Schrifttheoretische Überlegungen zu nicht-lexikalischen Inschriften aus dem südgermanischen Runenkorpus
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Schrifttheoretische Überlegungen zu nicht-lexikalischen Inschriften aus dem südgermanischen Runenkorpus Martin Hannes Graf Abstract This article presents an overview of non-lexical inscriptions in the South Germanic runic corpus. Illustrative objects exhibiting signs or groups of signs with predominantly ornamental, symbolic or imitative function, as well as cross- shaped runic monograms and futhark inscriptions, are analysed and presented. Based on a typology of these inscriptions, it is shown that for largely illiterate societies the role that script plays must be assessed with great caution and not simply compared to the role of script in contemporary literate societies. The results of the analysis in many cases imply that the medium itself takes precedence over the actual message and that meaning is conveyed by the combination of medium and script in an integrated visual manner. Keywords: runic literacy, script culture, non-lexical inscriptions, South Germanic, ornament, symbol, rune-like sign, script imitation Einleitendes D ie Runenforschung registriert seit ihren Anfängen immer wieder das Phänomen, dass Inschriften gelegentlich Zeichen enthalten, die dem bekannten Inventar fehlen und den Entzifferungs- und Leseprozess so be einträchtigen oder verunmöglichen (vgl. Oehrl 2011b, 367, mit weiterer Lite ratur). Dazu kommen Fälle, wo die Zeichen selbst zwar dem bekannten Runentypen-Inventar entsprechen, sie jedoch in einer Weise angeordnet sind, dass sie ebenfalls nicht als Wörter im eigentlichen Sinne interpretiert werden können. Ferner kennt man Inschriften, die zwar mehr oder weniger problemlos lesbar sind, in ihrer unmittelbaren Umgebung jedoch Zeichen oder Graf, Martin Hannes. “Schrifttheoretische Überlegungen zu nicht-lexikalischen Inschriften aus dem südgermanischen Runenkorpus.” Futhark: International Journal of Runic Studies 2 (2011, publ. 2012), 103–22. © 2012 Martin Hannes Graf. This is an open-access article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Unported License.
104 • Martin Hannes Graf nicht-lexikalische Inschriften oder Inschriftenbestandteile Einzelzeichen dem Einzelzeichen nicht dem runischen Typen-Inventar runischen Typen- entnommen Inventar entnommen Ornamente • Runenkreuze • Symbole/Sinnzeichen • Futhark-Inschriften • paraschriftliche Zeichen • Schriftimitate Abb. 1. Zeichen und Zeichenkomplexe, geordnet nach Zuordenbarkeit zum runischen Typeninventar Zeichengruppen enthalten, deren Zusammenhang mit der Inschrift unklar ist. Dabei handelt es sich nicht zwingend um geheimschriftliche Praktiken, wie sie vor allem aus späterer Zeit bekannt sind (vgl. dazu McKinnell, Simek und Düwel 2004, 26–30, sowie vor allem Nievergelt 2009, 11–28 und passim). Solche jüngeren, vor allem in der Buchkultur begegnenden Phänomene stehen meist im Zusammenhang mit einem zusätzlichen, voll ausgebildeten Schriftsystem und reflektieren dabei einen spielerischen oder gelehrten Umgang mit Schrift. In der runischen Schriftkultur des älteren Futhark auf dem Kontinent hingegen scheinen andere Motive ausschlaggebend zu sein; sie gilt es im Folgenden zu erfassen und, wo es möglich ist, auf dem Hintergrund eines frühgeschicht lichen Schriftverständnisses zu interpretieren. Im Fokus stehen die soge nannten „südgermanischen Inschriften“ des 6. und 7. Jahrhunderts aus dem heute süddeutschen Raum, die ein relativ klar fassbares Korpus darstellen. Die Vergleichbarkeit mit dem nordgermanischen Korpus wird relativ kontrovers beurteilt; während Bernard Mees (2011, 480) eher die Unterschiede betont, sieht Solveig Möllenberg (2011, 15–17) im Kultur- oder „Symbolraum“, der den süd deutschen mit dem angelsächsischen und skandinavischen Raum verbindet, durchaus Gemeinsamkeiten. Da sich diese aber weniger auf das spezifisch Runische beziehen, mögen hier die skandinavischen und angelsächsischen In schriften nur gelegentlich und zur Illustration herangezogen werden. Die Forschung hat die in Frage stehenden Zeichen und Zeichenkomplexe bisher terminologisch nicht systematisch erfasst, weshalb individuelle Be griffsprägungen ebenso zu registrieren sind wie in bestimmten Forschungs Futhark 2 (2011)
Schrifttheoretische Überlegungen • 105 Schrift Schriftimitate Ornament Futhark-Inschr. Runenkreuze Symbole Ornamental verwendete Schrift Paraschriftliche Zeichen Ornamente Abb. 2. Zeichen und Zeichenkomplexe, geordnet nach dem Grad der Schrifthaftigkeit traditionen relativ breit anerkannte termini technici. Es soll hier jedoch keine Terminologie-Diskussion eröffnet werden, sondern es soll vor allem gezeigt werden, dass frühgeschichtliche Konzepte von Schriftlichkeit nicht zwingend darauf abzielen, dass Schrift sprachlich verschlüsselte „Bot schaften“ transportiert, sondern dass die epigraphische Schriftkultur der Runen oft ganz eigene, heute fremdartige Motive der Schriftverwendung kennt. Im Folgenden möchte ich versuchen, eine Systematisierung des Problemkomplexes nach dem Grad der Schrifthaftigkeit derartiger Phäno mene zu skizzieren. Den Begriff „nicht-lexikalisch“ fasse ich absichtlich weit und verstehe darunter epigraphische Phänomene, deren Analyse keine lexikalischen Einheiten, also Wörter, zutage fördern kann. Es sind Er scheinungen, die eine strukturelle Ähnlichkeit mit Schrift (oder mit Text) haben, aber in der Produktion wie in der Perzeption anders funktionieren. Betrachtet werden sollen insbesondere Schriftimitationen, Symbole (Sinn bilder) und paraschriftliche Zeichen, zu Andreaskreuzen gruppierte Runen zeichen (sogenannte Runenkreuze; für die südgermanischen Vertreter — die Inschriften von Soest und Schretzheim — hat sich dieser Terminus etabliert, vgl. Düwel 2008, 60 f.), ornamentnahe Beschriftungen sowie Futhark-In schriften. Während ich in einer größeren Untersuchung (Graf 2010) „para schriftliche Zeichen“ als Oberbegriff für die meisten der hier zu disku tierenden Phänomene verwendet habe, soll der Begriff hier als eigene Kategorie unter anderen gelten, gewissermaßen als Sonderfall der Symbole. Bewertet man die fraglichen Phänomene nach dem Kriterium der Zu ordenbarkeit der Zeichen zum bekannten runischen Typeninventar, so lässt sich dies mit dem Schema in Abbildung 1 vereinfacht darstellen. Freilich lässt das Schema außer acht, dass die Zuordenbarkeit graduell variiert, was besonders im Fall der Ornamente von einiger Tragweite ist. Ordnet man die Phänomene stattdessen auf einer Skala ein, die den Grad der Schrifthaftigkeit zum Maßstab macht, lässt sich die Ausgangslage wie in Abbildung 2 darstellen. Futhark 2 (2011)
106 • Martin Hannes Graf Eine solche abstrakte Systematisierung darf freilich den konkreten Einzel fall und dessen Analyse nicht ersetzen. Da aber gerade das südgermanische Material nicht wenige Belege für die zu beschreibenden Erscheinungen abgibt (mit Ausnahme der Runenkreuze), ist vielleicht eine typologische Schematisierung auch nicht von Nachteil. So hat jüngst auch Marco Bianchi (2010) anhand eines umfangreichen Korpus allgemeingültige Aussagen zu den von ihm untersuchten Inschriften machen können und die Schriftkultur der wikingerzeitlichen Inschriften in Uppland und Södermanland in einem ganz neuen Licht erscheinen lassen. Dabei hat sich als wesentlich herausgestellt, dass runische Hinterlassenschaften als multimodale Phänomene betrachtet werden müssen, in denen ein „Text“ samt nicht-lexikalischen Inschriften einheiten einen semiotischen Raum bildet, der „Teil einer Interaktionskette und einer jener zugrundeliegenden sozialen Praxis ist“ (Bianchi 2010, 230). Dass in dieser Praxis moderne Schriftverwendungsweisen nicht ausschließlich vorgesehen sind, ist auch die grundlegende Erkenntnisvoraussetzung für die Analyse der südgermanischen Literalität. Es ist hier nicht der Ort, die großräumigen schriftgeschichtlichen Kontexte, in denen die skizzierten Erscheinungen begegnen, neu nachzuzeichnen. Wahrscheinlich ist indes, dass sie Kennzeichen einer jungen Schriftkultur und einer Schriftkultur im Kontakt mit einer anderen Schriftkultur sind. Im Hinblick auf die paraschriftlichen Zeichen in den südgermanischen Inschriften habe ich die These geäußert, dass sie Ausdruck einer Kultur seien, die über einen bestimmten Grad von Schriftwissen sowie ein bestimmtes Repertoire von sinnhaften Zeichen verfüge, und die im Kontakt mit dem römisch-lateinischen Schriftsystem einerseits und dem nordischen runischen andererseits eine Zeichensprache entwickelt habe, die Elemente beider Ausdrucksweisen vereine (Graf 2010, 164). Inzwischen hat Solveig Möllenberg (2011) mit ihrem Konzept des „Symbolraums“ auch das angelsächsische Element stärker in die Diskussion miteinbezogen und herausgearbeitet, dass „England eventuell eine Vermittlerrolle“ gespielt haben könnte (Möllenberg 2011, 158), jedenfalls soweit diese an der Grab- und Beigabensitte im 6. Jahrhundert abzulesen ist. Zudem soll sich die runische Schriftkultur des 6. Jahrhunderts im Rahmen einer Art überregionalen sozialen Identität bestimmen lassen (Möllenberg 2011, 169). Der kulturelle Druck „to appear ,Nordic‘“, wie dies Svante Fischer (2005, 164) in seiner Dissertation mit annehmbaren Gründen herausgestellt hat, ist damit freilich nicht aus dem Spiel, sondern lediglich anders akzentuiert. Der Kontakt mit dem römisch- lateinischen Schriftsystem liegt dabei in lokalen Gegebenheiten begründet, in der Tradition, die das lateinische Schriftsystem im transalpinen Europa (und auf den britischen Inseln) epigraphisch mindestens seit dem 1. Jahrhundert Futhark 2 (2011)
Schrifttheoretische Überlegungen • 107 besaß, zunehmend jedoch auch im Kontakt mit der bürokratischen, prag matischen, administrativen und literarischen Schriftlichkeit der spät römischen und fränkischen Administration, der Aristokratie, des Militärs und der Geistlichkeit. Konkrete Kontakte der Schriftkulturen, die etwa eine gleichzeitige Verwendung von Runen- und Lateinschrift auf Gegenständen zeigte, sind allerdings äußerst selten (vgl. Düwel 2008, 69). Außerdem weisen lateinschriftliche wie runenepigraphische Zeugnisse erhebliche text sortenspezifische Unterschiede auf (Düwel 1994, 295 f.; Graf 2011, 214–216). Gleichwohl gibt es eine Reihe von Schriftdenkmälern, die das runische wie das lateinschriftliche System zugunsten einer oberflächlichen Trug schriftlichkeit aufgeben und Schrift stattdessen nur noch der äußeren Form nach ostendieren und dabei die Materialität von Schrift in den Vordergrund rücken (vgl. Graf 2011, 233 f. und passim). Selbst wenn etwa „Texte“ wie diejenigen von Pfronstetten-Fützen, Jengen, Mindelheim und Gammertingen (s. u.), bei denen nicht entschieden werden kann, ob das runische oder das lateinschriftliche Element im Vordergrund stand, als minderwertige oder misslungene Schriftzeugnisse taxiert werden: es bleiben Schriftzeugnisse, und als solche wurden sie ganz offensichtlich im Rahmen eines je spezifischen semiotischen Kontexts wahrgenommen. Vergleichbar ist ein solches Schriftverständnis mit den sogenannten voces magicae der (früh)mittelalterlichen Zaubersprüche — nur in einem anderen Medium: Während die Zaubersprüche Paraverbales benutzen (z. B. Olimpeo · Ansa · amur · hus · theus · Mon usw. im Cod. Bonn 218 aus dem 11. Jh.; vgl. Haeseli 2011, 137), „das sich zwar an semantische Sprache anlehnt und Bedeutung suggeriert, letztlich aber keine eindeutige Referenz herstellt“ (Haeseli 2011, 199), nutzen die Runeninschriften Paraschriftliches, das sich an graphemische Sprache anlehnt, aber keine Referenz zu Lexemen herstellt. Im Hinblick auf Schriftfunktionen in der hier zu betrachtenden literalen Kultur im Süden der Germania ist der Zusammenhang zwischen Schrift und Schriftträger wesentlich. Primärfunktion von Schrift auf Fibeln, Waffen, Ringen und anderen Schriftträgern, die nicht originär und ihrem Wesen nach als Trägermedien sprachlicher Botschaften dienen (wie etwa die römischen Wachstäfelchen), kann daher nicht immer die Aufzeichnung mündlicher Sprache zwecks Weitervermittlung gewesen sein, wenngleich in einigen Fällen das spezifisch kommunikative Element sicherlich angenommen werden darf. Vielmehr scheinen selbstreferenzielle Aspekte wichtig zu sein, indem Gegenstand, Beschriftung und bildliche Darstellungen (vgl. zu diesem Phänomen Oehrl 2011a, 74) immer wieder auf sich selbst, „nach innen“, auf das Gegenständliche weisen, selten hingegen „nach außen“ kommunizieren. Bei Münzen und Brakteaten jedenfalls gehört der Schriftgebrauch im Futhark 2 (2011)
108 • Martin Hannes Graf Zusammenspiel mit ikonographischen Komponenten (vgl. Nowak 2003, 671) immer zur ursprünglichen Konzeption. Welche Anschauungen im einzelnen solchen Schriftverwendungen zugrunde liegen können, möge im Folgenden angedeutet werden. Schrift oder Ornament? Von ornamentaler Verwendung von Schriftzeichen kann gesprochen werden, wenn die Oberfläche eines Objekts für den Betrachter grundsätzlich ornamentiert erscheint, die Ornamentik jedoch in ihrer Mikrostruktur in Elemente segmentiert werden kann, die formal auch Schriftzeichen sein können. Zunächst fallen hierunter Zeichenkomplexe, denen der Schrift charakter vielleicht nur per Zufall zukommt. Im Hinblick auf die Runen sind dies hauptsächlich Zeichen, die symmetrisch verwendbar sind, etwa i-, d-, ñ-, o-, t-, und s-Runen, allenfalls weitere. Sie sind sinnvollerweise als „runengleiche Zeichen“ (Oehrl 2011a, 63) anzusprechen. Bei den s-Runen etwa kann die Mehrfachverwendung den Bestandteilen eines klassischen Stufen- oder Hakenmäanders ähneln (oder auch einfach ein solches sein!), man vergleiche etwa die Vorderseite der Fibel von Szabadbattyán (KJ 167). s-Zeichen dieses Typs (oder eben Mäanderornamente) begegnen aber auch an den Längsseiten des Beschlags der Runenschnalle von Pforzen oder auf dem Lanzenblatt von Wurmlingen, wo sie an der Stelle der stärksten Taillierung in Pfeilformation angeordnet sind (Arntz und Zeiss 1939, Taf. 36, Abb. 40b). Erscheinen Schriftzeichen explizit in die ornamentierende Oberflächengestaltung eines Gegenstands eingeflochten, kann von Schrift als Ornament gesprochen werden und damit von einer Schriftfunktion, die primär einen ästhetischen Gestaltungswillen dokumentiert (vgl. zur ästhetischen Funktion von Runeninschriften auf Alltagsgegenständen allgemein Möllenberg 2011, 163 f.). Umgekehrt kann aber auch gesagt werden: Da Schrift und einzelne Schriftzeichen prinzipiell an bestimmte Funktionen und Bedeutungen gekoppelt sind, die über sich selbst hinaus weisen, kann die gleichzeitige Verbindung von Schrift und Ornament auch einen bestimmten Mehrwert erzeugen. Vergleichbar ist dies vielleicht mit der Kombination figürlicher und abstrakter Elemente im Tierstil, wo beide Darstellungsweisen in enger Vergesellschaftung auftreten können. Schließlich kann aber auch reine Kalligraphie vorliegen, die spielerische Dekorations- und vielleicht Repräsentationsziele verfolgt. Einen besonderen Status besitzt diesbezüglich offenbar die d-Rune bzw. das Zeichen, das in Futhark 2 (2011)
Schrifttheoretische Überlegungen • 109 runenepigraphischem Kontext als d-Rune aufgefasst wird. So ähnelt der Ritzkomplex auf der Dachfußfibel (vgl. zum Terminus Möllenberg 2011, 27 f.) von Aschheim einer dreifachen d-Binderune („Aschheim I“; vgl. Düwel 2003, 11, Abbildung ebd. sowie bei Martin 2004, 177; s. auch Möllenberg 2011, 173). Welche Ziele der Ritzer oder die Ritzerin des Komplexes verfolgt hatte, lässt sich freilich nicht feststellen, eines ist aber klar: Technisch gehört das Gebilde in den Bereich der Kleinritzungen, die typisch sind für die zeitgleichen südgermanischen Runeninschriften. Und es hebt sich sehr deutlich von den künstlerischen Gestaltungen der Vorderseiten zeitgenössischer Fibeln ab. Die Autopsie zahlreicher Runeninschriften aus dem südgermanischen Raum (vgl. Graf und Waldispühl, in Vorbereitung) hat jedenfalls insgesamt ergeben, dass Runeninschriften fast immer technisch identisch (d. h. mit demselben Ritzinstrument) und wohl im gleichen Arbeitsgang wie die nicht-runischen Ritzungen ausgeführt wurden. Genau gleich verhält es sich mit dem geometrischen, d-runenartigen Ritzkomplex unterhalb der buirso-Inschrift der Bügelfibel von Beuchte (KJ 8), mit der Binderunen-An ordnung auf dem Halbkügelchen von Stetten (MacLeod 2002, 69; Nedoma 2004b, 182–184) und auf dem Sieblöffel von Oberflacht (MacLeod 2002, 69) sowie mit der ganzen und der unvollständigen d-Rune auf der Scheibenfibel von Soest (KJ 140). Nicht in den südgermanischen Bereich gehört die Fibel von Harford Farm (Bammesberger 2003; Looijenga 2003, Tafel 20), aber sie sei hier erwähnt, weil sie technisch (was die Runeninschrift angeht) und aufgrund ihrer Zeitstellung mit den südgermanischen Denkmälern gut zu vergleichen ist (vgl. auch Möllenberg 2011, 107): Sie weist auf ihrer Rückseite eine filigrane Ritzverzierung auf, darunter ein an einem Teil des Randes entlang verlaufendes fischgratähnliches Muster, in welches eine d-Rune (bzw. ein Zeichen, das einer d-Rune formal entspricht) eingebettet ist. Weitere d-Runen sind ebenfalls am Rand eingeritzt. Es besteht kein zwingender Anlass, diese einzelnen oder kombinierten Zeichen auf den erwähnten Gegenständen nach ihrem mutmaßlichen Begriffswert (*dagaz) zu interpretieren — bis heute bleibt ein solcher Deutungsmodus für die älteren Inschriften ohne jede Beweiskraft. Ebenso wenig ist aber auch überhaupt zwingend mit einem graphemischen Wert bei einzelnen oder gebundenen d-Runen zu rechnen: Wie die weiteren formal symmetrischen Zeichen ist Schrifthaftigkeit nur dort zu erweisen, wo sie aus technisch-typologischen Gründen (Anbringungsart, -ort und -kontext), wie bei den erwähnten Beispielen, wahrscheinlich ist. Futhark 2 (2011)
110 • Martin Hannes Graf Symbole und paraschriftliche Zeichen Um Zeichen im Umkreis von Runeninschriften als „symbolisch“ werten zu dürfen, muss ihnen entweder allgemeine Bekanntheit, etablierte Verwendung oder mindestens wiederholtes Auftreten nachgewiesen werden können. Symbole sind „Erkennungszeichen für einen Sinngehalt oder einen Komplex von Sinnbezügen“ (Martini 2003, 325). Das unterscheidet sie wesentlich von den Schriftimitaten (s. u.) sowie von anderen Zeichen, die eindeutig als nicht- graphemisch eingestuft werden können, aber im Runenkontext auftreten. Als „paraschriftlich“ bezeichne ich Zeichen, die in einem Schriftzusammenhang auftreten und wohl meist ebenfalls einen Sinngehalt transportieren. Als klassische symbolische Zeichen sind etwa Swastiken, Triskelen, Fulmina oder die bekannten brakteatischen Punktkreise zu verstehen, daneben jedoch wohl auch das „Stimmgabel“-Signum der Lanzenspitze von Wurmlingen (Graf 2010, 71–87; vgl. auch Oehrl 2011b, 370–372). Dieses erscheint in Wiederholung und Variation nicht nur auf der Lanzenspitze selbst, sondern in ungezählter Wiederkehr auf zahlreichen Denkmälern außerhalb des Runenhorizonts, jedoch in mehr oder minder derselben Zeitstufe, d. h. im 6. und 7. Jahrhundert (Dannheimer 1974). Es ist Teil einer Symbolsprache der alamannischen Adelssphäre und als Herrschaftszeichen, Schicksalszeichen, Apotropaion o. ä. zu deuten, wobei die genaue Bedeutung in diesem Fall weniger wichtig ist als die Tatsache, dass es wohl etwas bedeutet hat (Graf 2010, 84). Und für den Runenkontext ist von Belang, dass Zeichen dieses Typs tatsächlich problemlos in den graphemischen Kontext eingepasst werden konnten. Ähnliches muss für Swastiken angenommen werden, deren Funktion oder Bedeutung unterschiedlich sein mag, denen man aber sicherlich eine bestimmte Bedeutungshaftigkeit beigemessen hat, und die ob dieser Tatsache auch mit Schrift in Kombination auftreten konnten. Man vergleiche zum Beispiel die (allerdings unsicher als solche zu wertende) Inschrift von Szabadbattyán (KJ 167), die an ihrem Ende ein etwas verbogenes Hakenkreuz trägt. Eine klare Tendenz zum Symbolhaften kann in den beiden zeilenabschließenden und damit paraschriftlichen Ritzungen der Gürtelschnalle von Pforzen vermutet werden (Graf 2010, 98). Ähnlich zu werten ist das kammartige Zeichen am Ende der dritten Zeile der Inschrift auf der Scheibenfibel von Bülach (KJ 165; Beschreibung auch bei Graf 2010, 146–148). Es ist ebenfalls eindeutig als paraschriftlich zu werten, da es den Runentext begleitet (und abschließt); sein Sinn entzieht sich jedoch einer Beurteilung und Deutung. Es bietet sich an, an dieser Stelle auch auf die Zeugnisse hinzuweisen, die nicht aus dem südgermanischen Raum stammen. Ob die nord- und Futhark 2 (2011)
Schrifttheoretische Überlegungen • 111 ostgermanischen Zeugnisse von mit Runen vergesellschafteten Symbolen analog den südgermanischen zu deuten sind, ist schwer zu beurteilen, zumal ja auch letztere im einzelnen durchaus rätselhaft sind. Immerhin sind sie aber strukturell vergleichbar: Nordgermanisch ist die Spange von Værløse (KJ 11), deren Inschrift alugod von einer Swastika abgeschlossen wird. Zwar sind Inschrift und Swastika unterschiedlichen Beschriftungsakten zuzuschreiben, doch ist das offenbare Nebeneinander auffällig genug, dass wenigstens für den Betrachter eine Art Einheit von Inschrift und Symbol entsteht. Die brakteatischen Hakenkreuzzeugnisse erscheinen vielfach außerhalb des engeren runischen Kontexts. Wo sie aber dennoch in runische Sequenzen eingebettet erscheinen — etwa auf dem Mauland-Brakteaten (IK 124; vgl. auch MacLeod und Mees 2006, 86) — rücken sie in Schriftnähe und ordnen sich einem Systemgedanken unter. Dieser musste wohl nicht zwingend linear gedacht sein, aber Genaueres entzieht sich unserer Kenntnis. Zeichen von symbolhaftem Charakter dürfen wohl auch auf den als ostgermanisch geltenden Lanzenblättern von Dahmsdorf, Mos (mutmaßlich), Rozwadów und Kowel (Nedoma 2010, 11–24) vermutet werden, wobei hier Runenschrift und paraschriftliche Zeichen („sarmatische Zeichen“, vgl. Hachmann 1993, 373–385) unterschiedlichen kulturellen Kontexten entstammen (Grün zweig 2004, 23; Hachmann 1993, 386). In ihrem Zusammenwirken dürfte der angenommene Prestige- und Repräsentationscharakter wechselseitig durch Schrift und Paraschrift zum Ausdruck gebracht worden sein — analog der Vergesellschaftung von Runen und Beizeichen auf den Goldbrakteaten (Behr 1991, 222). Jüngst hat auch Sigmund Oehrl zeigen können, wie stark symbolartige Piktogramme, Runeninschriften und einfache figürliche Darstellungen „der polymedialen Vergegenwärtigung“ (Oehrl 2011a, 75) eines Gegenstands dienen konnten. Etwas ferner stehen Steininschriften mit paraschriftlichen Zeichen, etwa das sternartige Zeichen in der Inschrift auf dem Stein von Skåäng (KJ 85) oder das aus zwei Winkeln bestehende, die Inschrift auf der Seite A abschließende Zeichen auf dem Bildstein von Krogsta (KJ 100). Beide Inschriften werden sehr kontrovers gedeutet (vgl. die entsprechenden Einträge in der Datenbank des Kieler Runenprojekts, http:// www.runenprojekt-kiel.de), und es mangelt auch nicht an Versuchen, die Zeichen als Grapheme zu interpretieren. Für einen Vergleich mit den südgermanischen Vertretern in dieser Gruppe eignen sich vielleicht am besten die erwähnten ostgermanischen Lanzenspitzen: Beide vertreten eine im Entstehen begriffene Schriftkultur, die archaische Züge trägt und Schrift in einer Weise zur Anwendung gelangen lässt, die uns heute völlig fremd ist. Die Verwendung von Symbolen reicht weit in die urgeschichtliche, vor-schriftliche Zeit hinauf; dass beim Kontakt Futhark 2 (2011)
112 • Martin Hannes Graf einer so alten, traditionellen Konvention mit einem neuen, abstrakten medialen System wie der Lautschrift gelegentlich hybride Spielformen auftreten konnten (also Schrift und „Paraschrift“), ist wenig erstaunlich. Schriftimitate Unter den nicht-lexikalischen Inschriften am häufigsten und für die Bewer tung einer jungen Schriftkultur besonders aussagekräftig sind Schrift imitate. Schriftimitation (Schriftnachahmung) dokumentiert grundsätzlich zweierlei: erstens, dass die Kultur, in der Schriftimitation auftaucht, Schrift als Medium kennt, und zweitens, dass die Person, die Schrift imitiert, eben falls vom grundsätzlichen Wert von Schrift weiß, diesen jedoch nicht an ihrem logo- oder phonographischen Charakter festmacht. Über die Motivik schriftimitativer Praktiken ist, wenn man von kindlichen Schreibversuchen absieht, wenig Konkretes bekannt. Man greift wohl noch zu wenig weit, wenn man Schriftimitate des älteren Futhark mit modernen, schrifterwerbs theoretischen Motiven (Lüthi 2006) zu ergründen versucht (vgl. auch Oehrl 2011b, 369). Was man jedoch relativ genau weiß, ist, dass (a) schriftliche Hinterlassenschaften ihre Motivik in manchen Fällen prozessualen oder performativen Aspekten verdanken (Hartung 1993, 115; Schwab 1998, 419; Düwel und Heizmann 2006, 23–30; zur Performativität: Haeseli 2011, 25), und dass (b) ein visueller Gesamteindruck von Geschriebenem wichtiger sein konnte als die Aussage des Geschriebenen (vgl. Schwab 1998, 426: „[M]an fragt sich, warum [die Runen] überhaupt (noch) gebraucht wurden? Wohl nur um der Schrift selbst willen.“). Epigraphische Schriftverwendung in frühen Schriftkulturen dient also vielfach nicht der einmaligen, codierten Aufzeichnung von Rede, sondern sie war in solchen Fällen Teil einer Handlung und Teil eines semiotischen Kontexts. Als zentral kann daher die Handlung selbst (das „Schreiben“) angesehen werden, nicht das Resultat oder allenfalls das Weiterwirken. Dass in solchen Fällen von Ritualhaftigkeit die überprüfbare „Richtigkeit“ des Geschriebenen sekundär war, ist einsehbar. Dies führt zu einem weiteren Punkt: Eine Gesellschaft, die Schrift in solchen Zusammenhängen kennt und pflegt, ist einem „offenen Verständnis“ von Schreiben und Schrift gegenüber toleranter als eine Gesellschaft, die Schrift in modernen Zusammenhängen verwendet. Man bedenke auch, dass Literalität und der Grad der Alphabetisierung im untersuchten Zeitraum noch um ein Vielfaches geringer war als dies nur wenige Jahrhunderte später (etwa im Hochmittelalter) der Fall war. Ein solches Schriftverständnis ist dann natürlich auch nicht gefeit gegen Scharlatanerie, Übertreibung, Missbrauch und eben Imitation. In den merowingerzeitlichen Inschriften der Futhark 2 (2011)
Schrifttheoretische Überlegungen • 113 Alamannia sind denn auch im wesentlichen drei Typen von Schriftimitation zu unterscheiden. Typ 1 zeichnet sich dadurch aus, dass die Schrift-Erzeugnisse übermäßig komplex sind, dass Einzelzeichen und Zeichengruppen nicht mehr trennbar sind und keine auflösbare Struktur mehr besitzen. Ein Musterbeispiel für eine solche Art der Schriftverwendung ist die Inschrift auf dem Scheiden mundblech von Eichstetten (vgl. Looijenga 2003, 238 f.; Grünzweig 2004, 133– 135; Birkmann und Dieke 2005, 19 f.; Graf 2010, 156–162): Auf dem Stück lassen sich zwei runenschriftliche Sequenzen isolieren; die eine befindet sich rechts der überkragend verlöteten Nahtstelle, die andere links davon. In der rechts der Nahtstelle befindlichen Sequenz lassen sich mehrere diagnostische Runenzeichen identifizieren (n, u und zweimal w), die links der Nahtstelle stehende Sequenz enthält hingegen keine einzige zweifelsfrei erkennbare Rune. Maßgeblich ist hier der Umstand, dass die zweite Sequenz (links) ein kontinuierliches Durcheinander von Strichen enthält, ohne dass irgendwo ein Abstand zwischen Einzelzeichen auszumachen wäre. Überhaupt ist dieser Bereich des Scheidenmundblechs so komplex beritzt, dass der Schluss naheliegt, dass hier jemand den rechten Teil fortsetzen wollte, aber nicht verstand, worin das Wesen jenes Teils besteht, nämlich in klar abgrenzbaren Einzelzeichen. Unter schriftlichkeitstypologischer Perspektive gilt für die runische wie für andere Schriftkulturen, dass weitgehend illiterate Gesell schaften das Wesen von Schrift im allgemeinen an Komplexität, nicht an Distinktion festmachen (Geier 1994, 681). Bei genügender, jedoch noch immer nur oberflächlicher Kenntnis vom Wesen und Funktionieren eines Schriftsystems tritt gelegentlich auch Typ 2 auf: Schriftnachahmung, die mit unterscheidbaren Zeichenformen operiert. In Inschriften des hier interessierenden Zeitrahmens sind erstaunlich viele Denkmäler von Typ 2 überliefert. Sie weisen alle eine außerordentlich elaborierte Zeichenverwendung auf. Typisch für solche Zeichen ist, dass sie etablierten, bekannten Schriftzeichen aus dem runischen oder lateinischen Inventar ähneln, jedoch in bestimmten diagnostischen Merkmalen von jenen abweichen. Kronzeuge für diesen Inschriftentyp ist die Zeichen sequenz auf der Scheibenfibel von Peigen (Graf 2010, 124–127). Sie enthält zwei annähernd gleichartige h-runenartige Zeichen, ein k-runenartiges Zeichen, ein sichelartiges Zeichen, eine d-Rune mit verlängerten Außen stäben, eine Art lateinisches Majuskel-M sowie Punkte, Striche und Kratzer, die möglicherweise nicht dem Schrift-Komplex zuzurechnen sind. Weiters zu nennen ist in diesem Kontext die bronzene, wohl nordfranzösische merowingische Riemenzunge aus der Sammlung Diergardt, die in einem Zeichenfries mit zwei nacheinanderstehenden alphabetiformen Sequenzen Futhark 2 (2011)
114 • Martin Hannes Graf Latein- und mutmaßlich Runenschriftliches zu einem bemerkenswerten schriftimitativen Ensemble vereint (Joffroy 1978). Da dieser Inschriftentyp im südgermanischen Raum eine größere geo graphische Verbreitung hat als die Runenschrift, scheint das imitative Moment besonders der lateinischen Schrift verpflichtet zu sein. Ich rechne diesem Bereich etwa die Inschriften von Pfronstetten-Fützen, Jengen, Mindelheim und Gammertingen zu (dazu: Haseloff 1975, 60 f.; Schwab 1998, 388 f.); auch wären etwa die burgundischen Daniel-Schnallen zu nennen (Tischler 1982, 117, 121 f.), denen man in der Regel handwerkliches Ungeschick oder fehlerhaftes Kopieren unterstellt (Tischler 1982, 117, nennt sie „ornamentale Trugschriften“), bei denen aber auch beachtet werden muss, dass Schrift offenbar erwartet wurde. Die häufig nicht mögliche Unterscheidbarkeit (oder auch Vermischung) von runischen, lateinischen und phantastischen Zeichen macht deutlich, in welchem schriftgeschichtlichen Kontext man sich hier bewegt: In einer Gesellschaft, für die Schrift als Schrift etwas galt, nicht als System, und unabhängig davon, ob es sich um lateinische, runische oder eine andere Schrift handelte. Entfernt vergleichbar ist möglicherweise die jüngst von Marco Bianchi (2010, 165–222) untersuchte Reihe wikingerzeitlicher Inschriften aus dem schwedischen Uppland und Södermanland: Bild- und Schriftkomplexe auf Runensteinen, die zwar mit durchaus distinkten Zeichenformen operieren, aber ganz offensichtlich Graphem-unabhängigen visuellen Perzeptions- und Deutungsmustern und -erwartungen untergeordnet waren. Typ 3 von Schriftimitation ist schließlich in Zeichensequenzen zu erkennen, die „richtige“ Runenzeichen aufweisen, die ihrerseits jedoch in einer Weise miteinander verknüpft sind, dass sie unmöglich lexikalische Einheiten wider spiegeln können. Sie weisen also nicht zwingend „falsche“ oder hyperkomplexe Einzelzeichen auf, sondern spiegeln die Verknüpfung der Zeichen zu einem „Text“ lediglich vor. Dieser Typ ist sicherlich am schwierigsten zu erweisen, da (a) vielleicht unsere Kenntnis der Verschriftungstechniken jener Zeit noch zu gering ist, und (b) die Überlieferungsbedingungen vielfach schlecht sind und die Schriftdenkmäler nur trümmerhaft auf uns gekommen sind. Denn: Bei strenger Auslegung hätte man unter Typ 3 all jene Inschriften zu fassen, denen man bei allem Scharfsinn der Forschung bis heute keinen „Sinn“ abzugewinnen vermag. Es kann hier keine vollständige Aufzählung derartiger Inschriften folgen; genannt seien wenigstens ein paar Beispiele: Die Bügelfibel von Aschheim (Aschheim I; vgl. Nedoma 2004b, 271 f.) mit ihrer zweizeiligen Inschrift I →}dd£d, II →oo£od, die Scheibenfibel von Aschheim (Aschheim II; vgl. Nedoma 2004b, 271) mit der Runenfolge →£kahi, die Scheibenfibel von Balingen (Looijenga 2003, 229; Nedoma 2004b, 184–189, 273–276) mit der umstrittenen Futhark 2 (2011)
Schrifttheoretische Überlegungen • 115 (linksläufigen) Inschrift ←?£uz" dnloam!ilu?, schließlich die Scheibenfibel von Gomadingen (Nedoma 2004b, 345; Looijenga 2003, 345) mit der Folge →g iglug oder →g iglun. Sie alle — und viele mehr — sind bis heute nicht befriedigend gedeutet, und ich möchte diesbezüglich einfach die vorsichtige These äußern, dass es sich vielleicht tatsächlich nur um Fälle von Schrift- oder besser: Text imitation handelt. Dass man mit solchen Praktiken auch außerhalb der Runen schriftlichkeit zu rechnen hat, macht zum Beispiel die Fibel von Wittislingen deutlich. Wenngleich sie eindeutig keine Runen trägt, stammt sie aus einem Raum und aus einer Zeit, die dem „kontinentalgermanischen Runenhorizont“ (also im wesentlichen dem merowingischen Frankenreich) entspricht. Sie zeigt eindrücklich, welchen Status Schrift in dieser Zeit hatte: Nebst einer Künstler signatur und einer christlichen Grabinschrift (!) weist sie nämlich auch Buch stabenhäufungen auf, die sich nicht zu überzeugenden Wortformen ordnen lassen (Werner 1950, 71). Offensichtlich hatten also auch in lateinschriftlichem Kontext nachahmende Tendenzen von unserem Typ 3 ihren Platz. Schließlich sei auch noch auf den nordgermanischen Raum hingewiesen: „Inschriften ohne erkennbaren sprachlichen Inhalt“ finden sich auch auf Brakteaten, die Nowak (2003, 331) bei aller Vorsicht sehr treffend und scharfsinnig dahingehend charakterisiert, dass „bei einem großen Teil des Korpus andere Kriterien als die Verständlichkeit an die Inschriften angelegt“ worden seien. Dieser Typ 3 zeigt Berührungspunkte mit den Inschriftentypen, die im folgenden, letzten kurzen Absatz anzusprechen sind. Futhark-Inschriften und Runenkreuze Die in diesem Abschnitt zu betrachtenden Inschriftentypen entziehen sich einer herkömmlichen Entzifferung in dem Sinne, dass eine Wort-für- Wort-Lektüre (oder auch nur eine Einzelwort-Analyse) eine semantisch eindeutige Aussage erlaubte. Die beiden Typen gehören daher ebenso in den Bereich der hier zu besprechenden Phänomene. Zwar mangelt es nicht an Versuchen, die beiden kontinentalgermanischen Runenkreuze von Schretzheim und Soest zu lexikalischen Einheiten zu rekonstruieren (vgl. etwa Schwab 1998, 378–383 und passim, mit weiterer Literatur), doch Fakt ist: Es fehlen den um ein kreuzartiges Zeichen gruppierten Runenzeichen Grenzsignale, die es ermöglichen würden, einen Anfang und ein Ende eines Worts zu bestimmen. Das Kreuz von Schretzheim etwa weist die Runen a, r (oder u), a und b auf, wobei der senkrechte Hauptstab jeweils gleichzeitig einen der Kreuzbalken ausmacht. Dabei ist neben dem fehlenden klaren Inschriftenbeginn auch unklar, ob möglicherweise das Achsenkreuz selbst als Rune (g) aufzufassen ist. Futhark 2 (2011)
116 • Martin Hannes Graf Ebensowenig lassen die Futhark-Inschriften eine lexikalisch-analysierende Leseweise zu, denn es gibt für sie „keine semantisch-grammatische Kontroll möglichkeit“ (Düwel und Heizmann 2006, 45). Beiden Inschriftentypen ist jedoch gemeinsam, dass sie eine je eigene Textsorte konstituieren, die mit Bedacht zur Anwendung gebracht wurde. Dies allein schon lässt den Schluss zu, dass Schrift in einer solchen Verwendungsweise anderen Zwecken diente als der Wort-für-Wort-Aufzeichnung einer sprachlichen Botschaft. Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, dass eine Botschaft vermittelt werden sollte, doch erreichte sie den Empfänger über ein anderes Decodierungssystem. Dieses dürfte eher visuell-perzeptiv ausgerichtet gewesen sein. Es ist anzu nehmen, dass die Schriftkomplexe jeweils als ganze wahrgenommen wurden und mit der für den Empfänger relevanten Bedeutung versehen waren. Dass uns heute der Schlüssel für eine eindeutige Decodierung fehlt, ist bedauerlich. Aber es ist immerhin leicht aufzuzeigen, dass beide Typen nicht ganz isoliert in der Schriftgeschichte sind. In Kreuzform verwendete Schrift wie Alphabet inschriften sind nämlich keine Erfindungen der runischen Schriftkultur. Bei den Runenkreuzen handelt es sich wohl um ein Konvergieren zweier vorrunischer Verwendungsweisen (vgl. Graf 2010, 118 f.): einerseits der römischen decuriae, die ursprünglich Zehnerabteilungen, Zehnergruppen, dann Eigentumsmarkierungen, schließlich in der Urkundentradition auch Beglaubigungsmarken waren; andererseits der spätantik-christlichen Mono gramme, die ebenso beglaubigenden Charakter hatten. Dass diese Funktion auch auf die Runenkreuze zutrifft, ist immerhin recht wahrscheinlich, wobei neben dem beglaubigenden auch das individualisierende und vielleicht ästhetische Moment mitzubedenken ist (vgl. zur Deutungsproblematik bei derartigen Inschriften Düwel 2008, 61 f.). In jedem Fall sind die Runenkreuze zu den abkürzenden Zeichen zu rechnen. Sie verdichten einen Sachverhalt zu einem augenfälligen pseudosprachlichen Merkzeichen, dessen Inhalt sicherlich nur Eingeweihten zugänglich war. Futhark-Inschriften auf der anderen Seite setzen wohl die antiken Alpha betinschriften fort. Aus dem kontinentalen Raum bekannt sind folgende Vertreter: die Bügelfibel von Aquincum, die Bügelfibel von Beuchte, die Kalksteinsäule von Breza, die Bügelfibel von Charnay und der Holzstuhl von Trossingen. Nur unsicher als Futhark-Inschrift zu klassifizieren ist die Runenfolge fþae auf der Bügelfibel von Herbrechtingen (Nedoma und Theune-Großkopf 2006, 50 Anm. 26). Die Inschriften haben abkürzen den und ordnenden Charakter, repräsentieren also „Vollständigkeit und Ordnung“ (Düwel und Heizmann 2006, 43; McKinnell, Simek und Düwel 2004, 85; vgl. auch Schulte 2007, 75; ferner auch Schulz 2000, 203 f. sowie 382). Nach landläufiger Sicht geben sie eine Kurzform dessen ab, was mit Schrift Futhark 2 (2011)
Schrifttheoretische Überlegungen • 117 prinzipiell machbar und möglich ist (zu diesem Komplex maßgeblich: Düwel und Heizmann 2006 mit weiterer Literatur). Dass die Futhark-Inschriften indes meist unvollständig sind (vgl. zur Übersicht Düwel 2008, 24 f.; Düwel und Heizmann 2006, 4–14 sowie 43 f.), ist dabei von geringerer Tragweite. Wenn mit den ersten Elementen der Runenreihe bereits die prinzipiellen Möglichkeiten von Schrift angedeutet sind, so ist die Vervollständigung der Reihe ein mentaler Akt, der wenig Aufwand erfordert. Für die nahezu vollständige Runenreihe auf der Bügelfibel von Charnay schlug jüngst Robert Nedoma (2010, 41) ein „indexikalisches Incipit“ vor, das den weiteren Text als spezifisch runenschriftlich indiziert — eine Interpretation, die jedoch möglicherweise auch auf die anderen unvollständigen Futhark-Inschriften zutreffen könnte. Fazit Inschriften des älteren Futhark aus dem südgermanischen Raum zeigen oft die klassischen Merkmale einer jungen Schriftkultur. Sie dokumentieren Verwendungsweisen von Schrift, die zunächst fremd anmuten. Aspekte jenes Fremden scheinen auf im dekorativ-ornamentalen, symbolischen (ideographischen), nachahmenden und im abkürzenden (verdichtenden) Schriftzeichengebrauch. Dazu scheint Schrift in diesem Kontext eher das Prozesshafte und Wirkungsorientierte sowie das Visuell-Perzeptive vor dem Festhaltend-Kommunikativen zu betonen — ein Umstand, den bereits Roland Barthes (2006, 30) im Hinblick auf die Geschichte der chinesischen Schrift betont hatte: [C]ette écriture a dʼabord été esthéthique et/ou rituelle (servant à sʼadresser aux dieux) et ensuite fonctionnelle (servant à communiquer, à enregistrer); la fonction de communication, dont nos linguistes font une tarte à la crème, est postérieure, dérivée, secondaire ; lʼécriture chinoise nʼa donc pu être au départ un décalque de la parole et nos transcriptionnistes (qui voient dans lʼécriture une simple transcription du langage) en sont ici pour leurs frais. Non, il ne va pas de soi que lʼécriture serve à communiquer; cʼest par un abus de notre ethnocentrisme que nous attribuons à lʼécriture des fonctions purement pratiques de comptabilité, de communication, dʼenregistrement et que nous censurons le symbolisme qui meut le signe écrit. Zweifellos ist die hier betrachtete Schriftkultur in dem Kontext zu verorten, dem auch die römisch-lateinische und die griechisch-byzantinische Schrift kultur angehören und wo die beschriebenen Phänomene auch bekannt sind. Die betrachteten Phänomene sind damit wohl auch als Reflexe eines Futhark 2 (2011)
118 • Martin Hannes Graf Kulturkontakts zu werten oder, wie es Bernard Mees (2011, 475) anhand der südgermanischen leub-Inschriften überzeugend gezeigt hat: „no inscription is an island, but instead reflects broader discourse.“ Freilich dürfen die Phänomene nicht überbewertet werden, kennt die runische Epigraphik ja auch Schriftverwendungsweisen, die typologisch (aus einer modernen Warte) nicht markiert sind: Zeichengruppen von ganz unproblematischer Anordnung — unproblematisch natürlich unter der Berücksichtigung der graphisch-phonologischen bzw. orthographischen Regeln, wie sie die jüngere Forschung überzeugend herausgearbeitet hat (vgl. etwa Grønviks Substitutionsregel [Grønvik 1985, 186, 191 f.; ferner Nedoma 2004a, 352]; vgl. für die ostgermanischen Inschriften nun Nedoma 2010, 8 f.). Was die über lieferten Textsorten angeht, so fällt dennoch das Fehlen von Geschäfts- oder einfacher Alltagsschriftlichkeit auf, die zu einer funktionierenden Schrift kultur gehören müsste wie zahlreiche weitere Textsorten, die man im älteren Futhark vermisst (vgl. Hartung 1993, 113; Graf 2011, 214–216). Aus diesem ex negativo-Befund zu folgern, die ältere runische Schriftkultur hätte keine weiteren Textsorten als die überlieferten gekannt, ginge wohl zu weit. Dennoch kann der Überlieferungsbefund vorderhand dahingehend interpretiert werden, dass alternative Schriftkonzepte existiert haben müssen. Diese tendieren hin zu einer Schriftverwendung, die das rein Visuelle dem Kommunikativen überordnet und die Schrift bisweilen als Ergänzung oder Teil des Objekts versteht. Bibliographie Arntz, Helmut, und Hans Zeiss. 1939. Die einheimischen Runendenkmäler des Festlandes. Gesamtausgabe der älteren Runendenkmäler 1. Leipzig. Bammesberger, Alfred. 2003. „The Harford Farm Brooch Runic Inscription.“ Neophilologus 87, 133–135. Barthes, Roland. 2006. Variations sur lʼécriture. / Variationen über die Schrift. Mainz; ursprünglich verfasst 1973. Behr, Charlotte. 1991. Beizeichen auf den völkerwanderungszeitlichen Goldbrak teaten. Europäische Hochschulschriften, Reihe 38: Archäologie 38. Frankfurt am Main. Bianchi, Marco. 2010. Runor som resurs. Vikingatida skriftkultur i Uppland och Södermanland. Runrön 20. Uppsala. Birkmann, Thomas, und Maren Dieke. 2005. Runen in Südbaden. Freiburg i. Br. Dannheimer, Hermann. 1974. „Ein skandinavisches Ringknaufschwert aus Kösching Ldkr. Ingolstadt (Oberbayern), mit Beiträgen von Maria Hopf, Mainz, und Josef Riederer, Berlin.“ Germania 52, 448–453 und Tafeln 54–56. Futhark 2 (2011)
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