Schule vielfältig und inklusiv gestalten. Beiträge der Jugendsozialarbeit - Expertise zur Qualitätsentwicklung

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Schule vielfältig und inklusiv gestalten. Beiträge der Jugendsozialarbeit - Expertise zur Qualitätsentwicklung
Deutsches Rotes Kreuz e.V.

  Schule vielfältig und inklusiv gestalten.
  Beiträge der Jugendsozialarbeit.
  Expertise zur Qualitätsentwicklung
Schule vielfältig und inklusiv gestalten. Beiträge der Jugendsozialarbeit - Expertise zur Qualitätsentwicklung
Impressum

Schule vielfältig und inklusiv gestalten.
Beiträge der Jugendsozialarbeit.
- Expertise zur Qualitätsentwicklung -

Autorin
Tina Alicke
Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) e.V.

Teil A
Schule vielfältig und inklusiv gestalten.
Grundlagen einer an Vielfalt orientierten pädagogischen Praxis.

Teil B
Schule vielfältig und inklusiv gestalten.
Rahmenbedingungen der Umsetzung einer inklusiven Schule

Soweit in dieser Broschüre Begriffe vorkommen, für die sowohl die weibliche als auch die männliche Form verwendet
werden kann, beinhaltet der verwendete Begriff keine Festlegung auf die weibliche oder männliche Person.

Herausgeber
Deutsches Rotes Kreuz e.V.
Carstennstraße 58
12205 Berlin
www.drk.de

Redaktionelle und konzeptionelle Gesamtverantwortung
Peggy Ziethen
DRK-Generalsekretariat
Team Kinder-, Jugend- und Familienhilfe

Titelbild
Ben/Fotolia, Franz Pfluegl/Fotolia, Christian Sekulic/istockphoto

Satz/Layout/Druck
DRK-Service GmbH, Berlin

Die Broschüre ist durch das Deutsche Rote Kreuz im Rahmen seiner Tätigkeiten innerhalb des Kooperationsverbund
Jugendsozialarbeit erstellt worden. Das Deutsche Rote Kreuz ist innerhalb des Kooperationsverbundes federführend für
den Bereich „Jugendsozialarbeit und Schule“.

© 2012 Deutsches Rotes Kreuz e.V., Berlin

                                                           Kooperationsverbund
                                                           Jugendsozialarbeit
Schule vielfältig und inklusiv gestalten. Beiträge der Jugendsozialarbeit - Expertise zur Qualitätsentwicklung
Schule vielfältig und inklusiv gestalten.
                                                                                                                         Beiträge der Jugendsozialarbeit

                                                                                                                         - Expertise zur Qualitätsentwicklung -

Über die Autorin

Tina Alicke, M.A., ist nach langjähriger Auslandstätigkeit seit 2007 als wissenschaftliche Mitarbeiterin am
Institut für Sozialarbeit und Sozialarbeit e.V. (ISS) in Frankfurt a.M. in den Schwerpunkten „Migration“, „Inklusion“,
„Bildung“ sowie „Gesundheit“ beschäftigt. In diesem Rahmen ist sie mit der Durchführung von Studien (z.B. der
AWO-ISS-Studie „Resilienz und Lebensbewältigungsstrategien und Jugendlichen mit Migrationshintergrund am
Übergang von Schule in Ausbildung“), der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation und Projekten und dem
Transfer als Referentin und Autorin von Fachveröffentlichungen, darunter mehrere DRK-Expertisen, befasst. Wei-
terhin ist sie leitende Redakteurin der Fachzeitschrift „Migration und Soziale Arbeit“. Berufsbegleitend absolviert
Frau Alicke einen Masterstudiengang in Public Health.
E-Mail-Adresse: tina.alicke@iss-ffm.de

Das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V. (ISS-Frankfurt a. M.) beobachtet, analysiert, begleitet und
gestaltet seit 1974 Entwicklungsprozesse der Sozialen Arbeit und erbringt wissenschaftliche Dienstleistungen für
Ministerien, Kommunen, Wohlfahrtsverbände und Einrichtungsträger.
Schule vielfältig und inklusiv gestalten. Beiträge der Jugendsozialarbeit - Expertise zur Qualitätsentwicklung
Editorial

                                                                                                                      Mit der Ratifizierung und Umsetzung der UN Behin-         ist. Um eine an Vielfalt orientierte, inklusive Schule
                                                                                                                      dertenrechtskonvention erfährt der Diskurs um das         zu gestalten und das Recht eines jeden Kindes auf
                                                                                                                      Recht von Kindern und Jugendlichen auf einen gleich-      eine gemeinsame Bildung von Anfang an umzuset-
                                                                                                                      berechtigten Schulbesuch an Aktualität. Eine sich als     zen, sind daher Bewusstseinsprozesse auf allen ge-
                                                                                                                      inklusiv verstehende Schule ist dabei der Schlüssel,      sellschaftlichen Ebenen notwendig. Im Mittelpunkt
                                                                                                                      um den vielfältigen Lebenslagen junger Menschen ge-       des fachpolitischen Diskurses stehen dabei vor allem
                                                                                                                      recht zu werden. In der Anerkennung lebensweltlicher      Fragen nach der Bereitstellung der notwendigen Rah-
                                                                                                                      Vielfalt begreift sich eine inklusive Schule als Chance   menbedingungen, nach personellen, finanziellen und
                                                                                                                      für das Lernen und als ein Fundus unterschiedlicher       materiellen Ressourcen sowie nach individualisiert
                                                                                                                      Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten. Eine inklusive       curricularen und binnendifferenziert systemisch-pä-
                                                                                                                      Schule ist daher in erster Linie eine Schule, die Zu-     dagogischen Konzepten.
                                                                                                                      gangsbarrieren abbaut, Diskriminierung und Benach-
                                                                Die Grundsätze des DRK                                teiligungen entgegenwirkt und Teilhabe und Partizi-       Mit der vorliegenden Expertise „Schule vielfältig und
                                                                                                                      pation für alle Kinder und Jugendlichen ermöglicht.       inklusiv gestalten – Beiträge der Jugendsozialarbeit“
                                                                                                                      Inklusiv sein heißt, Vielfalt wertzuschätzen und Barri-   bringt sich das Deutsche Rote Kreuz in den aktuellen
Menschlichkeit                                                                                                        eren in der Umsetzung des Rechtes auf Bildung ab-         Diskurs um Inklusion und Vielfalt ein und formuliert
Die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung, entstanden aus dem Willen, den Verwundeten der                 zubauen und damit Chancengleichheit für alle Kinder       Grundlinien, Grundsätze und Rahmenbedingungen
Schlachtfelder unterschiedslos Hilfe zu leisten, bemüht sich in ihrer internationalen und nationalen Tätigkeit,
                                                                                                                      und Jugendlichen zu realisieren.                          für eine inklusive Schule. Die Veröffentlichung wur-
menschliches Leiden überall und jederzeit zu verhüten und zu lindern. Sie ist bestrebt, Leben und Gesundheit zu
                                                                                                                                                                                de im Rahmen der Aufgaben des DRK im Koopera-
schützen und der Würde des Menschen Achtung zu verschaffen. Sie fördert gegenseitiges Verständnis, Freund-
schaft, Zusammenarbeit und einen dauerhaften Frieden unter allen Völkern.                                             Für das deutsche Schulsystem stellt sich in der De-       tionsverbund Jugendsozialarbeit erstellt. Es werden
                                                                                                                      batte um „Inklusion“ vor allem die Frage, inwiefern es    grundlegende Begriffe und Konzepte von Inklusion
                                                                                                                      mit seiner Einteilung in Leistungsgruppen dem inter-      sowie Instrumente und Ansätze und deren prak-
Unparteilichkeit
                                                                                                                      nationalen Anspruch auf Inklusion und damit der Fo-       tischen Umsetzung vor der Frage dargestellt, welche
Die Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung unterscheidet nicht nach Nationalität, Rasse, Religion, sozialer Stel-
lung oder politischer Überzeugung. Sie ist einzig bemüht, den Menschen nach dem Maß ihrer Not zu helfen und           kussierung auf das Individuum gerecht werden kann.        Erfordernisse, Standards und Rahmenbedingungen
dabei den dringendsten Fällen den Vorrang zu geben.                                                                   Obschon das Recht eines jeden Kindes auf Bildung          sich aus dem politischen und fachlichen Anspruch
                                                                                                                      mit der UN-Kinderrechtskonvention verbrieft ist und       ergeben. Beispiele guter Praxis sollen darüber hinaus
                                                                                                                      die Bundesrepublik Deutschland mit der Ratifizierung      verdeutlichen, wie Konzepte von Inklusion und Vielfalt
Neutralität
Um sich das Vertrauen aller zu bewahren, enthält sich die Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung der Teilnahme            1992 die Verpflichtung eingegangen ist, positive Rah-     umgesetzt und in einer inklusiven Schule nachhaltig
an Feindseligkeiten wie auch, zu jeder Zeit, an politischen, rassistischen, religiösen oder ideologischen Auseinan-   menbedingungen für die Entwicklung von Kindern            implementiert werden können.
dersetzungen.                                                                                                         und Jugendlichen zu schaffen, existieren mit der bis-
                                                                                                                      herigen Separation innerhalb des Schulsystems nach        Die Expertise wurde durch die Autorin Tina Alicke vom
Unabhängigkeit                                                                                                        wie vor erhebliche Zugangsbarrieren, die Chancen-         Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik (ISS) e.V.
Die Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung ist unabhängig. Wenn auch die Nationalen Gesellschaften den Be-                ungleichheit hervorbringen.                               erstellt und stellt in dieser zusammenführenden Form
hörden bei ihrer humanitären Tätigkeit als Hilfsgesellschaften zur Seite stehen und den jeweiligen Landesgesetzen                                                               die 2. Auflage der Expertise „Bildung vielfältig gestal-
unterworfen sind, müssen sie dennoch eine Eigenständigkeit bewahren, die ihnen gestattet, jederzeit nach den          Damit Schülerinnen und Schüler partizipativ und teil-     ten“ und der Handreichung „Inklusive Schule“ dar, die
Grundsätzen der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung zu handeln.                                                        habend ihr Leben nach der Schule selbständig und          in der ersten Auflage im April 2012 erschienen sind.
                                                                                                                      selbst bestimmt gestalten, muss es darum gehen,           Wir danken der Autorin Tina Alicke herzlich und wün-
Freiwilligkeit                                                                                                        ein inklusives Bildungssystem zu etablieren, in dem       schen unseren interessierten Leserinnen und Lesern
Die Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung verkörpert freiwillige und uneigennützige Hilfe ohne jedes Gewinn-             das lebenslange Lernen eine Selbstverständlichkeit        vielfältige Einblicke und Anregungen.
streben.

Einheit
In jedem Land kann es nur eine einzige Nationale Rotkreuz- oder Rothalbmond-Gesellschaft geben. Sie muss
allen offen stehen und ihre humanitäre Tätigkeit im ganzen Gebiet ausüben.
                                                                                                                      Peggy Ziethen
Universalität                                                                                                         Referentin für Jugendsozialarbeit,
Die Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung ist weltumfassend. In ihr haben alle Nationalen Gesellschaften glei-           DRK-Generalsekretariat
che Rechte und die Pflicht, einander zu helfen.
                                                                                                                      Berlin, November 2012
Schule vielfältig und inklusiv gestalten. Beiträge der Jugendsozialarbeit - Expertise zur Qualitätsentwicklung
Inhaltsverzeichnis Teil A                                                                                                                                          Inhaltsverzeichnis Teil A

1   Ausgangslage�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 15                     5   Abschließende Bemerkungen������������������������������������������������������������������������������������������������ 51

    1.1    Heterogenität als „Problem“ von Bildung�����������������������������������������������������������������������������������16                               5.1    Zusammenfassung der Ergebnisse���������������������������������������������������������������������������������������������51
    1.2    Vielfalt als gesellschaftliche Realität�������������������������������������������������������������������������������������������17                       5.2    Anregungen für die Jugendsozialarbeit��������������������������������������������������������������������������������������52
    1.3    „Bildung für alle“���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������18            5.3    Weiterführende Fragestellungen�������������������������������������������������������������������������������������������������53

2   Theorie, Begriffe und Konzepte��������������������������������������������������������������������������������������������� 19                                6   Fußnoten���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 54

    2.1    Tendenzen und Stand der Diskussion�����������������������������������������������������������������������������������������19
                                                                                                                                                                   7   Literaturverzeichnis���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 55
    2.2    Theoretische Grundlagen�������������������������������������������������������������������������������������������������������������22
           2.2.1 Soziale Ungerechtigkeit����������������������������������������������������������������������������������������������������������19
           2.2.2 Exklusion und Inklusion����������������������������������������������������������������������������������������������������������23
           2.2.3 Lebenslagenansatz����������������������������������������������������������������������������������������������������������������23
           2.2.4 Verwirklichungschancen (Capability-Ansatz)���������������������������������������������������������������������������24

    2.3    Begriffserklärungen und Konzepte���������������������������������������������������������������������������������������������25
           2.3.1 Heterogenität�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������25
           2.3.2 Diversität/Diversity������������������������������������������������������������������������������������������������������������������26
           2.3.3 Vielfalt������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������28
           2.3.4 Chancengleichheit������������������������������������������������������������������������������������������������������������������29
           2.3.5 Teilhabe���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������30
           2.3.6 Von der Integration ... ������������������������������������������������������������������������������������������������������������30
           2.3.7 ... zur Inklusion�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������31
           2.3.8 Von der interkulturellen Öffnung zur „inklusiven Öffnung“?������������������������������������������������������32

3   „Bildung vielfältig gestalten“ in der Praxis��������������������������������������������������������������������������� 35

    3.1    Konzepte und Grundlinien von „Vielfalt“ an der Schule������������������������������������������������������������35
    3.2    Good Practice-Beispiel�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������40
           Die Erika-Mann-Grundschule in Berlin Wedding�������������������������������������������������������������������������������40

4   Grundlinien und Rahmenbedingungen��������������������������������������������������������������������������������� 41

    4.1    Grundlinien einer „Bildung für Vielfalt“���������������������������������������������������������������������������������������42
    4.2    Rahmenbedingungen und Aufgaben�������������������������������������������������������������������������������������������42
           4.2.1 Bund, Länder und Kommunen�����������������������������������������������������������������������������������������������43
           4.2.2 Verbände und Träger der Sozialen Arbeit��������������������������������������������������������������������������������45
           4.2.3 Schulen����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������46
           4.2.4 Jugendsozialarbeit�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������48
Schule vielfältig und inklusiv gestalten. Beiträge der Jugendsozialarbeit - Expertise zur Qualitätsentwicklung
Inhaltsverzeichnis Teil B                                                                                                                                          Inhaltsverzeichnis Teil B

1   Ausgangslage�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 67                     5   Abschließende Bemerkungen���������������������������������������������������������������������������������������������� 103

    1.1    Von der Exklusion zur Inklusion���������������������������������������������������������������������������������������������������68                       5.1    Zusammenfassung der Ergebnisse�������������������������������������������������������������������������������������������103
    1.2    Schule und Behinderung in Deutschland������������������������������������������������������������������������������������71                                5.2    Anregungen für die Jugendsozialarbeit������������������������������������������������������������������������������������104
                                                                                                                                                                       5.3    Weiterführende Fragestellungen�����������������������������������������������������������������������������������������������105
2   Theoretischer Hintergrund, Begriffe und Konzepte������������������������������������������������������������ 75

    2.1    Modelle und Sichtweisen auf „Behinderung“�����������������������������������������������������������������������������76                               6   Fußnoten�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 106
           2.1.1 Das medizinische Modell��������������������������������������������������������������������������������������������������������76
           2.1.2 Das soziale Modell�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������77            7   Literaturverzeichnis�������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 107
           2.1.3 Das Aktivitäts- oder Fähigkeiten-Modell����������������������������������������������������������������������������������77
           2.1.4 Das bio-psycho-soziale Modell�����������������������������������������������������������������������������������������������77
           2.1.5 Die Sichtweise einer „inklusiven Schule“���������������������������������������������������������������������������������78

    2.2    Normative und rechtliche Grundlagen����������������������������������������������������������������������������������������79
    2.3    Was bedeutet (schulische) Inklusion?�����������������������������������������������������������������������������������������83
    2.4    Begriffserklärungen und Konzepte���������������������������������������������������������������������������������������������84
           2.4.1 Vielfalt������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������84
           2.4.2 Antidiskriminierung�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������85
           2.4.3 Abbau von Barrieren und Barrierefreiheit��������������������������������������������������������������������������������86
           2.4.4 Chancengleichheit������������������������������������������������������������������������������������������������������������������86
           2.4.5 Kompetenzen������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������87
           2.4.6 Teilhabe���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������87

3   Rahmenbedingungen der Umsetzung einer inklusiven Schule������������������������������������������ 89

    3.1    Inklusive Kulturen�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������90
    3.2    Inklusive Strukturen����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������93
    3.3    Inklusive Praktiken������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������96

4   Inklusive Schule in der praktischen Umsetzung������������������������������������������������������������������ 99

    4.1    Praktische Ansätze�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������99
           4.1.1 10 praktische Ansätze für die Umsetzung einer inklusiven Schule�������������������������������������������99

    4.2    Good-Practice-Beispiel��������������������������������������������������������������������������������������������������������������101
           Regine-Hildebrandt-Schule in Birkenwerder (Brandenburg)������������������������������������������������������������101

    4.3    Index für Inklusion: ein Instrument der Selbstevaluation��������������������������������������������������������102
Schule vielfältig und inklusiv gestalten. Beiträge der Jugendsozialarbeit - Expertise zur Qualitätsentwicklung
Teil A

Schule vielfältig und inklusiv gestalten.
Grundlagen einer an Vielfalt orientierten pädagogischen Praxis.

Autorin: Tina Alicke

                                       Teil A Grundlagen einer an Vielfalt orientierten pädagogischen Praxis.   13
Schule vielfältig und inklusiv gestalten. Beiträge der Jugendsozialarbeit - Expertise zur Qualitätsentwicklung
1        Ausgangslage

                         Lebenslagen, Einstellungen sowie familiäre und in-       weniger gute Voraussetzungen (z.B. in der Leseso-
                         dividuelle Ressourcen finden in jeder, besonders         zialisation) und Unterstützung im Elternhaus (z.B. in
                         aber in einer hochdifferenzierten Gesellschaft wie       der Gymnasialpräferenz). Auf institutioneller Ebene
                         der unseren, vielfältige Ausprägungen. Diese Diffe-      erhalten sie deutlich seltener eine Empfehlung für
                         renzierung der gesellschaftlichen Facetten spiegelt      höhere weiterführende Schulen durch die Lehrkräf-
                         sich auch in den unterschiedlichen Ausgangsbe-           te. Und schließlich sorgt die frühe Trennung in hie-
                         dingungen von Kindern und Jugendlichen, die sich         rarchisch gegliederte Schultypen auf struktureller
                         wiederum auf die Teilhabechancen an verschiedenen        Ebene für eine soziale Segregation auch unter He-
                         gesellschaftlichen Bereichen auswirken. Besonders        ranwachsenden (vgl. Valtin 2008: 12).
                         deutlich wurden in der Diskussion der vergangenen
                         Jahre die Unterschiede in den Zugängen zum Bil-          Die unterschiedlichen Bedarfe von Schülerinnen und
                         dungsbereich, in dem zugleich die Weichen für die        Schülern (z.B. Lerntempo, Aufnahmefähigkeit, Inte-
                         spätere Lebensführung und die Zugänge zum Ar-            ressenslagen, Muttersprachlichkeit) werden in der
                         beitsmarkt gestellt werden.                              Schulstruktur nur selten berücksichtigt, sondern es
                                                                                  werden meist allgemeine Standards, die von ma-
                         Internationale Vergleichsstudien wie PISA und            ximalen Ausgangsvoraussetzungen ausgehen, als
                         IGLU/PRILS haben mehrfach gezeigt, dass gerade           Maß für alle angesetzt (Duncker 2009: 230ff.).
                         in Deutschland ein deutlicher Zusammenhang zwi-
                         schen Bildungsbeteiligung und familiärer Herkunft        Schülerinnen und Schüler, die nicht einer homoge-
                         besteht. Immer noch hängt der Bildungserfolg stark       nisierenden Vorstellung von „Normalität“ entspre-
                         von dem sozioökonomischen Hintergrund der Kin-           chen, stehen damit bisher nicht nur vor besonders
                         der und Jugendlichen ab (vgl. Bertelsmann Stiftung       hohen strukturellen Barrieren, sondern sehen sich
                         2011: 18).                                               zudem aufgrund ihrer „Normabweichung“ oft im
                                                                                  Scheinwerferlicht defizit- und problemorientierter
                         Im Rahmen der Indikatoren für Soziale Gerechtigkeit      Analysen.
                         der OECD nimmt Deutschland auch im Jahr 2011 in
                         Hinblick auf die Bildungszugänge nur Platz 22 von        Vor dem Hintergrund eines wachsenden gesell-
                         31 ein (Bertelsmann Stiftung 2011: 19). „Die Selek-      schaftlichen Drucks auf Kinder, Jugendliche und de-
                         tion im Bildungssystem findet nicht über die eigent-     ren Familien sieht sich auch die Jugendhilfe im Allge-
                         liche Leistungsfähigkeit der Lernenden statt, sondern    meinen und die Jugendsozialarbeit im Besonderen
                         folgt − indirekt vermittelt − der Heterogenität in den   einem steigenden Bedarf gegenüber, die struktu-
                         nicht-kognitiven Ausgangsbedingungen der Schüler/        rellen Disparitäten auszugleichen.
                         innen.“ (Aktionsrat Bildung 2007)
                                                                                  Es stellt sich daher die Frage, wie eine Bildung ge-
                         Gerade diese Heterogenität wird im deutschen             staltet werden kann, welche die Heterogenität der
                         Schulsystem häufig als „Problem“ betrachtet. Kin-        Gesellschaft aufnimmt, die Vielfalt von Schülerinnen
                         der und Jugendliche, die nicht dem Ideal einer           und Schülern positiv umsetzt und eine gleichberech-
                         mittelständisch geprägten deutschen „Leitkultur“         tigte Bildung für alle ermöglicht.
                         entsprechen, verfügen häufig über geringere Bil-
                         dungschancen. Schülerinnen und Schüler mit Mi-           Trotz zahlreicher guter Ansätze stellen sich ver-
                         grationshintergrund sind z.B. überproportional häu-      schiedene Herausforderungen für die Kooperation
                         fig an Hauptschulen anzutreffen (31,6 % gegenüber        zwischen Jugendsozialarbeit und Schule. So er-
                         16,6 % der Schülerinnen und Schüler ohne Migrati-        schweren z.B. der unterschiedliche Gebrauch der
                         onshintergrund; vgl. Konsortium Bildungsberichter-       Terminologie sowie differierende Konzepte und An-
                         stattung 2006: 151f.).                                   sätze die Verständigung zwischen Systemen, Pro-
                                                                                  jekten, Akteuren und Professionen. Auch bestehen
Foto: cynoclub/Fotolia

                         Die Gründe dafür sind mehrdimensional: Auf indi-         noch Lücken in den Überlegungen, wie eine gemein-
                         vidueller Ebene haben Schülerinnen und Schüler           same Förderung einer an Vielfalt orientierten Bildung
                         aus sozioökonomisch schwächeren Familien meist           ausgestaltet sein kann.

                                                                              Teil A Grundlagen einer an Vielfalt orientierten pädagogischen Praxis.   15
Schule vielfältig und inklusiv gestalten. Beiträge der Jugendsozialarbeit - Expertise zur Qualitätsentwicklung
Das Deutsche Rote Kreuz, das im Rahmen des Ko-                            Teil A veröffentlicht wird. Ziel des Teil A ist es, ei-   1.2      Vielfalt als gesellschaftliche Realität
     operationsverbunds Jugendsozialarbeit das Thema                           nen Überblick über die bestehenden theoretischen
     „Jugendsozialarbeit und Schule“ federführend be-                          Grundlagen, Begriffe und Konzepte zu bieten, die          Heterogenität wird erst dann zum „Problem“, wenn         die durch Remo Largo maßgeblich geprägt wurden,
     arbeitet, hat daher das Institut für Sozialarbeit und                     zum Thema „Bildung vielfältig gestalten“ diskutiert       homogene Normvorstellungen den Blick prägen. Ho-         belegen z.B. die große Bandbreite der individuellen
     Sozialpädagogik e.V. (ISS), Frankfurt a.M. mit der                        werden und erste Grundlinien, Rahmenbedingungen           mogenität ist jedoch nicht gesellschaftliche Realität    Unterschiede, z.B. im Schlafbedürfnis, körperlichen
     Erstellung der Expertise zum Thema „Bildung viel-                         und Handlungsansätze, besonders mit Blick auf die         und eine positive Wertschätzung von Vielfalt bietet      Voraussetzungen, Vorlieben und Lernverhalten (s.
     fältig gestalten – Beiträge der Jugendsozialarbeit“                       Jugendsozialarbeit, darzustellen.                         einen grundlegenden Ansatzpunkt für einen gelin-         z.B. Largo 2010, Largo / Beglinger 2010).
     beauftragt, die in der vorliegenden 2. Auflage als                                                                                  genden Umgang mit Unterschieden in der Schüler-
                                                                                                                                         schaft.                                                  Als dritte Dimension werden Kinder und Jugendliche
                                                                                                                                                                                                  von biografischen Unterschieden beeinflusst, u.a.
                                                                                                                                         Die Vielfalt von Lebensumständen, Ausgangsbedin-         im Zugang zu Ressourcen, den Erziehungsstilen der
     1.1           Heterogenität als „Problem“ von Bildung                                                                               gungen und Einstellungen von Kindern und Jugend-         Eltern, dem Freundeskreis und vielen weiteren Ele-
                                                                                                                                         lichen wird in vielen Bereichen sichtbar:                menten, aus denen sich die Identität eines Individu-
     Der klassische Auftrag von Schule beinhaltet neben                            gang damit – vor allem in der alleinigen Fokus-                                                                ums herausbildet.
     Qualifizierung und Sozialisation als weiteres Element                         sierung auf einen binnendifferenzierten Unter-        •   Etwa 21 % der 13-18-Jährigen und 15,1 % der
     die Selektion als Ausleseprozess (vgl. Fend 1980) vor                         richt – jedoch an einzelne Fachkräfte verwiesen.          4-12-Jährigen sind heute vom Armutsrisiko be-        Folgt man diesem Gedankengang, wird nicht nur
     dem Hintergrund der Differenzierung von Leistungs-                            Ein solcher Ansatz, sofern er als einzige Lösung          troffen (vgl. Grabka / Flick 2010).                  strittig, wo die Grenzen der konstruierten Kategorien
     fähigkeit in verschiedene Gruppen. Dies spiegelt                              gedacht wird, personalisiert die konzeptionellen                                                               zur „Normalität“ verlaufen, sondern auch die Zuord-
     sich nicht nur im stark selektierenden deutschen Bil-                         und strukturellen Defizite des Bildungssystems        •   Rund 3,38 Millionen Kinder und Jugendliche, die      nung von Kindern und Jugendlichen zu einer Grup-
     dungssystem, sondern auch in Vorstellungen einer                              und macht gesellschaftliche Probleme zum Auf-             heute in Deutschland leben, haben einen Migra-       pe („Migranten“, „Behinderte“) aufgrund nur eines
     einheitlichen Norm – oder eines Standards – als Maß                           trag der einzelnen Lehrkraft (vgl. Duncker 2009:          tionshintergrund. Im deutschen Gesamtdurch-          Merkmals wird mehr als fragwürdig.
     für Leistung wieder.                                                          226).                                                     schnitt sind dies 29 % der Altersgruppe zwischen
                                                                                                                                             5 und 20 Jahren. In Ballungsgebieten liegt der       Diese Spannung wird vor allem dann sichtbar, wenn
     Schule als, im traditionellen Verständnis, normori-                       3. „Mängel der Schule“: Der in diesem Zusammen-               Anteil jedoch deutlich höher, z.T. weit über 50 %    mit der Kategorisierung „... systematische Ungleich-
     entierte und normierende gesellschaftliche Instanz                           hang häufig diskutierte Hinweis auf die Erforder-          (Statistisches Bundesamt 2010: 64f.).                heiten in Bezug auf deren Bildungserfolg einherge-
     kann jedoch der Vielfalt an Lebensbedingungen                                nisse einer globalisierten Wirtschaft weist auf                                                                 hen, d.h. wenn erkennbare Bildungsunterschiede
     und Ausgangslagen ihrer Schülerinnen und Schü-                               die Diskrepanz zwischen den Leistungsanforde-          •   Der Anteil an Jugendlichen in Deutschland, der       nicht auf den Begabungen bzw. der Leistungsfähig-
     ler nur schwer Rechnung tragen. Vielmehr wird die                            rungen und der unterschiedlichen Leistungsfä-              nicht deutsch im Elternhaus spricht, beträgt rund    keit von Schülern beruhen, sondern mit askriptiven
     Heterogenität von Schülerinnen und Schülern zum                              higkeit von SchülerInnen hin und sieht darin ein           8 % (Statista 2006).                                 Merkmalen wie dem Geschlecht, der ethnischen
     „Problem“. Dies äußert sich z.B. in der häufig gestell-                      Versagen des Schulsystems.                                                                                      oder sozialen Herkunft der Lernenden assoziiert
     ten Frage „Wie viel Heterogenität kann Bildung aus-                                                                                 •   Innerhalb Deutschlands existieren über 100 Reli-     sind.“ (Strasser 2011: 14)
     halten?“ (s. u.a. Duncker 2009: 225).                                     Die „Schuldverortung“ auf einer bestimmten Ebe-               gionen und religiöse Gemeinschaften, denen Fa-
                                                                               ne, d.h. die Personalisierung gesellschaftlicher Pro-         milien, Kinder und Jugendliche angehören.1           Angesichts dieser Mehrdimensionalität von Vielfalt
     Aus dieser defizitorientierten Perspektive heraus                         blemstellungen, die Verortung der gesellschaftlichen                                                               kann eine normgerichtete Vorstellung von Homoge-
     werden die großen Unterschiede zwischen Schüle-                           Verantwortung bei den Lehrkräften oder die alleinige      •   160.145 Jugendliche gelten als schwerbehin-          nität nicht Basis einer adäquaten Bildung sein. Um
     rinnen und Schülern vorrangig auf drei Ebenen ver-                        wirtschaftliche Nutzungsorientierung, werden jedoch           dert.2                                               soziale Ungleichheit abzumildern, stellt sich vielmehr
     ortet:                                                                    weder den Fragestellungen gerecht, die sich im Zu-                                                                 für alle Akteure im Lebensumfeld von Kindern und
                                                                               sammenhang mit gesellschaftlicher Heterogenität           •   5-10 % der Jugendlichen entscheiden sich für         Jugendlichen die Frage, wie mit der Heterogenität
     1. „Unterschiedliche Bereitschaft von Jugendlichen                        stellen, noch bieten sie Lösungsansätze (vgl. Null-           gleichgeschlechtliche Partnerinnen bzw. Part-        von Schülerinnen und Schülern in einer positiven
        und Elternhaus“: Schulische „Defizite“ werden                          meier 2010). Vielmehr sind ein Wandel des gesamt-             ner.3                                                Weise umgegangen werden kann.
        v.a. auf mangelnde Fähigkeiten oder Leistungs-                         gesellschaftlichen Systems hin zu einer Kultur der
        bereitschaft von Schülerinnen und Schülern und/                        Wertschätzung von Vielfalt und eine Etablierung der       In gruppenbezogenen Merkmalen wie den eben               Seit einigen Jahren etabliert sich dahingehend auch
        oder auf mangelnde Sozialisation im Elternhaus                         erforderlichen Strukturen und Ansätze notwendig,          angeführten spiegelt sich jedoch nur eine Dimension      im Setting Schule eine Sichtweise, welche Heteroge-
        zurückgeführt. Diese Perspektive individualisiert                      um eine Teilhabe an Bildung für alle zu erreichen.        der Vielfalt unter Kinder und Jugendlichen.              nität nicht als Problem, sondern als Chance begreift.
        jedoch die soziostrukturellen Problemstellungen.                                                                                                                                          Sie betont z.B. nicht die Verschiedenheit, sondern
                                                                                                                                         Eine zweite Dimension bezieht sich auf die individu-     gerade das positive Zusammenleben in Vielfalt unter
     2.      „Defizite der Unterrichtsgestaltung“: Schulische                                                                            elle Ebene. So kann jedes der gruppenbezogenen           Nutzung der daraus entstehenden Ressourcen für
            „Defizite“ vor dem Hintergrund einer einheitlichen                                                                           Merkmale sehr unterschiedliche individuelle Aus-         gegenseitige Lernprozesse der Gemeinschaft.
            Norm werden auf die Unfähigkeit von Lehrkräf-                                                                                prägungen (z.B. Grad der Behinderung, Stand der
            ten zurückgeführt, die Vielfalt von Schülerinnen                                                                             deutschen Sprachbeherrschung u.a.) annehmen. Zu-
            und Schülern aufzugreifen. Unterschiede in den                                                                               dem kann jedes Merkmal in jedem Kind unterschied-
            Ausgangslagen werden dabei erkannt, der Um-                                                                                  lich kombiniert sein. Die Zürcher Lonigtudinalstudien,

16        Teil A Grundlagen einer an Vielfalt orientierten pädagogischen Praxis.                                                                                                              Teil A Grundlagen einer an Vielfalt orientierten pädagogischen Praxis.   17
Schule vielfältig und inklusiv gestalten. Beiträge der Jugendsozialarbeit - Expertise zur Qualitätsentwicklung
1.3       „Bildung für alle“                                                                                                                        2        Theorie, Begriffe und Konzepte
     Auf internationaler Ebene wird die Debatte um He-                     ist wesentlich, um soziale Gerechtigkeit zu erreichen
     terogenität in der Bildung derzeit unter dem Be-                      und sie ist ein konstituierendes Element lebens-                              Die Bearbeitung der Frage, wie Bildung vielfältig ge-    Um einen allgemeinen Rahmen der historischen
     griff „Inklusive Bildung“ diskutiert. Der Begriff der                 langen Lernens“ (Deutsche UNESCO Kommission                                   staltet werden kann, entspringt verschiedenen ge-        Genese und der heutigen Aktualität des Themenbe-
     Inklusion stammt ursprünglich aus der Diskussion                      2009: 4).                                                                     sellschaftlichen, wissenschaftlichen und fachlichen      reichs „Bildung vielfältig gestalten“ zu entwickeln,
     um die Rechte von Menschen mit Behinderungen.                                                                                                       Diskussionssträngen. Themen dieser Debatte sind          werden zunächst die Entwicklung und der Stand
     Im erweiterten Verständnis der Vereinten Nationen                     Inklusive Bildung wird dabei als Schlüsselprozess                             u.a. die gesellschaftlichen Vorstellungen von „Nor-      dieser Diskussion skizziert. Im Anschluss werden
     wird darunter jedoch die Beseitigung jeder Form von                   der Umsetzung einer „Bildung für alle“ (Educa-                                malität“ und damit verbunden die Strategien, die         grundlegende wissenschaftliche Ansätze und im
     Exklusion im Bildungsbereich gefasst:                                 tion for All, EFA) gesehen. Sie bedeutet, Bildung                             Exklusion oder Teilhabe verschiedener gesellschaft-      Weiteren zentrale Begriffe im Umgang mit Vielfalt
                                                                           vielfältig zu gestalten, um der Heterogenität der                             licher Gruppen an Bildungsprozessen fördern.             dargestellt.
     „Das Ziel von inklusiver Bildung ist, Exklusion zu                    Gesellschaft Rechnung zu tragen und eine gleichbe-
     beseitigen. Diese entsteht durch negative Einstel-                    rechtigte Teilhabe – im Sinne von Zugängen, Beteili-
     lungen und mangelnde Berücksichtigung von Viel-                       gung und aktiver Mitgestaltung – für alle Kinder und
     falt in ökonomischen Voraussetzungen, sozialer                        Jugendlichen sowie im Rahmen des Lebenslangen                                 2.1      Tendenzen und Stand der Diskussion
     Zugehörigkeit, Ethnizität, Sprache, Religion, Ge-                     Lernens für alle Erwachsenen zu ermöglichen.
     schlecht, sexueller Orientierung und Fähigkeiten.                                                                                                   Die Idee einer „Bildung für alle“, welche die Hete-      fraglich, ob Kinder der Arbeiterklasse in einem ge-
     Bildung vollzieht sich in formalen und non-formalen                   Die vorliegende Expertise hat zum Ziel, grundle-                              rogenität von Gesellschaft mit einbezieht, lässt sich    meinsamen Unterricht die gleiche Leistung erbringen
     Kontexten, in Familien und in den Gemeinden. Folg-                    gende Konzepte und Begriffe sowie erste Ansätze                               bis in die Zeit der Reformation4 und zu den Grundge-     könnten – und schließlich sei ihr späterer Lebensweg
     lich ist inklusive Bildung kein randständiges Thema,                  der praktischen Umsetzung und gemeinsame Rah-                                 danken des heutigen Bildungsverständnisses in der        bereits vorgezeichnet (vgl. Duncker 2009: 218ff.).
     sondern zentral, um qualitativ hochwertige Bildung                    menbedingungen für den Umgang mit Vielfalt in der                             Aufklärung und im Neuhumanismus zurückverfolgen.
     für alle Lernenden zu erreichen und um eine inklu-                    (schulischen) Bildung darzustellen und dabei beson-                           Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, zugleich mit der         Der heutige Grundgedanke von Schule folgt hinge-
     sivere Gesellschaft zu entwickeln. Inklusive Bildung                  ders die Jugendsozialarbeit in den Blick zu nehmen.                           deutschlandweiten Einführung der Unterrichtspflicht,     gen dem meritokratischen, d.h. leistungsorien-
                                                                                                                                                         postulierte Wilhelm von Humboldt, dass Bildung ein       tierten Prinzip, das mit dem Abkehr von der Stände-
                                                                                                                                                         Prozess sei, der die „allseitige Entfaltung der Kräf-    gesellschaft durch die Bürgerschaft erstritten worden
                                                                                                                                                         te des Menschen“ (v. Humboldt 1969) hervorbrin-          war: Nicht die soziale Herkunft, sondern allein die
                                                                                                                                                         gen sollte (vgl. Duncker 2009: 217). Dieses huma-        persönliche Leistungsfähigkeit sollte Grundlage für
                                                                                                                                                         nistische Ideal von Bildung blieb allerdings in erster   den Bildungsverlauf von Kindern und Jugendlichen
                                                                                                                                                         Linie den oberen Schichten der Gesellschaft vorbe-       sein (Weber 2008). Im frühen meritokratischen Sys-
                                                                                                                                                         halten, Primat der „Volkserziehung“ war hingegen die     tem wurden die Vorläufer der Jugendhilfe vor allem
                                                                                                                                                         Qualifikation von Arbeitskräften für die Deckung des     durch das dominierende System Schule zur Korrek-
                                                                                                                                                         wirtschaftlichen Bedarfs der Industrialisierung. Auch    tur von Normabweichungen und, zu einem späteren
                                                                                                                                                         galt die allgemeine Unterrichtspflicht durchaus nicht    Zeitpunkt, zum Auffangen von Kindern und Jugend-
                                                                                                                                                         für alle Bevölkerungsteile, denn ausländische Kinder     lichen, die aus dem System Schule herausfielen, ein-
                                                                                                                                                         waren z.B. bis in die 1960er vom allgemeinen Schul-      gesetzt.
                                                                                                                                                         besuch ausgenommen.
                                                                                                                                                                                                                  Die damals dominante gesellschaftliche Strategie
                                                                                                                                                         In dieser faktischen Unterteilung des Bildungssy-        gegenüber all denjenigen, die sich außerhalb eines
                                                                                                                                                         stems war die Aufgabe der „Jugendfürsorge“, als          eng definierten Rahmens von „Normalität“ (das hieß:
                                                                                                                                                         Vorläufer der heutigen Jugendhilfe, vor allem die        weiß, mittelständisch und tunlichst männlich, ohne
                                                                                                                                                         Haltungen und Werte, die von ihnen gesellschaftlich      körperliche oder mentale Behinderung) befanden,
                                                                                                                                                         erwartet wurden, in die Lebenswelt dieser „Arbeiter-     war der Ausschluss aus relevanten gesellschaft-
                                                                                                                                                         jugend“ zu integrieren (vgl. Homfeldt 2004: 42ff.).      lichen Teilsystemen wie z.B. Bildung.

                                                                                                                                                         Bereits in der Diskussion um die Einführung der          Die Frage nach der Legitimität dieser Exklusionspra-
                                                                                                                                                         Grundschule im Vorfeld der Weimarer Verfassung           xen setzte in größerem Umfang erst in den USA in den
                                                                                                                                                         spiegeln sich die Argumentationslinien, die sich auch    1960er Jahren ein und ist das beherrschende The-
                                                                                                                                                         heute nachzeichnen lassen: Die Kritiker einer Ein-       ma der sozialen Bewegungen bis heute. Ausgelöst
                                                                                                                                                         heitsschule beriefen sich auf eine deterministische      u.a. durch die Frauenbewegung und die ethnischen
                                                                                                                                   Foto: djama/Fotolia

                                                                                                                                                         Vorstellung der Teilung einer Ständegesellschaft. Mit    Bewegungen, wurden mit den Fragen nach Hetero-
                                                                                                                                                         einem allgemeinen „Aufstieg der Begabten“ würden         genität und „Diversity“ (zur Begriffsbestimmung s.
                                                                                                                                                         dem Volk die besten Köpfe entzogen. Zudem sei            Kap. 2.3.1 und 2.3.2) die bis dahin vorherrschenden,

18    Teil A Grundlagen einer an Vielfalt orientierten pädagogischen Praxis.                                                                                                                                  Teil A Grundlagen einer an Vielfalt orientierten pädagogischen Praxis.   19
weitgehend homogenen Vorstellungen von „Norma-                         Verschiedene neue Ansätze und Tendenzen in Schu-           und häufig nicht intentional erfolgt oder gar nicht      sind als Mindestanforderungen an die Entwicklung
     lität“ in Frage gestellt.                                              le und Jugendhilfe boten günstige Bedingungen für          als Lernen wahrgenommen wird (vgl. Kommission            von Kompetenzen zu verstehen (Kultusminister-
                                                                            ein Aufblühen der Kooperationsbeziehungen in den           der Europäischen Gemeinschaften 2000: 9f.). In die-      konferenz 2004: 21). Grundlage ist die individuelle
     In Deutschland setzte diese Diskussion mit deutlicher                  1990er Jahren. Mit dem Kinder- und Jugendhilfege-          sem erweiterten Verständnis von Bildung wurde das        Förderung, so „dass alle das definierte (Mindest-)
     Verspätung ein, doch in den späten 1970er Jahren                       setz KJHG (SGB VIII) von 1990 wurde der gesetz-            traditionelle Wertigkeitsgefälle zwischen formaler       Kompetenzniveau erreichen“ (Sander 2009: 16ff.).
     rückten Themen der Gleichberechtigung langsam in                       liche Rahmen geschaffen, in dem der Wandel der             (traditionell als höherwertig angesehener) und non-      Gleichzeitig stellt sich aber die Frage, wie eine sol-
     den Fokus von Politik und Öffentlichkeit.                              Jugendhilfe hin zu Angebots- und KlientInnenorien-         formaler sowie informeller (traditionell unterschätzer   che individuelle Förderung konzipiert sein muss.
                                                                            tierung (Münder 1993), die gesetzliche Grundlage           oder übersehener) Bildung weiter angeglichen und
     Der fortschreitende Strukturwandel, auch im Zuge                       der Jugendsozialarbeit (§13) und die Kooperations-         ein partnerschaftliches Verhältnis zwischen Schule       In diesem Sinne zielt die Weiterentwicklung des
     der Globalisierung, der sich u.a. durch das Anstei-                    verpflichtung der Jugendhilfe mit Schule (§11 zur          und Jugendsozialarbeit gefördert.                        Gedankens der Integration hin zu einer sozialen
     gen der Arbeitslosigkeit, Veränderung in den Fami-                     Jugendarbeit und §81 allgemein) verankert sind. Zu-                                                                 Inklusion darauf ab, Heterogenität als gesellschaft-
     lienformen und einer Häufung von schulischen Pro-                      gleich wurde im Zuge reformatorischer Strömungen           Mit dem Erstarken des neoliberalen Gedankens in          liche Realität wahrzunehmen, Vorstellungen von
     blemen (z.B. Absentismus) äußerte, führte in den                       in der Schule (Olk et al. 2000: 32f.) und mit dem          Politik, Gesellschaft und Wirtschaft seit Ende der       einer mehr oder minder homogenen Normalität zu
     1980er Jahren zu vermehrten gesellschaftlichen                         Achten Jugendbericht (1990) die Orientierung an der        1990er Jahre und im Zeichen mehrerer, als Gesell-        ersetzten und die Rahmenbedingungen zu schaf-
     Spannungen und einer erhöhten Anforderung an die                       Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen als Fach-          schaftskrisen kommunizierter wirtschaftlicher Pro-       fen, damit das Individuum in seiner Einzigartigkeit
     Systeme sozialer Sicherung. Vor diesem Hintergrund                     konzept in Schule und Jugendhilfe etabliert.               blemstellungen wurde die Angst vor dem sozialen          volle gesellschaftliche Anerkennung und Teilhabe
     wandelte sich auch das Selbstverständnis der Sozi-                                                                                Abstieg besonders bei der Mittelschicht geschürt         genießen kann.
     alen Arbeit und Sozialpädagogik: Zentrale Aufgabe                      Auch zeigten sich erste Ansätze eines integrativen         (vgl. Nullmeier 2010). Unter dem Postulat, Deutsch-
     wurde der Beitrag zur Verbesserung der gesellschaft-                   Verständnisses von Schule: Ansätze der Integration         land als Wirtschaftsstandort in einer globalisier-
     lichen Rahmen- und schulischen Lernbedingungen                         folgten dabei zumeist einem zielgruppenspezifischen        ten Wirtschaft verankern zu können, wurde v.a. der                                                              Inklusion
     (vgl. Olk et al. 2000: 18ff.). Allerdings wurde die ver-               Blickwinkel, der die besonderen Bedarfe bestimmter         Qualifizierungs- und Nutzungsgedanke von Bildung                 Quelle: http://www.inklusion-olpe.de/images/inklusion.jpg
     einzelt aufkommende Schulsozialarbeit in den Augen                     Gruppen in den Fokus nimmt. So postulierte die Kul-        betont. Die Folge war ein verstärktes Konkurrenz-
     der Schule meist weiterhin als Reparaturbetrieb für                    tusministerkonferenz z.B. bereits 1994 die Möglich-        denken und eine Ausweitung der „Kluft“ zwischen
     Normabweichungen und Systemstörungen durch                             keit von gemeinsamen Schulbesuchen von Kindern             Menschen unterschiedlicher sozialer Lagen in den
     „auffällige“ SchülerInnen betrachtet.                                  mit und ohne Behinderung. Integration folgt weiter-        2000er Jahren.
                                                                            hin der Frage, wie diese Teilgruppen der Gesellschaft
     Bildungs- und gesellschaftspolitisch rückten in die-                   in die Gesamtgesellschaft integriert werden können.        Zudem hat sich die sozialstrukturelle Neutralität des
     ser Zeit verstärkt Strategien der Separation in den                    Gleichzeitig stellte sich die Frage, wie weit sich die     staatlichen Bildungswesens, die durch das rein me-
     Vordergrund. Die Homogenität innerhalb von Lern-                       „aufnehmende“ Teilgesellschaft öffnen und ändern           ritokratische Prinzip postuliert wurde (Solga 2005),
     gruppen galt als ideal für einen optimalen Bildungs-                   muss, um die Integrationsfähigkeit und den -willen         in der Praxis als nicht existent erwiesen, wie der
     erfolg. Auf dieser Basis galt es zunächst, alle dieje-                 zu fördern und welches die gemeinsamen Werte               PISA-Schock und die Iglu-Studien belegen: Das Lei-
     nigen abzusondern, die in der Lerngruppe „auffällig“                   und Standards sein können, die zu verfolgen sind.          stungsprinzip des Bildungssystems und der zugrun-
     waren. Dies betraf sowohl die Elitenförderung, als                     Innerhalb der sozialen Arbeit und mit Fokus auf den        de liegende Normierungsgedanke, dass alle mit der
     auch die Absonderung von denjenigen, die nicht dem                     Abbau struktureller Benachteiligungen tragen u.a. –        gleichen Anstrengung die gleiche Leistung erbringen
     Maß entsprachen, z.B. in „Sonderschulen“. Letztere                     trotz unterschiedlicher Entstehungsgeschichte – u.a.       können, zeigte sich als fehlerhaft. Vielmehr wurde
     sollten dazu dienen, Gruppen von Schülerinnen und                      die Interkulturelle Öffnung sowie die Diversitätspolitik   deutlich, dass Kinder und Jugendliche, die nicht die-
     Schülern durch gezielte Förderung in ihren eigenen                     „Vielfalt gestalten“ diesem Anspruch Rechnung (s.          ser – fiktiven – Norm entsprechen, von vorneherein
     sozialen Räumen so weit wie möglich an die „Norma-                     u.a. Schroer 2009).                                        benachteiligt sind, da der Bildungserfolg stark von      Zu den Bereichen „Diversität“ und „Vielfalt“ wur-
     lität“ anzunähern, und wurden entsprechend später                                                                                 den soziostrukturellen Rahmenbedingungen der Fa-         de seither eine große Zahl an Publikationen veröf-
     in „Förderschulen“ umbenannt. Jugendsozialarbeit                       Durch den erweiterten Bildungsbegriff, der in der          milien abhängt.                                          fentlicht, ebenso wie zu den Fragen von Integration
     galt dahingehend in erster Linie als Unterstützungs-                   Lifelong-Learning-Debatte weiter ausgebildet wurde                                                                  und Schule. Auch die Themengebiete Inklusion und
     system für Schule, gerade um eine entsprechende                        und neben der formellen, v.a. schulischen Bildung          In der Diskussion um das Verhältnis von Standardi-       Bildung, v.a. mit Blick auf Menschen mit Behinde-
     Betreuung auch in der Freizeit zu gewährleisten.                       auch non-formale und informelle Bildung beinhaltet,        sierung und Heterogenität in der Bildung bildeten        rungen, wurden bereits in verschiedenen Publika-
                                                                            erfuhr die Kooperation von Jugendhilfe und Schu-           die von der Kultusministerkonferenz (KMK) 2002           tionen bearbeitet (z.B. Booth / Ainscow 2003, Hinz
     Allerdings wurden in der Diskussion um die gesell-                     le weitere Ansatzmöglichkeiten. Non-formale bzw.           beschlossenen Bildungsstandards einen weiteren           2002).
     schaftliche Heterogenität und Zugänge zu Chancen                       außerschulische Bildung bezieht sich dabei auf alle        Referenzrahmen. „Mit dieser Einführung stellt sich
     (z.B. Migration und Integration oder die deutsche Wie-                 außerschulisch geplanten Programme zur persön-             die Frage nach der Standardisierbarkeit von Bildung      Zahlreiche Beiträge nehmen dabei ausschließlich die
     dervereinigung und das Aussetzen von Sicherungssy-                     lichen und sozialen Bildung, so z.B. Jugendarbeit          und dem Verhältnis dieser Standardisierung zur He-       Perspektive von Schule in den Blick, z.B. in der Frage
     stemen der ehemaligen DDR) die Notwendigkeiten                         und einen Teil der Angebote schulischer Jugend-            terogenität von Bildungsprozessen neu“ (Sander           nach der Gestaltung von Unterricht im Angesicht von
     eines strukturellen Wandels und die Notwendigkeit                      sozialarbeit, aber auch Vereine und Kurse. Infor-          2009: 11ff.). Die Standards fokussieren dabei we-        Heterogenität. Die Beiträge, die sich mit Jugendso-
     einer veränderten Kooperation zwischen Jugendsozi-                     melle Bildung bedeutet hingegen alles Lernen, das          niger auf die bisher viel diskutierte Wissensvermitt-    zialarbeit beschäftigen, nehmen demgegenüber nur
     alarbeit und Schule deutlich (vgl. Olk et al. 2000: 25ff.).            außerhalb von geplanten Programmen stattfindet             lung in Form von Lehr- und Bildungsplänen, sondern       einen verschwindend kleinen Teil ein.

20     Teil A Grundlagen einer an Vielfalt orientierten pädagogischen Praxis.                                                                                                               Teil A Grundlagen einer an Vielfalt orientierten pädagogischen Praxis.   21
Bei den meisten Publikationen stehen zielgruppen-                      vorliegende Expertise hat daher zum Ziel, einen         2.2.2    Exklusion und Inklusion
     spezifische Teilaspekte (z.B. Gender, ethnischer                       Überblick über bestehende Theorien, Ansätze und
     Hintergrund, sexuelle Orientierung) im Vordergrund,                    Instrumente zu bieten, bei dem die Verwertbarkeit für   Durch die Begriffe Inklusion und Exklusion lassen        Nach Kronauer (2010) können die empirischen Er-
     Überblicksarbeiten liegen deutlich seltener vor. Die                   die Praxis im Vordergrund steht.                        sich in den soziologischen Systemtheorien nach Ni-       fahrungen von In- und Exklusion gemäß folgender
                                                                                                                                    klas Luhmann gesellschaftliche Teilnahme- und            Dimensionen beschrieben werden:
                                                                                                                                    Ausschlussbedingungen von Individuen an Teil-
                                                                                                                                    systemen der Gesellschaft beobachten. Inklusion          •    Interdependenzbeziehungen mit Blick auf Er-
     2.2        Theoretische Grundlagen                                                                                             bezeichnet dabei die Chance auf Teilnahme einer               werbsarbeit, Status und Selbstbild
                                                                                                                                    Person am System, Exklusion bezeichnet den Aus-
     In das Konzept der Vielfalt sind vielfältige theoretische              sozialer Exklusion und Inklusion, das Lebenslagen-      schluss (vgl. Luhmann 1997: 620f). Nach Luhmann          •    soziale Netzwerke, auch mit Fokus auf unterstüt-
     Ansätze eingegangen. Als grundlegend können be-                        konzept und der Ansatz der Verwirklichungschancen       ist der Mensch in der modernen, „funktional differen-         zende und stigmatisierende Wirkungen des sozi-
     sonders vier Grundlagen erachtet werden: Soziale                       (Capability-Ansatz) von Sen (1987).                     zierten“ Gesellschaft nicht nur in eines, sondern in          alen Umfelds
     Ungleichheit und in Folge besonders die Ansätze                                                                                verschiedenen Teilsystemen inkludiert oder erleidet
                                                                                                                                    verschiedene Grade der Exklusion (Luhmann 1995).         •    materielle Teilhabemöglichkeiten und Zugang zu
                                                                                                                                                                                                  materiellen Gütern, Dienstleistungen und sozia-
     2.2.1      Soziale Ungleichheit                                                                                                „Der Exklusionsbegriff hat sich insbesondere im               len Aktivitäten
                                                                                                                                    Laufe der letzten zehn Jahre auf breiter Ebene zur
     Die Möglichkeiten, gesellschaftliche Ressourcen zu                     Güter, Bildung, Lebens- und Arbeitsbedingungen) ei-     Bezeichnung und Analyse von kritischen Soziallagen,      •    politisch-institutionelle Teilhabe
     nutzen und damit das eigene Leben zu gestalten,                        ner Gesellschaft aufgrund ihrer Stellung im sozialen    Marginalisierungsphänomenen und Ausgrenzungs-
     stehen Menschen in unterschiedlichem Maß zur Ver-                      Beziehungsgefüge regelmäßig mehr erhalten als an-       prozessen in der Gegenwartsgesellschaft etabliert“       •    kulturelle Teilhabe, auch im Sinne von Mechanis-
     fügung. Diese Unterschiede in den Lebenschan-                          dere. Nicht jede Differenz bedeutet also automatisch    (Mayrhofer 2009: 1).                                          men zur Identitätsbildung (vgl. Hermanns 2011).
     cen werden als „soziale Ungleichheit“ bezeichnet                       soziale Ungleichheit, sondern nur jene, die sich in
     und stellen ein zentrales Handlungsfeld der Sozia-                     gesellschaftlich strukturierter, beständiger und ver-   Die Exklusion aus einem Teilsystem kann den Aus-         Auch weitere Formen der Exklusion wie z.B. die insti-
     len Arbeit dar. Das Ausmaß, die Ursachen und die                       allgemeinerbarer Form in der ungleichen Verteilung      schluss aus verschiedenen anderen Teilsystemen           tutionelle oder die räumliche In- oder Exklusion kön-
     Auswirkungen sozialer Ungleichheit sind durch den                      von Zugängen und Chancen in gesellschaftlichen          bedingen. Die Exklusion aus dem Bildungssystem           nen unterschieden werden.
     jeweiligen historischen, gesellschaftlichen und poli-                  Teilbereichen äußern, die für die Lebensführung         erhöht z.B. die Wahrscheinlichkeit, auch aus dem
     tischen Kontext auf verschiedenen Ebenen der Ge-                       wichtig sind. Die soziale Ungleichheit unterscheidet    Teilsystem Arbeitsmarkt ausgeschlossen zu werden         Um für die Soziale Arbeit nutzbar zu werden, muss
     sellschaft geprägt. Soziale Ungleichheit ist damit                     sich von anderen Ungleichheiten durch die Bindung       (vgl. Luhmann 1995: 276). Der Ausschluss aus einem       die systemtheoretische Perspektive von Luhmann je-
     zugleich ein mehrdimensionales, multistrukturelles                     an gesellschaftliche Beziehungen und Positionen         Teilsystem wird also nicht automatisch zum Problem,      doch durch weitere theoretische Ansätze ergänzt
     gesellschaftliches Konstrukt und soziale Realität.                     (Hradil 2001: 29).                                      sondern in erster Linie dann, wenn Interdependenz-       (vgl. z.B. Merten / Scherr 2004: 14) und empirisch
                                                                                                                                    beziehungen zwischen den Systemen dazu führen,           fundiert werden. Dies kann z.B. durch den Lebensla-
     Die Frage nach der Legitimität von Ungleichheit                        Ein positiver Umgang mit Vielfalt und Menschen in       dass sich Exklusionen aus den Teilsystemen gegen-        genansatz oder den Ansatz der Verwirklichungschan-
     stellt sich ebenfalls vor dem Hintergrund der gesell-                  unterschiedlichen Lebenssituationen hat zum Ziel,       seitig bedingen und verdichten (vgl. Scherr 2001).       cen von Sen erfolgen.
     schaftlichen Werte einer Zeit und ist keineswegs                       Ungleichheit im Sinne eines Ausschlusses von ge-
     selbstverständlich. Während in der Antike und im                       sellschaftlichen Teilbereichen (Exklusion) abzumil-
     Mittelalter soziale Ungleichheit als „gottgegeben“ an-                 dern und so vielen Menschen wie möglich einen           2.2.3    Lebenslagenansatz
     gesehen wurde, wird seit den Zeiten der Aufklärung                     gleichberechtigten Zugang zur Teilhabe an den
     nach Ursachen und Merkmalen sozialer Ungleich-                         verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, wie z.B.      Als Bezugsgröße zur Erfassung von Phänomenen             Die erste Ausformulierung im Rahmen der Sozialwis-
     heit in der Gesellschaft gefragt. Die frühen, eher sta-                dem Bildungsbereich, und damit auf die Verwirkli-       sozialer Exklusion und sozialer Ungleichheit wird, be-   senschaften fand der Begriff durch Neurath in der
     tischen Modelle, die Zugänge zu gesellschaftlichen                     chung von Lebenschancen zu eröffnen.                    sonders in der Armutsforschung und in der Armuts-        ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: „Die Lebenslage
     Teilbereichen zumeist als Resultat der Zugehörig-                                                                              und Reichtumsberichterstattung, der Lebenslagen-         ist der Inbegriff aller Umstände, die verhältnismäßig
     keit zu einer mehr oder minder genau definierten                                                                               ansatz angesehen, da er „... Wohlstandspositionen        unmittelbar die Verhaltensweisen eines Menschen,
     gesellschaftlichen Gruppe ansahen (Schicht- oder                                                                               und gesellschaftliche Teilhabemöglichkeit als kom-       seinen Schmerz, seine Freude bedingen. Wohnung,
     Klassenmodelle, z.B. von Marx, Weber, Dahrendorf),                                                                             plexes Zusammenspiel unterschiedlicher Dimensi-          Nahrung, Kleidung, Gesundheitspflege, Bücher, The-
     wurden spätestens seit den 1970er Jahren nach und                                                                              onen konzeptualisiert und insbesondere die Grenzen       ater, freundliche menschliche Umgebung, all das ge-
     nach durch flexible, mehrdimensionale Modelle (z.B.                                                                            des Handlungsspielraumes betont, die durch eine          hört zur Lebenslage“ (Neurath 1931: 512).
     Hradil), abgelöst, welche die Strukturen von Exklu-                                                                            gegebene Lebenslage determiniert werden“ (Voges
     sion (z.B. Luhmann s. Kap. 2.2.2) und die Möglich-                                                                             et al. 2003: 8). Damit bietet der Lebenslagenansatz      Diesen Ansatz erweiterte Weisser (1952) um Lebens-
     keit von Veränderungen der sozialen Ungleichheit                                                                               die Möglichkeit, die vorhandenen Ressourcen und          lagen als dem Spielraum, den die äußeren Umstände
     in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen. Nach                                                                            Handlungsräume von Personen und zugleich die             dem Menschen für die Lebensgestaltung bieten. Er
     Hradil (2001: 30) bedeutet soziale Ungleichheit, dass                                                                          durch diese Lebenslagen determinierten Partizipa-        bot damit einen Gegenentwurf zu den Ansätzen von
     Menschen von „wertvollen Gütern“ (z.B. materielle                                                                              tionsmöglichkeiten zu erfassen (ebd.).                   Armut und sozialer Ungleichheit der Nachkriegszeit,

22     Teil A Grundlagen einer an Vielfalt orientierten pädagogischen Praxis.                                                                                                            Teil A Grundlagen einer an Vielfalt orientierten pädagogischen Praxis.   23
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