She said DER HAUPTSTADTBRIEF - Annalena Baerbock und die Diplomaten, die sie und die Welt nicht mehr verstehen

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DER HAUPTSTADTBRIEF
                   Herausgegeben von Ulrich Deppendorf und Ursula Münch

She said
Annalena Baerbock und die
Diplomaten, die sie und die
Welt nicht mehr verstehen
Von Henning Hoff    Seite 2

18. März 2023
She said DER HAUPTSTADTBRIEF - Annalena Baerbock und die Diplomaten, die sie und die Welt nicht mehr verstehen
18. März 2023

                                               Ebend!
                                                                       Und dann passte auch noch Baerbocks Outfit jüngst bei der MSC einigen Menschen nicht.

                 „Darf“ eine Außenministerin so sprechen, wie es Annalena Baerbock tut?
                         Aber ja doch. Das Befremden hat eher strukturelle Gründe.
                Allerdings sollte man die Wirkung der offenen Rede auch nicht überschätzen

                                                         Von Henning Hoff

A
         ls die ersten Meldungen über Anna-    erwies: Die Lacher fielen eher höflich aus,            und dem Einschlag russischer Bomben in der
         lena Baerbocks Rede anlässlich ih-    das Orchester blieb unsicher, wann denn                ukrainischen Metropole Charkiw. Russlands
         rer Verleihung des Ordens wider den   zum Dreifach-Tusch anzusetzen sei. Eine                brutaler Angriffskrieg, „der für uns niemals
tierischen Ernst über die Nachrichtenticker    geschliffene Rednerin, das wurde auch an               zur Normalität werden darf“, war damit
gingen, musste man schmunzeln. Die Außen-      diesem Abend deutlich, ist die Außenminis-             gleich in allen Köpfen. Bei der Verleihung
ministerin löckte karnevalistisch wider den    terin nicht. Sie gab dies selbstironisch zu, als       des Aachener internationalen Karls-Preises

                                                                                                                                                               Titel: picture alliance/dpa | Michael Kappeler, S.2: picture alliance / photothek | Kira Hofmann
Stachel, also gegen das Kanzleramt. Sie wäre   sie offenbarte, ihre Mitarbeiterinnen und              an Maria Kolwsnikowa, Weronika Zepkalo
gern „als Leopard gekommen“, so Baerbock in    Mitarbeiter hätten Wetten laufen, wie oft sie          und Swetlana Tichanoswkaja, die Anführe-
Anspielung auf die lange Hängepartie in Sa-    an diesem Abend „ebend“ (statt des Duden-              rinnen der Proteste gegen die Wahlmanipu-
chen Panzerlieferungen westlicher Bauart an    konformen „eben“) sagen würde.                         lation in Belarus von 2020, sprach sie nicht
die Ukraine. „Aber dann hatte ich doch etwas      Sicher aber ist sie eine leidenschaftliche          von „belarussischen Sicherheitskräften“,
Sorge, dass mir das Kanzleramt wochenlang      Rednerin. Sie packt diese Leidenschaft in eine         sondern von „den Schergen des Lukaschenko-
keine Reisegenehmigung erteilt.“               Sprache, die oft die direkte Ansprache wählt,          Regimes“.
   Wer sich dann später die Fernsehaufzeich-   die „die Dinge beim Namen nennt“ und Mitge-               Darf man so sprechen?
nung anschaute, sah eine wegen der Kriegs-     fühl demonstriert. Mit einem fünfmal wieder-           Schon im Bundestagswahlkampf 2021 frag-
zeiten absichtlich unverkleidete Baerbock,     holten „45 Sekunden“ begann sie im Februar             te beispielsweise die Frankfurter Allgemeine
deren Rede im Narrenkäfig mit (für Karne-      beispielsweise ihre Rede bei der außenpoliti-          Zeitung in einer Glosse, ob es einer potenziel-
val-Verhältnisse) gar nicht mal schlechten     schen Tagung der Heinrich-Böll-Stiftung. Die-          len Bundeskanzlerin gut anstünde, „Mist“ zu
Witzen sich alles in allem als Rohrkrepierer   se Zeitspanne liegt zwischen dem Warnsignal            sagen, sich „tierisch zu ärgern“ und zu beteu-

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18. März 2023

GÜNTER
BANNAS                                                          AUS DEM BANNASKREIS
       ist Kolumnist des Hauptstadtbriefs. Bis März 2018 war er Leiter der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

                     Macht, Einfluss und Posten
U     m „Wer mit wem?“ geht’s nach Wahlen
      und damit – wie derzeit im Bundesland
Berlin – auch um die Frage, wer das eigent-
                                                   nicht folgen – auch dann, wenn es zu einem
                                                   Mitgliederentscheid über eine künftige
                                                   Koalition kommt, einem Instrument, das
                                                                                                     er nicht von den Ansprüchen der CSU
                                                                                                     abhängig sein wollte. Gerhard Schröder
                                                                                                     war einer Koalition mit den Unions-
lich entscheidet und wer dabei mitwirkt:           Spitzenleute – nolens volens – bisweilen ein-     parteien nicht abhold, unterwarf sich
Parteichefs, Vorstände oder die Parteimit-         setzen, um bei den Verhandlungen mit den          aber dem rot-grünen Trend in der SPD
glieder? Gibt es gar vorab beschlossene Ko-        avisierten Partnern möglichst viele ihrer         – versehen mit dem markigen Spruch,
alitionsaussagen, mit denen Wahlkämpfe             Vorhaben durchsetzen zu können. Ein Mit-          es müsse aber klar sein, wer Koch und
geführt wurden – und werden diese einge-           gliederentscheid wirkt wie eine Drohung,          wer Kellner sei. Die FDP-Führungen
halten? Sollen Regierungsbündnisse fortge-         oft auch des kleineren Partners gegenüber         blieben ihren Koalitionspartnern so
setzt werden? Aufgeschrieben oder in Partei-       dem größeren. Mehrfach hat die SPD unter          lange treu, wie sie sich erstens Einfluss
satzungen festgelegt ist das alles nicht. Es ist   Sigmar Gabriels Führung diese Taktik ange-        und zweitens Chancen auf Wiederwahl
wie so oft in der Politik: Es kommt drauf an.      wendet. Angela Merkel blieb Kanzlerin. Die        versprachen. Die Grünen verabschiede-
Doch eine Erfahrung wird immer wieder ge-          SPD aber setzte ihre Pläne durch.                 ten sich von ihrer Fixierung auf die SPD:
macht: Die engere Parteiführung setzt sich            Ausnahmen bestätigen die Regel. Als Chris-     Machtbewusstsein paarte sich mit Risi-
durch. Klugheit und Voraussicht, Kampfes-          tian Lindner 2017 die Sondierungen für ein        kofreude – auch weil es die Umstände,
willen und Durchsetzungsvermögen gehö-             Jamaika-Bündnis platzen ließ, weil er fürch-      die Mehrheiten also, erforderten.
ren allerdings dazu. Manchmal auch Glück.          tete, in einer Koalition mit Union und Grünen        Ein besonderes Theater wird dieser
   Die Dominanz der Parteispitze beruht auf        unter die Räder zu kommen, sorgte Bundes-         Tage in Berlin aufgeführt. Die Sozialde-
zwei Gesetzmäßigkeiten der Politik. Erstens:       präsident Frank-Walter Steinmeier dafür, dass     mokratin Franziska Giffey könnte mit
Nach dem Zustandekommen einer Regie-               abermals eine Groko gebildet wurde. Angela        einem rot-grün-roten Bündnis Regie-
rungskoalition ist es die Führung, die über        Merkel und die SPD willigten ein.                 rende Bürgermeisterin bleiben. Doch
die Vergabe von Posten bestimmt: Minis-               Getreu dem „Opposition ist Mist“-Motto         lieber will sie als Juniorpartnerin ein
ter, Staatssekretäre, in der Folge dann auch       Franz Münteferings geht es bei Koalitions-        Bündnis mit der CDU eingehen. Groß
Spitzenämter in der Fraktion. Störenfriede         bildungen um Macht, Einfluss und Posten.          ist der innerparteiliche Streit, und es
gehen dann leer aus, weshalb sich karriere-        Konrad Adenauer koalierte deshalb 1949            ist ungewiss, wie im April der SPD-Mit-
bewusste Leute selbst dann fügen, wenn sie         lieber mit der kleineren FDP als mit der stär-    gliederentscheid darüber ausgeht. Noch
Bedenken haben. Zweitens: Alle Beteiligten         keren SPD. Helmut Kohl umwarb wie kein            nie ist die Parteibasis ihrer Führung bei
wissen, dass sie ihre Partei in tiefe Krisen       CDU-Politiker sonst die FDP; selbst eine          einer solchen Abstimmung in den Arm
stürzen würden, wenn sie ihrer Führung             absolute Mehrheit war ihm zuwider, weil           gefallen. Bisher.

ern, etwas „nicht auf dem Schirm gehabt“ zu          „Darf“ eine deutsche Außenministerin            minister im Auswärtigen Amt war: Mein
haben (im konkreten Fall das Angeben von           so sprechen, wie Baerbock es tut? Ist Diplo-      Eindruck ist, dass es Konstellationen gibt, in
Sondereinkünften). Seit Baerbock an der            matie nicht eine Sphäre mit sehr viel Grau        denen die traditionelle diplomatische Spra-
Spitze des Auswärtigen Amtes steht, erfüllt        und nur ganz wenig Schwarz und Weiß?              che alleine nicht zum Ziel führt“, sagt Michael
ihre Sprache nicht zuletzt viele deutsche          Erfüllt es nicht einen Zweck, und sei es nur      Roth (SPD), der Vorsitzende des Auswärtigen
Diplomaten alten Schlags mit, diplomatisch         den, sich später erneut zusammensetzen zu         Ausschusses im Deutschen Bundestag, der
ausgedrückt, Skepsis. (Diplomatinnen gibt          können, dass man auf dem sogenannten di-          zuvor unter Frank-Walter Steinmeier, Sig-
es in dieser Generation bis auf wenige her-        plomatischen Parkett von einem „offenen           mar Gabriel und Heiko Maas für die Europa-
ausragende Beispiele, allen voran Deutsch-         Meinungsaustausch“ spricht, wenn eine Zu-         politik zuständig war. „Das gilt nicht nur für
lands brillante Botschafterin in Washington,       sammenkunft katastrophal verlaufen ist?           unsere eigene Öffentlichkeit, sondern auch
Emily Haber, eher vereinzelt.)                     „Als jemand, der selbst acht Jahre lang Staats-   für autokratische Regime, die sich in den ver-

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DER HAUPTSTADTBRIEF

    ANNE
    WIZOREK                                                              DIREKTNACHRICHT
                            ist freie Beraterin für digitale Strategien und Autorin. Ihr Twitter Handle ist @marthadear.

                                                        Aufschrei
   T    ransgenderism must be eradica-
        ted from public life entirely.“ Mit
    diesem Satz erntete der rechte Kom-
                                                 standen worden, da er nur die Ausrottung
                                                 von „Transgenderismus“ fordere. Diese
                                                 bewusste Lüge verzerrt trans Sein als pure
                                                                                                  beschlossen. Unter anderem wird darin
                                                                                                  trans Kindern und Erwachsenen ihre Ge-
                                                                                                  sundheitsversorgung verboten, Eltern so-
    mentator Michael Knowles kürzlich            Weltanschauung, die man ja jederzeit ab-         wie medizinisches Personal, die trans Kin-
    auf der CPAC, der größten politischen        legen könne. Statt die Existenz von trans        der unterstützen, werden kriminalisiert
    Konferenz sogenannter konservativer          Menschen als Fakt anzunehmen, – denn             oder Kindern wird allgemein der Zugang
    Aktivist*innen und republikanischer          wir reden von einer Gruppe Menschen,             zu queerer Community und Inhalten be-
    Politiker*innen in den USA, tosenden         die es gibt, seit es Menschen gibt – wird        schnitten.
    Applaus. Andere CPAC-Redner*innen            sie als gefährlicher „Trend“ verteufelt,           Studien belegen, dass trans Kinder und
    schlugen in dieselbe Kerbe, darunter         dem heutzutage Unmengen „armer, ver-             Jugendliche, die früh in ihrer Geschlechts-
    Donald Trump, der ein landesweites           wirrter Leute“, speziell Kinder, anheim-         identität bestätigt werden und eine entspre-
    Verbot der Gesundheitsversorgung             fallen. Währenddessen ist der Rahmen             chende Gesundheitsversorgung erhalten,
    für trans Menschen versprach, sollte         des Sagbaren, und damit auch Machbaren,          geradezu aufblühen und sich die sonst hohe
    er wieder Präsident werden. Was lan-         längst noch weiter verschoben und das            Quote der Suizidalität extrem reduziert.
    ge eher zwischen den Zeilen und mit          klassische Playbook der Rechten bedient          Just in dem Moment unserer Weltgeschich-
    vorgespielter „Sorge“ für das Wohl           worden. Fake News plus „Denkt denn nie-          te, wo also ein glückliches und langes Leben
    von Kindern geäußert wurde, wird             mand an die Kinder?!“ funktioniert selbst        für immer mehr trans Personen greifbarer
    nun faktisch zu einer Forderung nach         heute noch als Moral-Panic-Treibstoff,           denn je erscheint, will der Backlash dies
    Genozid an allen trans Menschen. Im          was auch außerhalb konservativer Kreise          wieder mit aller Härte niederknüppeln,
    Englischen heißt es treffend: „They are      Anschluss findet (und weit über die USA          und zwar so früh wie möglich.
    saying the quiet part out loud.“ Auf der     hinaus geht, wie zum Beispiel die hiesige          Wenn aber die cisnormative „Es gibt nur
    CPAC wurde die nächste Eskalations-          Diskussion ums Selbstbestimmungsgesetz           Mann und Frau mit ihren festen Geschlech-
    stufe des republikanischen christlich-       zeigt).                                          terrollen“-Ideologie wirklich so „natürlich
    nationalistischen Projekts regelrecht          Mittlerweile dokumentiert die Bürger*in-       und angeboren“ ist, wie von ihren Fans
    beschrien.                                   nenrechtsorganisation ACLU mehr als 400          immer vorgegeben wird, warum muss sie
      Knowles war sich im Übrigen nicht          queerfeindliche Gesetzesvorlagen in fast         dann überhaupt durch ständige gesell-
    zu schade, nach seiner grausamen Aus-        allen Staaten der USA. Nahezu täglich kom-       schaftliche/staatliche Überwachung und
    sage zu behaupten, er wäre missver-          men neue hinzu und werden zunehmend              Gewalt durchgesetzt werden?

gangenen Jahren einer immer aggressiveren        Art und Weise, sich als Außenministerin zu       einen Sprach-, Bildungs- und Sittenverfall bei
Rhetorik bedient haben. Die Dinge deutlicher     äußern, positiv bewerten; Baerbock-Geg-          der jeweils jüngeren wahrnimmt. Auch habe
auszusprechen, trägt meiner Meinung nach         ner lauern dagegen nur auf den nächsten          sich das mediale Umfeld, in dem sich Politi-
dazu bei, dem etwas entgegenzusetzen. Und        Versprecher, um sich in ihrer ablehnenden        kerinnen und Politiker heute äußern, stark
es sorgt auch dafür, dass Außenpolitik bei uns   Haltung bestätigt zu fühlen.“ Bei der Annah-     verändert: „Zum Beispiel werden auch Inter-
zu Hause besser verstanden wird.“                me, dass Baerbock mit ihrer Sprache stärker      viewfragen ‚lockerer‘ gestellt als früher.“ Wie
   O Tempora, o mores!                           durchdringe, sei also Vorsicht angezeigt.        Spitzenpolitikerinnen und -politiker aufträten,
Der Sprachforscher Albrecht Plewnia vom             Dass gerade Ältere mit Baerbocks Aus-         sei dabei oft nicht Ergebnis einer gezielten oder
Leibniz-Institut für Deutsche Sprache warnt      drucksweise fremdeln, hat aber auch struk-       auch nur bewussten Inszenierung, so Plewnia,
dagegen davor, die Wirkung zu überschät-         turelle Gründe – laut Plewnia Teil eines bis     sondern eine oft über Jahre entwickelte Atti-
zen: „Sehr vereinfacht gesagt: Wer Frau Ba-      in die Antike zurückzuverfolgenden Genera-       tüde, entsprechend der Überzeugung: „So zu
erbock vorher schon gut fand, wird auch ihre     tionenkonflikts, bei dem die ältere Generation   sprechen und aufzutreten, ist mir gemäß.“

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DER HAUPTSTADTBRIEF

     Einer der häufigsten Vorwürfe gegenüber                                                          alle wissen, dass auf Annalena Baerbock
                                                                                                      Verlass ist.“
     Baerbock, den sie auch in ihrer Karnevalsrede                                                       Michael Roth beschreibt es so: „Auch für
                                                                                                      die deutschen Außenpolitik gilt: In einem
     thematisierte, lautet, sie spreche „zu emotional"                                                Chor gibt es verschiedene Stimmen und
                                                                                                      Temperamente, die ganz unterschiedlich in-
                                                                                                      tonieren. Das ist kein Problem, solange alle
                                                                                                      dasselbe Lied singen – und das ist bei der
        Einer der häufigsten Vorwürfe gegen-        Debatte um das Ausmaß deutscher Militär-          Bundesregierung der Fall.“ Um es mit Anna-
     über Baerbock, den sie auch in ihrer Karne-    hilfe für die Ukraine und die Lieferung von       lena Baerbock zu sagen: ebend.
     valsrede thematisierte, lautet, sie spreche    Leopard-Panzern schon köchelte, sagte der
     „zu emotional“ – was SPD-Außenpolitiker        estnische Außenminister Urmas Reinsalu              IMPRESSUM

     Roth nicht teilt: „Vielleicht war das in den   im Herbst 2022 auf dem Berliner Forum               Der Hauptstadtbrief ist eine wöchentliche
                                                                                                        Publikation von PrinzMedien
     vergangenen Monaten sogar eine unserer         Außenpolitik der Körber-Stiftung mit be-            Verleger:              Detlef Prinz
                                                                                                        Herausgegeben von      Ulrich Deppendorf und
     empfindlichsten Schwachstellen, denn           tonter Spitze in Richtung Kanzleramt: „Wir                                 Prof. Dr. Ursula Münch
     vor allem in der Ukraine wurde die deut-                                                           Chefredakteur:         Lutz Lichtenberger, V.i.S.d.P.
                                                                                                        Kolumnen:              Günter Bannas, Inge Kloepfer,
     sche Politik bisweilen als ziemlich kalt und                                                                              Anne Wizorek
     empathielos wahrgenommen.“ Tatsäch-                  Dr. Henning Hoff, ist Editor-at-Large         Layout:                 Gordon Martin
                                                                                                        HSB-Icon [Quadriga]:    Shutterstock.de/AVA Bitter
     lich schließt Baerbock, die zuletzt beim              der Zeitschrift Internationale Politik,
                                                                                                        Hauptstadtbrief Berlin Verlagsgesellschaft mbH
     Schmieden von Russland isolierenden                Executive Editor deren englischsprachiger       Tempelhofer Ufer 23-24 • 10963 Berlin
                                                                                                        Tel. 030/21 50 54 00
     Allianzen in aller Welt vor allem um „Ver-          Ausgabe, Internationale Politik Quarterly,     info@derhauptstadtbrief.de www.derhauptstadtbrief.de
     trauen“ in Deutschland warb, mit ihrer           herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft      Redaktionsschluss 16. März 2023
                                                                                                        © Der Hauptstadtbrief 2023
     Sprache eine wichtige Lücke. Während die                für Auswärtige Politik (DGAP).

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She said DER HAUPTSTADTBRIEF - Annalena Baerbock und die Diplomaten, die sie und die Welt nicht mehr verstehen
18. März 2023

                                                                   POSTSKRIPTUM
                                                                   Von Lutz Lichtenberger

                                Die ganze besoffene Welt
                                Gabriele Tergits spektakulärer Roman „Der erste Zug nach Berlin“

      G    abriele Tergit befindet sich in den frü-
           hen 1950er-Jahren in keiner guten Ver-
      fassung.
                                                          lare verkauft wurden. „Bin ja neugierig,
                                                          wie das antisemitische Volk dieses Buch
                                                          aufnimmt“, hatte der Lektor des Verlages
                                                                                                                         zurück und schreibt Reportagen, unter an-
                                                                                                                         derem für den Tagesspiegel.
                                                                                                                            Den nichts weniger als spektakulären
         Das Deutschland, das vermeintlich ge-            zuvor geschrieben. Sein Argwohn war be-                        Ertrag jener Reisen gibt es aber in seiner
      rade beschämt Luft holt, um alsbald den             gründet.                                                       vollen Entfaltung erst jetzt, im Jahr 2023 zu
      Marsch ins Wirtschaftswunderland anzu-                 Tergit, in den letzten Jahren der Weima-                    erleben. „Der erste Zug nach Berlin“, Tergits
      treten, aber auch nicht.                            rer Republik als ungemein aufmerksame                          hellsichtiger, beißend ironischer und be-
         Tergit hat für ihr in vielen dunklen             und souverän schreibende Gerichtsrepor-                        törend sprachmächtiger Roman, ist gerade
      Kriegsjahren im Exil in Palästina und Lon-          terin für Theodor Wolffs Berliner Tageblatt                    bei Schöffling & Co. erstmals in der Fassung
      don geschriebenes monumentales Meis-                bekannt geworden, ehe sie mit ihrem Ro-                        des Originaltyposkripts erschienen. Ein
      terwerk „Effingers“ erst keinen Verlag ge-          man „Käsebier erobert den Kurfürsten-                          literarischer Segen. (In die Fassung, die
      funden, dann miterleben müssen, dass von            damm“ auch zum literarischen Superstar                         weitgehend unbemerkt im Jahr 2000 er-
      dem Buch, 1951 bei Hemmerich & Lesser               avancierte, hat Sehnsucht nach Berlin.                         schien, war erheblich eingegriffen worden,
      erschienen, gerade einmal 2000 Exemp-               1948 kehrt sie in die Stadt ihrer Kindheit                     „von vielen Abgründen befreit“, wie Nicole

                                                                                                                                WWW.HUMBOLDTLOUNGE.COM

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                                                                             vice und einer einmaligen kulturellen
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                                     gessliches Erlebnis zu bieten.          Humboldt Lounge                                   Private Dinings bis zu 12 Personen
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She said DER HAUPTSTADTBRIEF - Annalena Baerbock und die Diplomaten, die sie und die Welt nicht mehr verstehen
DER HAUPTSTADTBRIEF

Henneberg im verdienstvollen Nachwort                                                            alle Parteien, Landsleute und Glücksritter,
charakterisierte.)                                                                               die amerikanischen Erzkapitalisten nicht
   Tergits Protagonistin Maud Phipps, eine                                                       anders als die kommunistischen Kommis-
sagenhaft naive Amerikanerin, schließt                                                           sare, die britischen adligen Apologeten
sich einer illustren Truppe an, die in Berlin                                                    und die deutschen Wendehälse, die ewigen
im Auftrag des Alliierten Kontrollrats eine                                                      Nazis obendrein. Die ganze besoffene Welt
Zeitung mit Demokratisierungsauftrag eta-                                                        – der Irrsinn ist auch nach dem "totalen
blieren soll. In der Melange aus Ahnungs-                                                        Krieg" nicht vorbei.
losigkeit und Gutgläubigkeit kann man                                                               Tergits Maud taumelt durch diese Sze-
in Maud eine Wiedergängerin von Irm-                                                             nerie, verliebt sich in einen aalglatten
gard Keuns gleichaltriger Sanna in „Nach                                                         Ex-Nazi, will den Abenteuerspielplatz
Mitternacht“ vermuten, die 1936 in Nazi-                                                         Deutschland nicht mehr verlassen, ehe
Deutschland nach anfänglicher Begeis-                                                            eine Begegnung mit einem schwerkranken
terung für das neue Regime zu verstehen                                                          Überlebenden des Konzentrationslagers sie
beginnt, welche Terrorherrschaft sich der                                                        an ihrer bisherigen Weltwahrnehmung zu
*hearts and minds* bemächtigt hat.                                                               zweifeln beginnen lässt. Die Schilderung
   Maud erlebt im Nachkriegsberlin eine                                                          jener schicksalhaften Konfrontation ist
widerwillige bis hartleibige Bevölkerung,                                                        noch einmal ein besonderes Zeugnis von
die Tergit mit kristallklar grellen Aussagen                                                     Tergits literarischer Meisterschaft, frei von
auftreten lässt: „Ich bin nie ein Nazi gewe-                                                     Kitsch und hohlem Pathos, aber voller emo-
sen, was denken Sie denn?“, legt etwa der                                                        tionaler Wucht.
Taxichauffeur los. „Mit der Rasselbande                                                             „Der erste Zug nach Berlin“ ist kein un-
wollte ich nie was zu tun haben, die haben                                                       mittelbar politischer Kommentar, weder
ja dem Menschen das Gehirn wegampu-             ka präsentiert der Taximann eine Broschü-        für 1951 noch für heute. Der Roman stößt
tiert, aber wenn das Vaterland angegriffen      re, die der Journalist Merton als Sammlung       aber immer wieder in das kalte Herz des
wird, dann eilt man eben zu den Fahnen.“        von Fake News entlarvt, aber: „Warum soll        Weltgeschehens, mitten hinein in den of-
Auf den Einwand eines Begleiters, dass          ich Ihnen das glauben?“, bekommt er dar-         fensichtlich zu allen Zeiten wiederkehrba-
doch niemand Deutschland angegriffen            auf zu hören, es sei doch viel leichter, das     ren kollektiven Wahn, den Hass, die Gier
habe, antwortet der Fahrer: „Herr, das glau-    Gegenteil zu behaupten, als es in einer Bro-     und die Hässlichkeit. Eine Welt, die ihre
ben Sie doch selber nicht. Sie sehen doch, es   schüre zu drucken. Merton, eine der weni-        Niedertracht mit vermeintlich hehren Ide-
ist alles so gekommen, wie der Hitler gesagt    gen Lichtgestalten des Romans, entgegnet         alen nach außen zu beschönigen versucht
hat und wie unsereiner es nicht hat glauben     ihm zeitlos treffend: „Sie haben völlig recht.   und sich währenddessen mit den gleichen
wollen.“ Die Russen hätten sie immer über-      Wenn man die Menschheit daran gewöhnt,           ideologischen Phrasen nach innen nur zu
fallen wollen und hätten schließlich das        dass im allgemeinen gelogen wird, braucht        gerne selbst belügt und betäubt, das Be-
halbe Land Polen gegeben. Zum Beweis für        nichts mehr wahr zu sein.“                       wusstsein zu verdrängen versucht. Mehr
die Überlegenheit und den Fortbestand na-         Sich die Wirklichkeit, Geschichte und          Gegenwart gibt es nicht. Gabriele Tergit ist
tionalsozialistischer Regime in Südameri-       Gegenwart zurechtzubiegen, versuchen             die Autorin der Stunde.

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She said DER HAUPTSTADTBRIEF - Annalena Baerbock und die Diplomaten, die sie und die Welt nicht mehr verstehen She said DER HAUPTSTADTBRIEF - Annalena Baerbock und die Diplomaten, die sie und die Welt nicht mehr verstehen
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