Schmetterlinge oder Köcherfliegen? Bemerkungen zum Kapitel "De papilionibus" aus der
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Bemerkungen zum Kapitel „De papilionibus“ aus der „Historia succinorum“ 107 Entomologie heute 22 (2010): 107-150 Schmetterlinge oder Köcherfliegen? Bemerkungen zum Kapitel „De papilionibus“ aus der „Historia succinorum“ (1742) des NATHANAEL SENDEL Butterflies or Caddisflies? Comments on the Chapter “De papilionibus” from the “Historia succinorum” (1742) Written by NATHANAEL SENDEL HARTMUT GREVEN & WILFRIED WICHARD Zusammenfassung: NATHANAEL SENDEL (1686 - 1757) gilt als bedeutender Pionier der Bernstein- forschung. Er war offenbar der erste, der in Bernstein eingeschlossene Pflanzen und Tiere beschrieb und diese durch einen Kupferstecher auf 13 Tafeln abbilden ließ. Davon zeugt seine 1742 erschie- nene „Historia succinorum corpora aliena involventium et naturae opere pictorum et caelatorum ex Augustorum I et II cimeliis Dresdae conditis aeri insculptorum“. Dieses Werk ist die erste wissenschaftliche Arbeit aus der königlichen Naturalienkammer zu Dresden, heute „Senckenberg Naturhistorische Sammlun- gen Dresden“. Wir haben daraus das Kapitel „De papilionibus“ gewählt, um beispielhaft die Vorge- hensweise und den Stil SENDELs darzustellen. SENDEL bedient sich des später in der Paläontologie praktizierten „Aktualitätsprinzips“, indem er von der Lebensweise der rezenten verwandten Orga- nismen auf die ihrer fossilen Vertreter schließt. SENDEL schreibt in Latein; seine Diktion ist kompli- ziert und pompös; die verwendeten Metaphern sind nur Gebildeten verständlich. Die Kommentare zur Biologie der „Schmetterlinge“, die er der Beschreibung der Fossilien voranstellt, sind subjektiv und reichen nicht an das Niveau seiner relativ sparsam zitierten Quellen heran. In den vom Kupfer- stecher CHRISTIAN FRIEDRICH BOETIUS (1706 - 1782) angefertigten Abbildungen sind nicht immer alle Einzelheiten zu erkennen, die im Text beschrieben werden. Dass die Bilder insgesamt heutigen Ansprüchen nicht genügen, liegt in erster Linie an der damaligen, noch unzureichenden Präparati- onstechnik und der optischen Auflösung. Von den 16 in Bernstein eingeschlossenen „Schmetterlin- gen“ auf Tafel II sind mindestens zwölf nach ihrem Habitus Köcherfliegen, die SENDEL den Nacht- schmetterlingen zuordnet; das Taxon Trichoptera war damals noch nicht bekannt. Dafür, dass die meisten Stücke Köcherfliegen enthalten, spricht auch, dass diese in Baltischem Bernstein deutlich zahlreicher vertreten sind als Schmetterlinge, die hier weniger als 0,5 % aller tierischen Inklusen ausmachen. Einer der sogenannten Schmetterlinge ist wahrscheinlich eine Schabe und ein weiterer ist nicht zu identifizieren. Nur zwei Einschlüsse sind vielleicht Schmetterlingen (Motten) zuzuordnen. Schlüsselwörter: „Historia succinorum“, Bernstein-Inklusen, Lepidoptera, Trichoptera Summary: NATHANAEL SENDEL (1686 - 1757) is considered as an outstanding pioneer of amber research. Obviously, he was the first, who not only described, but also has made 13 tables of animals and plants included in amber by an engraver. In 1742 his famous “Historia succinorum corpora aliena involventium et naturae opere pictorum et caelatorum ex Augustorum I et II cimeliis Dresdae conditis aeri insculptorum” was published, which appears to be the first scientific publication from the royal natural history collection in Dresden, today “ Senckenberg Naturhistorische Sammlungen Dresden”. We selected the chapter VII “De papilionibus” of this volume to exemplarily show SENDEL’s procedural methods and style. SENDEL uses a kind of „principle of actuality“, when he deduces the habit of fossils from that of their extant putative relatives. SENDEL used Latin in a complex and sesquipedalian diction; his metaphors are understandable only to well-educated people. Notes on the biology of Entomologie heute 22 (2010)
108 HARTMUT GREVEN & WILFRIED WICHARD “butterflies”, which precede the description of the fossils included in amber, are subjective and superficial and do not attain the level of the sparsely cited scientific literature. Pictures engraved by CHRISTIAN FRIEDRICH BOETIUS (1706 - 1782) do not allow identifying all details described in the text. They do not reach up to modern documentation, due to the imperfect preparation techniques and optical resolution at this time. From the 16 “butterflies” shown on plate II and assigned to night- flying lepidopterans by SENDEL, at least 12 are very probably caddisflies as judged from their external appearance. The taxon “Trichoptera” was still unknown at this time. Also the fact that Baltic amber typically contains more caddisflies than butterflies, which latter only represent less than 0.5% of all animal inclusions here, argues for the numerical superiority of caddisflies in SENDEL’s material. One specimen probably represents a cockroach, a further specimen is unidentifiable, and only two amber pieces probably contain a butterfly (moth). Keywords: „Historia succinorum“, amber inclusions, Lepidoptera, Trichoptera 1. Einleitung Schwestern des Phaeton, die aus Trauer über den vom Blitz getroffenen Bruder zu Pap- Die Frage nach der Herkunft des Bernsteins peln verwandelt wurden) Bernstein fließe ist schon in der Antike diskutiert worden. („...lacrimis electrum ... fundere...“; 37, 31), dann Auch der griechische Philosoph ARISTOTELES aber, dass Bernstein in Ligurien ausgegraben (384 v. Chr. - 322 v. Chr.), der „von den Elek- würde (“...effodi in Liguria...“; 37, 33), dass trideninseln im Adriatischen Meer schreibt, rotgelber Bernstein aus dem Harn eines auf denen Pappeln vorkommen, die das elec- männlichen und blasser bzw. weißer Bern- trum (= Bernstein, Verf.) ausschwitzen“ (KÖ- stein aus dem Harn weiblicher Luchse entste- NIG & HOPP 1994, S. 145), hat sich offensicht- he („...fieri ex urina lyncum bestiarum, e maribus lich damit auseinandergesetzt. Die in diesem fulvum et ignneum, e feminis languidius atque can- Zusammenhang wohl aber am häufigsten didum…“; 37, 34), dass Bernstein in Britanni- zitierten antiken Autoren sind der römische en aus Felsen fließe („...in Britannia petris ef- Enzyklopädist GAIUS PLINIUS SECUNDUS MA- fluere...“; 37, 35), eine Ausscheidung des Eis- IOR (PLINIUS der Ältere, etwa 23 - 79) sowie meeres („...esse concreti maris purgamentum...“; der römische Geschichtsschreiber PUBLIUS 37, 35) oder ein Saft der Sonnenstrahlen sei CORNELIUS TACITUS (um 55 - 116). Beide ha- („...solis radiorum sucum intellegi...“; 37, 36) oder ben u.a. durchaus korrekte Vorstellungen von aus Schlamm enstehe („...ex limo gigni...“; 37, der Entstehung und Natur des Bernsteins 38) etc. Schließlich sagt er ab 37, 42-44: „Nasci- wiedergegeben. Wir zitieren hier die wichtig- tur autem defluente medulla pinei generis arbori- sten Sentenzen im Wortlaut, weil man in bus, ut cummis in cerasis, resina in pinis erumpit Büchern über Bernstein zwar oft die Namen umoris abundantia, densatur vigore vel tempore aut der beiden Autoren liest, doch nur selten, was mari, cum ipsum intumescens aestus rapuit ex insu- sie tatsächlich zu diesem Sachverhalt gesagt lis, certe in litora expellitur...“ (Er [der Bern- haben. stein] entsteht aber aus dem herabfließenden PLINIUS wird seiner Rolle als Enzyklopädist Mark von Bäumen aus der Gattung der Fich- gerecht und fasst im 37. Buch seiner „Natu- ten, wie der Gummi bei den Kirsch- ralis Historia“ in den Abschnitten 31-51 den bäumen, das Harz bei den Fichten durch Bernstein, der electron heiße, weil die Sonne Überfluss an [Nahrungs]saft hervorbricht. Er den Namen Elector trage, die unterschiedli- verdichtet sich durch Kälte oder durch die Zeit chen, so auch mythischen Vorstellungen über und durch das Meer, wenn die anschwellen- seine Herkunft zusammen. Er führt eine Viel- de Flut ihn von den Inseln wegführt zahl von Autoren an, die unter anderem der er an die Küsten gespült wird), und dann Meinung sind, dass in den Tränen (der „arboris sucum esse etiam prisci nostri credidere, ob
Bemerkungen zum Kapitel „De papilionibus“ aus der „Historia succinorum“ 109 id sucinum appellantes, pinei autem generis arboris men> ausgeschwitzt werden, so auch auf den esse indicio est pineus in adtritu odor et quod accen- Inseln und in den Ländern des Abendlandes sum taedae modo ac nidore flagrat“ (Auch unsere reichere Wälder und Haine wachsen. Die durch Vorfahren haben geglaubt, dass es der Saft die Strahlen der nahen Sonne hervorgebrach- eines Baumes sei, und nannten ihn deshalb ten Flüssigkeiten fließen in das nächstgelege- Succinum. Der Beweis für Herkunft ne Meer und gelangen durch die Gewalt der von einer Fichte ist der fichtenartige Geruch, Stürme an die gegenüberliegenden Strände... wenn man in reibt, und die Tatsache, dass er, Nähert man den Bernstein dem Feuer, um wenn man ihn anzündet, wie Kienholz seine Natur zu ergründen, brennt er wie Kien- brennt und duftet), und schließlich (37, 46): holz und entwickelt eine schwelende, stark „...liquidum id primo destillare argumento sunt riechende Flamme; wird bald klebrig quaedam intus tralucentia, ut formicae culicesque wie Pech oder Harz). et lacertae, quae adhaesisse musteo non est dubium Die „terrena ... atque etiam volucria animalia“ wer- et inclusa durescente eodem remansisse.“ (Dafür, den bisweilen als „kriechende und sogar flie- dass er zuerst in flüssigem Zustand herab- gende Insekten“ übersetzt (z.B. HARENDZA träufelt, spricht mancherlei, das aus dem In- 1960, S. 41). In Anbetracht dessen, was auch neren hindurchscheint, wie Ameisen, Mücken damals schon an tierischen Einschlüssen be- und Eidechsen, die zweifellos am frischen kannt war – PLINIUS spricht auch von Eidech- hingen und beim Erhärten dessel- sen –, ist dies sicher etwas eng gefasst. ben darin eingeschlossen blieben). Der latei- Eine Zusammenfassung der Geschichte des nische Text stammt aus der zweisprachigen Bernsteins und der Bernsteinforschung ist hier Ausgabe der „Naturalis historia“ von KÖNIG nicht beabsichtigt (s. dazu GANZELEWSKI & & HOPP 1994, die deutsche Übersetzung nur SLOTTA 1996; HINRICHS 2007), es sei lediglich zum Teil. angemerkt, dass die Herkunft des Bernsteins Im 45. Kapitel der „Germania“ des TACITUS auch später noch Anlass zu ganz unterschied- heißt es ähnlich, aber kürzer (Satz 6-8): „su- lichen Spekulationen gegeben hat, die nicht cum tamen arborum esse intellegas, quia terrena die u.a. von PLINIUS und TACITUS vertretene quaedam atque etiam volucria animalia plerumque Meinung favorisierten. Im Jahre 1733 steht interlucent, quae implicata humore mox durescente in ZEDLERs Universal-Lexicon, „dass neuer- materia clauduntur. Fecundiora igitur nemora luco- dings alle mit einander schreiben, der Agstein sque, sicut Orientis secreti, ubi tura balsamaque sey ein Erd-Hartz oder Safft, den das Meer sudantur, ita Occidentis insulis terrisque inesse credi- wegführet, und die Wellen an den Strand des derim, quae vicini solis radiis expressa atque liquen- Königreichs Preussen gejaget, allwo er sich tia in proximum mare labuntur ac vi tempestatum figire und harte werde, so wie ihn man zuse- in adversa litora exundant ... si naturam sucini hen bekomme“ (ZEDLER 1733; Spalte 1395). admoto igne temptes, in modum taedae accenditur Allerdings werden vorsichtshalber in den fol- alitque flammam pinguem et olentem; mox ut in genden Spalten dreierlei Arten von Bernstein picem resinamve lentescit“ (ANDERSON & FUR- unterschieden, und zwar Bernstein, der von NEAUX 1962). (Man kann dennoch erkennen, Baumsäften kommt, von Erdharz oder Erd- dass der Bernstein von den Bäumen stammt, saft sowie von der Fettigkeit der Tiere (ZED- weil meistens mancherlei auf der Erde krie- LER 1733; Spalten 1399 - 1401). Die erste kri- chende und auch fliegende Tiere hindurch- tische „Naturgeschichte“ des Bernsteins und schimmern, die, nachdem sie in die Flüssig- seiner Erforschung ist 1767 in deutscher Spra- keit hineingeraten sind, alsdann in die erstar- che erschienen (BOCK 1767). rende Masse eingeschlossen werden. Ich ver- Was die Entstehung des Bernsteins betrifft, mute daher, dass wie im fernen Morgenland, vertrat SENDEL, von dem im Folgenden die wo Weihrauch und Balsam
110 HARTMUT GREVEN & WILFRIED WICHARD meinte, Bernstein entstehe durch aufsteigen- gusti I. und II, in Kupfer gestochen, verfasst de Dämpfe aus dem Erdinneren in Sedimen- von Nathanael Sendel...), im Folgenden kurz ten in der Nähe des Meeres. Insekten würden „Historia succinorum“ genannt, die mit 13 Ta- nur dann in diese eingeschlossen, wenn sie feln des Kupferstechers Friedrich BOETIUS auf den Boden fielen und in meeresnahe (1706 - 1782) reich bebildert war. Aus dem Spalten und Hohlräume der lehmigen („vena Bernsteinkabinett, das in dem königlichen lutosa“) und holzigen („lignea vena“) Bern- Museum aufbewahrt wurde und nach dem steinadern kröchen (SENDEL 1725, 1726, 1728). Inventar um 1740 etwa 1500 Bernsteine (ohne Einige Jahre später wird der Königsberger die kunstgewerblichen Gegenstände) umfas- Theologe und Historiker FRIEDRICH SAMUEL ste, wählte SENDEL nur die wichtigeren und BOCK (1716 - 1785), in Übereinstimmung mit selteneren Stücke aus (“...ex infinito glebarum einigen der antiken Vorstellungen und den numero, quae in Museo Regio asservantur, potiores Überlegungen des russischen Universalge- et rariores tatummodo esse electas...; SENDEL 1742, lehrten MICHAIL WASSILJEWITSCH LOMONOSSOW S. VIII, Vorwort). (1711 - 1765), für die pflanzliche Herkunft In einer früheren Mitteilung haben wir be- von Bernstein eintreten und im Titel seines reits Aufbau und Gliederung der „Historia Beitrags von „einer neuen wahrscheinlichen succinorum“ vorgestellt, etwas zur Geschichte Erklärung seines Ursprungs“ sprechen (BOCK dieser Veröffentlichung sowie einige Daten 1767). aus dem Leben des Autors zusammengetra- Bernsteine und Bernstein-Inklusen sind seit gen (vgl. auch FISCHER 1939; HINRICHS 2007; langem beliebte Sammelobjekte. Sammler WICHARD & WICHARD 2008) und versucht, im 16.-18. Jahrhunderts waren meistens einige Kapitel daraus zu übersetzen und de- Ärzte und Apotheker, die manchmal auch ren Inhalt kurz zu kommentieren (WICHARD von Berufs wegen – Bernstein wurde auch & GREVEN 2009). als Arznei verwendet – mit Bernstein zu tun SENDEL gliedert sein Werk in drei Teile, von hatten, und Wohlhabende, darunter auch denen der erste umfangreichste die Tiere be- Adlige, die sich dafür interessierten. Be- handelt, die in Bernstein eingeschlossen sind rühmt war die Bernsteinsammlung aus dem („Historia insectorum succino conditorum“). Sei- Dresdener Naturalienkabinett des sächsi- nen Beschreibungen von Inklusen stellt er schen Kurfürsten und Königs von Polen jeweils einige Bemerkungen zur Biologie der AUGUST DES STARKEN (1670 - 1733) und des- rezenten Vertreter der behandelten Tiergrup- sen Sohn FRIEDRICH AUGUST II. (1696 - pe voran. Der Verfasser interpretiert also Bern- 1763) (vgl. FISCHER 1939; HINRICHS 2007; WI- stein-Inklusen aus der unmittelbaren Beob- CHARD & GREVEN 2009). achtung und Kenntnis der lebenden Ver- Über diese umfangreiche, heute aber nicht gleichsobjekte. Dieses Aktualitätsprinzip ist mehr existierende Sammlung erschien im Jah- seit LYELL (1830) in der Paläontologie ein be- re 1742 die erste wissenschaftliche Arbeit aus währtes Verfahren (HOOYKAAS 1963; GLOUD dem Naturalienkabinett (FISCHER 1939; KÜH- 1987; HENNINGSEN 2009; WICHARD et al. 2009). NE et al. 2006) in lateinischer Sprache unter Im Folgenden widmen wir uns dem Kapitel dem Titel „Historia succinorum corpora aliena VII der „Historia succinorum“, in dem es of- involventium et naturae opere pictorum et caelatorum fenbar um „Schmetterlinge“ („De papilioni- ex Augustorum I et II cimeliis Dresdae conditis bus“) geht. Im Gegensatz zu der früheren Mit- aeri insculptorum conscripta a Nathanaele Sende- teilung nähern wir uns dem Text, der Dar- lio..“ (Geschichte der Bernsteine, die fremde stellung und dem Verfasser etwas kritischer. Körper enthalten, teils durch das Wirken der Der Anhang enthält zudem den Versuch ei- Natur gestaltet als auch geschnitzt aus den zu ner sprachlich geglätteten Übersetzung sowie Dresden erbauten Schatzkammern der Au- den lateinischen Wortlaut dieses Kapitels.
Bemerkungen zum Kapitel „De papilionibus“ aus der „Historia succinorum“ 111 2. Wer war NATHANAEL SENDEL? reits choisirt worden“ ist (zitiert nach FISCHER 1939: 218). NATHANAEL SENDEL wird in modernen En- AUGUST DER STARKE hatte den Wittenberger zyklopädien der Geschichte der Biologie nicht Professor für Anatomie und Botanik JOHANN genannt (vgl. JAHN 2000). So stellt sich zwangs- HEINRICH VON HEUCHER (1677-1746) beru- läufig die Frage, ob er nicht bedeutend genug fen, die Sammlungen in Dresden zu ordnen war oder ganz einfach vergessen worden ist. und einer wissenschaftlichen Bearbeitung Ein Porträt von ihm scheint nicht zu existie- zuzuführen. 1730 erstellte HEUCHER einen ren. Einige Daten aus SENDELs Leben seien noch heute vorhandenen Bernstein-Katalog, kurz aufgeführt (für Einzelheiten siehe PAW- „Novum inventarium collectionis succinorum“ über LAK 1995; HINRICHS 2007; WICHARD & WI- die Bernsteinsammlung des Naturalienkabi- CHARD 2008). netts im Dresdner Zwinger. SENDEL wurde 1686 in Elbing an der Ostsee Offenbar hat SENDEL sich aber auch selbst um (heute Polen) geboren, genoss dort eine diese Aufgabe bemüht, denn er schreibt im gründliche Schulausbildung, beendete sein Vorwort der „Historia succinorum“ (SENDEL Medizinstudium in Halle, praktizierte in El- 1742, S. IV ) „Quae felicitas ut nobis contingeret, bing als Arzt und Stadtphysikus und begann partim tacitis votis cupivimus partim verbis expres- dort, sich für Bernstein zu interessieren und simus“ (Dass uns dieses Glück [nämlich die Bernsteineinschlüsse zu sammeln. Er korre- Bernsteine zu untersuchen, Verf.] zuteil wür- spondierte mit Zeitgenossen, die ebenfalls de, haben wir teils insgeheim gewünscht, teils Bernstein sammelten, vor allem mit dem Arzt deutlich gesagt). Das Resultat war die 328 und Naturforscher Johann Philipp BRYNE Seiten umfassende „Historia succinorum“ (Abb. (1680 - 1764). Die rege Korrespondenz der 1), die 1742 in Großfolio mit 13 Kupferta- beiden, überwiegend zum Thema Bernstein, feln erschien (s. Abb. 2) und noch im selben ist in 41 Briefen erhalten geblieben (ROOB & Jahr besprochen wurde (ANONYMUS 1742). HOFF 1988; WICHARD & WICHARD 2008). Diese Besprechung enthält im Wesentlichen Anfang des 18. Jahrhunderts veröffentlichte ein überschwängliches Lob der Sammlung in SENDEL drei Arbeiten über die Entstehung Dresden und ist ansonsten erstaunlich nüch- des Bernsteins und dessen Eigenschaften tern. Sie enthält zum Teil sehr detaillierte (SENDEL 1725, 1726, 1728). Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel, Diese Schriften machten ihn in naturwissen- vor allem der Abschnitte, die von der „Er- schaftlichen Kreisen über Danzig und Elbing zeugung des Agsteins“ handeln, und immer hinaus bekannt und zu einem anerkannten wieder Hinweise darauf, was alles abgebildet Bernsteinforscher. SENDELs Beschäftigung mit worden ist. Über den Autor wird lediglich Bernstein wurde bereits 1723 in der Zeit- gesagt: „Der gelehrte Herr Sendel, welcher vor schrift „Das gelahrte Preuszen“ gewürdigt diesem schon die Historie des Agtsteines (ANONYMUS 1722/23) und in London wer- untersuchet, hat auch dieses Wercks unter- den die „Electrologiae per varia tentamina histori- nommen, und alles beobachtet, was zu meh- ca ac physica continuandae, Teil I-III“ (SENDEL rerer Vollkommenheit desselben gereichen 1725, 1726, 1728) in umfangreichen Auszü- konnte“ (S. 781). Am Ende der Rezension gen in Englisch übersetzt und in der „Acta wird in besonderem Masse die Ausstattung Germanica: or, the Literary Memoirs of Ger- des Buches gewürdigt („Wir müssen noch many“ (1742) veröffentlicht. Es ist daher nur zuletzt bekennen, dass dieses Buch welches folgerichtig, wenn VON HEUCHER (s.u.) bereits uns die Seltenheiten einer königlichen Samm- in einem Brief von 1826 darauf hinweist, dass lung zeiget, auch mit vollkommener Pracht „Herr Sendel in Elbingen, zu Beschreibung erscheinet, und es hat unsere Pressen noch der historiae contentorum Succineorum, be- kein Buch verlassen, welches an Sauberkeit Entomologie heute 22 (2010)
112 HARTMUT GREVEN & WILFRIED WICHARD Abb. 1: Eine der beiden existierenden Titelseiten der „Historia succinorum“. Fig. 1: One of the two existing front pages of the ”Historia succinorum“.
Bemerkungen zum Kapitel „De papilionibus“ aus der „Historia succinorum“ 113 Abb. 2: Tafel II der „Historia succinorum“. Die Bilder 19-34 zeigen die „Schmetterlinge“, die im Kapitel „De papilionibus“ besprochen werden. Fig. 2: Plate II from “Historia succinorum”. The pictures 19-34 show the “butterflies” described in the chapter “De papilionibus”. Entomologie heute 22 (2010)
114 HARTMUT GREVEN & WILFRIED WICHARD des Drucks, Schönheit des Papiers und an- Sprache erschienen Schriften der Naturalien- dern zu der Vollkommenheit eines Werckes kammer erwähnt werden (eine davon ist SEN- gehörigen Eigenschaften, diesem an die Seite DELs „Historia succinorum“), beklagt („Mit dem gesetzt werden könnte“; S. 794-795). lateinischen Werken dieser Art kann nur einer Die Tafeln gehen auf denZeichner, Kupfer- sehr geringen Zahl von Gelehrten gedienet ätzer und Kupferstecher CHRISTIAN FRIEDRICH werden“; ANONYMUS 1755: 755). Nun muss BOETIUS (1706 - 1782) zurück, der damals dieser Vorwurf nicht allzu schwer wiegen, Hofkupferstecher zu Dresden war. Üblich war wenn man bedenkt, dass diese Rezension in wohl damals, dass der Autor die entsprechen- der Zeitschrift „Das Neueste aus der anmu- den Abbildungen gezeichnet und der Kup- thigen Gelehrsamkeit“ abgedruckt ist. Die- ferstecher diese dann gestochen hat. HINRICHS ses Journal wurde von dem Schriftsteller, Dra- (2007) hält es allerdings für denkbar (ohne maturg und Literaturtheoretiker JOHANN dies näher zu begründen), dass BOETIUS je- CHRISTOPH GOTTSCHED (1700 - 1766) heraus- des Stück selbst in die zum Zeichnen güns- gegeben, der als Senior der deutschen Gesell- tigste Lage gebracht hat und dann mit Hilfe schaft in Leipzig für seine Bemühungen um eines Vergrößerungsglases nur das dargestellt die Reform der deutschen Sprache und Lite- hat, was er auch gesehen hat. SENDEL sagt dazu, ratur bekannt war. GOTTSCHED war auch dass er die Bernsteine mit Inklusen in natür- Hauptautor seiner Zeitschriften, so auch der licher Größe in Kupfer habe stechen lassen „Anmuthigen Gelehrsamkeit“, so dass nicht („Insuper glebas, inclusum exhibentes, eadem ma- einmal auszuschließen ist, dass er die Rezen- gnitudine, qua conspiciuntur aeri incidendas curavi- sion selbst geschrieben hat. Schwerer wiegt mus“; Vorwort S. VIII). sicher, dass der einzige zeitgenössische Au- Aber im Kapitel „De papilionibus“ gibt es Pas- tor, den SENDEL zitiert, der entomologisch sagen, die einen Sachverhalt relativ genau be- sehr versierte Sprachforscher, Theologe und schreiben – SENDEL hat ein Vergrößerungs- Altphilologe JOHANN LEONHARD FRISCH (1666 glas benutzt (s. § XX) –; diese Details sind - 1743), dem es ein Leichtes gewesen wäre in aber nicht auf den Bildern zu sehen. So steht Latein zu schreiben, wie viele seiner Schriften z.B. in § 14 über den „Schmetterling“ auf bezeugen, sein umfangreichstes naturwissen- Bild 19, er besitze auf seinen Schultern und schaftliches Werk in deutscher Sprache schrieb am Kopf eine große Menge an Federchen und (s. Abb. 3 unten rechts). Im ersten Band sei- auf den Flügeln Schuppen, und in § XX, in ner von 1721 - 1738 in 13 Teilen erschienenen dem er die beiden „Schmetterlinge“ auf den „Beschreibung von allerley Insekten in Bildern 31 und 32 behandelt, dass er mit „be- Teutschland“ heißt es: „...dann die Lateini- waffnetem Auge“ den eingerollten Rüssel sche, welche bisher in solcher Materie von den habe sehen können. meisten gebraucht worden, ist vielen unbe- quem, sonderlich denen, die in Teutschland 3. Die Sprache der „Historia succinorum“ ohne Latein dergleichen Untersuchungen lie- ben: Geschweige, daß die halb oder ganz SENDEL schreibt (noch) in lateinischer Spra- Griechisch Namen der Gewürme in solchen che und unterscheidet sich damit bereits von Schriften, auch denen, die sonst Latein ver- einigen Zeitgenossen (s.u.). Das wird in ei- stehen einen Eckel machen“ (FRISCH 1730 a , ner 1755 erschienenen ausführlichen Bespre- aus dem Vorbericht, ohne Seitenangabe). chung der Schrift „Kurzer Entwurf der kö- SENDEL schreibt natürlich kein klassisches La- niglichen Naturalienkammer in Dresden“ des tein, das z.B. in den Schriften des römischen Aufsehers dieser Sammlung, des Herrn CHRI- Redners MARCUS TULLIUS CICEROs (107 v. Chr STIAN HEINRICH EILENBURG (1709 - 1771), in - 43 v. Chr.) durch kunstvollen Periodenbau der auch die beiden früheren in lateinischer und Rhythmus besticht. Er ist auch viel we-
Bemerkungen zum Kapitel „De papilionibus“ aus der „Historia succinorum“ 115 niger sachlich und präzise wie beispielsweise Gefährte des Aeneas etwa 17-mal genannt sein Zeitgenosse J. L. FRISCH in seinen kürze- und dabei sechsmal mit dem Attribut „ fi- ren, in lateinischer Sprache verfassten natur- dus“ (= treu“) versehen (HIRZEL 1964). Achat wissenschaftlichen Abhandlungen. SENDELs wird hier zum Sinnbild des treuen und zu- Sätze sind zum Teil von beachtlicher Länge verlässigen Begleiters. Wir haben „fidus Acha- und enthalten zahlreiche Partizipialkonstruk- tes“ mit „zuverlässiger Gewährsmann“ über- tionen, die die Übersetzung erschweren (s. setzt. z.B. Fußnote zu § XVIII; § XIX, zweiter Satz; Im selben Paragraphen heißt es dann eben- § XXI, sechster Satz). Dazu kommt noch der falls auf S. 83: „Haerebit hic, nisi nos omnia fal- häufige Gebrauch von unvollständigen Sät- lunt, vel ipsi Oedipo aqua...“.; „aqua haeret“ ist zen (Ellipsen) (z. B. am Anfang von § XXII). eine Redensart mit der Bedeutung „da ha- Seine Diktion ist für unseren Geschmack, aber pert es“ oder „die Sache gerät ins Stocken“ auch im Vergleich mit anderen Autoren, (eigentlich „hier stockt das Wasser“). SENDEL umständlich, langatmig und pompös. SEN- fügt noch den Oedipus hinzu, welcher der DEL bemüht sich oft krampfhaft um Synony- Sage nach das Rätsel, das die Sphinx jedem me und benutzt Metaphern, die nur dem Ge- vorbeiziehenden Thebaner aufgab, löste und bildeten geläufig sein konnten. Er lässt seine damit Theben von diesem Ungeheuer befrei- Leser nicht im Zweifel darüber, dass er sich te (von RANKE-GRAVES 1964). Seine Fähig- zu diesen zählt; aus seinen Formulierungen keit, alle Rätsel lösen zu können, war bereits wird zudem immer wieder deutlich, dass er in der Antike sprichwörtlich. Bei dem Ko- seine antiken Schriftsteller kennt (s. z.B. § 11). mödiendichter TERENZ (PUBLIUS TERENTIUS Darauf werden wir aber im Folgenden nicht AFER; um 195/190 v. Chr. - 158/59 v. Chr.) näher eingehen. Aus all diesen Gründen ist heißt es in dem Stück „Das Mädchen von der Text der „Historia succinorum“ nicht so Andros (Andra)“: „Non: Davus sum, non Oedi- ohne Weiteres in ein halbwegs verständliches pus“ (Terent. And. 194, siehe SARGEAUNT 1964, Deutsch zu übersetzen (vgl. auch WICHARD S. 22), also „Nein: Davus bin ich, nicht Oedi- & GREVEN 2009). pus [der alle Rätsel lösen könnte]“. Wir ha- Wir wollen den Schreibstil SENDELs an eini- ben die Passage mit „ Hier wird, wenn uns gen Beispielen aus dem Kapitel „De papilioni- nicht alles täuscht, selbst Ödipus Probleme bus“ belegen. Weitere Beispiele wird der Leser haben...“ übersetzt. Ähnlich auch in § XXI leicht finden, wenn er den lateinischen Text „Qualis, utut Oedipo opus habet,si...“. (Wie auch mit der Übersetzung vergleicht. immer eine solche den Oedipus SENDEL verweist in diesem Kapitel achtmal nötig hat, will man...“). auf Abbildungen von Schmetterlingen (s. Geziert und pompös ist der Satz in § 12 (S. §XIV, §XV, §XVI, § VII, §XVIII, §XIX, 83) „Ad quem laborem superandum, cum iam nervi §XX, §XXIII). Siebenmal wählt er ein ande- intendendi sunt, agedum pro virili experiamur, quan- res Verb, um den Leser darauf hinzuweisen tum ferre humeri valeant, quantum recusent.“ (s. Anhang). Im Text finden sich zwei Meta- (Wohlan, lasst uns im Hinblick auf die zu phern, die nur dem Gebildeten verständlich bewältigende Arbeit, wenn schon die Kräfte sein konnten. So schreibt er in § 11 (S. 83): angespannt werden müssen, mannhaft erpro- “Atque ita optime quidem fido praeeunte Achate, ben, wie viel die Schultern zu tragen vermö- laudatissimo Frischio, distinctos papiliones vides.“ gen und wie viel nicht), um einfach zu sagen, Er bezeichnet seinen Zeitgenossen J. L. FRISCH dass er sich anstrengen wird, seiner Aufgabe (s.u.) als „fidus Achates“, d.h. als treuen Achat. gerecht zu werden, und dabei vielleicht an Achates wird in der Aeneis des römischen seine Grenzen gelangen wird. Dichters VERGIL (= PUBLIUS VIRGILIUS MARO; In § 27 (S. 90) leitet er dann mit dem Satz 70 v. Chr. - 19 v. Chr) als bester Freund und „Nos iam iam cantu grillorum allecti, ad contem- Entomologie heute 22 (2010)
116 HARTMUT GREVEN & WILFRIED WICHARD plationem illorum avocamur.”(Jetzt werden wir, THOMAS MUFFET (1553 - 1604), auch MOF- durch den Gesang der Grillen angelockt, zu FETT oder MOUFFETT, ein englischer Arzt und deren Betrachtung abberufen) auf das näch- namhafter Entomologe. Er untersuchte u.a. ste, mit „De Grillis“ überschriebene Kapitel die Anatomie der Seidenraupe und veröffent- über. lichte 1634 in London sein „Insectorum sive minimorum animalium theatrum“ in zwei Bü- 4. Wen zitiert Sendel im Kapitel „De pa- chern, das später auch in englischer Sprache pilionibus“? erschien. JOHN JOHNSTON (1603 - 1675) war ein poly- SENDEL zitiert erstaunlich wenig Literatur, glotter Universalgelehrter aus Polen. Sein un- wenn er sich in einigen Paragraphen über die vollendetes Hauptwerk, „Historia naturalis ani- Biologie rezenter Schmetterlinge auslässt. Er malium“, ist eine allgemeinverständliche, illu- zitiert eher bei Nebensächlichkeiten die be- strierte Enzyklopädie der Pflanzenwelt und reits verstorbenen Autoren ULISSEALDROVANDI des Tierreichs für ein breiteres Publikum. (Abb. 3, oben links), JOHN JOHNSTON (Abb. Zwischen 1650 und 1653 erschienen fünf 3, oben rechts), JAN GOEDAERT (=JOHANNES Bände mit insgesamt 1025 Textseiten und GODAART) (Abb. 3, Mitte links), JAN SWAM- 2859 Abbildungen, darunter 1653 auch ein MERDAM (Abb. 3, Mitte rechts), MARIA SIBYL- Band über Insekten („Historia naturalis de In- LA MERIAN (Abb. 3, untern links) wegen ihrer sectis“). Die Bücher wurden noch 1755 - 1769 schönen Zeichnungen und seinen Zeitgenos- aufgelegt, also zu SENDELs Lebzeiten, und sen JOHANN LEONHARD FRISCH (Abb. 4, un- waren damals bekannter als die Quellen, z.B. ten rechts) GESNER und ALDROVANDI (s.o.), die JOHNSTON Nahezu alle hier aufgeführten Personen ha- für seine „Historia“ benutzt hat ben Bedeutendes für die Entomologie geleis- JAN GOEDAERT (=JOHANNES GODAART) (1617 tet, sei es als aktive Forscher oder als Enzy- - 1668), ein holländischer, nicht naturwissen- klopädisten (s. BODENHEIMER 1928; JAHN schaftlich ausgebildeter Maler, publizierte 2000). Wir erwähnen daher ihre entomologi- überwiegend eigene Beobachtungen über die schen Hauptwerke und gehen später auf die Metamorphose der Insekten. Die drei zu- Sachverhalte ein, derentwegen sie von SEN- nächst in holländischer Sprache verfassten DEL zitiert worden sind (s. Fußnoten im Bände – zwei sind zu seinen Lebzeiten, ein Anhang). dritter Band ist postum erschienen –, wurden ULISSE ALDROVANDI (1522 - 1605), italienischer nach seinem Tode ins Lateinische („Metamor- Arzt und Naturforscher, war, wie auch KON- phis naturalis insectorum“) übertragen und mit RAD GESNER(1516 - 1565), eher Enzyklopädist, Anmerkungen versehen sowie später auch ins jedoch durchaus auch Forscher. ALDROVANDIs Englische übersetzt. Hauptwerk ist eine elfbändige Naturgeschich- Der holländische Arzt JAN SWAMMERDAM te der Tiere („Historia animalium“). Für die En- (1637 - 1680) beschrieb in seiner 1669 erschie- tomologie bedeutsam sind die sieben Bücher nenen allgemeinen Geschichte der Insekten über die Insekten („De animalibus insectis libri („Historia generalis insectorum“) bereits sehr de- septem“) von 1602 (zuletzt aufgelegt 1638!). tailliert u.a. die Anatomie von Eintagsfliegen Abb. 3: Porträts namhafter Gelehrter, die SENDEL im Kapitel„De papilionibus“ zitiert. Fig. 3: Portraits of famous students quoted by SENDEL in the chapter “De papilionibus”. Oben links/Above left: ULISSE ALDROVANDI. Oben rechts/Above right: C JOHN JOHNSTON. Mitte links/Middle left: JAN GOEDAERT (JOHANNES GODAART). Mitte rechts/Middle right: JAN SWAMMERDAM. Unten links/Below left: MARIA SIBYLLA MERIAN. Unten rechts/Below right: JOHANN LEONHARD FRISCH.
Bemerkungen zum Kapitel „De papilionibus“ aus der „Historia succinorum“ 117 Entomologie heute 22 (2010)
118 HARTMUT GREVEN & WILFRIED WICHARD und der Honigbiene, verglich die Larvensta- zweisprachigen lateinisch-holländischen Aus- dien verschiedener Insektengruppen und ihre gabe erschienen, die sich zum Teil erheblich Weiterentwicklung zur Imago und benutzte von der ersten Auflage unterscheidet. diese zur Gliederung der „Insekten“ in Groß- MARIA SIBYLLA MERIAN (1647 - 1717) wurde gruppen. Das Buch ist 1737/1738 in einer durch ihre hervorragenden und detailgetreu- Abb. 4: Kohlweißling. Kupferstich XLV aus Band 1 (1679) des „Raupenbuch“ von MARIA SIBYLLA MERIAN. Fig. 4: Cabbage butterfly. Copper engraving from Volume I (1679) of the “Raupenbuch” (1679) by MARIA SIBYLLA MERIAN.
Bemerkungen zum Kapitel „De papilionibus“ aus der „Historia succinorum“ 119 en Abbildungen und Beschreibungen von zum Beispiel Beine anzeigten, dass die Tiere Insekten und deren Larven bekannt (Abb. versucht hätten, aus der anfänglich noch flüs- 4). Wichtige Werke sind u.a. „Der Raupen sigen Masse zu entkommen. Im Hinblick auf wunderbare Verwandlung“ und „Metamorpho- das Fehlen von Libellen fügt er noch an, sich sis Insectorum Surinamensis“. auf SWAMMERDAM berufend, dass diese den JOHANN LEONHARD FRISCH (1666 - 1743) war besten Gesichtssinn hätten und wohl eher in Sprachwissenschaftler, Theologe und Altphi- pflanzenreichen Gebieten als über sandigen lologe. Unter vielem anderem schrieb er ein Uferregionen flögen. „Teutsch-lateinisches Wörterbuch“, verfasste In § 3 meint er, das Fehlen von Libellen in aber seine „Beschreibung von allerley Insec- Bernstein würde mehr als genug durch die ten in Teutschland“ in Deutsch. Diese Bü- wunderschönen Schmetterlinge (die man dar- cher enthalten sorgfältige Beobachtungen, be- in fände) ausgeglichen. rücksichtigen die ältere Literatur (das gilt auch In § 4 schwärmt er davon, wie Schmetterlin- für die anderen genannten Autoren) und sind ge doch das Auge betörten, bewundert den mit durchaus aussagekräftigen Zeichnungen kunstvollen Pinselstrich der Frau MERIAN (vgl. versehen (vgl. Abb. 6, oben). Abb. 4) und preist den Anblick von Schmet- Wir haben im Kommentar im Anhang die terlingen, ihre Antennen, ihren „befiederten“ Bemerkungen dieser Autoren, auf die sich Körper, ihre Farben und ihre „Spiele“ in der SENDEL bezieht, ausführlich zitiert, damit sich Luft, die er wohl in Mußestunden zwischen der Leser ein Bild davon machen kann, was duftenden Blumen beobachtet hat. SENDEL tatsächlich von diesen übernommen In § 5 weist er darauf hin, dass in Bernstein hat. Zudem wird bereits bei einem flüchti- eingeschlossene Schmetterlinge durchaus ih- gen Vergleich der Texte deutlich, wie viel ren ästhetischen Reiz hätten. Man könne ihr schnörkelloser und „wissenschaftlicher“ die- Aussehen aus Einzelteilen rekonstruieren, se Autoren geschrieben haben. man könne Schmetterlinge entdecken, die ruhten, andere, die gewissermaßen noch im 5. Inhalt des Kapitels „De papilionibus“ Fluge eingeschlossen worden seien. Zudem entschädige der Glanz des Bernsteins für die Das Kapitel enthält 27 unterschiedlich lange nicht mehr vorhandenen Farben. Paragraphen, deren Inhalt im Folgenden kurz In § 6 ist er der Meinung, dass es nicht viel zusammengefasst ist (weitergehende Kom- ausmache, dass man keine Tagfalter und sons- mentare finden sich im Anhang). tige größere Falter in Bernstein fände. Dafür In § 1 sagt SENDEL, dass er nun zu den Anely- seien zahlreiche kleinere, in der Nacht aktive tra, d.h. zu den Insekten ohne Elytren, mit Schmetterlinge vorhanden. beschuppten Flügeln kommen wolle, also In § 7 sagt er wortreich, er wolle zunächst et- den Schmetterlingen, da er die Anelytra mit was zur Biologie und zur Verschiedenheit der vier membranösen Flügeln bereits behandelt rezenten Schmetterlinge sagen. Das würde die habe. Er betont, dass man von diesen vor Betrachtung der in Bernstein Eingeschlosse- allem Libellen kaum in Bernstein fände, und nen erleichtern, deren methodische Bearbei- formuliert eine allgemeine Regel, nach der tung jedoch sicher schwierig sei. größere Tiere selten oder nie in Bernstein ein- In § 8 erinnert er an die Unterschiede von geschlossen würden. vierflügeligen Fliegen und Schmetterlingen. In § 2 sind die beiden ersten Sätze gekünstelt Wichtig sei es, ihre Entwicklung zu verfolgen und pompös (s. Übersetzung). Im Folgen- und sich auch die Larven anzusehen. Daraus den ist SENDEL der Meinung, dass größere ergäben sich nicht nur Unterschiede zwischen Insekten selten intakt in Bernstein zu finden den genannten Gruppen, sondern auch in- seien und eingeschlossene Fragmente, wie nerhalb der Schmetterlinge. Die echten Entomologie heute 22 (2010)
120 HARTMUT GREVEN & WILFRIED WICHARD Schmetterlinge entstünden anders als bei- geschlossene Schmetterlinge behandeln wol- spielsweise die Motten, die ihren Ursprung le. Es handelt sich dabei um die Abbildun- u.a. in wollenen Kleidern hätten. gen 19-33 auf Tafel II (vgl. Abb. 2). In § 9 betont er die noch einmal die Unter- In § 14 beschreibt er detailliert Lage und Aus- schiede zwischen den Schmetterlingen und sehen des ersten der vier großen Schmetter- unterscheidet Tag- und Nachtfalter und sol- linge („Anführer der Schar“), und zwar von che, die zum Licht fliegen und sich dabei ver- oben und von unten, und macht auf die an- brennen (= Lichtfliegen). gelegten Flügel, das sich verjüngende Abdo- In § 10 nennt er als gute Unterscheidungsmerk- men, den feinen Flaum auf Kopf und Schul- male zwischen Tag- und Nachtfaltern äußere tern, eine „mehlige“ Substanz auf dem ge- Gestalt und Farbe. Tagfalter seien meist farbig, samten Körper und auf die dunkelgrüne hätten hochgeklappte oder ausgebreitete Flü- Bauchseite des Insekts aufmerksam (Abb. 5: gel, währen Nachtschmetterlinge aschfarben sei- 19 a und b). en, einen eulenähnlichen Kopf besäßen und In § 15 sagt er etwas zu einem weiteren ele- behaart seien. Er zitiert J. L. FRISCH, der solche ganten, großen, mit Mücken vergesellschaf- Schmetterlinge Nachteulen genannt habe. teten Schmetterling, den er von oben und In § 11 lobt er Herrn FRISCH gleich noch ein- von unten abbildet. Auch dieser habe wie der mal und vergleicht ihn mit dem treuesten vorher Beschriebene die dunkelbraunen Flü- Gefährten des Äneas (s.o.), weil er doch die gel gesenkt, die hier das Abdomen nicht ganz rezenten Schmetterlinge gut unterschieden bedeckten. Er meint, es sei ein Nachtschmet- habe. Das könne jeder, der sich aufs Beob- terling. Wenn man allerdings die Unterseite achten der Natur verstünde. Die in Bernstein mit dem kräftigen Körper und dem geringel- eingeschlossenen zu benennen, dürfte aller- ten Abdomen betrachte, könnte man auf die dings mit Schwierigkeiten verbunden sein, Idee komme, es sei ein Scarabaeus (Abb. 5: weil viele nicht gut erhalten seien. 20 a und b). In § 12 betont er, sich mächtig anstrengen zu In § 16 behandelt er den Schmetterling auf wollen. Der Leser könne keine größeren, Bild 21 in vier Zeilen. Er sieht kürzere und prächtigen Schmetterlinge im Bernstein erwar- längere geäderte Flügel. Der Kopf sei aller- ten, sondern im Wesentlichen kleine Nacht- dings verborgen (Abb. 6, unten links). In ei- schmetterlinge, und zwar Motten. ner langen Fußnote bemerkt er dazu, dass In § 13 kündigt er an, dass er jetzt vier große, ein Freund ihn darauf aufmerksam gemacht vier mittlere und vier kleine in Bernstein ein- habe, dass es doch eher eine „musca ephemera“, Abb. 5: Die in Bernstein eingeschlossenen „Schmetterlinge“ auf den Bildern 19 und 20 (Tafel II) aus der „Historia succinorum“. Fig. 5: The „butterflies“ included in amber of the figures 19 and 20 (plate II) in the “Historia succinorum”.
Bemerkungen zum Kapitel „De papilionibus“ aus der „Historia succinorum“ 121 eine Eintagsfliege, sei, wie sie Herr FRISCH in habe. Er weist ihm einen Platz zu (ohne die- seinem Buch abgebildet habe (Abb. 6, oben). sen aber zu nennen). SENDEL verneint allerdings eine Ähnlichkeit, In § 18 widmet er sich den mittelgroßen weil sein Exemplar breitere und zudem un- Schmetterlinge auf den Bildern 23 - 26. Einer terschiedlich lange Vorder- und Hinterflügel sei schwarz mit Flügeln, die länger seien als habe; eine solche Diversität käme bei Ein- der Körper (Abb. 7: 23), wohl eine „musca tagsfliegen nicht vor. ephemera“ oder ihr zumindest ähnlich. Der In § 17 glaubt er, dass auf Bild 22 (Abb. 6, zweite (Abb. 7: 24) gehöre wohl zu denen, unten links) ein Schmetterling abgebildet sei, die dem Licht zuflögen. Der dritte (Abb. 7: der Ähnlichkeit mit Schmetterlingen auf Ab- 25) und vierte (Abb. 8: 26) dürften wohl win- bildungen bei JOHNSTON und ALDROVANDI zige Motten sein, einander sehr ähnlich, ob- Abb. 6: Tafel XIV aus dem achten Teil der „Insecten in Teutschland“ (oben). Die Originallegende lautet: „n. 1. Die Fliege oder Art von Ufer-Aaß. 2. Ein Unterflügel. 3. Ein Oberflügel. 4. Der Wurm vor der letzten Häutung. 5. Ein paar Floßfedern desselben“ (FRISCH 1730 b). Die in Bernstein eingeschlossenen „Schmetterlinge“ auf den Bildern 21 und 22 (Tafel II) aus der „Historia suc- cinorum“ (unten links). Schmetterling bei ALDOVANDRI (1638), den SENDEL mit dem Einschluss auf Bild 22 vergleicht (unten rechts)(s. Fußnote im Anhang §17). Fig. 6: Plate XIV from the eighth part of the „Insecten in Teutschland“ (above). The legend is: “n. 1. The fly or species of „Ufer-Aaß“. 2. Lower wing. 3. Upper wing 4. The worm before the last moult. 5. Some float feathers of them” (FRISCH 1730 b). The „butterflies“ included in amber, figures 21 and 22 (plate II) in the “Historia succinorum” (below left). Butterfly in ALDOVANDRI (1638) compared by SENDEL with the inclusion figure 22 (below right) (see footnote in the appendix §17) Entomologie heute 22 (2010)
122 HARTMUT GREVEN & WILFRIED WICHARD Abb. 7: Die in Bernstein eingeschlossene „Schmetterlinge“ auf den Bildern 23-29 (Tafel II) aus der „Historia succinorum“. Fig. 7: The „butterflies“ included in amber of the figures 23-29 in the “Historia succinorum” (plate II). wohl sie in unterschiedlichen Stellungen ein- zen Pünktchen, ansonsten gefiederte Anten- geschlossen seien. nen, einen gefiederten Kopf und „bestäub- In § 19 behandelt er die kleinen und kleins- te“ („mehlige) Flügel. Das sei aber nur mit ten Schmetterlinge und verweist auf die Bil- „bewaffnetem“ Auge erkennbar. In diesem der 27, 28, 29 (Abb. 7) und 30 (Abb. 8). Auf Falle würde man auch den eingerollten Rüs- Bild 30 sieht man die Schmetterlinge gleich sel erkennen. scharenweise eingeschlossen. Alle zählt er zu In § 21 macht er einen Ausflug in die Ent- den kleinen Nachtschmetterlingen, und zwar wicklung von Schmetterlingen. Das sei zwar zu den Motten („e tineis nati“). schwierig, doch reiche es aus, sich mit der In § 20 kommt er zu den Bildern 31 und 32 Entwicklung solcher Schmetterlinge zu be- (Abb. 9). Der erste, offenbar auf Bild 31 ab- fassen, die dem oben erwähnten Einge- gebildete Schmetterling dürfte zu den Weiß- schlossenen sehr ähnlich seien. Eine Gele- lingen („albiduli“) und Handwerkern („cerdo- genheit dazu hätte sich ergeben, als Schmet- nes“) gehören – im Hinblick auf diese Na- terlinge bzw. deren Larven die Bäume im men bezieht er sich auf SWAMMERDAM. Der Garten kahl gefressen hätten. Die Würmer Schmetterling habe weiße Flügel mit schwar- (Larven) seien als junge einander ähnlich,
Bemerkungen zum Kapitel „De papilionibus“ aus der „Historia succinorum“ 123 Abb. 8: In Bernstein eingeschlossene „Schmetterlinge“ auf Bild 30 (Tafel II) aus der „Historia suc- cinorum“ (oben). Grabgemeinschaft (Taphozönose) von Köcherfliegen (unten) (aus WICHARD 2005). Diese homogenen Taphozönosen weisen auf die bei Köcherfliegen häufigen Schwarmflüge hin. Fig. 8: „Butterflies“ included in amber of figure 30 (plate II) in the “Historia succinorum” (above). Taphocoenosis of caddisflies (below) (from WICHARD 2005). Such homogenous taphocoenoses suggest mating flights frequently observed in caddisflies. Entomologie heute 22 (2010)
124 HARTMUT GREVEN & WILFRIED WICHARD Abb. 9: Die in Bernstein eingeschlossene „Schmetterlinge“ auf den Bildern 31-34 aus der „Historia succinorum“ (Tafel II). Fig. 9: The „butterflies“ included in amber of the figures 31-34 in the “Historia succinorum” (plate II).
Bemerkungen zum Kapitel „De papilionibus“ aus der „Historia succinorum“ 125 Abb. 10: Zwei Tafeln mit „Schmetterlinge“ aus GOEDAERT (1662), die SENDEL falsch zitiert (s. Fußnoten in § XXII, § XXIV und § XXVI, Anhang). Fig. 10: “Butterflies” from GOEDAERT (1662) misquoted by SENDEL (see footnotes in § XXII, § XXIV and § XXVI, appendix). brächten aber ganz unterschiedliche Adulti In § 24 beschreibt er Bild 34 (Abb. 9, unten), hervor, so u. a. Ichneumonen und Wespen. die zwei braune „Schmetterlinge“ zeigt. Dies Aus den Puppen schlüpften kleine, weißli- und ihre Gestalt veranlassen ihn, beide „Mot- che Schmetterlinge mit gepunkteten Flügeln, tenschmetterlinge“ zu nennen. Darüber hin- die wohl dem ähnelten, der in Bernstein ein- aus verweist auf eine Abbildung, die dem geschlossen sei. Insgesamt sei die Zuord- eingeschlossenen Schmetterling ähnlich sei, nung aber fraglich und wenn andere zutre- und die Erläuterungen zur Entwicklung bei fender urteilten, würde er sich deren Argu- GOEDAERT (Abb. 10 rechts). menten nicht verschließen. In § 25 meint er, dass er jetzt genug in Bern- In § 22 will er sich bei Bild 32 (Abb. 9) kurz stein eingeschlossene Schmetterlinge beschrie- fassen, weil er sich so lange bei dem vorigen ben habe. Man könne jetzt zwar zur Beschrei- Schmetterling aufgehalten habe. Zudem bung anderer Insekten übergehen, doch es spräche der Einschluss wegen seiner Quali- müssten noch wichtige Fragen beantwortet tät für sich selbst. Es könne sich um einen werden, besonders die, warum so viele kleine Schmetterling handeln, der dem Licht zu- Schmetterlinge in Bernstein eingeschlossen fliegt, oder um eine Fliege, wie sie sich bei seien, obwohl die Art und Weise ihrer Ent- GOEDAERT auf Tafel III fände (vgl. Abb. 10 stehung an einer öden Küste unklar sei. links) In § 26 tritt er der einseitigen Sicht entge- In § 23 behandelt er mit Bild 33 einen „wohl- gen, dass sich diese kleinen Schmetterlinge genährten“ kleinen Schmetterling mit ausge- nur in Getreidevorräten entwickelten, da breiteten Flügeln und Resten von Mund, doch nahezu alles aus dem Tier- und Pflan- Rüssel und Beinen, dessen weiße Färbung zenreich – er nennt u. a. Wolle, Leder, Haa- im Bernstein erhalten geblieben sei und der re, Fleisch sowie Rinde, Blätter, Holz etc. – wohl aus Raupen entstehe, die Blätter zu- und selbst manches aus dem mineralischen sammenzögen (Abb. 9). Bereich (verschiedene Erden, Staub) für ihre Entomologie heute 22 (2010)
126 HARTMUT GREVEN & WILFRIED WICHARD Entwicklung geeignet sei und sie daher an „wiedergeboren“. Das sei nicht der Fall, sie ganz unterschiedlichen Orten, auch an Küs- würden sich in der Theka zum Schmetterling ten vorkämen. Die Tatsache, dass so viele umwandeln. dieser kleinen Schmetterlinge in der Natur und im Bernstein vorkämen, sei für ihn Be- 6. Schmetterlinge, Köcherfliegen oder was? weis genug. In einer längeren Fußnote geht er auf GOE- SENDEL betont in der Einleitung seiner „His- DAERT ein, der in einem verwesenden Enten- toria succinorum“, dass Probleme bei der Un- hoden einen Schmetterling gefunden habe. tersuchung von Bernstein-Inklusen auftreten. Das sei wenig glaubwürdig, da eine feuchte Wie aus einigen Textstellen zu entnehmen Verwesung eher ein Substrat für Fliegen und ist, hat SENDEL zur Analyse wohl ein Vergrö- deren Larven sei, nicht aber für Schmetterlin- ßerungsglas benutzt. Im Vorwort sagt er, ge und deren Larven. Er sei der Ansicht, der dass er die Stücke „...oculo, tam nudo, quam ar- Autor habe eine trockene Verwesung vor sich mato sollicite contemplati sumus...“(S. VII), d.h. gehabt. Weiterhin sei der Autor der Meinung, sorgfältig mit unbewaffnetem und bewaff- dass nur dann irgendwelches Fleisch von netem Auge inspiziert habe. Die Beschreibung Würmern befallen werden könne, wenn de- und Darstellung der in Bernstein eingeschlos- ren Eltern vorher dort für Nachkommen- senen Insekten ging damals nicht genauer, schaft gesorgt hätten. weil oft nur Fragmente vorlagen (vgl. § 11) In § 27 wolle er, nachdem er nun begründet und wie SENDEL u.a. im Vorwort beklagt, oft habe, warum die kleinen Schmetterlinge in die Farbe eines in Bernstein eingeschlosse- Bernstein eingeschlossen würden, nun die nen Insekts verlorengegangen sei, mit deren Frage beantworten, zu welcher Jahreszeit dies Hilfe man doch öfter die verschiedenen Ar- geschähe. Dies sei der Sommer, weil die ten der Tier zu unterscheiden pflege („... inclu- Schmetterlinge ja mit Flügeln im Bernstein si insecti color in succino deperditus esset, quo ta- eingeschlossen seien, die sie im Winter nicht men animalium diversae species saepius distingui hätten. Es sei also falsch zu behaupten, In- solet“; SENDEL 1742, S. VII). sekten, die im Winter Spalten und Schlupf- Darüber hinaus steckte die Paläontologie als winkel an der Küste aufsuchten, würden Wissenschaft noch in den Anfängen und hilf- dann von flüssigem Bernstein eingeschlos- reiche Bestimmungsschlüssel für Fossilien sen. Vielmehr sei seine Theorie richtiger, nach und für Bernstein-Inklusen gab es nicht. der die Insekten in frei zugänglichem Bern- Im Kapitel „De papilionibus“ stellt SENDEL 16 stein eingeschlossen würden. Im Schlusssatz Einschlüsse (Tafel II: Abb. 19-34) als leitet er zum nächsten Kapitel über, das von „Schmetterlinge“ vor, von denen er die einen den Grillen handelt. oder anderen noch näher zu klassifizieren ver- In der Fußnote bemüht er zwei Autoren, so sucht. Nach heutiger Kenntnis handelt es sich GOEDAERT, der von dem schon erwähnten bei dem meisten um Köcherfliegen. kleinen Schmetterling gesagt habe, er würde Ein wesentliches, schon früh erkanntes sich im Winter verstecken. Wenn dieser Au- Merkmal der Köcherfliegen ist die „Behaa- tor aber der Meinung sei, er tue dies in seiner rung“ der Flügel, die SENDEL (1742) das eine ursprünglichen Gestalt, dann sei dies ein Irr- oder andere Mal erwähnt. Auf dieses (aut- tum, weil die Schmetterlinge Flügel und Bei- apomorphe) Merkmal machte erstmals – 73 ne abwürfen und sich mit einer Hülle umgä- Jahre später – KIRBY (1815) in einer Arbeit ben. Eben dies habe auch MOUFFETT beschrie- aufmerksam, in der er das Taxon Strepsi- ben, aber auch der habe sich geirrt, weil er der ptera begründete. In einer langen Fußnote, Meinung gewesen sei, die Schmetterlinge in der es um die korrekte Würdigung von würden in ihrer Hülle verwesen und später Merkmalen geht, schreibt er auf Seite 87
Bemerkungen zum Kapitel „De papilionibus“ aus der „Historia succinorum“ 127 „...Phryganea, which is evidently not in its dem oft blau oder grün glänzenden Augen proper place, being more nearly allied to the (in natura aber nicht), deren irisierende Far- Lepidoptera than to the Neuroptera”, ver- ben durch Interferenzerscheinungen – bei der gleicht dann die damals schon bekannte Fossilisierung entsteht zwischen genoppter Gattung Phryganea mit Schmetterlingen ein- Cornea und Bernstein eine dünne Luftschicht schließlich Motten, betont offensichtliche – hervorgerufen werden (WICHARD et al. Unterschiede (keinen langen spiraligen Rüs- 2005). sel, Flügel ohne Schuppen etc.) und endet Die Einschlüsse mit den Nummern 21-30 auf Seite 88 mit dem Satz: „If these remarks sowie 32 und 34 auf Tafel II der „Historia appear to entomologists well founded, and succinorum“ sind so dargestellt, wie man übli- it be thought right to consider Phryganea as cherweise Köcherfliegen im Bernstein vorfin- constituting a new order, I think it might be det, d.h. mit typischem, schlankem Körper distinguished, since the wings of all the und in seitlicher Lage, die Flügel am Körper known species are hair, by the name Tricho- angelegt, die Beine teilweise abgespreizt, der ptera.“ Mit dieser Fußnote ist das Taxon Tri- relativ kurze Kopf (etwas breiter als lang) mit choptera begründet worden, und zwar 1815 meist bogenförmig nach vorne oder seitlich und nicht, wie in den Trichopteren-Arbei- nach hinten gerichteten fadenförmigen An- ten, die wir diesbezüglich konsultiert haben, tennen. Warum bei den von SENDEL bearbei- im Jahre 1813 (z.B. FISCHER 1960, WIGGINS teten Bernstein-Inklusen Köcherfliegen zahl- 2004; HOLZENTHAL et al. 2007). reicher sind als Schmetterlinge, liegt sicher auch Abbildung 11 zeigt eine Tafel mit Köcher- daran, dass Köcherfliegen in unsortierten fliegen, die AUGUST JOHANN RÖSEL VON RO- Bernsteinsammlungen unter allen tierischen SENHOF (1705 - 1759), Miniaturmaler und Na- Inklusen mit etwa 2-3 % vertreten sind, wäh- turbeobachter aus Nürnberg sowie Zeitge- rend Schmetterlinge mit < 0,5 % recht selten nosse von SENDEL, in seinen „Insekten-Be- vorkommen (HOFFEINS & HOFFEINS 2003; lustigungen“ veröffentlichte, die ab 1740 her- SONTAG 2003; WICHARD & WEITSCHAT 2004). ausgegeben und in den darauffolgenden Jah- Danach befänden sich rein theoretisch unter ren in drei Sammelbände zusammengefasst den 1500 Inklusen-Steinen des Dresdner wurden (RÖSEL VON ROSENHOF 1746, 1749, Bernsteinkabinetts etwa 30-45 Köcherfliegen 1755). RÖSEL VON ROSENHOF sowie der zuvor und nur ein bis sieben Schmetterlinge. Die bereits erwähnte J. L. FRISCH haben lebende Bernsteinsammlung der Naturalienkammer Tiere beobachtet. RÖSEL VON ROSENHOFs prä- zu Dresden wurde 1849 bei einem Brand des zise Darstellungen liefern die ersten Abbil- Zwingers, in dem sie seit 1728 untergebracht dungen, die Artbestimmungen von Köcher- war, zerstört (FISCHER 1939; KÜHNE et al. fliegen möglich machen. Auf Tafel XVI sind 2006). Noch wenige Jahre zuvor hatte CARL Larven, Köcher, Puppe und Imagines von GEORG BERENDT (1790 - 1850) ein Verzeich- Limnephilus rombicus (Limnephilidae), auf Ta- nis mit Kommentar zu 670 untersuchten In- fel XVII Larven, Köcher und Imagines von klusen-Bernsteine angefertigt (B ERENDT Phryganea grandis (Phryganeidae) abgebildet. 1986). In diesen Stücken befanden sich annä- Die charakteristische „Behaarung“ auf den hernd tausend Inklusen; etwa 50 % waren Flügeln einer Köcherfliegen-Imago zeigt Zweiflügler, 10 % Phryganeiden, 10 % Spin- Abbildung 12 (oben). Fossile Köcherfliegen nen und 30 % andere Arthropoden, wie Kä- im Baltischen Bernstein lassen nicht immer fer, Ameisen, Tausendfüßer und einige Pflan- „Haare“ auf den Flügeln erkennen. In Bern- zenreste. Dreihundertsiebzig Bernsteine wa- stein eingeschlossene Imagines (Abb. 12, ren nach Ansicht von BERENDT (l. c.) wertlos. unten) haben oft eine typische, vom Harz Immerhin wies er etwa 10 % Phryganeiden seitlich abgeflachte Körperhaltung und zu- (alte Bezeichnung für Köcherfliegen = Tri- Entomologie heute 22 (2010)
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