So geht Einheit Wie weit das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist - Nürnberg Institut für Marktentscheidungen eV
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
gefördert vom So geht Einheit Wie weit das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist tadt-Wanderung statt Ost-West-Wanderung +++ Mütter im Westen weniger erwerbstätig +++ Produktivität im Osten um ein Drittel niedriger +++ Rückzug der R hr atypische Beschäftigung +++ Ostdeutsche in Sorge wegen Kriminalität +++ kulturelles Erbe der DDR wirkt beim Engagement nach +++ nur West-Klubs in der
Über das Berlin-Institut Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung ist ein unabhängiger Thinktank, der sich mit Fragen regionaler und globaler demografischer Veränderungen beschäftigt. Das Institut wurde 2000 als gemeinnützige Stiftung gegründet und hat die Aufgabe, das Bewusstsein für den demografischen Wandel zu schärfen, nachhaltige Entwicklung zu fördern, neue Ideen in die Politik einzubringen und Konzepte zur Lösung demografischer und entwicklungspolitischer Probleme zu erarbeiten. Das Berlin-Institut erstellt Studien, Diskussions- und Hintergrundpapiere, bereitet wissen- schaftliche Informationen für den politischen Entscheidungsprozess auf und betreibt ein Online-Handbuch zum Thema Bevölkerung. Weitere Informationen, wie auch die Möglichkeit, den kostenlosen regelmäßigen Newslet- ter „Demos“ zu abonnieren, finden Sie unter www.berlin-institut.org. Unterstützen Sie die unabhängige Arbeit des Berlin-Instituts Das Berlin-Institut erhält keinerlei öffentliche institutionelle Unterstützung. Projektför- derungen, Forschungsaufträge, Spenden und Zustiftungen ermöglichen die erfolgreiche Arbeit des Instituts. Das Berlin-Institut ist als gemeinnützig anerkannt. Spenden und Zustiftungen sind steuerlich absetzbar. Im Förderkreis des Berlin-Instituts kommen interessierte und engagierte Privatpersonen, Unternehmen und Stiftungen zusammen, die bereit sind, das Berlin-Institut ideell und finanziell zu unterstützen. Informationen zum Förderkreis finden Sie unter www.berlin-institut.org/foerderkreis-des-berlin-instituts.html Bankverbindung: Bankhaus Hallbaum BLZ 250 601 80 IBAN DE50 2506 0180 0020 2864 07 Konto 20 28 64 07 BIC/SWIFT HALLDE2H Über den GfK Verein Der GfK Verein ist eine 1934 gegründete Non-Profit-Organisation zur Förderung der Marktforschung. Er setzt sich aus rund 600 Unternehmen und Einzelpersonen zusammen. Zweck des Vereins ist es, innovative Forschungsmethoden in enger Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Institutionen zu entwickeln, die Aus- und Weiterbildung von Markt- forschern zu fördern und die für den privaten Konsum grundlegenden Strukturen und Entwicklungen in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik zu verfolgen sowie deren Auswir- kungen auf die Verbraucher zu erforschen. Die Studienergebnisse werden den Mitgliedern des Vereins kostenlos zur Verfügung gestellt. Der GfK Verein ist Gesellschafter der GfK SE. Weitere Informationen unter: www.gfk-verein.org.
gefördert vom so geht einheit Wie weit das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist Berlin-Institut 1
Impressum Originalausgabe Juli 2015 © Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Sämtliche, auch auszugsweise Verwertung bleibt vorbehalten. Herausgegeben vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung Schillerstraße 59 10627 Berlin Telefon: (030) 22 32 48 45 Telefax: (030) 22 32 48 46 E-Mail: info@berlin-institut.org www.berlin-institut.org Das Berlin-Institut finden Sie auch bei Facebook und Twitter (@berlin_institut). Autoren: Theresa Damm, Daniel Geyer, Vera Kreuter, Klemens Maget, Ruth Müller, Wiebke Rösler, Florian Sievers, Stephan Sievert, Manuel Slupina, Nora Storz, Sabine Sütterlin, Franziska Woellert, Reiner Klingholz Lektorat: Tanja Kiziak, Sabine Sütterlin Organisation: Vera Kreuter, Sabine Sütterlin Design: Jörg Scholz (www.traktorimnetz.de) Layout und Grafiken: Christina Ohmann (www.christinaohmann.de) Druck: LASERLINE, Berlin Der überwiegende Teil der thematischen Landkarten wurde auf Grundlage des Programms EasyMap der Lutum+Tappert DV-Beratung GmbH, Bonn, erstellt. Das Kapitel 8 zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JC1116A gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt des Kapitels liegt beim Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung dankt dem GfK Verein und dem Förderkreis des Berlin-Instituts für die Ermöglichung dieser Studie. Informationen zum GfK Verein finden Sie unter http://gfk-verein.org/, zum Förderkreis unter http://www.berlin-institut.org/foerderkreis-des- berlin-instituts.html ISBN: 978-3-9816212-7-3 2 So geht Einheit
Inhalt Editorial: Warum Einheit ein Prozess und 13. Einkommen und Vermögen: Mühsame kein politischer Willensakt ist........................................4 Annäherung............................................................................... 34 Interview mit Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt: 14. Konsum: Überall Milka-Schokolade und „Die Polen haben die Deutschen gerettet“...................6 Rotkäppchen-Sekt .................................................................. 36 1. Bevölkerungsentwicklung: Der Osten 15. Medien: Westmedien erobern Tal der macht’s vor...................................................................................8 Ahnungslosen.......................................................................... 38 2. Kinderzahl: Wo Eltern keinen Trauschein 16. Umwelt: Von der Dreckschleuder zur haben............................................................................................. 12 Vorreiterregion ....................................................................40 3. Zuwanderung: Mehr Vorurteile dort, wo 17. Kriminalität: Ostdeutsche leben nicht weniger Migranten sind...................................................... 14 unsicherer, fühlen sich aber so..................................... 42 4. Binnenwanderung: Zuerst in den Westen, 18. Religion: Der Westen folgt dem Osten dann in die Stadt...................................................................... 16 bei der Säkularisierung.....................................................44 5. Partnerwahl: Im Bett kaum noch Mauern ............ 18 19. Zivilgesellschaftliches Engagement: Einsatz für das Gemeinwohl eher im Norden 6. Lebensformen: Familien werden auch im und Süden ..................................................................................46 Westen Seltener...................................................................... 20 20. Gesundheit: Ohne Mauer lebt es sich länger...48 7. Kinderbetreuung: Was ist gut für die Kleinen – und für die Eltern?............................................ 22 21. Suchtverhalten: Im Rausch vereint...................... 50 8. Bildung: STARKE SCHÜLER IM OSTEN, ABER 22. Parteien und Politik: Mehr Vielfalt seit AUCH VIELE ABBRECHER........................................................... 24 der Einheit................................................................................. 52 9. Erwerbsformen: Die Arbeitswelt wandelt 23. Glück und Zufriedenheit: Der Blick nach sich – überall .......................................................................... 26 drüben bleibt........................................................................... 54 10. Arbeitsplätze: Arbeitslosigkeit teilt 24. Stereotype: Einheit in den Köpfen braucht Deutschland noch immer .................................................. 28 mehr als eine Generation................................................... 56 11. Frauenerwerbstätigkeit: Bundesweit 25. Ein Kessel Buntes........................................................... 58 mehr werktätige Mütter.................................................... 30 QUELLEN........................................................................................ 62 12. Wirtschaft: Die Unterschiede bleiben................. 32 Berlin-Institut 3
Warum Einheit ein Prozess und kein politischer Willensakt ist Wer in den vergangenen 25 Jahren in Doch diese Vereinigung war und ist weitaus Wie kaputt der Osten war, zeigte sich nicht Deutschland geboren wurde, und das sind schwieriger zu bewerkstelligen, als im Über- nur an den tatsächlichen Wirtschaftsdaten immerhin rund 19 Millionen Menschen, kennt schwang der Einheitsfeiern gedacht. Auch Ende der 1980er Jahre, welche die Partei- die Unterschiede zwischen DDR und BRD wenn die Landesteile nur 41 Jahre getrennt führung stets zu verschleiern wusste und vielleicht gerade noch aus Erzählungen oder waren – also während nicht einmal zwei Ge- die auch im Westen nicht in diesem Umfang dem Schulunterricht. Die mit allen Sinnen nerationen –, hatten West und Ost ihre Bür- bekannt waren. Sondern auch daran, dass wahrnehmbaren Eigenheiten des DDR-Alltags ger so unterschiedlich sozialisiert, dass ein die komplette Infrastruktur, Wohnhäuser, sind verschwunden: das Fehlen von Farbe rasches Zusammenwachsen im Nachhinein Fabrikanlagen, Straßen, Eisenbahnlinien, im Einheitsgrau des Ostens ebenso wie das utopisch erscheint. Die Menschen im Westen Telefonnetze und Wasserleitungen über Jahre röchelnde Klackern der Zweitaktmotoren auf waren mehrheitlich der Überzeugung, dass so stark vernachlässigt worden waren, dass den mit Betonplatten ausgelegten Straßen sie eher durch Tatkraft als durch Zufall dem sie über Nacht wertlos wurden. Viele Unter- oder der Gestank der Braunkohlefeuerung richtigen System angehörten. Schließlich nehmen hatten im Grunde einen negativen während der Heizperiode, die mitunter hatten sie das Wirtschaftswunder vollbracht Buchwert. Denn nach ihrer Abwicklung war zwölf Monate zu dauern schien. Das triste und aus den Trümmern von Drittem Reich ein Milliardenaufwand nötig, um die Umwelt- Bild entsprach dem Zustand der maroden und Zweitem Weltkrieg eine der erfolgreichs- schäden der DDR-Wirtschaft, die verseuchte Volkswirtschaft. ten Wirtschafts- und Wissenschaftsnationen Chemielandschaft um Bitterfeld, die Altlasten der Welt aufgebaut. von Braunkohle und Uranerzabbau zu Bald nach dem Mauerfall drang der Westen beseitigen. Erst danach waren viele Gebiete so knallig farbenfroh gen Osten vor, dass Dass dieses zur Selbstgefälligkeit neigende überhaupt wieder sicher bewohnbar. manche Zeitgenossen die lange befürchtete Selbstbild zu Spannungen mit den Menschen imperialistische Invasion heranrollen sahen: aus dem Geschwisterstaat im Osten führen Wie reich der Westen gewesen sein muss und Als die ersten Plakatwände an die bröselnden musste, war kaum zu vermeiden. Da ein das vereinte Land über all die Jahre geblieben Hauswände zwischen Greifswald und Gera starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein ist, zeigt sich daran, dass Deutschland heute geschraubt waren, um für Westprodukte zu gescheitertes System zusammenkamen, sei trotz eines West-Ost-Transfers von bisher werben, sah das aus, als seien Außerirdische doch klar gewesen, dass die einen die Lehr- rund zwei Billionen Euro als stärkste Volks- gelandet. meister und die anderen die Lehrlinge sein wirtschaft Europas dasteht. Der Transfer würden, hat der ehemalige Bundestagsprä- kann also keine Fehlinvestition gewesen sein. Im Jahr 1990 kamen zwei denkbar un- sident Wolfgang Thierse einmal gesagt. Die Zudem ist Deutschland Hauptnettozahler terschiedliche staatliche Gebilde an der DDR war so heruntergewirtschaftet, dass sie in der EU geblieben, hat also auch noch Grenzlinie zwischen zwei verfeindeten, bis an sich trotz eines übermächtigen Polizei- und den Aufholprozess der neu aufgenommen die Zähne atomar hochgerüsteten Systemen Stasiapparats nach den friedlichen Protesten Länder aus Süd-, Mittel- und Osteuropa zusammen, um sich friedlich zu einem Staat ihrer Bürger ohne große Gegenwehr quasi mitfinanziert. Bei alledem sind die Arbeitslo- zusammenzuschließen. Allein dass dies selbst auflöste. Das Ende der DDR war für das senzahlen, die nach den zahllosen Betriebs- gelang, ist ein Wunder, das historische Ver- Regime eine Kapitulation vor dem eigenen schließungen in Ostdeutschland und dem gleiche sucht. Kein Zusammenschluss einst Versagen und vor dem Mut der Protestieren- Neuaufbau von modernen, aber jobarmen getrennter Staaten mit derartig unterschiedli- den. Unternehmen bis Anfang der 2000er Jahre chen politischen Systemen hat je so reibungs- bundesweit auf 4,9 Millionen gestiegen los geklappt. waren, bis heute auf unter 2,8 Millionen gesunken. Jeder heutige EU-Krisenstaat wäre froh, wenn er auch nur im Ansatz eine solche Erfolgsgeschichte vor sich hätte. 4 So geht Einheit
Dennoch: Nach diesem Kraftakt ohnegleichen Doch in anderen Bereichen, bei den Das dürfte bei der nächsten großen Feier im sind bis heute zwar ein paar blühende Land- Kinderzahlen, der Bildung oder den Um- Jahr 2040, anlässlich von 50 Jahren Einheit schaften entstanden. Von einer flächenhaften weltbedingungen hat sich die klare Teilung anders aussehen. Dann werden über die Hälf- Angleichung zwischen Ost und West kann Deutschlands aufgelöst. Sie ist einem te aller in Deutschland Lebenden nach der aber keine Rede sein. Die Einheit ist eben Flickenteppich gewichen, der sich über die Vereinigung geboren sein. Spätestens dann keine Folge eines politischen Willensaktes, ganze neue Republik ausbreitet. So weist der haben wir ein neues Deutschland. sondern ein schwieriger, langwieriger Pro- einst kaputte Osten heute die größte Dichte zess der Annäherung, der aus strukturellen an restaurierten Unesco-Kulturerbe-Stätten Berlin, im Juni 2015 Gründen vermutlich nie vollständig vollzogen auf. Boomende Städte wie Leipzig oder werden kann. Potsdam verfügen über eine Infrastruktur, die Reiner Klingholz der Westen selten zu bieten hat. Umgekehrt Direktor Berlin-Institut für Bevölkerung und Das Berlin-Institut hat versucht, an 25 finden sich in den neuen Ländern auch Entwicklung Themen deutlich zu machen, wo die beiden leerlaufende Landstriche, in der Altmark, der Landesteile zu Beginn des Einigungsprozes- Prignitz oder Vorpommern, wo sich Fuchs ses standen, welche Fortschritte sie gemacht und Hase gute Nacht sagen. Im damals wie haben und wo es nach wie vor größere heute reicheren Westen ist die Lage ebenfalls Unterschiede gibt. Dabei ging es uns nicht gespalten: Bankrotte Kommunen in den alten nur darum, den Aufholprozess des Ostens Industrierevieren und ganze Bundesländer, zu zeigen, sondern auch die Bereiche zu wie das Saarland oder Bremen, die vor lauter benennen, wo der Westen gegenüber dem Schulden kaum noch handlungsfähig sind, Osten einen Rückstand wettzumachen hatte, existieren neben prallen Wirtschaftswun- etwa bei der Kinderbetreuung oder bei der derzonen in Oberbayern und wachsenden Berufstätigkeit von Frauen. Metropolregionen wie Hamburg oder dem Rhein-Main-Gebiet. Problem- und Erfolgsge- Wir wollten wissen, mit welchen Vorstel- biete gibt es mittlerweile in Ost und West. lungen sich Ost und West vereinigt haben und was davon bis heute übrig geblieben Die Ostdeutschen haben mit der Wende ihre ist, was die Bürger in beiden Landesteilen Freiheit wiedergewonnen und den Zugang zu übereinander dachten und denken und was einem Lebensstandard, der zuvor im Westen sie sich von ihrem verdienten Geld leisten Europas normal war. Wie viel besser es den wollen und können. Dazu hat die Gesellschaft Ostdeutschen heute im Vergleich zu 1990 für Konsumforschung (GfK) eigens eine neue geht, zeigt sich am besten an der Lebenser- Befragung durchgeführt, deren Ergebnisse wartung, die damals um fast drei Jahre unter Sie auf den Seiten 56 und 57 finden. jener in Westdeutschland lag und heute prak- tisch Westniveau erreicht hat. Der Osten hat Das Ergebnis hat uns selbst überrascht. Denn mit der Einheit gewiss den größten Gewinn nach wie vor sind beide Teile Deutschlands eingefahren. Er hat aber auch den härteren erstaunlich verschieden, wie sich an vielen Teil des Einheitsprozesses getragen. Denn in der Karten auf den nächsten Seiten erkennen den neuen Bundesländern hat sich praktisch lässt. Ob bei der Bevölkerungsentwicklung, alles verändert, während saturierte Bürger der Wirtschaftskraft, den Vermögen, den Erb- aus Freiburg oder Gütersloh, wenn sie nicht schaften oder der Größe der landwirtschaftli- persönlich engagiert oder politisch interes- chen Betriebe: Überall zeichnet sich ziemlich siert waren, die letzten 25 Jahre überstehen exakt die alte Grenze ab, vom Ratzeburger konnten, ohne auch nur einen Gedanken See über Harz und Rhön bis in das Erzgebir- an die Einheit zu verschwenden. Dass viele ge, eine Grenze, die einst ein Todesstreifen Wessis Zeit ihres Lebens noch nie im Osten war und heute bestenfalls noch als grünes waren, ist nur ein Zeichen dafür, dass die Band zu erkennen ist, weil die Natur die Einheit länger braucht als eine Generation. Wunden geheilt hat. Berlin-Institut 5
Interview mit Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt „Die Polen haben die Deutschen gerettet“ Helmut Schmidt, Jahrgang 1918, war von rufen. Da saßen zum ersten Mal alle gesell- atomwaffenfreie und entmilitarisierte Zone in 1974 bis 1982 Bundeskanzler und ist seither schaftlichen Kräfte einschließlich Solidarnosc Mitteleuropa einzurichten und dann in einer Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“. zusammen, um über ein Mehrparteiensys- gesamtdeutschen Konferenz die Schritte auf Von Hause aus Ökonom, warnte Schmidt be- tem, freie Wahlen und andere Reformen zu dem Weg zu einer Vereinigung auszuhandeln. reits kurz nach dem Fall der Mauer davor, die sprechen. Von diesem Zeitpunkt an erschien Diese Idee hatte sich bald erledigt. Schwierigkeiten kleinzureden, die sich bei es mir wahrscheinlich, dass in Deutschland der Vereinigung der beiden deutschen Staa- eine Vereinigung zustande kommen könnte. Der ökonomische Teil des Plans stammte ten mit ihren unterschiedlichen Wirtschafts- Dass es so schnell gehen würde, war aber von mir. Er sah vor, die wirtschaftliche und systemen ergeben könnten. In Aufsätzen und nicht abzusehen. soziale Wiedervereinigung in drei Stufen Reden hat er seither immer wieder die Prob- über fünf Jahre hinweg zu vollziehen. Denn es leme beim Zusammenwachsen analysiert und Hat der Zusammenbruch des Systems im war schon damals klar, dass es riskant wäre, Handlungsvorschläge vorgelegt. damaligen Ostblock die Möglichkeit der die Plan- und Zwangswirtschaft der DDR auf Vereinigung eröffnet? einen Schlag in das marktwirtschaftliche Sys- Hätten Sie sich zu Ihrer Zeit als Kanzler tem zu überführen. Der Deutschlandplan von bis 1982 vorstellen können, dass das Ende Den Systemzusammenbruch hat nicht die 1959 war natürlich 1989 völlig überholt. Aber der deutschen Teilung so schnell kommen Perestroika ausgelöst, die Michail Gorbat- die Analyse war immer noch richtig, dass die würde? schow ausrief, nachdem er 1985 Generalse- wirtschaftliche Vereinigung stufenweise und kretär der KPdSU geworden war und damit im Übergang staatlich gestützt hätte vollzo- Zu meiner Zeit als Kanzler hätte ich es nicht faktisch die Geschicke der Sowjetunion und gen werden müssen. für möglich gehalten, dass die DDR noch im des gesamten Ostblocks lenkte. Denn in der selben Jahrzehnt zusammenbrechen würde. damaligen Tschechoslowakei und auch in Es hat später weitere Studien über das Thema Wohl aber habe ich deutlich gesehen, dass der DDR änderte die Perestroika nichts. Es gegeben, die zum gleichen Ergebnis kamen. die DDR weit hinter dem Mond zurückgeblie- war Jaruzelski, der in Bezug auf die Sow- Ich erinnere mich zum Beispiel an Arbeiten ben war. Dass sie am laufenden Band Geld jetherrschaft ein gespaltenes Bewusstsein des Wirtschaftswissenschaftlers Bruno Gleit- brauchte und sich dieses unter anderem besaß und der einen Seite dieses gespaltenen ze. Kurt Biedenkopf hat Ende 1989 Ähnliches dadurch beschaffte, dass sie für jeden Bewusstseins nachgegeben hat, indem er den öffentlich dargelegt. Häftling hunderttausende D-Mark verlangte. Runden Tisch erfand. Die Polen haben die Alexander Schalck-Golodkowski, der Mann, Deutschen gerettet. Das Bundesministerium für innerdeutsche der dies vermittelte, war der wichtigste Beziehungen – so wurde das frühere Minis- Ökonom der DDR. Die SPD hatte schon 1959 einen „Deutsch- terium für gesamtdeutsche Fragen 1969 im landplan“ ausgearbeitet, um auf eine Zuge der neuen Ostpolitik genannt – stand Von wann an hielten Sie das Ende der mögliche Wiedervereinigung vorbereitet seit 1987 unter der Leitung von Dorothee Teilung für möglich? zu sein. Hatten die Regierungen der alten Wilms von der CDU. Unter ihrer Obhut sind Bundesrepublik jemals derartige Pläne in mit Sicherheit ernstzunehmende Papiere Im Frühjahr 1989 hat in Polen General der Schublade? entstanden, die mögliche Pläne für eine Ver- Wojciech Jaruzelski den Forderungen der einigung enthielten und auch auf mögliche oppositionellen Gewerkschaft Solidarnosc Den Deutschlandplan haben 1959 einige sozi- Probleme dabei hinwiesen. Aber sie traute nachgegeben und den „Runden Tisch“ einbe- aldemokratische Bundestagsabgeordnete auf sich wohl nicht, diese ihrem Chef Helmut Anregung von Herbert Wehner angefertigt. Er Kohl vorzulegen. enthielt unter anderem den Vorschlag, eine 6 So geht Einheit
Nach dem Fall der Mauer und den ersten War für Sie absehbar, was mit dieser Wirt- setzt. Das musste zu einer Massenarbeitslo- freien Wahlen in der DDR war die Ver- schaft geschehen würde? sigkeit führen. Ich habe damals gedacht, das einigung zunächst eine von mehreren Richtigste wäre, es schrittweise zu machen möglichen Optionen. Welches war in Ihrer Es war klar, dass die DDR-Industrie meistbie- und vielleicht nach zehn Jahren bei einem Wahrnehmung der entscheidende Wende- tend verkauft werden würde. Weil aber die 1:1-Verhältnis anzukommen. punkt? Menschen im Osten kein Geld hatten, kauften fast nur Westler die Unternehmen auf und Dank der Wirtschaftskraft des Westens ist Ich habe die Rede mit dem Zehn-Punkte- haben sich damit die Konkurrenz vom Leibe die Einheit inzwischen doch immerhin sehr Plan, die der damalige Bundeskanzler Helmut gehalten. weit gediehen… Kohl Ende November im Bundestag gehalten hat, für die entscheidende Weichenstellung „Helmut Kohl … nicht nur dank der Wirtschaftskraft, auch gehalten. Das sehe ich noch heute so. Kohl war von Hause aus dank der Fähigkeit zur Verwaltung. Ich weiß hatte da bereits sowohl Moskau als auch Wa- optimistisch“ nicht, wie viele hundert Wessis, Verwal- shington von der Notwendigkeit zu handeln tungsspezialisten und Juristen – darunter überzeugt. Auf dieser Grundlage konnte es Hat man diese Wirtschaftslage den Men- auch viele zweitklassige – nach der Einheit dann zu den 2+4-Verhandlungen kommen, schen in der ehemaligen DDR rechtzeitig das Finanzamt in Leipzig übernahmen oder bei denen die ehemaligen Siegermächte letzt- und ausreichend klar gemacht? sich um den Haushalt in Rostock kümmerten. lich der Wiedervereinigung zustimmten. Warum? Weil die Vereinigung von heute auf Nach dem Ende meiner Kanzlerschaft war morgen einige zehntausende Paragraphen War es notwendig, dass Kohl so vorpresch- ich fast jedes Jahr unterwegs in der DDR und in Kraft gesetzt hat und niemand damit umzu- te? habe da Vorträge gehalten, auf Einladung von gehen wusste. Manfred Stolpe, damals stellvertretender Vor- Er war von Hause aus optimistisch. Auch sitzender des Bundes der Evangelischen Kir- Die Wirtschaftskraft des Westens hat unter deshalb, weil er die ökonomischen Folgen chen in der DDR. Ich weiß nicht mehr genau, anderem dafür gesorgt, dass wir heute in der Vereinigung, so wie er sie anstrebte, wohl was ich da jeweils erzählt habe. Sicher nichts, Mecklenburg-Vorpommern bessere Straßen nicht wirklich einschätzen konnte. was ich nicht selbst glaubte. Aber auch nicht haben als zum Beispiel in Nordrhein-Westfa- alles, was ich wusste, dass es nämlich den len. Die Perspektive muss aber sein, dass die Braucht man diesen Optimismus in der Menschen schlecht ging, aber noch schlech- Marktwirtschaft auch die Uckermark erreicht. Politik? ter gehen könnte, wenn die Vereinigung käme. Anfang 1990 habe ich allerdings auf Rein theoretisch hätten Sie 1989 noch Manchmal. dem Marktplatz von Rostock gesagt: Ihr Kanzler sein können… müsst euch vorbereiten, ihr braucht Arbeits- War Ihnen 1989 klar, in welch desolatem ämter, ihr werdet massenhafte Arbeitslosig- Das ist eine ganz wilde Theorie. Zustand sich die DDR-Wirtschaft befand? keit haben, und ihr kriegt ein Problem mit der Finanzierung eurer Sozialausgaben. Das war Wären Sie gern Einheitskanzler gewesen? Die DDR-Industrie war immerhin noch besser eine einigermaßen richtige Diagnose. Vor großen Aufgaben haben Sie sich noch als die russische, wenn man einmal von nie gescheut. der Verteidigungsindustrie absieht – darin Was hätten Sie anders gemacht? Wäre waren die Russen absolute Spitze. Aber die ein symbiotischeres Zusammenwachsen Richtig. Aber ich bin 1918 geboren, ich war DDR-Industrie war weitestgehend überholt. von Plan- und Marktwirtschaft denkbar zu dem Zeitpunkt, als die Mauer fiel, schon Was sie produzierte, war entweder zu teuer gewesen? 70 Jahre alt. Das ist für einen Politiker ein oder taugte nichts. Sie war nicht gewohnt, sehr hohes Alter. Die heutigen Politiker, von den Zusammenhang zwischen Kosten und Die Planwirtschaft hat niemals richtig funk- Frau Merkel bis Sigmar Gabriel, sind alle zehn Preisen zu beachten. Sie war nicht gewohnt, tioniert. Die Übernahme des Marktsystems Jahre jünger. Ganz abgesehen davon, dass ich ihre Produkte zu vermarkten. Jedenfalls war war zwangsläufig. Aber die Übernahme des die Befreiung von der Verantwortung genos- sie in keiner Weise konkurrenzfähig mit der Währungssystems 1:1 war ein katastrophaler sen habe. Aber wenn ich zehn Jahre jünger westeuropäischen Industrie. Fehler. Der 1:1 Umtausch von DDR-Mark in gewesen wäre, hätte ich das als lohnende D-Mark galt sofort für alle Preise und für Aufgabe für mich gesehen. alle Löhne. Damit waren die Unternehmen schlagartig dem vollen Wettbewerb ausge- Berlin-Institut 7
1 Bevölkerungsentwicklung Der Osten macht’s vor Die Mauer war zwar gefallen. Doch entlang Neben der Abwanderung gen Westen, durch Nur der Westen gewinnt der ehemaligen innerdeutschen Grenze die der Osten rund 1,8 Millionen Einwohner Im Jahr 2013 lebten in acht Bundesländern durchzog das Land in den Jahren nach der an die alten Bundesländer verlor ( 4), war weniger Menschen als noch 1991. Neben dem Wiedervereinigung ein demografischer Riss. es vor allem der massive Einbruch bei den Saarland, Bremen und Berlin gehören alle Zwischen 1991 und 2013 verloren die fünf durchschnittlichen Kinderzahlen pro Frau fünf neuen Bundesländer zu den Verlierern. ostdeutschen Flächenländer zusammen über unmittelbar nach der Wende, der die ostdeut- Am stärksten traf der Bevölkerungsrückgang Sachsen-Anhalt, das jeden fünften Einwohner zwei ihrer einst 14,5 Millionen Einwohner. schen Bundesländer auf den demografischen eingebüßt hat. Bayern, Baden-Württemberg Die alten Bundesländer hingegen wuchsen Abwärtstrend schickte.3 Im Jahr 1994 erreich- oder auch Schleswig-Holstein konnten hingegen und konnten ihre Einwohnerzahl im gleichen te die Fertilitätsrate mit 0,77 den niedrigsten deutliche Zuwächse verzeichnen. Der überall Zeitraum um zweieinhalb Millionen steigern.1 jemals gemessenen Wert.4 Nach diesem sichtbare Einbruch im Jahr 2011 ist Folge der korrigierten Bevölkerungszahlen durch den Auch wenn die neuen Bundesländer in vielen „Geburtenloch“ stieg die durchschnittliche Zensus 2011. Besonders deutlich musste etwa Bereichen des demografischen Wandels Kinderzahl je Frau wieder und näherte sich Berlin seine Einwohnerzahl nach unten berichti- „Vorreiter“ bleiben, die großen Ost-West-Un- allmählich dem Westniveau an. Aktuell liegt gen, wodurch die Hauptstadt wieder unter den Wert von 1991 gefallen ist. terschiede verschwinden allmählich und die sie im Osten mit 1,49 sogar leicht über dem Trends gleichen sich nach 25 Jahren Einheit bundesweiten Durchschnitt ( 2).5 Bevölkerungsentwicklung in den Bundesländern zunehmend an. zum Basisjahr 1991 (Datengrundlage: Statistisches Bundesamt2) 110 Bayern Schleswig-Holstein Baden-Württemberg 105 Hamburg Rheinland-Pfalz Niedersachsen Hessen 100 Nordrhein-Westfalen Berlin Brandenburg Bremen 95 Saarland 90 Sachsen 85 Mecklenburg- Vorpommern Thüringen 80 Sachsen-Anhalt Zensusknick 75 2000 2006 2009 2008 2004 2005 2003 2007 2002 2001 2010 1996 1999 1998 1994 1995 1993 1992 1997 2013 2012 1991 2011 8 So geht Einheit
Der ländliche Raum 1990 – 2012 2012 – 2035 schrumpft Zwischen 1990 und 2012 haben vierzig Prozent aller Kreise an Bevölkerung verloren. Am gravierendsten war die Entwicklung dabei in den neuen Bundesländern, wo nur 10 der 76 Kreise sich dem demografi- schen Abwärtstrend entziehen konnten. Bis 2035 dürfte sich das Schrumpfen nach Westen ausweiten und auch hier vor allem ländliche Regionen fernab der Ballungsräume erfassen. Entwicklung der Einwohnerzahl zwischen 1990 und 2012 in Prozent und prognostizierte Bevölkerungsentwicklung bis 2035, in Prozent (Datengrundlage: BBSR8) unter -15 -15 bis unter -10 -10 bis unter -5 -5 bis unter 0 0 bis unter 5 5 bis unter 10 10 und mehr Einen weiteren Rückgang der absoluten Bundesländern ohne Berlin von knapp 40 auf zog. Zumal sie sich nun den Wunsch vom Kinderzahlen kann dies jedoch nicht verhin- 25, im Westen ging dieser lediglich von rund eigenen Haus im Grünen erfüllen konnten dern, zumal in den kommenden Jahren die 33 auf 31 zurück. Gleichzeitig stieg die Zahl ( 4). Erst durch eine Vielzahl an Förderpro- „halbierte Generation“ der 1990er Jahre ins der über 64-Jährigen je 100 Menschen im grammen gelang es, die Innenstädte wieder Familiengründungsalter kommt. erwerbsfähigen Alter im Osten von 23 auf 39 aufzuwerten und zumindest in einigen Groß- und im Westen von 24 auf 33.7 städten Ostdeutschlands eine Trendwende Die Abwanderung der vorwiegend jünge- herbeizuführen. ren Menschen und der Einbruch bei den Comeback der Großstädte? Geburtenzahlen spiegeln sich auch in der Für Städte wie Potsdam, Dresden, Jena oder Altersstruktur der ostdeutschen Bevölkerung In den neuen Bundesländern vollzog sich Leipzig scheinen die Zeiten schrumpfender wider, die zum Zeitpunkt des Mauerfalls in den 1990er Jahren der Bevölkerungs- Bevölkerung zumindest vorerst vorbei zu deutlich jünger war als die westdeutsche. rückgang nahezu flächendeckend. Auch die sein. Doch sie sind weiterhin klar in der Zwar altert die Bevölkerung bundesweit, aber Großstädte konnten sich dieser Entwicklung Minderheit, denn von den 132 größten anders als im Westen verschärft das Fehlen nicht entziehen.11 Sie litten noch unter den ostdeutschen Städten haben gerade einmal der jüngeren Bevölkerung diesen Prozess im Jahrzehnten sozialistischer Stadtentwick- 15 Städte diese Trendwende geschafft. In 101 Osten zusätzlich.6 So sank der Jugendquoti- lung, die um die historisch gewachsenen von ihnen herrscht hingegen seit 1990 ein ent, also die Anzahl der unter 20-Jährigen je Innenstädte herum Plattenbauten hochzog, permanenter Bevölkerungsrückgang. Einige 100 Menschen im Alter von 20 bis 65 Jahren, während die alten Häuser dort verfielen. wie Eisenhüttenstadt oder Hoyerswerda zwischen 1991 und 2013 in den neuen Als Wohnort waren die Städte damit kaum haben bereits annähernd die Hälfte ihrer attraktiv. So ist es wenig verwunderlich, dass Bevölkerung eingebüßt.12 es die Menschen unmittelbar nach der Wende ähnlich wie zuvor im Westen ins Stadtumland Berlin-Institut 9
1995 2012 2035 Anteil der unter 20-Jährigen unter 13 13 bis unter 15 15 bis unter 17 17 bis unter 19 19 bis unter 21 21 bis unter 23 23 bis unter 25 25 und mehr Anteil der über 59-Jährigen unter 20 20 bis unter 23 23 bis unter 26 26 bis unter 29 29 bis unter 32 32 bis unter 35 35 bis unter 38 38 und mehr Land der Alten In ganz Deutschland altert die Bevölkerung. Doch in Regionen, aus denen junge Menschen fortziehen, schreitet die Alterung deutlich schneller voran. Waren die neuen Bundesländer in der ersten Hälfte der 1990er Jahre noch reich an Kindern und Jugendlichen, ist hier der Anteil der unter 20-Jährigen an der Gesamtbevölkerung seitdem besonders stark gesunken. Gleichzeitig stieg jener der über 59-Jährigen. Dieser Trend dürfte sich in den nächsten Jahren fortsetzen. Im Jahr 2035 könnte in einigen Kreisen wie Suhl oder Elbe-Elster mehr als jeder zweite Einwohner 60 Jahre oder älter sein. Vergleichsweise jung dürften hingegen attraktive Großstädte bleiben – in Ost und West. Prozentualer Anteil der unter 20-Jährigen sowie der über 59-Jährigen an der Gesamtbevölkerung nach Kreisen für die Jahre 1995, 2012 und 2035 (Datengrundlage: Statistische Ämter des Bundes und der Länder9, BBSR10) 10 So geht Einheit
Auch im Westen haben viele Städte mit Eine Trendwende ist derzeit nicht in Sicht. Bevölkerungsrückgang zu kämpfen. Hier sind Denn vor allem junge Landbewohner zieht es es vor allem die Großstädte, in denen früher auf der Suche nach einem Ausbildungs- und die Kohle- und Schwerindustrie beheimatet Studienplatz in die Ballungsräume, in denen war. Im Ruhrgebiet oder im Saarland gingen sie später auch eher einen Arbeitsplatz fin- durch den wirtschaftlichen Strukturwandel den, der ihren Qualifikationen entspricht. Für viele Arbeitsplätze und Einwohner verloren. die ländlichen Regionen führt dies zu einem Einige Städte wie Essen oder Dortmund doppelten Verlust. Zum einen verlieren sie haben mittlerweile auf den Wachstumspfad durch die Abwanderung direkt an Bevölke- zurückgefunden.13 Ob sie langfristig zu den rung, zum anderen gehen mit den jungen prosperierenden Großstädten wie Hamburg, Menschen zugleich auch die potenziellen München, Köln oder Frankfurt aufschließen Familiengründer und es fehlt ihnen daher an können, bleibt jedoch fraglich. Nachwuchs. Ländliche Regionen verlieren – Damit ist die demografische Entwicklung in Ost wie West weitgehend programmiert. Nach der neu- esten Bevölkerungsvorausberechnung des Abseits dieser Ballungsräume, in den entle- Statistischen Bundesamtes dürfte zwar der genen Landstrichen, verschärft sich indes Bevölkerungsrückgang bundesweit dank der der Bevölkerungsschwund. Vorreiter waren aktuell hohen Zuwanderung etwas geringer hier die ohnehin schon dünn besiedelten Re- ausfallen als zuvor angenommen. Abzuwar- gionen in den neuen Bundesländern. Längst ten bleibt jedoch, welche Regionen davon weitet sich das Schrumpfen auch auf das profitieren ( 3).14 Setzt sich der Trend fort, frühere Bundesgebiet aus. In Nordhessen, werden es auch weiterhin eher die attrakti- der Südwestpfalz oder Oberfranken verstärkt ven Großstädte sein, die wachsen, während sich der demografische Abwärtstrend. Die ländliche Regionen weiter an Bevölkerung demografische Trennlinie verläuft damit zu- verlieren. Alte und neue Bundesländer nehmend nicht mehr zwischen Ost und West, blicken dabei in eine ähnliche demografische sondern zwischen den großen, wirtschafts- Zukunft. starken Städten und den ländlichen Regionen weitab attraktiver Zentren. Wer schrumpft, altert Das Medianalter teilt die Bevölkerung in eine ältere und eine jüngere Hälfte. Stark schrumpfende Gemeinden haben meist auch eine vergleichsweise alte Bevölke- 65 rung. Unter den wachsenden Gemeinden Büsum gibt es viele, die relativ jung sind – vor Medianalter der Bevölkerung 2012 60 allem Universitätsstädte und Kommunen, die einen Zuzug junger Familien verzeich- 55 nen, wie Tübingen oder Freiburg. Aber Hoyerswerda auch Gemeinden mit einem höheren Anteil Friedland 50 älterer Menschen können eine stabile oder wachsende Einwohnerzahl haben, wie 45 Teltow etwa das landschaftlich attraktive Büsum, das als Alterswohnsitz beliebt ist. Aschheim 40 Bevölkerungsentwicklung in Prozent 2006 Freiburg 35 Gießen Tübingen bis 2012 und Medianalter der Bevölkerung 2012, Gemeinden ab 5.000 Einwohnern 30 (Datengrundlage: Bertelsmann Stiftung15) -20 -15 -10 -5 0 5 10 15 20 25 Bevölkerungsentwicklung von 2006 bis 2012 in Prozent Berlin-Institut 11
2 Kinderzahl Wo Eltern keinen Trauschein haben In Deutschland werden immer weniger Kin- In den Nachkriegsjahren stiegen die Kinder- stärker in den Vordergrund. Wenn darin der geboren. Kamen 1964 – dem Jahr mit den zahlen je Frau zunächst auf beiden Seiten Kinder vorkamen, ließen sie sich bewusster höchsten Geburtenzahlen nach dem Zweiten der innerdeutschen Grenze auf den Höchst- als zuvor planen. Weltkrieg – in beiden deutschen Staaten wert von 2,5 Kindern je Frau.2 Diese in den zusammengenommen knapp 1,4 Millionen Zeiten des Friedens und des Wiederaufbaus Die Reaktion auf den Einbruch der Kinder- Kinder zur Welt, sind es heute in der gesam- entstandenen geburtenstarken Jahrgänge, die zahlen hätte indessen nicht unterschiedli- ten Bundesrepublik etwas weniger als die sogenannten Babyboomer, rücken demnächst cher ausfallen können: In Westdeutschland Hälfte.1 Dabei unterscheiden sich die durch- ins Rentenalter vor. Danach sanken die wurde die Problematik schlichtweg ignoriert. schnittlichen Kinderzahlen je Frau zwischen Kinderzahlen je Frau sowohl im früheren Bun- „Kinder bekommen die Leute immer“, befand den alten und neuen Bundesländern kaum desgebiet als auch in der DDR sehr schnell Bundeskanzler Konrad Adenauer schon 1957, noch. Doch dahinter verstecken sich eine und erreichten um 1972 einen Wert von 1,5 womit Familienpolitik für die nächsten Jahr- ganze Reihe unterschiedlicher Entwicklungen Kindern je Frau. Weil zeitgleich die Antibaby- zehnte in der Bedeutungslosigkeit versank. und gesellschaftlicher Veränderungsprozes- pille – in der DDR „Wunschkindpille“ genannt Als Folge pendelte sich die Kinderzahl je Frau se, welche die Familiengründung in Ost- und – auf den deutschen Markt kam, hat sich seit Ende der 1970er Jahre bei etwa 1,4 ein. Westdeutschland bis heute prägen. für diesen Einbruch der Name „Pillenknick“ Die DDR-Regierung dagegen wurde nicht nur eingebürgert. Grund dafür war jedoch vor durch den Geburtenrückgang aufgeschreckt, allem der damalige gesellschaftliche Wandel. sondern auch durch die steigende Zahl der Die Rolle der Frauen veränderte sich und der Ausreisewilligen. Sie sah das demografi- individuelle Lebensentwurf rückte immer Im Westen Stagnation, im Osten Anpassung Kinderzahl je Frau 2,8 Die Fertilitätsrate hat sich in den beiden deutschen Staaten unter- Babyboom schiedlich entwickelt. Während westdeutsche Frauen nach dem „Pillen- 2,6 knick“ im Schnitt durchgehend nur noch um die 1,4 Kinder bekamen, schwankte die ostdeutsche Fertilitätsrate in der zweiten Hälfte des 2,4 letzten Jahrhunderts deutlich. Wie in Westdeutschland folgte nach dem „Babyboom“ der „Pillenknick“. Doch durch gezielte Fördermaß- 2,2 nahmen stieg die Kinderzahl je Frau in den 1970er und 1980er Jahren Honecker-Buckel zunächst wieder an („Honecker-Buckel“). Vor der Wende sanken die 2,0 durchschnittlichen Kinderzahlen jedoch und fielen in den Jahren nach Ost der Wende in das sogenannte „Geburtenloch“. Erst um die Mitte der 1,8 2000er glichen sich die Fertilitätsraten in Ost- und Westdeutschland wieder an. Heute bekommen Frauen in den neuen Bundesländern 1,6 durchschnittlich sogar wieder mehr Kinder als Frauen in den alten Bun- Pillenknick West desländern, was vor allem an der geringeren Rate der Kinderlosen liegt. 1,4 Zusammengefasste Geburtenziffern (Fertilitätsrate) in West- und 1,2 Deutschland Ostdeutschland, 1950 bis 2013 (Datengrundlage: Statistisches Bundesamt9. Westdeutschland ab 1990 1,0 ohne Berlin, Ostdeutschland ab 1990 einschließlich Berlin; 1950 bis 1989 bezogen auf Frauen von 15 bis 44 Jahre, ab 1990 auf Frauen von 0,8 15 bis 49 Jahre. Die Berechnungen für 2011 beruhen noch auf der alten Geburtenloch Bevölkerungszahl aus der Fortschreibung früherer Volkszählungen) 0,6 2000 2006 2008 2004 2002 1960 1990 1980 2010 1966 1996 1968 1986 1998 1964 1994 1950 1988 1984 1970 1956 1958 1954 1992 1962 1982 1976 1978 2012 1952 1974 1972 12 So geht Einheit
sche Ende des sozialistischen Experiments in Prozent Kinderlosigkeit vor allem im kommen und versuchte gegenzusteuern, 25 Westen verbreitet indem sie Anreize zur Steigerung der Gebur- Kinderlosigkeit, vor allem auch die ge- tenzahlen setzte: Sie hob das Kindergeld an, wünschte, ist in Westdeutschland merklich baute die Betreuungsmöglichkeiten aus und 20 weiter verbreitet als in Ostdeutschland. schuf Vergünstigungen für Familien, die in Im Jahr 2012 hatte nahezu jede vierte der vorherrschenden Mangelwirtschaft ihre westdeutsche Frau im Alter zwischen 40 15 und 44 Jahren keine Kinder – unter den Wirkung nicht verfehlten. Paare konnten ostdeutschen Frauen war dagegen nur etwa beispielsweise „Ehekredite“ erhalten, deren jede siebte kinderlos geblieben. Da ein Kin- Rückzahlung sie mit der Geburt eines jeden derwunsch jenseits dieses Alters nur noch 10 sehr selten umgesetzt wird, dürfte kaum Kindes reduzieren – „abkindern“ –, beim eine dieser Frauen noch eine Mutterschaft dritten sogar ganz tilgen konnten. Daraus erleben. resultierte zunächst ein Geburtenanstieg auf 5 1,9 Kinder je Frau, der gelegentlich unter der Anteil kinderloser Frauen nach Alters- gruppe/Geburtsjahrgang im Jahr 2012, in Bezeichnung „Honecker-Buckel“ firmiert. Prozent Doch die Wirkung dieser Maßnahmen hielt 0 (Datengrundlage: Statistisches Bundesamt8) nicht lange an. Denn der Zuwachs war vor 70 - 75 65 - 69 60 - 64 55 - 59 50 - 54 45 - 49 40 - 44 West allem dadurch zustande gekommen, dass 1937 - 1943 - 1948 - 1953 - 1958 - 1963 - 1968 - 1942 1947 1952 1957 1962 1967 1972 Ost die Frauen in jüngerem Alter und in kürzeren Alter/Geburtsjahr der Frauen Abständen, aber nicht mehr Kinder bekamen. So sank die Kinderzahl je Frau bald wieder auf ähnlich niedrige Werte wie zuvor. Die deutlichsten Unterschiede zwischen kinderlosen Frauen zwischen 20 und 39 ost- und westdeutschen Müttern finden sich Jahren äußerten 2003 im Westen 40 Prozent Kurz bevor die Mauer fiel, bekamen die heute noch beim Anteil der außerehelichen keinen eigenen Kinderwunsch, im Osten Frauen in der DDR durchschnittlich 1,6 Geburten. Dieser war in der ehemaligen dagegen nur 26 Prozent. Eine Ursache dafür Kinder, während der Westen auf knapp 1,4 DDR schon in den 1970er Jahren rasant könnte sein, dass westdeutsche Frauen nach Kinder je Frau kam. Doch unmittelbar nach angestiegen, vor allem nach der Einführung wie vor von dem traditionelleren Modell der Wiedervereinigung sackte der Wert im einer einjährigen Erziehungspause bei voller geprägt sind, nach dem die Familiengrün- Osten rapide auf einen absoluten Tiefstand Lohnfortzahlung. Diese konnten unverheira- dung mit einer (Hausfrauen-)Ehe verknüpft von knapp 0,8 ab. Dieses „Geburtenloch“ tete Frauen schon bei der Geburt des ersten ist. Lange galten Frauen, die ihrem Beruf der Nachwendezeit geht vor allem auf die Kindes in Anspruch nehmen, verheiratete nachgehen, anstatt sich ganztägig um ihren Unsicherheit der Menschen angesichts der Mütter jedoch erst mit dem Zweitgeborenen. Nachwuchs zu kümmern, im Westen als dramatischen gesellschaftlichen Umbrüche Zwar wurde 1986 das „Babyjahr“ auf alle „Rabenmütter“, in manchen Gegenden mag zurück. Viele junge Frauen entschieden sich, Erstlingsmütter ausgeweitet, doch da lag der dies sogar bis heute so sein. Unter diesem mit dem Heiraten und dem Kinderkriegen Anteil der unehelich geborenen Kinder schon gesellschaftlichen Druck fällt es vor allem gut erst einmal abzuwarten. Ähnlich wie die Frau- bei 30 Prozent.6 Für ostdeutsche Frauen war ausgebildeten Frauen schwer, Kinder in ihre en im Westen schoben sie die Familiengrün- es offenbar so sehr zur Normalität gewor- Lebensplanung aufzunehmen. 2012 waren im dungsphase nun auf – zwangsläufig, denn die den, sich unabhängig von einem Trauschein gesamtdeutschen Durchschnitt 20 Prozent Ausbildungszeiten verlängerten sich und es für Kinder zu entscheiden, dass sie auch der damals 45- bis 49-jährigen Frauen kin- wurde auch für sie schwieriger, Familie und nach der Wende nicht das traditionellere derlos geblieben, unter den Akademikerinnen Beruf zu vereinbaren.3 Hatten im Osten die westdeutsche Familienmodell übernahmen. sogar 28 Prozent. Dabei liegen die Anteile in politisch motivierten Anreize für eine frühe Vielmehr stieg die Quote der nichtehelich ge- den alten Bundesländern deutlich höher als Mutterschaft nachhaltig dafür gesorgt, dass borenen Kinder in den neuen Bundesländern in den neuen. Ostdeutsche Frauen profitieren Frauen ihr erstes Kind schon mit 22 oder weiter an. Sie liegt heute bei 62 Prozent. In offenbar bis heute von dem sozialistischen 23 Jahren bekamen – im Schnitt drei Jahre den alten Bundesländern stammen dagegen Frauenbild der DDR, in dem Kinder und be- früher als im Westen –, stieg nun das Alter nur 29 Prozent der Kinder von unverheirate- rufliche Selbstverwirklichung zusammenge- der Mütter bei der Geburt ihres ersten Kindes ten Müttern, überwiegend von jungen Frauen hörten. Damit stehen sie Frauen aus Ländern rasant an.4 Heute liegt es bei durchschnittlich unter 24 Jahren ( 6).7 mit einer fortgeschrittenen Gleichstellung der 28 Jahren und damit nur noch leicht unter Geschlechter – wie Frankreich oder Schwe- dem durchschnittlichen Alter westdeutscher Westdeutsche Frauen bleiben dagegen eher den – deutlich näher als viele westdeutsche Erstgebärender von etwas über 29 Jahren.5 kinderlos, viele von ihnen freiwillig: Von den Frauen ( 11). Berlin-Institut 13
3 Zuwanderung Mehr Vorurteile dort, wo weniger Migranten sind Zuwanderung hat in Deutschland Tradition. Nach dem Kriegsende 1945 kamen rund 12,5 Bei der Zuwanderung ist Deutschland Millionen Flüchtlinge und 11 Millionen Ver- noch immer gespalten triebene in das flächenmäßig geschrumpfte Die Gruppe der Migranten ist keinesfalls gleichmä- Land. Mit der Teilung Deutschlands ent- ßig über das Land verteilt. In den Ballungsräumen wickelte sich die Zuwanderung in Ost und Berlin, Hamburg und Bremen sowie in den großen West unterschiedlich. Die DDR hatte von Flächenstaaten Nordrhein-Westfalen, Hessen und Anfang an dagegen anzukämpfen, dass viele Baden-Württemberg liegt der Migrantenanteil bei über 25 Prozent, in den ostdeutschen Flächenländern ihrer Bewohner das Land verlassen woll- dagegen beträgt er nur zwischen 4 und 5 Prozent.9 ten. Zwischen 1949 und 1961 emigrierten Da Neuzuwanderer sich bevorzugt dort niederlassen, mindestens 2,7 Millionen DDR-Bürger. Erst wo sie die Chance auf eine Arbeitsstelle haben und wo sich schon Menschen aus ähnlichen Herkunfts- der Bau der Mauer im Jahr 1961 stoppte regionen finden, profitieren wirtschaftsstarke diesen Strom.1 Um die Lücken auf dem Regionen und Städte auch heute noch überpro- Arbeitsmarkt zu füllen, warb die DDR Kräfte portional von der Zuwanderung. Periphere und aus den sozialistischen Bruderstaaten an. Bis strukturschwache Räume im Osten und Westen des Landes haben Zuwanderern dagegen wenig zu bieten. Mitte der 1980er Jahre kamen etwa 500.000 Die deutschen Schrumpfregionen schaffen es somit Personen, unter anderem aus Polen, Kuba, bis 5 nicht, ihre Bevölkerungsverluste durch Zuwanderung Mosambik, Angola und China.2 Ihr Aufenthalt 5,1 bis 10 auszugleichen. war zeitlich strikt begrenzt und der Aus- 10,1 bis 15 15,1 bis 20 Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an tausch mit der einheimischen Bevölkerung der Gesamtbevölkerung in Prozent nach Bundeslän- ausdrücklich nicht erwünscht. Zur Wende 20,1 bis 25 dern, 2013 lebten nur gut 190.000 Ausländer in der über 25 (Datengrundlage: Statistisches Bundesamt16) DDR, etwa ein Prozent der Bevölkerung.3 Viele von ihnen kehrten auf Wunsch und mit finanzieller Unterstützung der Bundesregie- onen. Mit der Ölkrise und dem einsetzenden Direkt nach der Wende prägten hauptsäch- rung in ihre Heimat zurück. Erst im Jahr 1993 Konjunktureinbruch Anfang der 1970er Jahre lich Aussiedler (seit 1993 Spätaussiedler beschloss die Regierung eine Bleiberechtsre- verhängte die Regierung einen „Anwer- genannt) die Zuwanderung, also deutsch- gelung unter bestimmten Voraussetzungen.4 bestopp“. Die bis dahin in Deutschland stämmige Minderheiten aus dem ehemali- lebenden Gastarbeiter durften jedoch bleiben gen Ostblock. Bis heute sind mehr als vier Auch der Westen litt in den Zeiten des Wirt- und auch ihre Familien nachholen. Aus einem Millionen Aussiedler in die Bundesrepublik schaftswunders der 1950er und 60er Jahre vorübergehenden Arbeitsaufenthalt wurde eingewandert.7 Sie bilden die mit Abstand an Arbeitskräftemangel und begann, gezielt damit eine dauerhafte Einwanderung, die po- größte Migrantengruppe in Deutschland – Menschen aus anderen Ländern als Gastar- litisch jedoch weder gewollt war noch durch weit vor den Menschen türkischer Herkunft. beiter anzuwerben – in größeren Dimensio- Integra-tionsmaßnahmen unterstützt wurde.5 Als einzige Gruppe haben sie sich im ganzen nen als die damalige DDR. In den Hochzeiten Zudem machten in Westdeutschland seit den Land niedergelassen – auch weil ihre Ansied- der Zuwanderung verzeichnete die alte Bun- 1980er Jahren Flüchtlinge einen erheblichen lung staatlich gelenkt wurde. desrepublik ein jährliches Zuwanderungsplus Teil der Zuwanderung aus. Zwischen 1980 von mehr als 500.000 Personen. Bis 1973 und 1990 wurden im jährlichen Mittel mehr stieg die Zahl der Ausländer auf fast 4 Milli- als 70.000 Asylanträge gestellt.6 14 So geht Einheit
Von 1994 an gingen die Zuwanderungszahlen jüngeren Jahrgangsstufen sogar bis zu einem Arbeitsmarkt nur schwer behaupten. Im Wes- stetig zurück. Ein Grund war die Verschärfung Drittel.8 Die Mehrheit dieser jungen Menschen ten zeigt sich das niedrige Bildungsniveau des Asylrechts, mit der die Bundesregierung kennt Migration nur aus familiären Erzählun- der ehemaligen Gastarbeiter noch deutlich in auf den anhaltenden Zustrom aus ärmeren gen. Sie selbst sind zumeist schon in Deutsch- den nachfolgenden Generationen. Doch sie Weltregionen und aus dem zerfallenden land geboren und besitzen in der Regel auch profitieren zumindest in den wirtschaftsstar- Jugoslawien reagierte. Die Gesetzesände- den deutschen Pass. ken Regionen vom stabilen Arbeitsmarkt.10 rungen spiegelten die in Öffentlichkeit und Politik vorherrschende reservierte Haltung Integrationspolitik und Willkommens- Die Einstellungen gegenüber Migranten gegenüber Zuwanderung wider. Doch es kultur in Ost und West unterscheiden sich ebenfalls. So wird die kamen auch kaum noch Arbeitsmigran- Integrationsbereitschaft der einheimischen ten. In den Rezessionsjahren 2008/2009 Vor der Wende hatten weder West- noch Bevölkerung in den ostdeutschen Bundes- wanderten sogar mehr Menschen ab als zu. Ostdeutschland viel Erfahrung mit einer poli- ländern als geringer eingestuft als in den Erst als sich die Wirtschaft erholte und ein tisch geförderten Integration von Migranten westdeutschen – und zwar von Ostdeutschen deutlicher Fachkräftemangel abzusehen war, gesammelt. Daran änderte sich auch in den mit wie ohne Migrationshintergrund.11 Auch erweiterte Deutschland die Einwanderungs- Jahren danach nicht viel. Integration fand, von rechtsextreme Meinungen kommen im Osten möglichkeiten wieder. Die Nettozuwanderung den Menschen selbst betrieben, dennoch statt, häufiger vor.12 Zudem driften die beiden steigt seitdem stark an. Vorläufige Zahlen für allerdings je nach Region unterschiedlich. Landesteile bezüglich ihrer Vorbehalte 2014 verweisen auf ein Plus von 470.000 auseinander: 2012 gab es kaum Unterschiede Migranten – der höchste Wert seit 1993. Wissenschaftlich gemessen wird der Erfolg in der Willkommenskultur zwischen Ost- und Davon kommen mindestens zwei Drittel aus von Integration erst seit einigen Jahren und Westdeutschland; 2015 sagte nur jeder EU-Staaten. Heute leben in Deutschland etwa mit unterschiedlichen Methoden, so dass es zweite Ostdeutsche, dass Zuwanderer in der 16,5 Millionen Menschen mit Migrations- keine Vergleiche der Integrationssituation vor Bevölkerung willkommen seien, während es hintergrund, also Ausländer sowie deutsche und nach der Wende gibt. Anhand der sozio- in Westdeutschland zwei von drei waren.13 Staatsbürger, die selbst zugewandert sind ökonomischen Lage von Migranten lassen Bleibt es bei dieser Tendenz, kann Zuwan- oder einen ausländischen oder selbst zuge- sich aber Unterschiede zu beiden Seiten der derung kaum als erfolgreiche Strategie zur wanderten Elternteil haben. Sie machen ein ehemaligen Grenze feststellen. Im Osten Abfederung des fortgeschrittenen demo- Fünftel der Gesamtbevölkerung aus, in den weisen Migranten deutlich bessere Bildungs- grafischen Wandels in den ostdeutschen abschlüsse auf als die einheimische Bevölke- Bundesländern dienen. rung, können sich aber auf dem schwachen Trotz Verbesserungen Fremdenfeind- lichkeit im Osten höher Ablehnung Zustimmung Extremmeinungen gegen Ausländer sind bei Men- schen im Westen deutlich schwächer ausgeprägt Ausländer begehen als bei jenen im Osten. Diese neigen nicht nur häufiger Straftaten anteilig stärker dazu, Ausländer in Deutschland mit negativen Auswirkungen zu verbinden. Sie lehnen auch deutlich häufiger mögliche positive Ausländer nehmen Deutschen Auswirkungen ab. Mangelnde Erfahrung im die Arbeitsplätze weg Zusammenleben mit Ausländern ist eine der Ursachen für die Vorbehalte. So gaben 2012 nur 17 Prozent der Menschen im Osten an, Kontakte zu Ausländer verknappen Ausländern in der Familie zu haben (Westen: 36 unsere Wohnungen Prozent), 18 Prozent in der Nachbarschaft (Wes- ten: 51 Prozent) und 33 Prozent am Arbeitsplatz (Westen: 62 Prozent).14 Ausländer unterstützen unser Rentensystem Anteile der maximalen Zustimmung (Skalenwerte 6 und 7 von 7) oder Ablehnung (Skalenwerte 1 und Ausländer bereichern 2 von 7) zu bestimmten Aussagen, in Prozent unsere Kultur (Datengrundlage: Allbus15) 1996 - West Ausländer schaffen 2006 - West Arbeitsplätze 1996 - Ost 2006 - Ost -60 -40 -20 0 20 40 60 in Prozent Berlin-Institut 15
Sie können auch lesen