Schau, Schneee Natascha Denner

Die Seite wird erstellt Yves Unger
 
WEITER LESEN
Natascha Denner
   Schau, Schneee

D
         er weiße Keramikkranz umkreist die schwarze                ter: Schau, Schnee! Er kennt den Staub, die Hitze, den Sand,
         Flüssigkeit, schwarz auf weiß, schwarz auf weiß            eine Hitze, wenn Wasser auf den Kachelboden gespült
         dreht sich der Reim gleich einer kaputten stot-            wird und verdampft, den Schnee kennt er nicht. Dass
ternden Schallplatte in meinem Kopf. Ich stelle eine                man so staunen kann… Schnee. Erschöpft sinke ich in
schneeweiße Tasse mit Kaffee auf die Fensterbank.                   den Schlaf, während der Fensterblick im Schnee versinkt,
Draußen schubsen sich zwei kleine Kinder, die Ranzen                der Schnee den morgigen, schon heutigen Tag bestreikt.
zu groß für die schmächtigen Schultern, Erstklässler war-           Ob der Bus pünktlich kommt...? Eine Erinnerung, fast
ten im grauen Morgen auf den Bus. Eine ältere Frau mit              vergessen, taut schneegleich auf.
Regenkappe setzt langsam einen Fuß vor den anderen,                     Den weißgekränzten Kaffee stelle ich in die Mikrowel-
stellt sich unter die gläserne Überdachung der Haltestel-           le. Die Tasse, beleuchtet vom künstlichen Licht, dreht sich,
le. Der Bus bremst, verschluckt die Wartenden und fährt             und der Schnee verdichtet sich großflockig zur Schnee-
wieder.                                                             kugel. Ich bin vom Schnee eingekesselt. Stecke im Kör-
    Eine Schlange kriecht, nähert sich mir, zischt, wedelt          per eines Schneemanns, ein inneres Organ im Schnee-
mit dem Schwanz, greife sie, sie müsste rauhhh und                  mannskörper, bin ich das Herz? Und wenn ich mich stre-
schwer sein, meine Hände greifen nach Luft. Hat sich die            cke und aus dem Schneemann schlüpfe, wie das Schnee-
Schlange verpuppt? Ein Schmetterling schlüpft aus der               mädchen aus dem Märchen. So leicht komme ich nicht
weißlich glitschigen Larve heraus, flattert mit sanften             davon – schon durch den schleimigen Kanal an das grelle
Flügeln im kleinen Raum, der Raum wird immer kleiner                Licht – noch stumm und taub blau angelaufen. Menschen
und der Schmetterschlag rasender, ein Flügel schon ge-              stehen um mich herum in weißen Kitteln. Erwartet wird
rissen, ich öffne das Fenster. Der Schmetterling flattert           das Geschrei – streng und unzufrieden schaut die Frau
frei, verschwindet gegen den leuchtenden Mond.                      in Gummihandschuhen mich an, rote Flüssigkeit tropft
    Ich muss mich konzentrieren auf Sachliches, Schlan-             von den Händen auf den Kachelboden. Ich schreie. Jetzt
gen verpuppen sich nicht, auch die weiß glitschige Lar-             werde ich vermessen, die Eckdaten in eine Kartei ein-
ve am Boden ist nicht mehr da. Auf Sachliches, greife               getragen, weggetragen, in einen Metallkasten gelegt, schla-
nach dem Lehrbuch wie ein Ertrinkender, Wasser einat-               fe fast ein, werde aufgeschreckt durch dumpfen Schlag
mend, nach dem Rettungsring,                                        – ein Stempel von einer kräftigen Hand: Auf der weißen
     Strafrecht. Besonderer Teil Tötungsdelikte: Auch eine schla-   Kartei in blau und Großbuchstaben steht: bestanden.
fende Person ist arglos, wenn sie die Arglosigkeit mit in den           Versuche die Mordmerkmale in Erinnerung zu rufen,
Schlaf nimmt. Auch eine schlafende Person... (Rspr. des             Totschlag und Mord in Gedanken abzugrenzen. Arglos
Bundesgerichtshofs)                                                 wird man in den Schlaf gewogen. Der Satz ist längst falsch
    Die Buchstaben zur Worten formen, die Buchstaben                zitiert.
entgleiten, lassen sich nicht bändigen.                                 Das Schneegestöber fegt mich fort, höre sein Heulen
    Brühe mir Filterkaffee, Wasser versickert im Filtert-           nicht, fühle nicht die schneidende Kälte, mit fünf Sinnen
richter, übrig bleibt der schwarze Satz. Die Hände, die die         in den Schnee getaucht, der Schnee ist warm und aus
Tasse halten, die die Tasse für mich auf den Nachttisch             Watte.
stellen und nicht da sind. Vergrabe mich in die weiche De-              Die Regentropfen klopfen dunkelgrau gegen die Fens-
cke, Durchzug in den Gehirnwindungen, spült den letz-               terscheibe, ein Tropfen reiht sich ein in einen Bach – Re-
ten verlorenen Gedanken raus, ich bin ein Wasserge-                 genflusskarte am Fenster. Eisblumen, von meinem eisi-
schöpf, ohne Stimmbänder schwimme ich stumm.                        gen Atem gefriert der Regen zu Eisblumen. Die Schnee-
    Die Schaumschicht schwimmt, die Kaffeehaut. Neh-                flocken federn in meinem Mund, hüllen meine Zunge
me den Zucker, reibe die Zuckerkörner zwischen Dau-                 und Zähne ein. Die Stimmbänder versagen. Mit zuge-
men und Zeigefinger, lasse Schneeflocken in der schwar-             schnürtem Atem das Papier mit Worten pflastern. Wort-
zen Flüssigkeit versinken. Ich bin Urheberin der Schnee-            pflastersteine. Das Blatt vor mir weiß wie der Schnee.
erzeugung. Ein Wort mit drei E in einem russischen Lied-            Noch bevor ich mit blauer Tinte die Buchstaben kritzle,
gedicht, endet mit drei E:                    (langhalsig). Drei    sind sie durchgestrichen, das Blatt noch weiß und nur
E keine Ausnahmeerscheinung, sie häufen sich. Fahre                 der blaue Verlauf der Tinte an den Händen, sie ätzt die
den Laptop hoch. Der Kaffee auf der Fensterbank kühlt               Zunge.
ab.                                                                     Es ist als ob mein Arm nicht mir gehört, der Arm einer
    Fasil hat das Fenster geöffnet, die Schneeflocken sin-          Fremden. Außerhalb des Körpers begutachte ich mich.
ken leise und langsam. Er schüttelt mich an der Schul-              Streife die Taubheit von mir, atme tief ein, und die Taub-

c                                                                   S T R E C K E N L Æ U F E R                3 1           7
heitstaube flattert weg. Die Kälte und Nässe der Schnee-         am Telefon zu melden hat. Es ist Claire, und Claire bie-
flocke, die zum Tropfen auf der Zunge wird – rufe den            tet an, ganz schlicht was trinken zu gehen. Höre meiner
Schnee stofflich in Erinnerung.                                  Stimme beim Sprechen zu. Dusche, ziehe mich an, um-
    Ich mochte Schnee. Dichte Flocken fallen in die Dun-         klammere den Schlüsselbund, schreibe noch Brot, Milch,
kelheit. Kein Fotograf zur Stelle. Von der Straßenlatern-        Instantkaffee, Klopapier auf einen Zettel und verstaue ihn
e beleuchtet, von oben leuchtet das matte blaue Licht in         in der Hosentasche.
die langsam kreisenden Schneeflocken, nein eher schei-               Fluchtartig verlasse ich diesen Wohnungskasten, mit
nen die Schneeflocken im geworfenen blauen matten                kaffeedurchtränkten Seiten, leeren Joghurtbechern, zer-
Licht. Die Stadt atmet stumm aus dem Auspuff des Trol-           rissenen und geknäulten Blättern. Kaffeetassen stehen
leybusses, er gleitet im Tempo einer Schildkröte und flie-       halb leer, halb voll, wie man es nimmt, in der Wohnung
ßend unter der Schneelast über die festgestampfte Schnee-        verteilt. Es ist ein Schlachtfeld aus Büchern und Müll.
decke, die Reifen mustern den Schnee.

                                                                 D
    Die Bewohner der Holzhäuser – die Gefangenen des                     raußen weht eine leichte Brise angenehm auf die
Winters blicken auf die Schneemauer, sie lässt das Licht                  Haut. Der blaue Fleck breitet sich langsam auf
des kurzen Wintertages nicht in ihre Behausungen.                         dem graubewölkten Himmel aus.
    Schließe und öffne die Augen. Will dem Rauschen                  Kaufe ein, verstaue die Einkäufe im Rucksack, ein Wort
schwarzweißer Bildschirmstörung entkommen. Kristall-             auf dem Einkaufszettel habe ich vergessen, binde den
geformt und schneeflüchtig. Rasple den Schneeklumpen             Rucksack am Gepäckträger fest. Die nassen Laubblätter,
am Reibebrett zu Federn. Worte mit drei E bilden als Aus-        die Bäume, Straßen, Häuser, Passanten, Fahrzeuge plät-
weg? Ich will Stille, vergrabe mich unter der Decke. Der         schern an mir vorbei.
Schnee fällt zum Takt der Regentropfen.                              Erblicke Claire, gehe unsicher aufgelöst in einem ge-
    Dem Zustand des fallenden Schnees eine Formation             schlossenen Kokon aus Schneefedern auf sie zu. Claire lä-
aus Worten gegenüber zu stellen – aber wie beschreibt            chelt. Wir setzen uns, reden, dann wird es still um mich,
man Schnee? Das Blatt zeichenlos lassen, einen schnee-           Claires Lippen bewegen sich, der Sinn der Wörter dringt
weißen DIN-A4-Bogen.                                             nicht zu mir durch. Die Kellnerin bindet die Stühle von
    Die verschneite Nacht aus der Ferne, verflucht und fins-     der Eisenkette frei, langsame weiche Bewegungen in Zeit-
ter. Beschrifte das Blatt mit Wörtern, streiche, falte, reiße,   lupe abgespielt. Claire, Kellnerin, Café zerfallen in klei-
lasse die Papierfetzen auf den Boden schneien. Vergrabe          ne Kaleidoskopgläschen, die sich nicht zu einem geomet-
mich unter die Daunendecke. Piepsen, zuerst leise, dann          risch korrektem Ornament formen, weiter zerfallen, sich
schriller. Die Mikrowelle, warum piepst sie, ich muss sie        überlappen. Versuche zu lächeln. Es gelingt mir die Mün-
angeknipst haben. Überquere das gekachelte Grenzgebiet           zen abzuzählen, bis dann zu sagen. Claires Schatten ver-
zur Kaffeetasse hin, nippe am erhitzten Kaffee.                  schwindet am Hinterhofausgang. Begebe mich zur dicht-
    Darüber kreisen Krähen kreist die fremde Strophe durch       plakatierten Wand, halte mich an Buchstaben fest, reihe
mein Gehirn. Mir fällt nur eine Strophe ein, bewusst, dass       die Großbuchstaben zu einem Wortgebilde aneinander,
das Gedicht in meinem Gedächtnis war, nur irgendwo               während die bunten Bilder entgleiten, verschwimmen,
entschwommen, vielleicht tief vergraben, versuche die            verschwinden.
Wörter zusammenzufinden, das Gedicht zu flicken, aber                Hastig laufe ich zum Fahrrad. Meine Hände zittern.
die Fäden reißen und fremde Wörter einer Mutterspra-             Schließe es auf, trete in die Pedale. Eine Schar Tauben
che – Marionetten ohne Puppenspieler. Mein Gehirn ist            torkelt, flattert weg,siestrecken die Flügel über mir, schat-
abgestürzt.                                                      ten mir Riesenflügel über die Stadt, gleich picken sie Pas-
    Wandle von der Küchenzeile zu den Regalen, beschrif-         santen vom Asphalt auf. Leichte flatternde Berührungen,
te Blätter mit Wörtern, streiche durch, falte, zerreiße, for-    verliere das Gleichgewicht, bremse scharf. Der Rucksack
me die Fetzen zu Knäueln, markiere Sätze in den aufge-           fällt auf den Boden, ein Tetrapack platzt auf, die Milch
schlagenen Büchern, die den Boden mit aufgerissenen              breitet sich grauweiß auf den Pflastersteinen aus. In die-
Mullwunden bedecken. Ich muss die Blätter in Büscheln            ser Pfütze wächst die schwarze Asphaltinsel aus dem
rausgerissen haben. Kreise durch meine funktionale Woh-          halboffenen Gullideckel in die von Filzstiefeln gestampf-
nung, karg an Gegenständen.                                      te Schneedecke. Die alte Frau im Wolltuch streut Hafer-
    Das Netbook summt leise, blinzelt mit Blaulicht, speist      flocken, die scheuen Tauben flattern weg, nur ihr gestat-
Strom, durch Akku am Leben erhalten. Das einzige We-             ten sie näher zu kommen.
sen, mit dem ich kommuniziere. Wie lange ist es schon                Die Klingel trillert in meinen Ohren. Was fängt an?
her? Das Netbook zeigt Dienstag an, gerade war noch              Die Vorführung im Kinotheater Pionier, die Aufführung
Freitag. Leere Joghurtbecher stapeln in der Spüle.               im Theater des jungen Zuschauers, der Unterricht – die
    Schrill läutet es, es ist der Telefonapparat, laufe hin,     zweite Stunde, im Glaskästchen der Plan, die Literatur im
nehme den Hörer ab, will mich versichern, dass ich noch          vierten Stock. Laufe an der Glasvitrine mit blauen Hals-
sprechen kann. Überrascht die eigene Stimme zu hören.            tüchern und Daten zu den Thälmannpionieren. Sitze am
Mich wundert, dass meine Stimme weiß, wie man sich               Tisch mit eingeritzten Kritzeleien, vor mir die leeren Blät-

8            S T R E C K E N L Æ U F E R                 3 1                                                              c
ter, ich soll zum Thema Die Rolle der Persönlichkeit in der     brücker Bahnhof in die alte Fassade verkleidet, rase auf
Geschichte anhand Tolstois ›Krieg und Frieden‹ über Napole-     der x-Achse Richtung Minus zum Bahnhofsgebäude am
on und Kutuzow schreiben. Im Rücken blättert die Far-           Tomsk I Hauptbahnhof. Güterwaggons in einer weiten
be von Tolstoi ab. Er schaut nur noch mit einem Auge,           Entfernung aneinandergereiht, sie kommen auf mich zu,
der bärtige Tolstoizyklop beobachtet mich.                      immer schneller und näher, ich bin im falschen Film,
    Schaue den Köpfen beim Schreiben zu, starre auf die         sitze schon bei der Vorführung der Brüder Lumière, die
Blätter, fürchte mich vor der Literaturunterrichtenden,         Zuschauer rennen panisch Richtung Ausgang, kneife die
will nicht von ihr gelesen werden. Schrill klingelt es, hört    Augen zu, die Güterwaggons verschwinden.
nicht auf. Wo bin ich gerade? Ich kann nicht gleichzeitig           Ich muss heim, taste in meiner Hosentasche nach dem
an zwei Orten sein, läufst du hinter zwei Hasen her, fängst     Schlüsselbund. Ich muss heim, mich dem Schlachtfeld
du keinen, zwei Fliegen mit einer Klappe...                     mit Büchern und Müll stellen, aufräumen,Ordnung schaf-
    Ein Mann, ans Ohr ein Blackberry gepresst, er spricht       fen.
ohne Leitung. Ein Triplett Heranwüchsiger mit Plastik-              Passiere die Brücke.Der Zug dröhnt über die Gleise, dem
tüten lacht, Rosarucksäcke bedruckt mit Totenköpfen,            Geräusch nach ein Güterzug. Ein Mädchen torkelt mir
an den Oberschenkeln baumeln die bunten Plastiktüten.           entgegen. Ein Mercedes saust schnell, rast an ihr vorbei,
Das Gesicht des Blackberrybesitzers rot und erhitzt.Die         sie dreht sich um, die Autos fahren auf sie zu. Sie hebt
Mädchen lachen, mit hellen Stimmen durcheinander, ein           ihren rechten Arm, der Arm senkrecht zum Körper pen-
Satz wechselt den anderen stockend ab, wenn Luft in die         delt zwischen dem Brückendach und der Fahrbahn, ganz
Lungen eingeatmet wird. Die Augen des Blackberrybesit-          leicht nach oben, ganz leicht nach unten. Die Haarsträh-
zers sind gewollt vielleicht ungewollt an die nackten Ober-     ne fällt ihr ins Gesicht, zeichnet eine Linie von der Stirn,
schenkel geheftet.                                              über das linke Auge, an der Nase vorbei, klebt an den
    Eine Mutter am Cafétisch füttert ihr Kind, sie löffelt      Lippen, der Wind entreißt die Haarsträhne, die Haar-
den Brei, führt das Löffelchen in den Kindsmund, das            strähne weht.
Kind dreht sein Köpfchen, die Mutter löst langsam und               Das Mädchen ist schlank, im schwarzen Trägertop,
sanft den Brei aus verfilztem Haarflaum.                        Röhrenjeans – Streichholzbeine stecken in den Stiefeln.
    Eine alterslose Frau sitzt unter der Holzspitze der Frei-   Sie ist zu jung, für die Witterung zu leicht bekleidet. Sie
treppe mit schöngespitztem Holzstock,das schwarze Kopf-         schreit Nehmt mich bitte mit!, der Lärm verschluckt ihre Lau-
tuch im Nacken zusammengebunden,derfauchende Stock              te. Sie lehnt sich nach vorne, ein Weizenhalm im Wind.
vor meiner Nasenspitze, langsam bewegt sich der Holz-           Ein Volkswagen bremst ab, weicht nach rechts aus. Fas-
stock und ich flattere wie Finist heller Falke davon. Ich       se das Mädchen fest, ziehe sie von der Fahrbahn weg.
versuche Räume zusammenzufügen, die Alte ist in fal-            Das Mädchen schaut mich zuerst überrascht, dann wü-
scher Zeit und falschem Raum der Erinnerungen.                  tend an Was geht Sie das an?, mit einem slawischen Ak-
    Der fauchende Stock, die Freitreppe mit Holzspitze,         zent, und mir fällt kein Wort in keiner Sprache ein, das
das Blackberry, der rote und erhitzte Kopf, die drei Mäd-       Mädchen schubst mich weg, flüchtet. Ihr Gesicht aus der
chen, die bunten Plastiktüten, Rosarucksäcke bespickt           Nähe: der dunkle Haaransatz, wasserstoffperoxidiert, ein
mit Totenköpfen, die Thälmannvitrine, die Schaufenster,         stark geschminktes Gesicht.
Tolstois Zyklopauge, die Mutter, vom Brei verfilzter Haar-          Lehne mich an denBrückenpfeiler,plötzlich erschöpft,
flaum, sie drehen sich um mich, fahre durch einen Tun-          betaste den kalten Beton, will mich aufrichten, weiter-
nel mit Schaufenstern und Klingeltönen. Die Schaufens-          gehen, mein Körper gehorcht mir nicht. Alles fällt in mir
terpuppen strecken sich, gleich brechen sie mit ihren           und um mich zusammen. Durch Schleier von schwarz-
Köpfen das Glas.                                                weißen Bildern nehme ich meinen Körper auf einer Tra-
    Trete in die Pedale. Die Wirklichkeit wackelt in der Iris   ge sitzend wahr, und unter meiner Zunge zerschmilzt
meiner Augen gleich einem 8-mm-Familienfilm, mein               etwas körnig Bitteres. Es ist der Blaumond, so der Mann in
Blick springt von der Erde zum Himmel, graue Erde, grau-        roter aufgeblähter Uniform.
er Himmel. Zweige, an denen Frühlingsblätter flattern,              Ein Frauenkopf über mir redet auf mich ein, ich falle
sich fest an Zweigen festhalten, die Zweige an Ästen, die       in etwas Bodenloses, Weiches und Hermetisches hinein.
Äste am Stamm und der Stamm ist verwurzelt. Es ist

                                                                D
November, wird die alte Eiche auf den Frühling herein-                 as Licht sickert durch die Augenlider. Eine alte
fallen und blühen?                                                     Frau stellt ein Teeglas mit Zucker und Zitrone auf
    Bremse ab,lehne mein Fahrrad an die graue mit schwar-              das Nachtschränkchen, die Zitronenscheibe
zer Schrift verzierte Häuserwand – auf dem braunver-            schwimmt, Fruchtfleischqualle, durchtränkt vom Tee-
kohlten Grauhintergrund mit schwarzer Kohle – Stadt-            wasser, beleuchtet vom Mond, der Löffel wandelt an den
höhlenmalereien.                                                Glasrändern, schlägt einen hellen Ton. Die Alte schiebt
    Befinde mich auf der Plus-Achse einer Zeitgerade. Vom       die schweren dunkelgrünen Samtvorhänge, rausch
Saarbrücker Bahnhofsgebäude mit der neuen Fassade               rausch rausch schleppen sich die goldenen Fransen über
strebe ich zum Punkt 0, definiere diesen Punkt als Saar-        den Boden.

c                                                               S T R E C K E N L Æ U F E R                3 1            9
Tomsker Trolleybus. Foto:
                                                                                             Ilya Plekhanov

                                                                                             balanciert er auf Augenhöhe.
                                                                                             Das Tablett auf dem Mittel-
                                                                                             finger und Daumen, den Zei-
                                                                                             gefinger leicht zur Seite ge-
                                                                                             streckt. Vielleicht kullerte ei-
                                                                                             ne Murmel über den Parkett-
                                                                                             boden, vielleicht stellte ihm
                                                                                             jemand ein Bein, hat die An-
                                                                                             nuschka das Öl verschüttet
                                                                                             oder wars doch die Bananen-
                                                                                             schale? Ist der Kellner hinge-
                                                                                             fallen? Oder balanciert er
                                                                                             noch mit dem Tablett überm
                                                                                             Kopf, die lackierten Schuhe
                                                                                             machen wirre Schritte auf
                                                                                             dem gewachsten Parkettbo-
                                                                                             den.
                                                                                                 Die Schuhe, das Parkett,
                                                                                             der Champagner, die Gläser
    Sie setzt sich an das Kopfende, die Stricknadeln pen-       glänzen im Licht der Kerze, der Glühbirne, der Energie-
deln schnell und routiniert durch die Luft. Sie fängt zu        sparlampe? Erntet der Kellner Gelächter? Oder sitzt ei-
erzählen an, ein Kätzchen schmiegt sich an die Filzstie-        ner im Saal, knabbert an der Hähnchenkeule, kaut am
fel, der Knäuel dreht sich im Topf, der Topf schaukelt...       zähen Fleisch, eine Träne kullert ihm an der Nasenwand,
Es war einmal...                                                die Wange, die Oberlippe, den Kinn, den Hals entlang,
    Eine dürre Frau kommt rein, zieht unbarmherzig die          versickert auf dem schneeweißen Kragen zum Fleck aus
Vorhänge zur Seite Frühstück ist fertig, stehen sie auf und     Fett und Salz. Und kullert die Träne in Anbetracht der
machen Sie sich fertig, schneidet ihre Stimme die Ohren.        wirren Schritte auf dem Parkettboden? Oder ist die Hähn-
Draußen rollen die Räder. Namen werden ausgerufen,              chenkeule zu scharf? Oder verschluckt er sich, weil er
auch meinen glaube ich gehört zu haben.                         gierig und hastig an der Hähnchenkeule knabbert und
    Streife die Decke bis zu den Kniegelenken, gleite mit       einen Hustenreiz bekommt, der das Kullern der Träne
den Fußsohlen über das Laken, strecke die Beine wieder          zur Folge hat.Im Augenblick glänzen die Gläser, das Par-
und ziehe die Decke bis zum Kinn. Ich will Geräusche            kett, der Schuhlack, das Hähnchenfett im Licht der Ker-
und Licht gedämpft durch die Decke auf Abstand halten,          ze, der Glühbirne, der Energiesparlampe. Und später an-
ungestört von der schneidenden Frauenstimme, dem lang-          gesichts des Glühbirnenverbots... Soll ich die Birne aus-
samen, leisen Erzählfluss lauschen. Die alte Erzählerin ist     sparen?
nicht mehr da, stattdessen summt eine Fliege an der De-             Die Fliege brummt, schlägt mit Flügeln gegen die De-
cke, schlägt mit ihren Flügelchen gegen den Stuck. Ob es        cke, verwandelt sich tigerenterisch in die summende Hum-
die Geschichten gab? Ich beneide die Erzählerin um ihre         mel.
Mythen. Aber meine Sprache ist verstimmt wie ein altes              Kneife die Augen zu, versuche das Volumen eines Wür-
Klavier, wie stimmt man Sprache?                                fels auszurechnen. Formen und Zahlen als Ordnungs-
    Hat die Erzählerin erzählt oder der Katervagabund?          kraft. Mit der Kantenlänge 1 ist die Aufgabe lösbar.
    Die Amme erzählt dem Dichter,                                   Falte die Decke, lege die Arme auf den gelbweiß ge-
    der Dichter legt die Worte in den Katermund.                streiften Bezug, zwinge mich aus dem Bett. Schaue aus
    Dichte Schneeflocken fallen, fallen und fallen, decken      dem Fenster auf den Parkplatz. Ein Auto parkt ein, eine
zu, die Überdachung, unter der zwei Raucher frieren, de-        dickere Frau, Plastikkorb in der Hand, steigt vom Beifah-
cken sie, die Holzbänke, die Erde, die Bäume, auf allem         rersitz aus. Draußen ist es anscheinend möglich, Körbe
liegt der Schnee, legt sich still. Sanft fallen die Schnee-     mit Kuchen, Zigaretten und Getränken zu tragen.
federn.                                                             Setze mich auf den Stuhl, sitze eine Weile gedanken-
    Nicht, dass Frau Holle mühsam die Decke klopfte, zwei       los da. Zwinge mich unter die Dusche, lasse das heiße
Engelskinder schlachteten sich mit Kissen. Der Kissen-          Wasser über mich laufen. Das schäumende Wasser ver-
bezug zerriss, die Schneefedern befreit formierten sich         sickert im Abfluss. Schaue auf die sprießenden Haare an
in der Dunkelheit zu Schneeschwaden, am Rande der               den Beinen und unter der Achsel, der Rasierer wurde mir
Schneekugel lösten sich Schneeklumpen, zerteilten sich          abgenommen, erinnere ich mich dunkel, weiß aber nicht
so lange, bis die Schneefedern langsam in alle Richtun-         mehr den Grund. Der Spiegel ist vom Dampf beschlagen.
gen auseinandertrieben.                                         Trockne mich ab, die Tür ist sperrangelweit offen. War-
    Die Fliege mit Flügeln, der Kellner mit Fliege und Frack,   te bis die heiße Luft entweicht, traue mich nicht in den
sein Tablett mit Sekt, vielleicht Champagnergläsern?,           Spiegel zu schauen, so dass das Warten, bis die kühle

10          S T R E C K E N L Æ U F E R                 3 1                                                              c
Luft den Spiegel vom Dampf befreit, irgendwie vergeb-         wörter in Gedächtnis speicherte, Wasch- und Spülma-
lich ist.                                                     schine bediente, Steuererklärungen abgab, eine Fahrkar-
    Traue mich raus über die Schwelle des Zimmers, gehe       te löste, mit Bussen fuhr, beim Busfahren wusste, in wel-
ins Raucherzimmer, es ist leer. Auf dem Tisch liegen bun-     che Richtung, welche Linie und an welcher Haltestelle
te Zeitschriften, in denen ich eine Weile ziellos blättere,   man aussteigen sollte, ein Ziel hatte und verfolgte, zumindest
ohne den Inhalt wahrzunehmen. Auf der Fensterbank             den Anschein erweckte ein Ziel zu haben und zu verfol-
steht der Aschenbecher. Der Geruch, die Zigarettenkip-        gen.
pen, Ekel, Aschenbecher, Rauch, Asche, Rauch, Asche...,           Nehme mir ein Blatt, beobachte die Bewegungen des
wenn es frostig ist, beim Ausatmen Rauchwolken auf die        Mädchens. Das Mädchen ist dünn, ihr Körper versunken
nackte Handfläche, die Haut atmet einen Hauch von Wär-        im Pullover, so wenig Körper, dass mein Blick an dem
me ein. Noch auf der Fensterbank: verwelkte Pflanzen,         haftet, was vom Körper übrig ist. Kaum ein Fleckchen
Kaffeetassen mit Kaffeeresten, das Zeitungspapier ge-         Haut, das unberührt von spitzen Gegenständen und hei-
wellt, die Seiten nun getrocknet, steif und zerfetzt.         ßen Flüssigkeiten geblieben ist.
     Staple die Tassen aufeinander, gehe in die Küche,            Ich bin nicht in der Lage zu malen. Das Malen zieht
stelle die Tassen in die Spüle, lasse das Wasser laufen.      Entscheidungen nach sich, was solle gemalt werden, mit
Das Wasser steigt hoch bis zum Tassenrand, läuft über,        welchen Farben soll ich malen, soll ich Wasserfarben
fließt und spritzt auf den Teller. Lasse die Tassen stehen,   oder Stifte benutzen. Ich lege das Blatt zurück, nehme
nehme mir ein Glas, fülle es mit Leitungswasser. Das          mir ein Puzzle, sortiere die Puzzleteile, dann mische ich
Glas gleitet aus den Händen, zerbricht an der Anrichte,       sie wieder zusammen.
das Wasser breitet sich aus, fließt den Anrichtetisch ent-        Die Ergotherapeutin lächelt: Möchten Sie nicht das Puzz-
lang, zuerst schnell, dann im Sekundentakt, tropf, tropf,     le zusammensetzen. Sie schaffen es bestimmt. – Heute nicht.
tropf.                                                        – Aber morgen werden wir es schaffen. Zuversichtlich, die
    Schaue auf die Scherben und die sich auf dem Boden        Therapeutin.
ausbreitende Pfütze, in der die Tropfen eine Kreiswelle           Ich werde morgen aufstehen, duschen, frühstücken.
bilden. Lehne mich an die Wand und gleite mit dem Rü-         Ordnung schaffen. Ich hatte den Arzt gefragt, ob ich le-
cken über die rauhhe Oberfläche. Ich will aufstehen, aber     sen dürfe.
mein Körper gehorcht mir nicht, die Verbindung ist ge-            Aber natürlich, es ist gut, lesen Sie nur, lesen Sie nur, so-
brochen, will aufstehen, schaue auf meine Hand, will,         lange es nicht Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen sind,
dass meine Hand sich abstützt, die Beine sich strecken,       fügt er hinzu, dabei zwinkert er mit dem linken Auge –
aber meine Hand und die Beine bleiben schlapp, bar der        habe ich mir das Augenzwinkern eingebildet? Der Arzt
Nervenbahnen. Dann Hände, die mich hochziehen, Stim-          erklärt die Krankheit mit Worten wie Botenstoffe, Dopa-
men, die auf mich einreden. Im Schwesterzimmer sitze          minüberschuss, Reizüberflutung, Ideenflut, Wahnvor-
ich auf dem Stuhl, auf meinem Oberarm das Blutdruck-          stellungen, postpsychotische Depression – ich verstehe
gerät, dass sich an meinem Arm zusammenzieht, und             ihn. Die Behandlung, die das Schlucken einer gewissen
durch den Druck gehört der Arm wieder mir.                    Anzahl an chemischen Substanzen voraussetzt. Er hat
    Der Ergotherapieraum ist hell beleuchtet, vom Son-        keine Ahnung von den auf den Boden geschneiten Blät-
nenlicht durchflutet, eher von der Neonröhre im Metall-       terfetzen, aufgeschlagenen, zusammenhanglos markier-
kasten belichtet. Hole mir ein Blatt, setze mich. Links       ten und durchgestrichenen Sätzen, dem Chaos aus Wor-
neben mir sitzt ein dünnes Mädchen, malt Zwiebeltür-          ten. Ich nehme mir ein Blatt und schreibe: Morgen, auf-
me, jeden der Türme malt sie mit anderer Farbe. Rechts        stehen, duschen, frühstücken Ordnung.                         c
sitzt ein Mann mit zittrigen Händen, versucht die Kon-
turen einer Katze nachzuzeichnen. Schweißtropfen auf
seiner Stirn, weiß vor Anstrengung. Eine Frau malt Man-
dalas aus, sorgfältig streicht sie über das Muster, erntet
das Lob der Therapeutin, mit dem schön gespitzten Blei-                                 Natascha Denner, geb. 1976 in Tomsk
stift nicht über die schwarze Markierung rausgeraten zu                                 (immerhin im Südwesten, wenn auch Sibi-
sein.                                                                                   riens oder nirgendwo aufm Territorium
    Die Frau sieht frisch aus, an ihren Augen sogar Spu-                                der untergegangenen Sowjetunion), 1994
                                                                                        nach Saarbrücken ausgewandert. Studi-
ren von Eyeliner und an den Wangen Rouge, aber dezent,
                                                                                        um der Rechtswissenschaften. Z. Zt. Studi-
gekonnt, nicht wie die maskengeschminkte barfüßige                                      um der Germanistik und Literaturwissen-
Gestalt mit buntem Wollpullover und dünnem Haar, die                                    schaft an der Universität des Saarlandes,
heult, schreit und manchmal mit einem Lächeln an den                                    freiberuflich tätig in der Bildungsarbeit.
Lippen in der Station umherwandert.                                                     Lesungen auf der Lesebühne im Theater
                                                                                        im Viertel (Saarbrücken) und beim Hel-
    Diese Gestalt kommt mir vor wie außerhalb der Welt,
                                                                                        dentod auf Seite 3 im Saarländischen
die vorgab Wirklichkeit zu sein, in der man Kontoauszü-                                 Künstlerhaus.
ge überprüfte, Staub wischte oder saugte, Briefe öffnete,                               Zum ersten Mal im STRECKENLÆUFER.
auch amtliche, hauptsächlich amtliche, mehrere Pass-                                    Foto: Klaus Behringer
Sie können auch lesen