Schule und Autismus: Was können wir aus der Corona-Krise lernen? - SZH/CSPS
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
26 CORONA-KRISE Andreas Eckert und Sandra Kamm Jehli Schule und Autismus: Was können wir aus der Corona-Krise lernen? Zusammenfassung Wie haben sich die Schulschliessungen in den Monaten März bis Mai 2020 einerseits auf die schulische Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Autismus, andererseits auf das familiäre Leben während dieser Zeit ausgewirkt? Es werden Ergebnisse einer Elternbefragung (N=246) über die Zeit des Lockdowns präsentiert. Erfahrungen und He- rausforderungen werden aus Sicht der Eltern beschrieben. Was kann daraus für die zukünftige schulische Förderung von Lernenden mit Autismus sowie die Begleitung und Unterstützung der Eltern abgeleitet werden? Résumé Quelles ont été les répercussions des fermetures d’écoles de mars à mai 2020, d’une part sur la scolarité des enfants et adolescents autistes, d’autre part sur la vie familiale durant cette période ? Cet article présente les résultats d’une enquête menée auprès de parents (N=246) sur la période du confinement. Les expériences et défis y sont décrits de leur point de vue. Quelles leçons peut-on en tirer à l’avenir pour mieux soutenir et accompagner les élèves ainsi que leurs parents ? Permalink: www.szh-csps.ch/z2021-05-03 Einleitung Familien mit einem Kind mit Autismus1 im Am 16. März 2020 wurden – parallel zur Erklä- Schulalter wurden wie alle anderen Familien rung der «ausserordentlichen Lage» durch von den Schulschliessungen überrascht. Kin- den Bundesrat – schweizweit alle Schulen ge- der und Jugendliche mit Autismus sind viel- schlossen. Eine erneute Öffnung der Schulen fach besonders auf Routinen angewiesen. Sie erfolgte schrittweise ab dem 11. Mai 2020. können von unerwarteten Veränderungen Aufgrund des rasanten Tempos der Pandemie- überfordert sein und im familiären Leben entwicklung in den ersten Monaten des Jahres häufig eine intensivere Betreuung benötigen. 2020 zeichneten sich die Schulschliessungen Darum können erhöhte Belastungsrisiken für erst kurze Zeit vor deren Eintreten ab. Alle da- diese Personengruppe wie auch ihre Eltern von betroffenen Personen wie Schulleitungen gefolgert werden. und Lehrpersonen, Eltern und Familien sowie Diese Erwartungen wurden von Mitar- Schülerinnen und Schüler wurden ohne grös- beitenden verschiedener Beratungsstellen sere Vorbereitung mit dieser Ausnahmesitua- und unmittelbar betroffenen Müttern im tion konfrontiert. Schnelles Reagieren, teils Improvisieren wurde insbesondere in den ers- 1 Der Begriff Autismus wird in der aktuellen Fach- ten Wochen zu einer alltäglichen Aufgabe und diskussion synonym zur Autismus-Spektrum-Stö- Herausforderung für Fachpersonen wie für El- rung als Oberbegriff für die verschiedenen Subdi- agnosen nach ICD-10 genutzt. Um den defizitär tern, in deren Verantwortung nun die Neuor- interpretierbaren «Störungsbegriff» zu vermei- ganisation der Betreuung und teils auch Un- den, wird er im Folgenden in diesem Verständnis terrichtung ihrer Kinder lag. verwendet. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 27, 5–6 / 2021
CORONA-KRISE 27 Frühjahr 2020 teils bestätigt. Stark belastete im deutschsprachigen Raum analysierten au- Eltern nahmen deutlich häufiger Kontakt tismusspezifische Aspekte der Corona-Krise, zu Beratungsstellen auf. In der Regel stand wie beispielsweise mögliche Wechselwirkun- dabei die grosse Herausforderung im Vorder- gen zwischen der veränderten gesellschaftli- grund, die Betreuung der eigenen Kinder mit chen Lebensgestaltung und den Besonder- Autismus sowie deren schulische Förderung heiten im Wahrnehmen, Denken und Han- im häuslichen Umfeld für alle weitgehend deln von Menschen mit Autismus (Nashef, zufriedenstellend zu gestalten. Gleichzeitig 2020; Preissmann, 2020). wurden aber auch zahlreiche Gespräche er- wähnt, in denen Eltern von einer entspannte- Zahlreiche Eltern berichten von einer ren familiären Situation und einer verbesser- entspannteren familiären Situation und einer ten Befindlichkeit ihres Kindes mit Autismus besseren Befindlichkeit ihres Kindes mit während des Lockdowns berichteten. Basierend auf diesen Erfahrungen ent- Autismus während des Lockdowns. stand die Idee, das elterliche Erleben der Schulschliessungen und deren Auswirkungen Nashef (2020, S. 116) sieht die Corona-Krise auf die Situation der Kinder und Jugendlichen einerseits mit einem besonderen «Bedro- mit Autismus, ihre schulische Förderung und hungspotenzial» für Menschen mit Autismus das familiäre Leben differenziert zu untersu- verbunden. Dafür gibt es verschiedene Grün- chen. Daraus sollten hilfreiche Folgerungen de: Verunsicherungen in Bezug auf die per- und Empfehlungen für die Zukunft abgeleitet sönliche Unversehrtheit, Störungen von werden. In Kooperation mit dem Elternverein Routinen im Alltag, die Notwendigkeit des autismus deutsche schweiz wurde im Mai flexiblen Reagierens sowie gesteigerte Un- 2020 eine von uns konzipierte Elternbefra- vorhersehbarkeiten hinsichtlich zukünftiger gung über Newsletters, Blogs und Websites Entwicklungen. Andererseits zählt Nashef von Interessensverbänden publiziert. Bis zur (ebd., S. 116f.) verschiedene «Entlastungspo- Beendigung der Umfrage im Juli 2020 nahmen tenziale» auf, die sich für Menschen mit Au- mehr als 250 Eltern an dieser Befragung teil, tismus aus der veränderten gesellschaftli- 246 Antworten flossen in die Auswertung ein. chen Situation ergeben können: Bedeutungs- gewinn von «medialen Alternativen zu Vis-à- Autismus und die Corona-Krise vis-Begegnungen», «Reizreduzierung» durch Bereits in den ersten Wochen der Pandemie verringerte Aufenthalte im öffentlichen reagierten die Eltern- und Interessensver- Raum, «Gebot des ‹physical distancing›» und bände auf die neuen Herausforderungen für der damit verbundenen Vermeidung einer Menschen mit Autismus und publizierten vielfach als unangenehm beschriebenen kör- Ratschläge und Materialien zum Umgang perlichen Nähe, Option der Meidung von mit der Corona-Krise und den besonderen «herausfordernden Systemen im öffentlichen Anforderungen im Alltag. Es folgten Aufrufe Raum» wie die Schliessung von Schulen und zur Teilnahme an grösseren wissenschaftli- Universitäten sowie eine «mediale wissen- chen Untersuchungen zu den Auswirkungen schaftlich-sachliche Auseinandersetzung» der Pandemie auf diese Personengruppe mit der besonderen Situation in der Pande- (Autism Europe, 2020). Erste Publikationen mie. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 27, 5–6 / 2021
28 CORONA-KRISE Preissmann (2020), Ärztin für Psychothera- liäre Erleben in Zeiten der Schulschliessungen pie, selbst mit Asperger-Syndrom und Auto- übertragen werden können. rin zahlreicher Fachbücher zum Thema Autis- mus hat Befragungen und Gespräche mit Beschreibung der Stichprobe Menschen mit Autismus und ihren Angehöri- und der Ausgangslage vor dem gen (durch-)geführt: Sie beobachtet ver- Lockdown2 gleichbare Ängste, Sorgen und Nöte wie bei Das durchschnittliche Alter der 246 Kinder und allen anderen Menschen in unserer Gesell- Jugendlichen, deren Eltern an der Untersu- schaft. Gleichzeitig werden autismusspezifi- chung teilnahmen, lag zum Untersuchungs- sche Aspekte im Umgang mit der Pandemie zeitpunkt bei 11,2 Jahren. Es waren 193 Kna- benannt. Auch ihre Ausführungen zeigen so- ben und 51 Mädchen (Verhältnis 4:1). wohl Chancen als auch Herausforderungen. Bezüglich der Autismusdiagnosen stellen Im Vordergrund sieht sie die erhöhte Not- die Kinder und Jugendlichen mit einem As- wendigkeit an Flexibilität, den Verlust von perger-Syndrom mit 45 Prozent die grösste Strukturen und Routinen sowie die Reduzie- Diagnosegruppe dar, gefolgt von den Diag- rung bis hin zum Wegfall relevanter persön- nosen Autismus-Spektrum-Störung (24 %), licher Kontakte und Unterstützungsangebote Frühkindlicher Autismus (18 %) und Atypi- (ebd., S. 6ff.). Positive Aspekte der veränder- scher Autismus (13 %). ten Situation sehen Selbstbetroffene in der 56,9 Prozent der Kinder und Jugendlichen erfolgten Reduzierung von Anforderungen besuchten im Schuljahr der Untersuchung eine und Stressoren im Alltag. Diese beziehen sich Regelschule, 18,7 Prozent eine Heilpädagogi- sowohl auf Termine und Zeitdruck, soziale sche Schule, 11 Prozent eine Sonderschule, Regeln und Begegnungen als auch auf die 10,2 Prozent eine Privatschule. Im Home- sensorische Wahrnehmung. Wenngleich eine schooling waren vor dem Lockdown lediglich Selbstbetroffene ihr Erleben als entlastend zwei von 246 Lernenden. beschreibt: «Die Welt ist ein Stück autisti- Nur 76 Prozent der Kinder und Jugendli- scher geworden» (ebd. S. 21), spiegelt dies chen besuchten ihre Schule vor dem Lockdown nach Preissmann jedoch nur die Wahrneh- im klassenüblichen Stundenumfang, 17,9 Pro- mung einer Teilgruppe der von ihr befragten zent mit einer Stundenreduzierung und 6,1 Menschen mit Autismus. Bei zahlreichen Per- Prozent waren unregelmässig in der Schule. sonen überwiegt das Erleben gesteigerter Heilpädagogische oder therapeutische Herausforderungen. Unterstützungsangebote in der Schule erhal- ten den Elternangaben zufolge 67,9 Prozent Nebst vergleichbaren Ängsten, Sorgen und der Kinder und Jugendlichen. Nöten gibt es zugleich autismusspezifische Vor dem Lockdown waren die Klassen- Aspekte im Umgang mit der Pandemie. lehrpersonen vor den Schulischen Heilpäda- Preissmann deutet mit einzelnen Aussagen 2 Eine ausführliche Beschreibung der Stichprobe von Eltern an, dass die Herausforderungen sowie weitere Ergebnisse folgen in einem For- schungsbericht, der im Frühjahr 2021 online bei und Chancen grundsätzlich auch auf die ver- der Fachstelle Autismus an der Hochschule für änderte schulische Förderung von Kindern Heilpädagogik (HfH) sowie des Elternvereins au- und Jugendlichen mit Autismus und das fami- tismus deutsche schweiz verfügbar sein wird. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 27, 5–6 / 2021
CORONA-KRISE 29 gogen und Heilpädagoginnen die zentralen nen Zuständigkeiten und Verantwortungen Ansprechpersonen. Persönliche Begegnun- können eine Erklärung diesbezüglich bieten. gen und Telefonate wurden als häufigste Kontaktformen angegeben. Nur eine kleine 2. Wie und von wem wurden Lern- Gruppe nennt häufigeren Kontakt per E-Mail und Förderinhalte vermittelt? und Textnachrichten. Lehrmaterialien wurden durch die Lehrperso- nen postalisch versandt (58 %) und standen Zusammenfassung ausgewählter bei der Vermittlung von Lehrinhalten im Vor- Ergebnisse dergrund. In ähnlichem Umfang wurden die In der Elternbefragung wurden sechs zentra- digitalen Wege der Bereitstellung von Lern- le Fragen untersucht, die nachfolgend darge- materialien per Online-Plattform (56 %) oder legt und mit einer Zusammenfassung der E-Mail (50 %) genutzt. 28 Prozent der Lernen- wichtigsten Erkenntnisse ergänzt werden. den erhielten Unterstützung im direkten tele- fonischen oder elektronischen Kontakt mit 1. Wie hat sich die der Lehrperson. Nur 22 Prozent der Eltern ge- Kontaktgestaltung verändert? ben an, dass sie von den Lehrpersonen Tipps Durch den Wegfall persönlicher Begegnun- und Anregungen erhalten haben. 16 Prozent gen sind bislang weniger intensiv genutzte stellten die Materialien selbst zusammen. Kommunikationswege in den Vordergrund Von den 167 Lernenden, die ein Zusatz- getreten. Im Kontakt zu den Eltern entwickel- angebot (Heilpädagogik, Therapie) erhielten, te sich das Schreiben von E-Mails zur häufigs- bekamen nur 25 Prozent die Arbeitsmateria- ten Kommunikationsform vor dem telefoni- lien postalisch oder elektronisch zugesandt. schen Kontakt, der Textnachricht, der Sprach- Online-Förderangebote erhielten nur 13 Pro- nachricht und dem Videotelefonat. zent. 22 Prozent der Lernenden standen im di- Der Kontakt zu den Lernenden musste im rekten telefonischen oder elektronischen Kontext der Schulschliessungen komplett neu Kontakt. Davon geben 17 Prozent der Eltern organisiert werden. Mehr als 60 Prozent der an, dass sie Tipps und Anregungen erhalten Kinder und Jugendlichen hatten in diesem haben und 13 Prozent, dass sie zusätzliche Zeitraum mindestens einmal pro Woche Kon- Fördermaterialien zusammengestellt haben. takt zur Klassenlehrperson, zwei Drittel sogar mehrmals. Das Schreiben von E-Mails bildete 73 Prozent der Eltern sahen sich selbst auch hier die häufigste Kommunikationsform, während der Schulschliessungen in der gefolgt von der Textnachricht, dem telefoni- schen Kontakt und dem Videotelefonat in je- Hauptverantwortung für die Lernprozesse weils gleicher Intensität. Sprachnachrichten ihrer Kinder. wurden deutlich seltener genutzt. Es gab keine prägnanten Unterschiede der 3. In wessen Händen lag die Kontaktformen von Schulischen Heilpädago- zentrale Verantwortung für das ginnen und Heilpädagogen bzw. Therapeutin- Lernen? nen und Therapeuten zu denen der Klassen- Diese Frage fokussiert das subjektive Erleben lehrpersonen. Die Kontakte waren gleichwohl der Eltern und bildet die Überleitung zum weniger häufig. Die grundsätzlich verschiede- Blick auf mögliche Herausforderungen, Stol- Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 27, 5–6 / 2021
30 CORONA-KRISE persteine sowie hilfreiche Aspekte im Lernen Bei 32 Prozent der Kinder und Jugendlichen auf Distanz. 73 Prozent der Eltern sahen sich erwähnen die Eltern eine vorwiegende Ver- selbst während der Schulschliessungen in der weigerungshaltung. Im Vergleich der Lern- Hauptverantwortung für die Lernprozesse ih- motivation im regulären Schulbesuch geben rer Kinder, 19 Prozent wiesen diese den Klas- jeweils 37 Prozent an, dass die Lernmotivati- senlehrpersonen zu, 4 Prozent den Schuli- on zu Hause geringer oder vergleichbar sei, schen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen 26 Prozent sprechen von einer höheren Lern- und 3 Prozent den Lernenden. motivation. An diesen Fragen zeigt sich, dass Ein Blick auf die Zeit, die die Eltern in die die Kinder und Jugendlichen sehr unter- Lernförderung ihrer Kinder investiert haben, schiedlich auf das Lernen im häuslichen Um- kann eine mögliche Erklärung für dieses Erle- feld zu reagieren scheinen. ben bieten. So geben 33 Prozent der Eltern einen täglichen Zeitrahmen von drei Stunden 6. Wie haben sich die oder mehr, 40 Prozent ein bis zwei Stunden Schulschliessungen auf das und nur 27 Prozent einen geringeren Zeitrah- Stresserleben der Kinder, men an. Jugendlichen und ihrer Familien ausgewirkt? 4. Welche Stolpersteine sind den Auch bei dieser Frage lassen sich grosse Un- Eltern beim Lernen im häuslichen terschiede sowohl innerhalb der Gruppe der Umfeld begegnet? Lernenden mit Autismus als auch den Fami- Je 51 Prozent der Eltern geben auf diese Fra- lien beobachten (Abb. 1). Auf der Ebene der ge eine geringe Lernmotivation ihres Kindes Kinder und Jugendlichen zeigt sich eine be- sowie den Rollenkonflikt als «lehrende» El- eindruckende Zahl von 63 Prozent, die aus tern an. Weiter fehlten mit 39 Prozent die der Elternperspektive ein sichtbar geringes zeitlichen Ressourcen und mit 28 Prozent die Erleben von Stress und Überforderung ge- Passung der bereitgestellten Angebote zu zeigt haben. Gleichzeitig stehen dieser Grup- den Bedürfnissen der Kinder und Jugendli- pe 25 Prozent mit einem erhöhten Stresserle- chen. Technische Grenzen werden von weni- ben gegenüber. Auf der familiären Ebene hal- ger als 10 Prozent genannt. 15 Prozent der El- ten sich das höhere (42 %) oder geringere Er- tern geben an, dass es keine Stolpersteine leben (41 %) von Stress und Überforderung gegeben hätte. quasi die Waage. Mögliche Faktoren, die auf dieses Erle- 5. Wie hat sich das Lernen im häusli- ben Einfluss haben können, lassen sich aus chen Umfeld auf das Lernverhalten ergänzenden Fragen ablesen. Diese offen ge- und die Lernmotivation der Kinder stellten Fragen wurden induktiv und katego- und Jugendlichen ausgewirkt? riengenerierend ausgewertet. Im Folgenden Zu diesen beiden Aspekten zeigt sich aus der werden zunächst die unterstützenden, dann Perspektive der Eltern eine recht breite Streu- die herausfordernden Kategorien aus der El- ung. Die Eltern sprechen 16 Prozent der Ler- ternperspektive dargestellt. nenden eine hohe Eigenmotivation zu, selbst- ständig zu lernen. 52 Prozent nennen eine überwiegend vorhandene Lernbereitschaft. Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 27, 5–6 / 2021
CORONA-KRISE 31 70% 60% 50% Erleben von Stress und Überfroderung im Erleben von Stress und Überfroderung im Alltag für die Kinder und Jugendlichen Alltag für die Familie 40% höher 25 % 42 % 30% vergleichbar 13 % 17 % 20% geringer 63 % 41 % 10% 0% höher vergleichbar geringer Erleben von Stress und Überforderung im Alltag für die Kinder und Jugendlichen Erleben von Stress und Überforderung im Alltag für die Familie Abbildung 1: Erleben von Stress und Überforderung während der Schulschliessungen • Unterstützende Aspekte: ein flexibles Ableitungen und Empfehlungen für Zeitmanagement, die gewonnene Fami- die Zukunft lienzeit und die Reduktion von schuli- Ein letzter Themenblock der Elternbefragung schen, sensorischen und sozialen Anfor- widmete sich dem Blick in die Zukunft. In einer derungen für ihr Kind, die Bereitstellung Zusammenführung der Ergebnisse, der weite- von adäquaten Lernangeboten und ein ren Erkenntnisse der Untersuchung und unter guter Austausch mit den schulischen Einbezug aktueller Publikationen (Boehme, Fachpersonen. Aus Kinderperspektive 2020; Eckert, im Druck) leiten wir folgende ergänzen die Eltern an erster Stelle die Kernaussagen und Empfehlungen ab: deutliche Erweiterung von Ruhe und • Menschen mit Autismus können im All- Entspannungsmöglichkeiten, die selbst- tag mit einer Vielzahl an Stressoren, ins- bestimmte Zeit- und Arbeitseinteilung besondere auf den Ebenen der Sinnes- sowie die Reduktion schulischer und so- wahrnehmung, der Handlungsplanung zialer Anforderungen. und der sozialen Interaktion konfrontiert • Herausfordernde Aspekte: Übernahme sein. Welchen Stressoren Kinder oder Ju- der Verantwortung für das Lernen des ei- gendliche mit Autismus in ihrer Schule genen Kindes inklusive der Wissensver- begegnen, gilt es im Einzelfall differen- mittlung und Motivierung, umfangreiche ziert zu betrachten. Betreuungszeiten, Mehrfachbelastung • Stressreduktion kann auf vielfältige Wei- durch Arbeit, Haushalt und erweiterte se erfolgen und bedarf einer individuel- Kinderbetreuung sowie Reduktion ge- len Anpassung. Die Schaffung von Struk- wohnter Strukturen im familiären Alltag. tur, Klarheit und Vorhersehbarkeit bei Aus Sicht der Kinder werden das Fehlen Abläufen und Anforderungen, die Be- von Strukturen sowie die veränderte fa- reitstellung von zusätzlichen Pausen und miliäre Zeit- und Rollenaufteilung am Entspannungsmöglichkeiten, die Reduk- häufigsten genannt, gefolgt von fehlen- tion von Lerninhalten oder die Unter- den Sozialkontakten und den Anforde- stützung bei sozialen Herausforderun- rungen des selbstständigen Lernens. gen können im Einzelfall eine entschei- Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 27, 5–6 / 2021
32 CORONA-KRISE dende Reduktion von Stress und Über- tung adäquater Lernangebote. Dem fami- forderung bewirken. liären Stresserleben soll soweit möglich • Die Ergebnisse der Untersuchung stützen gemeinsam entgegengewirkt werden. die fachliche Sichtweise, dass es nicht den einen richtigen Lernort für Lernende Literatur mit Autismus oder die grundsätzlich pas- Autism Europe (2020). Impact of COVID-19 sende Lernform gibt. Vielmehr gilt es on autistic people and their families across auch diesbezüglich im Einzelfall nach Europe. www.autismeurope.org/wp-con- dem passenden Lernumfeld und adäqua- tent /uploads / 2020/12 / Impact-of- CO - ten Lernformen zu suchen. Vor- und VID-19_report-_Autism-Europe_Decem- Nachteile reduzierter Präsenzzeiten, er- ber-2020.pdf höhter Selbstlernanteile, kleinerer und Boehme, D. (2020). «Schule zu. Alles aus?» grösserer Lerngruppen oder digitaler Was wir aus den Schulschließungen ler- Lernformen sind für die jeweiligen Ler- nen können. Autismus. Zeitschrift des nenden individuell zu betrachten. Ein dif- Bundesverbandes Autismus Deutschland, ferenzierter Blick auf die Lernvorausset- 2, 8–11. zungen, eine Flexibilität bei der Wahl des Eckert, A. (im Druck). Autismussensibler Un- Lernortes sowie enge Kooperationen terricht. In A. Kunz, R. Luder & C. Müller zwischen verschiedenen Schulformen Bösch (Hrsg.), Inklusive Pädagogik und Di- wären diesbezüglich wünschenswert. daktik. Bern: hep. • Der enge Austausch mit den Eltern und ei- Nashef, A. (2020). Autismus und Autismus- ne durch Offenheit geprägte Kooperation therapie in Zeiten von Corona: eine Chan- sind wichtig. Die Elternperspektive er- ce? psychopraxis. neuropraxis. https://doi. möglicht ein besseres Verständnis sowohl org/10.1007/s00739-020-00641-9 der individuellen Besonderheiten der Kin- Preissmann, C. (2020). Menschen im Autis- der und Jugendlichen mit Autismus als musspektrum und die Corona-Pandemie. auch hilfreicher Aspekte für die Gestal- Books on Demand. Prof. Dr. Andreas Eckert Sandra Kamm Jehli Interkantonale Hochschule sandra@jehli.ch für Heilpädagogik https://varietad.ch andreas.eckert@hfh.ch www.hfh.ch/fachstelle-autismus Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 27, 5–6 / 2021
Sie können auch lesen