werden.                                                       beschrieben werden
     Bezüglich der Anwendung des GenDG muss bei der
cfDNA-Diagnostik zwischen einer gezielten, eng umschrie-      Kommentar: Um eine Vergleichbarkeit der erhobenen Da-
benen Untersuchung (z. B. MRD-Diagnostik) und einer           ten zu gewährleisten sowie Fehlinterpretationen zu ver-
umfangreichen cf-Diagnostik unterschieden werden. Bei         meiden, sollte die Beschreibung von genetischen Varian-
letzterer sollte ggf. in Abhängigkeit von der klinischen      ten in der tumorgenetischen Diagnostik einer standardi-
Konstellation (siehe oben) eine Aufklärung und eine Ein-      sierten Nomenklatur folgen. Nur so kann eine eindeuti-
willigung nach GenDG erfolgen.                                ge Repräsentation von genetischen Daten in einschlägi-
                                                              gen klinisch-genetischen Datenbanken wie z. B. ClinVar
                                                              erreicht werden. Eine Beschreibung von genetischen Vari-
18. Statement: Die Nennung definierter                        anten sollte somit nach den Empfehlungen der Human Ge-
    präanalytischer und analytischer                          nome Variation Society (HGVS) [51] bzw. dem Internatio-
    Testparameter soll Bestandteil des                        nal Standard for Human Cytogenetic Nomenclature (ISCN)
    diagnostischen Befundberichtes sein                       [52] erfolgen. Eine alleinige Benennung von Varianten mit
                                                              althergebrachten, aber nicht eindeutigen Bezeichnungen,
Kommentar: Der diagnostische Befund soll Parameter be-        z. B. auf Proteinebene („BRAF V600E“), soll vermieden
inhalten, die die diagnostische Konstellation einordnen       werden. Ebenso ist für eine eindeutige Variantenbeschrei-
und Rückschlüsse sowohl auf die klinische Wertigkeit der      bung neben dem Gen-Namen immer der Bezug zu ei-
identifizierten Veränderungen als auch über die Aussage-      nem vollständigen (d. h. versionierten) Referenztranskript
kraft der durchgeführten Diagnostik zulässt. Sowohl der       (z. B. NM...) oder einer Locus Reference Genomic (LRG)-
Tumortyp als auch der Tumorzellgehalt des untersuchten        Sequenz notwendig. Für eine nicht transkriptabhängige
Tumorareals sollen berichtet werden. Darüber hinaus soll-     Variantenbeschreibung sollte möglichst auch eine (zusätz-
ten das verwendete Sequenziergerät, Sequenziertechnolo-       liche) Variantenbeschreibung auf genomischer Ebene er-
gie bzw. -methode, das eingesetzte Genpanel bzw. Kit, An-     folgen.
gaben zur Quantität und Qualität der zu analysierenden
Nukleinsäuren, Qualität der Sequenzierbibliothek sowie,
soweit zutreffend, Art, Typ und Version einer verwende-       20. Statement: Bei paralleler Untersuchung
ten Bioinformatikpipeline zur Analyse der Daten genannt
                                                                  an Tumor- und Normalproben muss
werden. Die Beschreibung von genetischen Varianten soll-
te die Protein- und cDNA-Annotationen, die Variant Allel
                                                                  sichergestellt werden, dass relevante
Fraktion (VAF) und Beurteilung der detektierten Variante          (potentiell) erbliche Varianten nicht
(nach humangenetischen oder molekularpathologischen               pauschal „maskiert“ werden
Kriterien, siehe Statements 19 und 22) beinhalten. Der Be-
                                                              Kommentar: Gegenüber der alleinigen Testung von DNA
fund sollte auch Daten (insbesondere Medianwerte) zur
vertikalen Coverage (Lesetiefe) und horizontalen Coverage     aus Tumormaterial bietet die kombinierte Analyse von
darstellen.                                                   DNA aus Tumor- und Normalzellen nicht nur eine ver-
     In der humangenetischen Diagnostik, einschließlich       besserte Detektion relevanter somatischer Varianten [53],
hämatologischer Neoplasien, sind die Vorgaben der S2k-        sondern prinzipiell auch die Möglichkeit, erbliche Varian-
Leitlinie „Humangenetische Diagnostik und Beratung“           ten zu identifizieren. Werden jedoch zur leichteren Unter-
(medgen 30 (2018) 469-522) sowie der S1-Leitlinie „Mole-      scheidung, ob es sich um eine rein somatische Variante
kulargenetische Diagnostik mit Hochdurchsatz-Verfahren        handelt, die Variantendaten aus der Normalprobe von de-
der Keimbahn, beispielsweise mit Next-Generation Se-          nen aus der Tumorprobe subtrahiert („Maskierung“ erbli-
quencing“ (medgen 30 (2018) 278-92) zu berücksichtigen.       cher Varianten), kann dies zum unbemerkten Ausschluss
                                                              einer erblichen Variante mit erheblicher klinischer (z. B.
                                                              therapeutischer) Relevanz führen. Eine solche bioinfor-
                                                              matorische Auswertestrategie soll daher nicht angewen-
                                                              det werden. Das durchführende Labor soll im Befund ein-
                                                              deutig nachvollziehbar berichten, welche bioinformatori-
                                                              sche Auswertestrategie verfolgt wurde.
64 | S1-Leitlinie: Tumorgenetik – Diagnostik im Kontext maligner Erkrankungen

21. Statement: Die Begriffe „Mutation“ bzw.                    Bewertungsschema zurzeit als Standard in Deutschland
    „Polymorphismus“ sollen nicht zur                          angesehen werden. Darüber hinaus existieren zwei weite-
    Beschreibung von Varianten in                              re große Klassifikationsschemata: Die von der European
                                                               Society for Medical Oncology (ESMO) entworfenen „ES-
    tumorgenetischen Befunden verwendet
                                                               CAT“-Klassifikation („ESMO scale for clinical actionabili-
    werden                                                     ty of molecular targets“) teilt somatische Tumorvarianten
Kommentar: Eine Abweichung von der Referenzsequenz             hinsichtlich ihrer klinischen Relevanz in 6 Stufen ein [58].
soll nach den Empfehlungen der HGVS [51] in einem tu-          Die Konsensusempfehlung der AMP, des ACMG, der Ame-
morgenetischen Befund nicht mit den Begriffen „Mutati-         rican Society of Clinical Oncology (ASCO) und des College
on“, „mutiert“ oder „Polymorphismus“ bezeichnet wer-           of American Pathologists (CAP) sieht ebenfalls eine mehr-
                                                               stufige Einteilung vor [59]; ist aber z. B. wegen der spe-
den. Diese Begriffe sind nicht eindeutig definiert und sol-
                                                               zifischen Ausrichtung auf den FDA-Zulassungsstatus nur
len nicht mehr verwendet werden.
                                                               bedingt im europäischen Raum einsetzbar und wird der-
                                                               zeit überarbeitet. Eine perspektivische Harmonisierung
                                                               der verschiedenen Klassifikationsschemata ist notwen-
22. Statement: In der tumorgenetischen
                                                               dig.
    Diagnostik soll die biologische und                             Das Bewertungsschema für humangenetisch relevan-
    klinische Bewertung genetischer                            te Sequenzvarianten des American College of Medical
    Varianten mittels eines konsentierten                      Genetics and Genomics (ACMG) und der Association for
    Standards erfolgen                                         Molecular Pathology (AMP) [60] gruppiert Varianten in ein
                                                               fünfstufiges Schema (benigne bzw. wahrscheinlich benig-
Kommentar: Die korrekte Interpretation und Klassifika-         ne Variante, Variante unklarer Signifikanz, wahrschein-
tion genetischer Varianten ist ein mitunter äußerst kom-       lich pathogene bzw. pathogene Variante). Dieses Schema
plexer Vorgang, der einer umfassenden klinischen und           wird kontinuierlich weiterentwickelt und aktualisiert und
genetisch-biologischen Expertise bedarf. Wie die moleku-       wurde ausdrücklich für die Bewertung von hoch penetran-
lare und klinische Bewertung einer genetischen Varian-         ten, erblichen Varianten entworfen. Es eignet sich daher
te zustande kommt, soll transparent und nachvollziehbar        nur bedingt für die Interpretation von somatischen Varian-
sein. Dies ist am besten durch die Verwendung von stan-        ten in der Tumordiagnostik. Das Schema ist jedoch spezi-
dardisierten Bewertungsschemata möglich.                       ell für die therapeutische Bewertung (Ansprechen auf sog.
     Für die Bewertung detektierter somatischer Varian-        PARP-Inhibitoren) von Varianten in Genen, die für die ho-
ten sind zwei Teilschritte notwendig: i) eine funktionell-     mologe Rekombinationsreparatur (HRR) kodieren, mit ge-
biologische Bewertung (Onkogenitätsbewertung) und              ring modifizierter Nomenklatur (Verwendung des Begriffs
ii) eine klinische Varianteninterpretation. Für die            deletär statt pathogen) adaptiert worden und schließt dort
funktionell-biologische Bewertung, die die funktionellen       auch somatische Varianten ein (bspw. PROFOUND-Studie
Implikationen (bspw.: aktivierend, deletär) beschreibt,        [61]). Ferner ist zu beachten, dass zunehmend genspezi-
wird derzeit ein Konsensuspapier des VICC Konsortiums          fische Adaptionen des ACMG/AMP-Regelwerks publiziert
(cancervariants.org) erstellt. Für die Varianteninterpreta-    werden, die auf die genspezifischen Besonderheiten bei
tion im Hinblick auf Ihren therapeutischen Nutzen wur-         der Variantenbewertung gezielt eingehen (z. B. [62, 63]).
den für die somatische Tumordiagnostik eigene Klassifi-             Im Befundbericht soll dokumentiert sein, welches Be-
kationen [54] entwickelt. Diese Klassifikationen ermögli-      wertungsschema verwendet wurde und welche Kriterien
chen die Bewertung der Evidenz für die medikamentös-           des jeweiligen Bewertungsschemas zur entsprechenden
therapeutische Relevanz einer Variante. Da die Relevanz        Klassifizierung geführt haben. Die evidenzbasierte Bewer-
und der damit verbundene Evidenzgrad sich auf klinische        tungsgrundlage für die jeweilige Variantenklassifikation
Studien gründen, sind diese einem stetigem Wandel un-          sollte mitdokumentiert werden.
terworfen. Am National Center for Tumor Diseases (NCT)
in Heidelberg wurde 2015 eine Klassifikation entwickelt,
um Biomarker hinsichtlich der klinischen Relevanz zu be-
werten [55], die sich in der Praxis bewährt hat [56, 57].
In Deutschland wird an vielen Zentren und in Netzwerk-
strukturen (bspw. DKTK-MASTER, NNGM, ZPM, DNPM)
die Klassifikation des NCT verwendet; daher kann dieses
S1-Leitlinie: Tumorgenetik – Diagnostik im Kontext maligner Erkrankungen    | 65

23. Statement: Bei allen umfangreichen        25. Statement: Bei umfangreichen
    tumorgenetischen Untersuchungen an            tumorgenetischen Untersuchungen ist
    Tumormaterial sollten potentiell erbliche     eine interdisziplinäre Bewertung der
    Varianten, die mit einem TRS assoziiert       Ergebnisse anzustreben
    sein könnten, berichtet werden
                                                                Kommentar: Die Beurteilung komplexer Sequenzdaten
Kommentar: Wird eine genetische Analyse ausschließ-             mit einem unter Umständen hohen Anteil von potenti-
lich an Tumor-DNA durchgeführt, ist eine Identifikation         ell medizinisch relevanten Varianten erfordert eine um-
oder ein Ausschluss von erblichen Varianten nicht mög-          fassende Fachexpertise, die den gesamten diagnostischen
lich [21].                                                      Prozess von der Präanalytik über die Sequenzierung bis
     Die ESMO empfiehlt, eine Auswertung auf mögliche           hin zur bioinformatischen Analyse, Befunderstellung und
erbliche, mit einem TRS assoziierte Veränderungen – so          Diskussion in einem (molekularen) Tumorboard umfasst.
der Patient über eine solche Untersuchung aufgeklärt wur-       Dies schließt auch den Umgang mit Datenbanken und bio-
de und damit einverstanden ist – bei allen umfangreichen        mathematischen Prädiktionsmodellen ein. Die klinische
tumorgenetischen Untersuchungen routinemäßig durch-             Interpretation von konstitutionellen und somatischen Va-
zuführen [12]. Als (wahrscheinlich) pathogen klassifizier-      rianten sollte je nach klinischer Konstellation in enger
te Varianten in sogenannten „High Actionability Cancer          Zusammenarbeit zwischen Onkologen, Pathologen, Na-
Susceptibility Genes“ sollen demnach unter Berücksich-          turwissenschaftlern, Bioinformatikern, Humangenetikern
tigung der Tumorerkrankung, der Varianten-Allelfraktion         und anderen Fachvertretern (entsprechend der Tumor-
und des Erkrankungsalters ggf. als potentiell erbliche Va-      boards) interdisziplinär erfolgen. Der Einschluss in pro-
rianten berichtet werden [12]. Eine Keimbahntestung in          spektive klinische Studien ist anzustreben.
geeignetem Material kann dann erfolgen. Die Empfehlun-
gen beziehen sich auf häufige Tumorerkrankungen. Hier-
bei handelt es sich um einen Kompromiss, um den Auf-
wand einer Auswertung auf ein TRS auch bei hoher Pro-
                                                                Quellen/Literaturangaben
benzahl durchführen zu können.                                  [1]   The Cancer Genome Atlas Research Network. Integrated
     Alle Institutionen, die umfangreiche tumorgenetische             genomic analyses of ovarian carcinoma. Nature.
Untersuchungen durchführen, sollten über eine schrift-                2011;474:609–15.
lich niedergelegte Verfahrensanweisung verfügen, in dem         [2]   Pennington KP, Walsh T, Harrell MI, Lee MK, Pennil CC,
                                                                      Rendi MH, Thornton A, Norquist BM, Casadei S, Nord AS
das entsprechende Vorgehen dargelegt wird. Eine Harmo-
                                                                      et al. Germline and somatic mutations in homologous
nisierung, z. B. durch Empfehlungen von nationalen und                recombination genes predict platinum response and survival
internationalen Fachgesellschaften, ist anzustreben.                  in ovarian, fallopian tube, and peritoneal carcinomas. Clin
                                                                      Cancer Res. 2014;20:764–75.
                                                                [3]   Schrader KA, Cheng DT, Joseph V, Prasad M, Walsh M, Zehir A,
24. Statement: Die Ergebnisse von                                     Ni A, Thomas T, Benayed R, Ashraf A et al. Germline Variants in
                                                                      Targeted Tumor Sequencing Using Matched Normal DNA. JAMA
    Variantenbewertungen sollten in                                   Oncol. 2016;2:104–11.
    öffentlichen Datenbanken abgelegt                           [4]   Carlo MI, Mukherjee S, Mandelker D et al. Prevalence
    werden                                                            of germline mutations in cancer susceptibility genes in
                                                                      patients with advanced renal cell carcinoma. JAMA Oncol.
Kommentar: Für die Variantenbeurteilung in der tumor-                 2018;4(9):1228–35.
genetischen Diagnostik ist ein übergreifender, populati-        [5]   Hu C, Hart SN, Polley EC et al. Association between inherited
onsbezogener Vergleich mit der „Normalpopulation“ es-                 germline mutations in cancer predisposition genes and risk of
                                                                      pancreatic cancer. JAMA J Am Med Assoc. 2018;319:2401–9.
sentiell für die Einordnung einer seltenen Variante. Daher
                                                                [6]   Mandelker D, Zhang L, Kemel Y, Stadler ZK, Joseph V, Zehir A,
sollten die Varianten – unter Beachtung (inter-)nationa-              Pradhan N, Arnold A, Walsh MF, Li Y et al. Mutation Detection
ler (z. B. DSGVO) und lokaler Datenschutzregelungen und               in Patients With Advanced Cancer by Universal Sequencing
eindeutig geregelter Zugriffsrechte – in öffentlichen Daten-          of Cancer-Related Genes in Tumor and Normal DNA vs
banken gespeichert werden. Im Umkehrschluss sollte da-                Guideline-Based Germline Testing. JAMA J Am Med Assoc.
                                                                      2017;318:825–35.
her jedes Labor, das auf die öffentlich gespeicherten Da-
                                                                [7]   Pritchard CC, Mateo J, Walsh MF, De Sarkar N, Abida W, Beltran
ten zugreifen möchte, die selbst generierten Daten voll-              H, Garofalo A, Gulati R, Carreira S, Eeles R et al. Inherited
ständig in den entsprechenden öffentlichen Datenbanken                DNA-Repair Gene Mutations in Men with Metastatic Prostate
(z. B. ClinVar-Datenbank) ablegen.                                    Cancer. N Engl J Med. 2016;375:443–53.
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