Schule und Autismus: Was können wir aus der Corona-Krise lernen? - SZH/CSPS

 
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Andreas Eckert und Sandra Kamm Jehli

Schule und Autismus:
Was können wir aus der Corona-Krise lernen?

Zusammenfassung
Wie haben sich die Schulschliessungen in den Monaten März bis Mai 2020 einerseits auf die schulische Förderung
von Kindern und Jugendlichen mit Autismus, andererseits auf das familiäre Leben während dieser Zeit ausgewirkt?
Es werden Ergebnisse einer Elternbefragung (N=246) über die Zeit des Lockdowns präsentiert. Erfahrungen und He-
rausforderungen werden aus Sicht der Eltern beschrieben. Was kann daraus für die zukünftige schulische Förderung
von Lernenden mit Autismus sowie die Begleitung und Unterstützung der Eltern abgeleitet werden?

Résumé
Quelles ont été les répercussions des fermetures d’écoles de mars à mai 2020, d’une part sur la scolarité des enfants
et adolescents autistes, d’autre part sur la vie familiale durant cette période ? Cet article présente les résultats d’une
enquête menée auprès de parents (N=246) sur la période du confinement. Les expériences et défis y sont décrits de
leur point de vue. Quelles leçons peut-on en tirer à l’avenir pour mieux soutenir et accompagner les élèves ainsi que
leurs parents ?

Permalink: www.szh-csps.ch/z2021-05-03

                         Einleitung                                           Familien mit einem Kind mit Autismus1 im
                         Am 16. März 2020 wurden – parallel zur Erklä-        Schulalter wurden wie alle anderen Familien
                         rung der «ausserordentlichen Lage» durch             von den Schulschliessungen überrascht. Kin-
                         den Bundesrat – schweizweit alle Schulen ge-         der und Jugendliche mit Autismus sind viel-
                         schlossen. Eine erneute Öffnung der Schulen          fach besonders auf Routinen angewiesen. Sie
                         erfolgte schrittweise ab dem 11. Mai 2020.           können von unerwarteten Veränderungen
                         Aufgrund des rasanten Tempos der Pandemie-           überfordert sein und im familiären Leben
                         entwicklung in den ersten Monaten des Jahres         häufig eine intensivere Betreuung benötigen.
                         2020 zeichneten sich die Schulschliessungen          Darum können erhöhte Belastungsrisiken für
                         erst kurze Zeit vor deren Eintreten ab. Alle da-     diese Personengruppe wie auch ihre Eltern
                         von betroffenen Personen wie Schulleitungen          gefolgert werden.
                         und Lehrpersonen, Eltern und Familien sowie              Diese Erwartungen wurden von Mitar-
                         Schülerinnen und Schüler wurden ohne grös-           beitenden verschiedener Beratungsstellen
                         sere Vorbereitung mit dieser Ausnahmesitua-          und unmittelbar betroffenen Müttern im
                         tion konfrontiert. Schnelles Reagieren, teils
                         Improvisieren wurde insbesondere in den ers-         1
                                                                                  Der Begriff Autismus wird in der aktuellen Fach-
                         ten Wochen zu einer alltäglichen Aufgabe und             diskussion synonym zur Autismus-Spektrum-Stö-
                         Herausforderung für Fachpersonen wie für El-             rung als Oberbegriff für die verschiedenen Subdi-
                                                                                  agnosen nach ICD-10 genutzt. Um den defizitär
                         tern, in deren Verantwortung nun die Neuor-
                                                                                  interpretierbaren «Störungsbegriff» zu vermei-
                         ganisation der Betreuung und teils auch Un-              den, wird er im Folgenden in diesem Verständnis
                         terrichtung ihrer Kinder lag.                            verwendet.

                                                                        Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 27, 5–6 / 2021
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Frühjahr 2020 teils bestätigt. Stark belastete                 im deutschsprachigen Raum analysierten au-
Eltern nahmen deutlich häufiger Kontakt                        tismusspezifische Aspekte der Corona-Krise,
zu Beratungsstellen auf. In der Regel stand                    wie beispielsweise mögliche Wechselwirkun-
dabei die grosse Herausforderung im Vorder-                    gen zwischen der veränderten gesellschaftli-
grund, die Betreuung der eigenen Kinder mit                    chen Lebensgestaltung und den Besonder-
­Autismus sowie deren schulische Förderung                     heiten im Wahrnehmen, Denken und Han-
 im häuslichen Umfeld für alle weitgehend                      deln von Menschen mit Autismus (Nashef,
 ­zufriedenstellend zu gestalten. Gleichzeitig                 2020; Preissmann, 2020).
  wurden aber auch zahlreiche Gespräche er-
  wähnt, in denen Eltern von einer entspannte-                 Zahlreiche Eltern berichten von einer
  ren familiären Situation und einer verbesser-
                                                               entspannteren familiären Situation und einer
  ten Befindlichkeit ihres Kindes mit Autismus
                                                               besseren Befindlichkeit ihres Kindes mit
  während des Lockdowns berichteten.
      Basierend auf diesen Erfahrungen ent-                    Autismus während des Lockdowns.
  stand die Idee, das elterliche Erleben der
  Schulschliessungen und deren Auswirkungen                    Nashef (2020, S. 116) sieht die Corona-Krise
  auf die Situation der Kinder und Jugendlichen                einerseits mit einem besonderen «Bedro-
  mit Autismus, ihre schulische Förderung und                  hungspotenzial» für Menschen mit Autismus
  das familiäre Leben differenziert zu untersu-                verbunden. Dafür gibt es verschiedene Grün-
  chen. Daraus sollten hilfreiche Folgerungen                  de: Verunsicherungen in Bezug auf die per-
  und Empfehlungen für die Zukunft abgeleitet                  sönliche Unversehrtheit, Störungen von
  werden. In Kooperation mit dem Elternverein                  ­Routinen im Alltag, die Notwendigkeit des
  autismus deutsche schweiz wurde im Mai                        flexiblen Reagierens sowie gesteigerte Un-
  2020 eine von uns konzipierte Elternbefra-                    vorhersehbarkeiten hinsichtlich zukünftiger
  gung über Newsletters, Blogs und Websites                     Entwicklungen. Andererseits zählt Nashef
  von Interessensverbänden publiziert. Bis zur                  (ebd., S. 116f.) verschiedene «Entlastungspo-
  Beendigung der Umfrage im Juli 2020 nahmen                    tenziale» auf, die sich für Menschen mit Au-
  mehr als 250 Eltern an dieser Befragung teil,                 tismus aus der veränderten gesellschaftli-
  246 Antworten flossen in die Auswertung ein.                  chen Situation ergeben können: Bedeutungs-
                                                                gewinn von «medialen Alternativen zu Vis-à-
Autismus und die Corona-Krise                                   vis-Begegnungen», «Reizreduzierung» durch
Bereits in den ersten Wochen der Pandemie                       verringerte Aufenthalte im öffentlichen
reagierten die Eltern- und Interessensver-                      Raum, «Gebot des ‹physical distancing›» und
bände auf die neuen Herausforderungen für                       der damit verbundenen Vermeidung einer
Menschen mit Autismus und publizierten                          vielfach als unangenehm beschriebenen kör-
Ratschläge und Materialien zum Umgang                           perlichen Nähe, Option der Meidung von
mit der Corona-Krise und den besonderen                         «herausfordernden Systemen im öffentlichen
An­forderungen im Alltag. Es folgten Aufrufe                    Raum» wie die Schliessung von Schulen und
zur Teilnahme an grösseren wissenschaftli-                      Universitäten sowie eine «mediale wissen-
chen Untersuchungen zu den Auswirkungen                         schaftlich-sachliche Auseinandersetzung»
der Pandemie auf diese Personengruppe                           mit der besonderen Situation in der Pande-
(Autism Europe, 2020). Erste Publikationen                      mie.

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 27, 5–6 / 2021
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               Preissmann (2020), Ärztin für Psychothera-          liäre Erleben in Zeiten der Schulschliessungen
               pie, selbst mit Asperger-Syndrom und Auto-          übertragen werden können.
               rin zahlreicher Fachbücher zum Thema Autis-
               mus hat Befragungen und Gespräche mit               Beschreibung der Stichprobe
               Menschen mit Autismus und ihren Angehöri-           und der Ausgangslage vor dem
               gen (durch-)geführt: Sie beobachtet ver-            Lockdown2
               gleichbare Ängste, Sorgen und Nöte wie bei          Das durchschnittliche Alter der 246 Kinder und
               allen anderen Menschen in unserer Gesell-           Jugendlichen, deren Eltern an der Untersu-
               schaft. Gleichzeitig werden autismusspezifi-        chung teilnahmen, lag zum Untersuchungs-
               sche Aspekte im Umgang mit der Pandemie             zeitpunkt bei 11,2 Jahren. Es waren 193 Kna-
               benannt. Auch ihre Ausführungen zeigen so-          ben und 51 Mädchen (Verhältnis 4:1).
               wohl Chancen als auch Herausforderungen.                Bezüglich der Autismusdiagnosen stellen
               Im Vordergrund sieht sie die erhöhte Not-           die Kinder und Jugendlichen mit einem As-
               wendigkeit an Flexibilität, den Verlust von         perger-Syndrom mit 45 Prozent die grösste
               Strukturen und Routinen sowie die Reduzie-          Diagnosegruppe dar, gefolgt von den Diag-
               rung bis hin zum Wegfall relevanter persön-         nosen Autismus-Spektrum-Störung (24 %),
               licher Kontakte und Unterstützungsangebote          Frühkindlicher Autismus (18 %) und Atypi-
               (ebd., S. 6ff.). Positive Aspekte der veränder-     scher Autismus (13 %).
               ten Situation sehen Selbstbetroffene in der             56,9 Prozent der Kinder und Jugendlichen
               erfolgten Reduzierung von Anforderungen             besuchten im Schuljahr der Untersuchung eine
               und Stressoren im Alltag. Diese beziehen sich       Regelschule, 18,7 Prozent eine Heilpädagogi-
               sowohl auf Termine und Zeitdruck, soziale           sche Schule, 11 Prozent eine Sonderschule,
               Regeln und Begegnungen als auch auf die             10,2 Prozent eine Privatschule. Im Home-
               sensorische Wahrnehmung. Wenngleich eine            schooling waren vor dem Lockdown lediglich
               Selbstbetroffene ihr Erleben als entlastend         zwei von 246 Lernenden.
               beschreibt: «Die Welt ist ein Stück autisti-            Nur 76 Prozent der Kinder und Jugendli-
               scher geworden» (ebd. S. 21), spiegelt dies         chen besuchten ihre Schule vor dem Lockdown
               nach Preissmann jedoch nur die Wahrneh-             im klassenüblichen Stundenumfang, 17,9 Pro-
               mung einer Teilgruppe der von ihr befragten         zent mit einer Stundenreduzierung und 6,1
               Menschen mit Autismus. Bei zahlreichen Per-         Prozent waren unregelmässig in der Schule.
               sonen überwiegt das Erleben gesteigerter                Heilpädagogische oder therapeutische
               Herausforderungen.                                  Unterstützungsangebote in der Schule erhal-
                                                                   ten den Elternangaben zufolge 67,9 Prozent
Nebst vergleichbaren Ängsten, Sorgen und                           der Kinder und Jugendlichen.
Nöten gibt es zugleich autismusspezifische                             Vor dem Lockdown waren die Klassen-
Aspekte im Umgang mit der Pandemie.                                lehrpersonen vor den Schulischen Heilpäda-

               Preissmann deutet mit einzelnen Aussagen            2
                                                                        Eine ausführliche Beschreibung der Stichprobe
               von Eltern an, dass die Herausforderungen               s­owie weitere Ergebnisse folgen in einem For-
                                                                        schungsbericht, der im Frühjahr 2021 online bei
               und Chancen grundsätzlich auch auf die ver-
                                                                        der Fachstelle Autismus an der Hochschule für
               änderte schulische Förderung von Kindern                 Heilpädagogik (HfH) sowie des Elternvereins au-
               und Jugendlichen mit Autismus und das fami-              tismus deutsche schweiz verfügbar sein wird.

                                                             Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 27, 5–6 / 2021
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gogen und Heilpädagoginnen die zentralen                       nen Zuständigkeiten und Verantwortungen
Ansprechpersonen. Persönliche Begegnun-                        können eine Erklärung diesbezüglich bieten.
gen und Telefonate wurden als häufigste
Kontaktformen angegeben. Nur eine kleine                       2. Wie und von wem wurden Lern-
Gruppe nennt häufigeren Kontakt per E-Mail                     und Förderinhalte vermittelt?
und Textnachrichten.                                           Lehrmaterialien wurden durch die Lehrperso-
                                                               nen postalisch versandt (58 %) und standen
Zusammenfassung ausgewählter                                   bei der Vermittlung von Lehrinhalten im Vor-
Ergebnisse                                                     dergrund. In ähnlichem Umfang wurden die
In der Elternbefragung wurden sechs zentra-                    digitalen Wege der Bereitstellung von Lern-
le Fragen untersucht, die nachfolgend darge-                   materialien per Online-Plattform (56 %) oder
legt und mit einer Zusammenfassung der                         E-Mail (50 %) genutzt. 28 Prozent der Lernen-
wichtigsten Erkenntnisse ergänzt werden.                       den erhielten Unterstützung im direkten tele-
                                                               fonischen oder elektronischen Kontakt mit
1. Wie hat sich die                                            der Lehrperson. Nur 22 Prozent der Eltern ge-
Kontaktgestaltung verändert?                                   ben an, dass sie von den Lehrpersonen Tipps
Durch den Wegfall persönlicher Begegnun-                       und Anregungen erhalten haben. 16 Prozent
gen sind bislang weniger intensiv genutzte                     stellten die Materialien selbst zusammen.
Kommunikationswege in den Vordergrund                               Von den 167 Lernenden, die ein Zusatz-
getreten. Im Kontakt zu den Eltern entwickel-                  angebot (Heilpädagogik, Therapie) erhielten,
te sich das Schreiben von E-Mails zur häufigs-                 bekamen nur 25 Prozent die Arbeitsmateria-
ten Kommunikationsform vor dem telefoni-                       lien postalisch oder elektronisch zugesandt.
schen Kontakt, der Textnachricht, der Sprach-                  Online-Förderangebote erhielten nur 13 Pro-
nachricht und dem Videotelefonat.                              zent. 22 Prozent der Lernenden standen im di-
     Der Kontakt zu den Lernenden musste im                    rekten telefonischen oder elektronischen
Kontext der Schulschliessungen komplett neu                    Kontakt. Davon geben 17 Prozent der Eltern
organisiert werden. Mehr als 60 Prozent der                    an, dass sie Tipps und Anregungen erhalten
Kinder und Jugendlichen hatten in diesem                       haben und 13 Prozent, dass sie zusätzliche
Zeitraum mindestens einmal pro Woche Kon-                      Fördermaterialien zusammengestellt haben.
takt zur Klassenlehrperson, zwei Drittel sogar
mehrmals. Das Schreiben von E-Mails bildete                    73 Prozent der Eltern sahen sich selbst
auch hier die häufigste Kommunikationsform,
                                                               während der Schulschliessungen in der
gefolgt von der Textnachricht, dem telefoni-
schen Kontakt und dem Videotelefonat in je-                    Hauptverantwortung für die Lernprozesse
weils gleicher Intensität. Sprachnachrichten                   ihrer Kinder.
wurden deutlich seltener genutzt.
     Es gab keine prägnanten Unterschiede der                  3. In wessen Händen lag die
Kontaktformen von Schulischen Heilpädago-                      zentrale Verantwortung für das
ginnen und Heilpädagogen bzw. Therapeutin-                     Lernen?
nen und Therapeuten zu denen der Klassen-                      Diese Frage fokussiert das subjektive Erleben
lehrpersonen. Die Kontakte waren gleichwohl                    der Eltern und bildet die Überleitung zum
weniger häufig. Die grundsätzlich verschiede-                  Blick auf mögliche Herausforderungen, Stol-

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 27, 5–6 / 2021
30   CORONA-KRISE

     persteine sowie hilfreiche Aspekte im Lernen           Bei 32 Prozent der Kinder und Jugendlichen
     auf Distanz. 73 Prozent der Eltern sahen sich          erwähnen die Eltern eine vorwiegende Ver-
     selbst während der Schulschliessungen in der           weigerungshaltung. Im Vergleich der Lern-
     Hauptverantwortung für die Lernprozesse ih-            motivation im regulären Schulbesuch geben
     rer Kinder, 19 Prozent wiesen diese den Klas-          jeweils 37 Prozent an, dass die Lernmotivati-
     senlehrpersonen zu, 4 Prozent den Schuli-              on zu Hause geringer oder vergleichbar sei,
     schen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen               26 Prozent sprechen von einer höheren Lern-
     und 3 Prozent den Lernenden.                           motivation. An diesen Fragen zeigt sich, dass
          Ein Blick auf die Zeit, die die Eltern in die     die Kinder und Jugendlichen sehr unter-
     Lernförderung ihrer Kinder investiert haben,           schiedlich auf das Lernen im häuslichen Um-
     kann eine mögliche Erklärung für dieses Erle-          feld zu reagieren scheinen.
     ben bieten. So geben 33 Prozent der Eltern
     einen täglichen Zeitrahmen von drei Stunden            6. Wie haben sich die
     oder mehr, 40 Prozent ein bis zwei Stunden             Schulschliessungen auf das
     und nur 27 Prozent einen geringeren Zeitrah-           Stresserleben der Kinder,
     men an.                                                Jugendlichen und ihrer Familien
                                                            ausgewirkt?
     4. Welche Stolpersteine sind den                       Auch bei dieser Frage lassen sich grosse Un-
     Eltern beim Lernen im häuslichen                       terschiede sowohl innerhalb der Gruppe der
     Umfeld begegnet?                                       Lernenden mit Autismus als auch den Fami-
     Je 51 Prozent der Eltern geben auf diese Fra-          lien beobachten (Abb. 1). Auf der Ebene der
     ge eine geringe Lernmotivation ihres Kindes            Kinder und Jugendlichen zeigt sich eine be-
     sowie den Rollenkonflikt als «lehrende» El-            eindruckende Zahl von 63 Prozent, die aus
     tern an. Weiter fehlten mit 39 Prozent die             der Elternperspektive ein sichtbar geringes
     zeitlichen Ressourcen und mit 28 Prozent die           Erleben von Stress und Überforderung ge-
     Passung der bereitgestellten Angebote zu               zeigt haben. Gleichzeitig stehen dieser Grup-
     den Bedürfnissen der Kinder und Jugendli-              pe 25 Prozent mit einem erhöhten Stresserle-
     chen. Technische Grenzen werden von weni-              ben gegenüber. Auf der familiären Ebene hal-
     ger als 10 Prozent genannt. 15 Prozent der El-         ten sich das höhere (42 %) oder geringere Er-
     tern geben an, dass es keine Stolpersteine             leben (41 %) von Stress und Überforderung
     gegeben hätte.                                         quasi die Waage.
                                                                 Mögliche Faktoren, die auf dieses Erle-
     5. Wie hat sich das Lernen im häusli-                  ben Einfluss haben können, lassen sich aus
     chen Umfeld auf das Lernverhalten                      ergänzenden Fragen ablesen. Diese offen ge-
     und die Lernmotivation der Kinder                      stellten Fragen wurden induktiv und katego-
     und Jugendlichen ausgewirkt?                           riengenerierend ausgewertet. Im Folgenden
     Zu diesen beiden Aspekten zeigt sich aus der           werden zunächst die unterstützenden, dann
     Perspektive der Eltern eine recht breite Streu-        die herausfordernden Kategorien aus der El-
     ung. Die Eltern sprechen 16 Prozent der Ler-           ternperspektive dargestellt.
     nenden eine hohe Eigenmotivation zu, selbst-
     ständig zu lernen. 52 Prozent nennen eine
     überwiegend vorhandene Lernbereitschaft.

                                                      Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 27, 5–6 / 2021
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 70%
 60%
 50%                                Erleben von Stress und Überfroderung im   Erleben von Stress und Überfroderung im
                                    Alltag für die Kinder und Jugendlichen    Alltag für die Familie
 40%
   höher                            25 %                                      42 %
 30%
   vergleichbar                     13 %                                      17 %
 20%
   geringer                         63 %                                      41 %
 10%
   0%
                       höher                             vergleichbar                            geringer

              Erleben von Stress und Überforderung im Alltag für die Kinder und Jugendlichen
              Erleben von Stress und Überforderung im Alltag für die Familie

Abbildung 1: Erleben von Stress und Überforderung während der Schulschliessungen

• Unterstützende Aspekte: ein flexibles                          Ableitungen und Empfehlungen für
  Zeitmanagement, die gewonnene Fami-                            die Zukunft
  lienzeit und die Reduktion von schuli-                         Ein letzter Themenblock der Elternbefragung
  schen, sensorischen und sozialen Anfor-                        widmete sich dem Blick in die Zukunft. In einer
  derungen für ihr Kind, die Bereitstellung                      Zusammenführung der Ergebnisse, der weite-
  von adäquaten Lernangeboten und ein                            ren Erkenntnisse der Untersuchung und unter
  guter Austausch mit den schulischen                            Einbezug aktueller Publikationen ­(Boehme,
  Fachpersonen. Aus Kinderperspektive                            2020; Eckert, im Druck) leiten wir folgende
  ergänzen die Eltern an erster Stelle die                       Kernaussagen und Empfehlungen ab:
  deutliche Erweiterung von Ruhe und                             • Menschen mit Autismus können im All-
  Entspannungsmöglichkeiten, die selbst-                            tag mit einer Vielzahl an Stressoren, ins-
  bestimmte Zeit- und Arbeitseinteilung                             besondere auf den Ebenen der Sinnes-
  sowie die Reduktion schulischer und so-                           wahrnehmung, der Handlungsplanung
  zialer Anforderungen.                                             und der sozialen Interaktion konfrontiert
• Herausfordernde Aspekte: Übernahme                                sein. Welchen Stressoren Kinder oder Ju-
  der Verantwortung für das Lernen des ei-                          gendliche mit Autismus in ihrer Schule
  genen Kindes inklusive der Wissensver-                            begegnen, gilt es im Einzelfall differen-
  mittlung und Motivierung, umfangreiche                            ziert zu betrachten.
  Betreuungszeiten, Mehrfachbelastung                            • Stressreduktion kann auf vielfältige Wei-
  durch Arbeit, Haushalt und erweiterte                             se erfolgen und bedarf einer individuel-
  Kinderbetreuung sowie Reduktion ge-                               len Anpassung. Die Schaffung von Struk-
  wohnter Strukturen im familiären Alltag.                          tur, Klarheit und Vorhersehbarkeit bei
  Aus Sicht der Kinder werden das Fehlen                            Abläufen und Anforderungen, die Be-
  von Strukturen sowie die veränderte fa-                           reitstellung von zusätzlichen Pausen und
  miliäre Zeit- und Rollenaufteilung am                             Entspannungsmöglichkeiten, die Reduk-
  häufigsten genannt, gefolgt von fehlen-                           tion von Lerninhalten oder die Unter-
  den Sozialkontakten und den Anforde-                              stützung bei sozialen Herausforderun-
  rungen des selbstständigen Lernens.                               gen können im Einzelfall eine entschei-

Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 27, 5–6 / 2021
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       dende Reduktion von Stress und Über-               tung adäquater Lernangebote. Dem fami-
       forderung bewirken.                                liären Stresserleben soll soweit möglich
     • Die Ergebnisse der Untersuchung stützen            gemeinsam entgegengewirkt werden.
       die fachliche Sichtweise, dass es nicht
       den einen richtigen Lernort für Lernende       Literatur
       mit Autismus oder die grundsätzlich pas-       Autism Europe (2020). Impact of COVID-19
       sende Lernform gibt. Vielmehr gilt es              on autistic people and their families across
       auch diesbezüglich im Einzelfall nach              Europe. www.autismeurope.org/wp-con-
       dem passenden Lernumfeld und adäqua-               tent /uploads / 2020/12 / Impact-of- CO -
       ten Lernformen zu suchen. Vor- und                 VID-19_report-_Autism-Europe_Decem-
       Nachteile reduzierter Präsenzzeiten, er-           ber-2020.pdf
       höhter Selbstlernanteile, kleinerer und        Boehme, D. (2020). «Schule zu. Alles aus?»
       grösserer Lerngruppen oder digitaler               Was wir aus den Schulschließungen ler-
       Lernformen sind für die jeweiligen Ler-            nen können. Autismus. Zeitschrift des
       nenden individuell zu betrachten. Ein dif-         Bundesverbandes Autismus Deutschland,
       ferenzierter Blick auf die Lernvorausset-          2, 8–11.
       zungen, eine Flexibilität bei der Wahl des     Eckert, A. (im Druck). Autismussensibler Un-
       Lernortes sowie enge Kooperationen                 terricht. In A. Kunz, R. Luder & C. Müller
       zwischen verschiedenen Schulformen                 Bösch (Hrsg.), Inklusive Pädagogik und Di-
       wären diesbezüglich wünschenswert.                 daktik. Bern: hep.
     • Der enge Austausch mit den Eltern und ei-      Nashef, A. (2020). Autismus und Autismus-
       ne durch Offenheit geprägte Kooperation            therapie in Zeiten von Corona: eine Chan-
       sind wichtig. Die Elternperspektive er-            ce? psychopraxis. neuropraxis. https://doi.
       möglicht ein besseres Verständnis sowohl           org/10.1007/s00739-020-00641-9
       der individuellen Besonderheiten der Kin-      Preissmann, C. (2020). Menschen im Autis-
       der und Jugendlichen mit Autismus als              musspektrum und die Corona-Pandemie.
       auch hilfreicher Aspekte für die Gestal-           Books on Demand.

     Prof. Dr. Andreas Eckert                         Sandra Kamm Jehli
     Interkantonale Hochschule                        sandra@jehli.ch
     für Heilpädagogik                                https://varietad.ch
     andreas.eckert@hfh.ch
     www.hfh.ch/fachstelle-autismus

                                                Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik, Jg. 27, 5–6 / 2021
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