So geht Einheit Wie weit das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist - Nürnberg Institut für Marktentscheidungen eV

 
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So geht Einheit Wie weit das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist - Nürnberg Institut für Marktentscheidungen eV
gefördert vom

             So geht Einheit
             Wie weit das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist

tadt-Wanderung statt Ost-West-Wanderung +++ Mütter im Westen weniger erwerbstätig +++ Produktivität im Osten um ein Drittel niedriger +++ Rückzug der R
hr atypische Beschäftigung +++ Ostdeutsche in Sorge wegen Kriminalität +++ kulturelles Erbe der DDR wirkt beim Engagement nach +++ nur West-Klubs in der
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der sich mit Fragen regionaler und globaler demografischer Veränderungen beschäftigt.
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so geht einheit
Wie weit das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist

                                                           Berlin-Institut   1
So geht Einheit Wie weit das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist - Nürnberg Institut für Marktentscheidungen eV
Impressum

Originalausgabe
Juli 2015

© Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Sämtliche, auch auszugsweise Verwertung bleibt vorbehalten.

Herausgegeben vom
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung
Schillerstraße 59
10627 Berlin
Telefon: (030) 22 32 48 45
Telefax: (030) 22 32 48 46
E-Mail: info@berlin-institut.org
www.berlin-institut.org

Das Berlin-Institut finden Sie auch bei Facebook und Twitter (@berlin_institut).

Autoren: Theresa Damm, Daniel Geyer, Vera Kreuter, Klemens Maget, Ruth Müller, Wiebke Rösler,
Florian Sievers, Stephan Sievert, Manuel Slupina, Nora Storz, Sabine Sütterlin, Franziska Woellert,
Reiner Klingholz
Lektorat: Tanja Kiziak, Sabine Sütterlin
Organisation: Vera Kreuter, Sabine Sütterlin

Design: Jörg Scholz (www.traktorimnetz.de)
Layout und Grafiken: Christina Ohmann (www.christinaohmann.de)
Druck: LASERLINE, Berlin

Der überwiegende Teil der thematischen Landkarten wurde auf Grundlage des Programms
EasyMap der Lutum+Tappert DV-Beratung GmbH, Bonn, erstellt.

Das Kapitel 8 zugrundeliegende Vorhaben wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung
und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01JC1116A gefördert. Die Verantwortung für den
Inhalt des Kapitels liegt beim Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.

Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung dankt dem GfK Verein und dem Förderkreis
des Berlin-Instituts für die Ermöglichung dieser Studie. Informationen zum GfK Verein finden Sie
unter http://gfk-verein.org/, zum Förderkreis unter http://www.berlin-institut.org/foerderkreis-des-
berlin-instituts.html

ISBN: 978-3-9816212-7-3

2   So geht Einheit
So geht Einheit Wie weit das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist - Nürnberg Institut für Marktentscheidungen eV
Inhalt
Editorial: Warum Einheit ein Prozess und                                                                13. Einkommen und Vermögen: Mühsame
kein politischer Willensakt ist........................................4                                Annäherung............................................................................... 34

Interview mit Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt:                                                         14. Konsum: Überall Milka-Schokolade und
„Die Polen haben die Deutschen gerettet“...................6                                            Rotkäppchen-Sekt .................................................................. 36

1. Bevölkerungsentwicklung: Der Osten                                                                   15. Medien: Westmedien erobern Tal der
macht’s vor...................................................................................8         Ahnungslosen.......................................................................... 38

2. Kinderzahl: Wo Eltern keinen Trauschein                                                              16. Umwelt: Von der Dreckschleuder zur
haben............................................................................................. 12   Vorreiterregion ....................................................................40

3. Zuwanderung: Mehr Vorurteile dort, wo                                                                17. Kriminalität: Ostdeutsche leben nicht
weniger Migranten sind...................................................... 14                         unsicherer, fühlen sich aber so..................................... 42

4. Binnenwanderung: Zuerst in den Westen,                                                               18. Religion: Der Westen folgt dem Osten
dann in die Stadt...................................................................... 16              bei der Säkularisierung.....................................................44

5. Partnerwahl: Im Bett kaum noch Mauern ............ 18                                                19. Zivilgesellschaftliches Engagement:
                                                                                                        Einsatz für das Gemeinwohl eher im Norden
6. Lebensformen: Familien werden auch im                                                                und Süden ..................................................................................46
Westen Seltener...................................................................... 20
                                                                                                        20. Gesundheit: Ohne Mauer lebt es sich länger...48
7. Kinderbetreuung: Was ist gut für die
Kleinen – und für die Eltern?............................................ 22                            21. Suchtverhalten: Im Rausch vereint...................... 50

8. Bildung: STARKE SCHÜLER IM OSTEN, ABER                                                               22. Parteien und Politik: Mehr Vielfalt seit
AUCH VIELE ABBRECHER........................................................... 24                      der Einheit................................................................................. 52

9. Erwerbsformen: Die Arbeitswelt wandelt                                                               23. Glück und Zufriedenheit: Der Blick nach
sich – überall .......................................................................... 26            drüben bleibt........................................................................... 54

10. Arbeitsplätze: Arbeitslosigkeit teilt                                                               24. Stereotype: Einheit in den Köpfen braucht
Deutschland noch immer .................................................. 28                            mehr als eine Generation................................................... 56

11. Frauenerwerbstätigkeit: Bundesweit                                                                  25. Ein Kessel Buntes........................................................... 58
mehr werktätige Mütter.................................................... 30
                                                                                                        QUELLEN........................................................................................ 62
12. Wirtschaft: Die Unterschiede bleiben................. 32

                                                                                                                                                                                            Berlin-Institut   3
So geht Einheit Wie weit das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist - Nürnberg Institut für Marktentscheidungen eV
Warum Einheit ein Prozess und
kein politischer Willensakt ist
Wer in den vergangenen 25 Jahren in              Doch diese Vereinigung war und ist weitaus      Wie kaputt der Osten war, zeigte sich nicht
Deutschland geboren wurde, und das sind          schwieriger zu bewerkstelligen, als im Über-    nur an den tatsächlichen Wirtschaftsdaten
immerhin rund 19 Millionen Menschen, kennt       schwang der Einheitsfeiern gedacht. Auch        Ende der 1980er Jahre, welche die Partei-
die Unterschiede zwischen DDR und BRD            wenn die Landesteile nur 41 Jahre getrennt      führung stets zu verschleiern wusste und
vielleicht gerade noch aus Erzählungen oder      waren – also während nicht einmal zwei Ge-      die auch im Westen nicht in diesem Umfang
dem Schulunterricht. Die mit allen Sinnen        nerationen –, hatten West und Ost ihre Bür-     bekannt waren. Sondern auch daran, dass
wahrnehmbaren Eigenheiten des DDR-Alltags        ger so unterschiedlich sozialisiert, dass ein   die komplette Infrastruktur, Wohnhäuser,
sind verschwunden: das Fehlen von Farbe          rasches Zusammenwachsen im Nachhinein           Fabrikanlagen, Straßen, Eisenbahnlinien,
im Einheitsgrau des Ostens ebenso wie das        utopisch erscheint. Die Menschen im Westen      Telefonnetze und Wasserleitungen über Jahre
röchelnde Klackern der Zweitaktmotoren auf       waren mehrheitlich der Überzeugung, dass        so stark vernachlässigt worden waren, dass
den mit Betonplatten ausgelegten Straßen         sie eher durch Tatkraft als durch Zufall dem    sie über Nacht wertlos wurden. Viele Unter-
oder der Gestank der Braunkohlefeuerung          richtigen System angehörten. Schließlich        nehmen hatten im Grunde einen negativen
während der Heizperiode, die mitunter            hatten sie das Wirtschaftswunder vollbracht     Buchwert. Denn nach ihrer Abwicklung war
zwölf Monate zu dauern schien. Das triste        und aus den Trümmern von Drittem Reich          ein Milliardenaufwand nötig, um die Umwelt-
Bild entsprach dem Zustand der maroden           und Zweitem Weltkrieg eine der erfolgreichs-    schäden der DDR-Wirtschaft, die verseuchte
Volkswirtschaft.                                 ten Wirtschafts- und Wissenschaftsnationen      Chemielandschaft um Bitterfeld, die Altlasten
                                                 der Welt aufgebaut.                             von Braunkohle und Uranerzabbau zu
Bald nach dem Mauerfall drang der Westen                                                         beseitigen. Erst danach waren viele Gebiete
so knallig farbenfroh gen Osten vor, dass        Dass dieses zur Selbstgefälligkeit neigende     überhaupt wieder sicher bewohnbar.
manche Zeitgenossen die lange befürchtete        Selbstbild zu Spannungen mit den Menschen
imperialistische Invasion heranrollen sahen:     aus dem Geschwisterstaat im Osten führen        Wie reich der Westen gewesen sein muss und
Als die ersten Plakatwände an die bröselnden     musste, war kaum zu vermeiden. Da ein           das vereinte Land über all die Jahre geblieben
Hauswände zwischen Greifswald und Gera           starkes, erfolgreiches Gemeinwesen und ein      ist, zeigt sich daran, dass Deutschland heute
geschraubt waren, um für Westprodukte zu         gescheitertes System zusammenkamen, sei         trotz eines West-Ost-Transfers von bisher
werben, sah das aus, als seien Außerirdische     doch klar gewesen, dass die einen die Lehr-     rund zwei Billionen Euro als stärkste Volks-
gelandet.                                        meister und die anderen die Lehrlinge sein      wirtschaft Europas dasteht. Der Transfer
                                                 würden, hat der ehemalige Bundestagsprä-        kann also keine Fehlinvestition gewesen sein.
Im Jahr 1990 kamen zwei denkbar un-              sident Wolfgang Thierse einmal gesagt. Die      Zudem ist Deutschland Hauptnettozahler
terschiedliche staatliche Gebilde an der         DDR war so heruntergewirtschaftet, dass sie     in der EU geblieben, hat also auch noch
Grenzlinie zwischen zwei verfeindeten, bis an    sich trotz eines übermächtigen Polizei- und     den Aufholprozess der neu aufgenommen
die Zähne atomar hochgerüsteten Systemen         Stasiapparats nach den friedlichen Protesten    Länder aus Süd-, Mittel- und Osteuropa
zusammen, um sich friedlich zu einem Staat       ihrer Bürger ohne große Gegenwehr quasi         mitfinanziert. Bei alledem sind die Arbeitslo-
zusammenzuschließen. Allein dass dies            selbst auflöste. Das Ende der DDR war für das   senzahlen, die nach den zahllosen Betriebs-
gelang, ist ein Wunder, das historische Ver-     Regime eine Kapitulation vor dem eigenen        schließungen in Ostdeutschland und dem
gleiche sucht. Kein Zusammenschluss einst        Versagen und vor dem Mut der Protestieren-      Neuaufbau von modernen, aber jobarmen
getrennter Staaten mit derartig unterschiedli-   den.                                            Unternehmen bis Anfang der 2000er Jahre
chen politischen Systemen hat je so reibungs-                                                    bundesweit auf 4,9 Millionen gestiegen
los geklappt.                                                                                    waren, bis heute auf unter 2,8 Millionen
                                                                                                 gesunken. Jeder heutige EU-Krisenstaat wäre
                                                                                                 froh, wenn er auch nur im Ansatz eine solche
                                                                                                 Erfolgsgeschichte vor sich hätte.

4   So geht Einheit
So geht Einheit Wie weit das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist - Nürnberg Institut für Marktentscheidungen eV
Dennoch: Nach diesem Kraftakt ohnegleichen      Doch in anderen Bereichen, bei den              Das dürfte bei der nächsten großen Feier im
sind bis heute zwar ein paar blühende Land-     Kinderzahlen, der Bildung oder den Um-          Jahr 2040, anlässlich von 50 Jahren Einheit
schaften entstanden. Von einer flächenhaften    weltbedingungen hat sich die klare Teilung      anders aussehen. Dann werden über die Hälf-
Angleichung zwischen Ost und West kann          Deutschlands aufgelöst. Sie ist einem           te aller in Deutschland Lebenden nach der
aber keine Rede sein. Die Einheit ist eben      Flickenteppich gewichen, der sich über die      Vereinigung geboren sein. Spätestens dann
keine Folge eines politischen Willensaktes,     ganze neue Republik ausbreitet. So weist der    haben wir ein neues Deutschland.
sondern ein schwieriger, langwieriger Pro-      einst kaputte Osten heute die größte Dichte
zess der Annäherung, der aus strukturellen      an restaurierten Unesco-Kulturerbe-Stätten      Berlin, im Juni 2015
Gründen vermutlich nie vollständig vollzogen    auf. Boomende Städte wie Leipzig oder
werden kann.                                    Potsdam verfügen über eine Infrastruktur, die   Reiner Klingholz
                                                der Westen selten zu bieten hat. Umgekehrt      Direktor Berlin-Institut für Bevölkerung und
Das Berlin-Institut hat versucht, an 25         finden sich in den neuen Ländern auch           Entwicklung
Themen deutlich zu machen, wo die beiden        leerlaufende Landstriche, in der Altmark, der
Landesteile zu Beginn des Einigungsprozes-      Prignitz oder Vorpommern, wo sich Fuchs
ses standen, welche Fortschritte sie gemacht    und Hase gute Nacht sagen. Im damals wie
haben und wo es nach wie vor größere            heute reicheren Westen ist die Lage ebenfalls
Unterschiede gibt. Dabei ging es uns nicht      gespalten: Bankrotte Kommunen in den alten
nur darum, den Aufholprozess des Ostens         Industrierevieren und ganze Bundesländer,
zu zeigen, sondern auch die Bereiche zu         wie das Saarland oder Bremen, die vor lauter
benennen, wo der Westen gegenüber dem           Schulden kaum noch handlungsfähig sind,
Osten einen Rückstand wettzumachen hatte,       existieren neben prallen Wirtschaftswun-
etwa bei der Kinderbetreuung oder bei der       derzonen in Oberbayern und wachsenden
Berufstätigkeit von Frauen.                     Metropolregionen wie Hamburg oder dem
                                                Rhein-Main-Gebiet. Problem- und Erfolgsge-
Wir wollten wissen, mit welchen Vorstel-        biete gibt es mittlerweile in Ost und West.
lungen sich Ost und West vereinigt haben
und was davon bis heute übrig geblieben         Die Ostdeutschen haben mit der Wende ihre
ist, was die Bürger in beiden Landesteilen      Freiheit wiedergewonnen und den Zugang zu
übereinander dachten und denken und was         einem Lebensstandard, der zuvor im Westen
sie sich von ihrem verdienten Geld leisten      Europas normal war. Wie viel besser es den
wollen und können. Dazu hat die Gesellschaft    Ostdeutschen heute im Vergleich zu 1990
für Konsumforschung (GfK) eigens eine neue      geht, zeigt sich am besten an der Lebenser-
Befragung durchgeführt, deren Ergebnisse        wartung, die damals um fast drei Jahre unter
Sie auf den Seiten 56 und 57 finden.            jener in Westdeutschland lag und heute prak-
                                                tisch Westniveau erreicht hat. Der Osten hat
Das Ergebnis hat uns selbst überrascht. Denn    mit der Einheit gewiss den größten Gewinn
nach wie vor sind beide Teile Deutschlands      eingefahren. Er hat aber auch den härteren
erstaunlich verschieden, wie sich an vielen     Teil des Einheitsprozesses getragen. Denn in
der Karten auf den nächsten Seiten erkennen     den neuen Bundesländern hat sich praktisch
lässt. Ob bei der Bevölkerungsentwicklung,      alles verändert, während saturierte Bürger
der Wirtschaftskraft, den Vermögen, den Erb-    aus Freiburg oder Gütersloh, wenn sie nicht
schaften oder der Größe der landwirtschaftli-   persönlich engagiert oder politisch interes-
chen Betriebe: Überall zeichnet sich ziemlich   siert waren, die letzten 25 Jahre überstehen
exakt die alte Grenze ab, vom Ratzeburger       konnten, ohne auch nur einen Gedanken
See über Harz und Rhön bis in das Erzgebir-     an die Einheit zu verschwenden. Dass viele
ge, eine Grenze, die einst ein Todesstreifen    Wessis Zeit ihres Lebens noch nie im Osten
war und heute bestenfalls noch als grünes       waren, ist nur ein Zeichen dafür, dass die
Band zu erkennen ist, weil die Natur die        Einheit länger braucht als eine Generation.
Wunden geheilt hat.

                                                                                                                             Berlin-Institut   5
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Interview mit Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt
„Die Polen haben die Deutschen
gerettet“
Helmut Schmidt, Jahrgang 1918, war von          rufen. Da saßen zum ersten Mal alle gesell-      atomwaffenfreie und entmilitarisierte Zone in
1974 bis 1982 Bundeskanzler und ist seither     schaftlichen Kräfte einschließlich Solidarnosc   Mitteleuropa einzurichten und dann in einer
Herausgeber der Wochenzeitung „Die Zeit“.       zusammen, um über ein Mehrparteiensys-           gesamtdeutschen Konferenz die Schritte auf
Von Hause aus Ökonom, warnte Schmidt be-        tem, freie Wahlen und andere Reformen zu         dem Weg zu einer Vereinigung auszuhandeln.
reits kurz nach dem Fall der Mauer davor, die   sprechen. Von diesem Zeitpunkt an erschien       Diese Idee hatte sich bald erledigt.
Schwierigkeiten kleinzureden, die sich bei      es mir wahrscheinlich, dass in Deutschland
der Vereinigung der beiden deutschen Staa-      eine Vereinigung zustande kommen könnte.         Der ökonomische Teil des Plans stammte
ten mit ihren unterschiedlichen Wirtschafts-    Dass es so schnell gehen würde, war aber         von mir. Er sah vor, die wirtschaftliche und
systemen ergeben könnten. In Aufsätzen und      nicht abzusehen.                                 soziale Wiedervereinigung in drei Stufen
Reden hat er seither immer wieder die Prob-                                                      über fünf Jahre hinweg zu vollziehen. Denn es
leme beim Zusammenwachsen analysiert und        Hat der Zusammenbruch des Systems im             war schon damals klar, dass es riskant wäre,
Handlungsvorschläge vorgelegt.                  damaligen Ostblock die Möglichkeit der           die Plan- und Zwangswirtschaft der DDR auf
                                                Vereinigung eröffnet?                            einen Schlag in das marktwirtschaftliche Sys-
Hätten Sie sich zu Ihrer Zeit als Kanzler                                                        tem zu überführen. Der Deutschlandplan von
bis 1982 vorstellen können, dass das Ende       Den Systemzusammenbruch hat nicht die            1959 war natürlich 1989 völlig überholt. Aber
der deutschen Teilung so schnell kommen         Perestroika ausgelöst, die Michail Gorbat-       die Analyse war immer noch richtig, dass die
würde?                                          schow ausrief, nachdem er 1985 Generalse-        wirtschaftliche Vereinigung stufenweise und
                                                kretär der KPdSU geworden war und damit          im Übergang staatlich gestützt hätte vollzo-
Zu meiner Zeit als Kanzler hätte ich es nicht   faktisch die Geschicke der Sowjetunion und       gen werden müssen.
für möglich gehalten, dass die DDR noch im      des gesamten Ostblocks lenkte. Denn in der
selben Jahrzehnt zusammenbrechen würde.         damaligen Tschechoslowakei und auch in           Es hat später weitere Studien über das Thema
Wohl aber habe ich deutlich gesehen, dass       der DDR änderte die Perestroika nichts. Es       gegeben, die zum gleichen Ergebnis kamen.
die DDR weit hinter dem Mond zurückgeblie-      war Jaruzelski, der in Bezug auf die Sow-        Ich erinnere mich zum Beispiel an Arbeiten
ben war. Dass sie am laufenden Band Geld        jetherrschaft ein gespaltenes Bewusstsein        des Wirtschaftswissenschaftlers Bruno Gleit-
brauchte und sich dieses unter anderem          besaß und der einen Seite dieses gespaltenen     ze. Kurt Biedenkopf hat Ende 1989 Ähnliches
dadurch beschaffte, dass sie für jeden          Bewusstseins nachgegeben hat, indem er den       öffentlich dargelegt.
Häftling hunderttausende D-Mark verlangte.      Runden Tisch erfand. Die Polen haben die
Alexander Schalck-Golodkowski, der Mann,        Deutschen gerettet.                              Das Bundesministerium für innerdeutsche
der dies vermittelte, war der wichtigste                                                         Beziehungen – so wurde das frühere Minis-
Ökonom der DDR.                                 Die SPD hatte schon 1959 einen „Deutsch-         terium für gesamtdeutsche Fragen 1969 im
                                                landplan“ ausgearbeitet, um auf eine             Zuge der neuen Ostpolitik genannt – stand
Von wann an hielten Sie das Ende der            mögliche Wiedervereinigung vorbereitet           seit 1987 unter der Leitung von Dorothee
Teilung für möglich?                            zu sein. Hatten die Regierungen der alten        Wilms von der CDU. Unter ihrer Obhut sind
                                                Bundesrepublik jemals derartige Pläne in         mit Sicherheit ernstzunehmende Papiere
Im Frühjahr 1989 hat in Polen General           der Schublade?                                   entstanden, die mögliche Pläne für eine Ver-
Wojciech Jaruzelski den Forderungen der                                                          einigung enthielten und auch auf mögliche
oppositionellen Gewerkschaft Solidarnosc        Den Deutschlandplan haben 1959 einige sozi-      Probleme dabei hinwiesen. Aber sie traute
nachgegeben und den „Runden Tisch“ einbe-       aldemokratische Bundestagsabgeordnete auf        sich wohl nicht, diese ihrem Chef Helmut
                                                Anregung von Herbert Wehner angefertigt. Er      Kohl vorzulegen.
                                                enthielt unter anderem den Vorschlag, eine

6   So geht Einheit
So geht Einheit Wie weit das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist - Nürnberg Institut für Marktentscheidungen eV
Nach dem Fall der Mauer und den ersten           War für Sie absehbar, was mit dieser Wirt-        setzt. Das musste zu einer Massenarbeitslo-
freien Wahlen in der DDR war die Ver-            schaft geschehen würde?                           sigkeit führen. Ich habe damals gedacht, das
einigung zunächst eine von mehreren                                                                Richtigste wäre, es schrittweise zu machen
möglichen Optionen. Welches war in Ihrer         Es war klar, dass die DDR-Industrie meistbie-     und vielleicht nach zehn Jahren bei einem
Wahrnehmung der entscheidende Wende-             tend verkauft werden würde. Weil aber die         1:1-Verhältnis anzukommen.
punkt?                                           Menschen im Osten kein Geld hatten, kauften
                                                 fast nur Westler die Unternehmen auf und          Dank der Wirtschaftskraft des Westens ist
Ich habe die Rede mit dem Zehn-Punkte-           haben sich damit die Konkurrenz vom Leibe         die Einheit inzwischen doch immerhin sehr
Plan, die der damalige Bundeskanzler Helmut      gehalten.                                         weit gediehen…
Kohl Ende November im Bundestag gehalten
hat, für die entscheidende Weichenstellung                    „Helmut Kohl                         … nicht nur dank der Wirtschaftskraft, auch
gehalten. Das sehe ich noch heute so. Kohl                  war von Hause aus                      dank der Fähigkeit zur Verwaltung. Ich weiß
hatte da bereits sowohl Moskau als auch Wa-                   optimistisch“                        nicht, wie viele hundert Wessis, Verwal-
shington von der Notwendigkeit zu handeln                                                          tungsspezialisten und Juristen – darunter
überzeugt. Auf dieser Grundlage konnte es        Hat man diese Wirtschaftslage den Men-            auch viele zweitklassige – nach der Einheit
dann zu den 2+4-Verhandlungen kommen,            schen in der ehemaligen DDR rechtzeitig           das Finanzamt in Leipzig übernahmen oder
bei denen die ehemaligen Siegermächte letzt-     und ausreichend klar gemacht?                     sich um den Haushalt in Rostock kümmerten.
lich der Wiedervereinigung zustimmten.                                                             Warum? Weil die Vereinigung von heute auf
                                                 Nach dem Ende meiner Kanzlerschaft war            morgen einige zehntausende Paragraphen
War es notwendig, dass Kohl so vorpresch-        ich fast jedes Jahr unterwegs in der DDR und      in Kraft gesetzt hat und niemand damit umzu-
te?                                              habe da Vorträge gehalten, auf Einladung von      gehen wusste.
                                                 Manfred Stolpe, damals stellvertretender Vor-
Er war von Hause aus optimistisch. Auch          sitzender des Bundes der Evangelischen Kir-       Die Wirtschaftskraft des Westens hat unter
deshalb, weil er die ökonomischen Folgen         chen in der DDR. Ich weiß nicht mehr genau,       anderem dafür gesorgt, dass wir heute in
der Vereinigung, so wie er sie anstrebte, wohl   was ich da jeweils erzählt habe. Sicher nichts,   Mecklenburg-Vorpommern bessere Straßen
nicht wirklich einschätzen konnte.               was ich nicht selbst glaubte. Aber auch nicht     haben als zum Beispiel in Nordrhein-Westfa-
                                                 alles, was ich wusste, dass es nämlich den        len. Die Perspektive muss aber sein, dass die
Braucht man diesen Optimismus in der             Menschen schlecht ging, aber noch schlech-        Marktwirtschaft auch die Uckermark erreicht.
Politik?                                         ter gehen könnte, wenn die Vereinigung
                                                 käme. Anfang 1990 habe ich allerdings auf         Rein theoretisch hätten Sie 1989 noch
Manchmal.                                        dem Marktplatz von Rostock gesagt: Ihr            Kanzler sein können…
                                                 müsst euch vorbereiten, ihr braucht Arbeits-
War Ihnen 1989 klar, in welch desolatem          ämter, ihr werdet massenhafte Arbeitslosig-       Das ist eine ganz wilde Theorie.
Zustand sich die DDR-Wirtschaft befand?          keit haben, und ihr kriegt ein Problem mit der
                                                 Finanzierung eurer Sozialausgaben. Das war        Wären Sie gern Einheitskanzler gewesen?
Die DDR-Industrie war immerhin noch besser       eine einigermaßen richtige Diagnose.              Vor großen Aufgaben haben Sie sich noch
als die russische, wenn man einmal von                                                             nie gescheut.
der Verteidigungsindustrie absieht – darin       Was hätten Sie anders gemacht? Wäre
waren die Russen absolute Spitze. Aber die       ein symbiotischeres Zusammenwachsen               Richtig. Aber ich bin 1918 geboren, ich war
DDR-Industrie war weitestgehend überholt.        von Plan- und Marktwirtschaft denkbar             zu dem Zeitpunkt, als die Mauer fiel, schon
Was sie produzierte, war entweder zu teuer       gewesen?                                          70 Jahre alt. Das ist für einen Politiker ein
oder taugte nichts. Sie war nicht gewohnt,                                                         sehr hohes Alter. Die heutigen Politiker, von
den Zusammenhang zwischen Kosten und             Die Planwirtschaft hat niemals richtig funk-      Frau Merkel bis Sigmar Gabriel, sind alle zehn
Preisen zu beachten. Sie war nicht gewohnt,      tioniert. Die Übernahme des Marktsystems          Jahre jünger. Ganz abgesehen davon, dass ich
ihre Produkte zu vermarkten. Jedenfalls war      war zwangsläufig. Aber die Übernahme des          die Befreiung von der Verantwortung genos-
sie in keiner Weise konkurrenzfähig mit der      Währungssystems 1:1 war ein katastrophaler        sen habe. Aber wenn ich zehn Jahre jünger
westeuropäischen Industrie.                      Fehler. Der 1:1 Umtausch von DDR-Mark in          gewesen wäre, hätte ich das als lohnende
                                                 D-Mark galt sofort für alle Preise und für        Aufgabe für mich gesehen.
                                                 alle Löhne. Damit waren die Unternehmen
                                                 schlagartig dem vollen Wettbewerb ausge-

                                                                                                                                Berlin-Institut   7
So geht Einheit Wie weit das einst geteilte Deutschland zusammengewachsen ist - Nürnberg Institut für Marktentscheidungen eV
1 Bevölkerungsentwicklung
Der Osten macht’s vor
Die Mauer war zwar gefallen. Doch entlang                         Neben der Abwanderung gen Westen, durch                                  Nur der Westen gewinnt
der ehemaligen innerdeutschen Grenze                              die der Osten rund 1,8 Millionen Einwohner
                                                                                                                                           Im Jahr 2013 lebten in acht Bundesländern
durchzog das Land in den Jahren nach der                          an die alten Bundesländer verlor ( 4), war                               weniger Menschen als noch 1991. Neben dem
Wiedervereinigung ein demografischer Riss.                        es vor allem der massive Einbruch bei den                                Saarland, Bremen und Berlin gehören alle
Zwischen 1991 und 2013 verloren die fünf                          durchschnittlichen Kinderzahlen pro Frau                                 fünf neuen Bundesländer zu den Verlierern.
ostdeutschen Flächenländer zusammen über                          unmittelbar nach der Wende, der die ostdeut-                             Am stärksten traf der Bevölkerungsrückgang
                                                                                                                                           Sachsen-Anhalt, das jeden fünften Einwohner
zwei ihrer einst 14,5 Millionen Einwohner.                        schen Bundesländer auf den demografischen                                eingebüßt hat. Bayern, Baden-Württemberg
Die alten Bundesländer hingegen wuchsen                           Abwärtstrend schickte.3 Im Jahr 1994 erreich-                            oder auch Schleswig-Holstein konnten hingegen
und konnten ihre Einwohnerzahl im gleichen                        te die Fertilitätsrate mit 0,77 den niedrigsten                          deutliche Zuwächse verzeichnen. Der überall
Zeitraum um zweieinhalb Millionen steigern.1                      jemals gemessenen Wert.4 Nach diesem                                     sichtbare Einbruch im Jahr 2011 ist Folge der
                                                                                                                                           korrigierten Bevölkerungszahlen durch den
Auch wenn die neuen Bundesländer in vielen                        „Geburtenloch“ stieg die durchschnittliche                               Zensus 2011. Besonders deutlich musste etwa
Bereichen des demografischen Wandels                              Kinderzahl je Frau wieder und näherte sich                               Berlin seine Einwohnerzahl nach unten berichti-
„Vorreiter“ bleiben, die großen Ost-West-Un-                      allmählich dem Westniveau an. Aktuell liegt                              gen, wodurch die Hauptstadt wieder unter den
                                                                                                                                           Wert von 1991 gefallen ist.
terschiede verschwinden allmählich und die                        sie im Osten mit 1,49 sogar leicht über dem
Trends gleichen sich nach 25 Jahren Einheit                       bundesweiten Durchschnitt ( 2).5                                         Bevölkerungsentwicklung in den Bundesländern
zunehmend an.                                                                                                                              zum Basisjahr 1991
                                                                                                                                           (Datengrundlage: Statistisches Bundesamt2)

    110
                                                                                                                                                                           Bayern
                                                                                                                                                                           Schleswig-Holstein
                                                                                                                                                                           Baden-Württemberg
    105                                                                                                                                                                    Hamburg
                                                                                                                                                                           Rheinland-Pfalz
                                                                                                                                                                           Niedersachsen
                                                                                                                                                                           Hessen
    100                                                                                                                                                                    Nordrhein-Westfalen
                                                                                                                                                                           Berlin

                                                                                                                                                                           Brandenburg
                                                                                                                                                                           Bremen
     95

                                                                                                                                                                           Saarland
    90

                                                                                                                                                                           Sachsen
     85                                                                                                                                                                    Mecklenburg-
                                                                                                                                                                           Vorpommern
                                                                                                                                                                           Thüringen

    80
                                                                                                                                                                           Sachsen-Anhalt
                                                                                                                                 Zensusknick

     75
                                                                         2000

                                                                                                                   2006

                                                                                                                                        2009
                                                                                                                                 2008
                                                                                                     2004

                                                                                                            2005
                                                                                              2003

                                                                                                                          2007
                                                                                       2002
                                                                                2001

                                                                                                                                               2010
                                             1996

                                                                  1999
                                                           1998
                               1994

                                      1995
                        1993
                 1992

                                                    1997

                                                                                                                                                                    2013
                                                                                                                                                             2012
          1991

                                                                                                                                                      2011

8    So geht Einheit
Der ländliche Raum                     1990 – 2012                                               2012 – 2035
schrumpft
Zwischen 1990 und 2012
haben vierzig Prozent aller
Kreise an Bevölkerung verloren.
Am gravierendsten war die
Entwicklung dabei in den neuen
Bundesländern, wo nur 10 der
76 Kreise sich dem demografi-
schen Abwärtstrend entziehen
konnten. Bis 2035 dürfte sich
das Schrumpfen nach Westen
ausweiten und auch hier vor
allem ländliche Regionen fernab
der Ballungsräume erfassen.

Entwicklung der Einwohnerzahl
zwischen 1990 und 2012 in
Prozent und prognostizierte
Bevölkerungsentwicklung bis
2035, in Prozent
(Datengrundlage: BBSR8)

   unter -15
   -15 bis unter -10
   -10 bis unter -5
   -5 bis unter 0
   0 bis unter 5
   5 bis unter 10
   10 und mehr

Einen weiteren Rückgang der absoluten           Bundesländern ohne Berlin von knapp 40 auf       zog. Zumal sie sich nun den Wunsch vom
Kinderzahlen kann dies jedoch nicht verhin-     25, im Westen ging dieser lediglich von rund     eigenen Haus im Grünen erfüllen konnten
dern, zumal in den kommenden Jahren die         33 auf 31 zurück. Gleichzeitig stieg die Zahl    ( 4). Erst durch eine Vielzahl an Förderpro-
„halbierte Generation“ der 1990er Jahre ins     der über 64-Jährigen je 100 Menschen im          grammen gelang es, die Innenstädte wieder
Familiengründungsalter kommt.                   erwerbsfähigen Alter im Osten von 23 auf 39      aufzuwerten und zumindest in einigen Groß-
                                                und im Westen von 24 auf 33.7                    städten Ostdeutschlands eine Trendwende
Die Abwanderung der vorwiegend jünge-                                                            herbeizuführen.
ren Menschen und der Einbruch bei den           Comeback der Großstädte?
Geburtenzahlen spiegeln sich auch in der                                                         Für Städte wie Potsdam, Dresden, Jena oder
Altersstruktur der ostdeutschen Bevölkerung     In den neuen Bundesländern vollzog sich          Leipzig scheinen die Zeiten schrumpfender
wider, die zum Zeitpunkt des Mauerfalls         in den 1990er Jahren der Bevölkerungs-           Bevölkerung zumindest vorerst vorbei zu
deutlich jünger war als die westdeutsche.       rückgang nahezu flächendeckend. Auch die         sein. Doch sie sind weiterhin klar in der
Zwar altert die Bevölkerung bundesweit, aber    Großstädte konnten sich dieser Entwicklung       Minderheit, denn von den 132 größten
anders als im Westen verschärft das Fehlen      nicht entziehen.11 Sie litten noch unter den     ostdeutschen Städten haben gerade einmal
der jüngeren Bevölkerung diesen Prozess im      Jahrzehnten sozialistischer Stadtentwick-        15 Städte diese Trendwende geschafft. In 101
Osten zusätzlich.6 So sank der Jugendquoti-     lung, die um die historisch gewachsenen          von ihnen herrscht hingegen seit 1990 ein
ent, also die Anzahl der unter 20-Jährigen je   Innenstädte herum Plattenbauten hochzog,         permanenter Bevölkerungsrückgang. Einige
100 Menschen im Alter von 20 bis 65 Jahren,     während die alten Häuser dort verfielen.         wie Eisenhüttenstadt oder Hoyerswerda
zwischen 1991 und 2013 in den neuen             Als Wohnort waren die Städte damit kaum          haben bereits annähernd die Hälfte ihrer
                                                attraktiv. So ist es wenig verwunderlich, dass   Bevölkerung eingebüßt.12
                                                es die Menschen unmittelbar nach der Wende
                                                ähnlich wie zuvor im Westen ins Stadtumland

                                                                                                                              Berlin-Institut   9
1995                                           2012                                            2035
                                                                                                               Anteil der unter 20-Jährigen
                                                                                                                   unter 13
                                                                                                                   13 bis unter 15
                                                                                                                   15 bis unter 17
                                                                                                                   17 bis unter 19
                                                                                                                   19 bis unter 21
                                                                                                                   21 bis unter 23
                                                                                                                   23 bis unter 25
                                                                                                                   25 und mehr

                                                                                                               Anteil der über 59-Jährigen
                                                                                                                   unter 20
                                                                                                                   20 bis unter 23
                                                                                                                   23 bis unter 26
                                                                                                                   26 bis unter 29
                                                                                                                   29 bis unter 32
                                                                                                                   32 bis unter 35
                                                                                                                   35 bis unter 38
                                                                                                                   38 und mehr

Land der Alten
In ganz Deutschland altert die Bevölkerung. Doch in Regionen, aus denen junge Menschen fortziehen, schreitet
die Alterung deutlich schneller voran. Waren die neuen Bundesländer in der ersten Hälfte der 1990er Jahre
noch reich an Kindern und Jugendlichen, ist hier der Anteil der unter 20-Jährigen an der Gesamtbevölkerung
seitdem besonders stark gesunken. Gleichzeitig stieg jener der über 59-Jährigen. Dieser Trend dürfte sich in
den nächsten Jahren fortsetzen. Im Jahr 2035 könnte in einigen Kreisen wie Suhl oder Elbe-Elster mehr als
jeder zweite Einwohner 60 Jahre oder älter sein. Vergleichsweise jung dürften hingegen attraktive Großstädte
bleiben – in Ost und West.

Prozentualer Anteil der unter 20-Jährigen sowie der über 59-Jährigen an der Gesamtbevölkerung nach Kreisen
für die Jahre 1995, 2012 und 2035
(Datengrundlage: Statistische Ämter des Bundes und der Länder9, BBSR10)

10 So geht Einheit
Auch im Westen haben viele Städte mit                                             Eine Trendwende ist derzeit nicht in Sicht.
Bevölkerungsrückgang zu kämpfen. Hier sind                                        Denn vor allem junge Landbewohner zieht es
es vor allem die Großstädte, in denen früher                                      auf der Suche nach einem Ausbildungs- und
die Kohle- und Schwerindustrie beheimatet                                         Studienplatz in die Ballungsräume, in denen
war. Im Ruhrgebiet oder im Saarland gingen                                        sie später auch eher einen Arbeitsplatz fin-
durch den wirtschaftlichen Strukturwandel                                         den, der ihren Qualifikationen entspricht. Für
viele Arbeitsplätze und Einwohner verloren.                                       die ländlichen Regionen führt dies zu einem
Einige Städte wie Essen oder Dortmund                                             doppelten Verlust. Zum einen verlieren sie
haben mittlerweile auf den Wachstumspfad                                          durch die Abwanderung direkt an Bevölke-
zurückgefunden.13 Ob sie langfristig zu den                                       rung, zum anderen gehen mit den jungen
prosperierenden Großstädten wie Hamburg,                                          Menschen zugleich auch die potenziellen
München, Köln oder Frankfurt aufschließen                                         Familiengründer und es fehlt ihnen daher an
können, bleibt jedoch fraglich.                                                   Nachwuchs.

Ländliche Regionen verlieren –                                                    Damit ist die demografische Entwicklung
in Ost wie West                                                                   weitgehend programmiert. Nach der neu-
                                                                                  esten Bevölkerungsvorausberechnung des
Abseits dieser Ballungsräume, in den entle-                                       Statistischen Bundesamtes dürfte zwar der
genen Landstrichen, verschärft sich indes                                         Bevölkerungsrückgang bundesweit dank der
der Bevölkerungsschwund. Vorreiter waren                                          aktuell hohen Zuwanderung etwas geringer
hier die ohnehin schon dünn besiedelten Re-                                       ausfallen als zuvor angenommen. Abzuwar-
gionen in den neuen Bundesländern. Längst                                         ten bleibt jedoch, welche Regionen davon
weitet sich das Schrumpfen auch auf das                                           profitieren ( 3).14 Setzt sich der Trend fort,
frühere Bundesgebiet aus. In Nordhessen,                                          werden es auch weiterhin eher die attrakti-
der Südwestpfalz oder Oberfranken verstärkt                                       ven Großstädte sein, die wachsen, während
sich der demografische Abwärtstrend. Die                                          ländliche Regionen weiter an Bevölkerung
demografische Trennlinie verläuft damit zu-                                       verlieren. Alte und neue Bundesländer
nehmend nicht mehr zwischen Ost und West,                                         blicken dabei in eine ähnliche demografische
sondern zwischen den großen, wirtschafts-                                         Zukunft.
starken Städten und den ländlichen Regionen
weitab attraktiver Zentren.                                                                                                                Wer schrumpft, altert
                                                                                                                                           Das Medianalter teilt die Bevölkerung in
                                                                                                                                           eine ältere und eine jüngere Hälfte. Stark
                                                                                                                                           schrumpfende Gemeinden haben meist
                                                                                                                                           auch eine vergleichsweise alte Bevölke-
                                                                                 65                                                        rung. Unter den wachsenden Gemeinden
                                                                                               Büsum                                       gibt es viele, die relativ jung sind – vor
      Medianalter der Bevölkerung 2012

                                                                                 60                                                        allem Universitätsstädte und Kommunen,
                                                                                                                                           die einen Zuzug junger Familien verzeich-
                                                                                 55                                                        nen, wie Tübingen oder Freiburg. Aber
                                         Hoyerswerda
                                                                                                                                           auch Gemeinden mit einem höheren Anteil
                                               Friedland                         50                                                        älterer Menschen können eine stabile oder
                                                                                                                                           wachsende Einwohnerzahl haben, wie
                                                                                 45                                          Teltow        etwa das landschaftlich attraktive Büsum,
                                                                                                                                           das als Alterswohnsitz beliebt ist.
                                                                                                                             Aschheim
                                                                                 40
                                                                                                                                           Bevölkerungsentwicklung in Prozent 2006
                                                                                          Freiburg
                                                                                 35                  Gießen Tübingen                       bis 2012 und Medianalter der Bevölkerung
                                                                                                                                           2012, Gemeinden ab 5.000 Einwohnern
                                                                                 30                                                        (Datengrundlage: Bertelsmann Stiftung15)
                                         -20       -15        -10        -5           0         5          10          15   20        25
                                                           Bevölkerungsentwicklung von 2006 bis 2012 in Prozent

                                                                                                                                                                  Berlin-Institut 11
2 Kinderzahl
Wo Eltern keinen Trauschein
haben
In Deutschland werden immer weniger Kin-                 In den Nachkriegsjahren stiegen die Kinder-             stärker in den Vordergrund. Wenn darin
der geboren. Kamen 1964 – dem Jahr mit den               zahlen je Frau zunächst auf beiden Seiten               Kinder vorkamen, ließen sie sich bewusster
höchsten Geburtenzahlen nach dem Zweiten                 der innerdeutschen Grenze auf den Höchst-               als zuvor planen.
Weltkrieg – in beiden deutschen Staaten                  wert von 2,5 Kindern je Frau.2 Diese in den
zusammengenommen knapp 1,4 Millionen                     Zeiten des Friedens und des Wiederaufbaus               Die Reaktion auf den Einbruch der Kinder-
Kinder zur Welt, sind es heute in der gesam-             entstandenen geburtenstarken Jahrgänge, die             zahlen hätte indessen nicht unterschiedli-
ten Bundesrepublik etwas weniger als die                 sogenannten Babyboomer, rücken demnächst                cher ausfallen können: In Westdeutschland
Hälfte.1 Dabei unterscheiden sich die durch-             ins Rentenalter vor. Danach sanken die                  wurde die Problematik schlichtweg ignoriert.
schnittlichen Kinderzahlen je Frau zwischen              Kinderzahlen je Frau sowohl im früheren Bun-            „Kinder bekommen die Leute immer“, befand
den alten und neuen Bundesländern kaum                   desgebiet als auch in der DDR sehr schnell              Bundeskanzler Konrad Adenauer schon 1957,
noch. Doch dahinter verstecken sich eine                 und erreichten um 1972 einen Wert von 1,5               womit Familienpolitik für die nächsten Jahr-
ganze Reihe unterschiedlicher Entwicklungen              Kindern je Frau. Weil zeitgleich die Antibaby-          zehnte in der Bedeutungslosigkeit versank.
und gesellschaftlicher Veränderungsprozes-               pille – in der DDR „Wunschkindpille“ genannt            Als Folge pendelte sich die Kinderzahl je Frau
se, welche die Familiengründung in Ost- und              – auf den deutschen Markt kam, hat sich                 seit Ende der 1970er Jahre bei etwa 1,4 ein.
Westdeutschland bis heute prägen.                        für diesen Einbruch der Name „Pillenknick“              Die DDR-Regierung dagegen wurde nicht nur
                                                         eingebürgert. Grund dafür war jedoch vor                durch den Geburtenrückgang aufgeschreckt,
                                                         allem der damalige gesellschaftliche Wandel.            sondern auch durch die steigende Zahl der
                                                         Die Rolle der Frauen veränderte sich und der            Ausreisewilligen. Sie sah das demografi-
                                                         individuelle Lebensentwurf rückte immer

Im Westen Stagnation, im Osten Anpassung                                  Kinderzahl je Frau
                                                                          2,8
Die Fertilitätsrate hat sich in den beiden deutschen Staaten unter-                            Babyboom
schiedlich entwickelt. Während westdeutsche Frauen nach dem „Pillen-      2,6
knick“ im Schnitt durchgehend nur noch um die 1,4 Kinder bekamen,
schwankte die ostdeutsche Fertilitätsrate in der zweiten Hälfte des       2,4
letzten Jahrhunderts deutlich. Wie in Westdeutschland folgte nach
dem „Babyboom“ der „Pillenknick“. Doch durch gezielte Fördermaß-          2,2
nahmen stieg die Kinderzahl je Frau in den 1970er und 1980er Jahren                                              Honecker-Buckel
zunächst wieder an („Honecker-Buckel“). Vor der Wende sanken die          2,0
durchschnittlichen Kinderzahlen jedoch und fielen in den Jahren nach                                                          Ost
der Wende in das sogenannte „Geburtenloch“. Erst um die Mitte der         1,8
2000er glichen sich die Fertilitätsraten in Ost- und Westdeutschland
wieder an. Heute bekommen Frauen in den neuen Bundesländern               1,6
durchschnittlich sogar wieder mehr Kinder als Frauen in den alten Bun-                             Pillenknick                West
desländern, was vor allem an der geringeren Rate der Kinderlosen liegt.   1,4

Zusammengefasste Geburtenziffern (Fertilitätsrate) in West- und           1,2
                                                                                                                                        Deutschland
Ostdeutschland, 1950 bis 2013
(Datengrundlage: Statistisches Bundesamt9. Westdeutschland ab 1990        1,0
ohne Berlin, Ostdeutschland ab 1990 einschließlich Berlin; 1950 bis
1989 bezogen auf Frauen von 15 bis 44 Jahre, ab 1990 auf Frauen von       0,8
15 bis 49 Jahre. Die Berechnungen für 2011 beruhen noch auf der alten                                                                Geburtenloch
Bevölkerungszahl aus der Fortschreibung früherer Volkszählungen)          0,6
                                                                                2000

                                                                                2006
                                                                                2008
                                                                                2004
                                                                                2002
                                                                                1960

                                                                                1990
                                                                                1980

                                                                                2010
                                                                                1966

                                                                                1996
                                                                                1968

                                                                                1986

                                                                                1998
                                                                                1964

                                                                                1994
                                                                                1950

                                                                                1988
                                                                                1984
                                                                                1970
                                                                                1956
                                                                                1958
                                                                                1954

                                                                                1992
                                                                                1962

                                                                                1982
                                                                                1976
                                                                                1978

                                                                                2012
                                                                                1952

                                                                                1974
                                                                                1972

12 So geht Einheit
sche Ende des sozialistischen Experiments         in Prozent                                                                 Kinderlosigkeit vor allem im
kommen und versuchte gegenzusteuern,              25                                                                         Westen verbreitet
indem sie Anreize zur Steigerung der Gebur-
                                                                                                                             Kinderlosigkeit, vor allem auch die ge-
tenzahlen setzte: Sie hob das Kindergeld an,                                                                                 wünschte, ist in Westdeutschland merklich
baute die Betreuungsmöglichkeiten aus und         20
                                                                                                                             weiter verbreitet als in Ostdeutschland.
schuf Vergünstigungen für Familien, die in                                                                                   Im Jahr 2012 hatte nahezu jede vierte
der vorherrschenden Mangelwirtschaft ihre                                                                                    westdeutsche Frau im Alter zwischen 40
                                                  15                                                                         und 44 Jahren keine Kinder – unter den
Wirkung nicht verfehlten. Paare konnten                                                                                      ostdeutschen Frauen war dagegen nur etwa
beispielsweise „Ehekredite“ erhalten, deren                                                                                  jede siebte kinderlos geblieben. Da ein Kin-
Rückzahlung sie mit der Geburt eines jeden                                                                                   derwunsch jenseits dieses Alters nur noch
                                                  10                                                                         sehr selten umgesetzt wird, dürfte kaum
Kindes reduzieren – „abkindern“ –, beim
                                                                                                                             eine dieser Frauen noch eine Mutterschaft
dritten sogar ganz tilgen konnten. Daraus                                                                                    erleben.
resultierte zunächst ein Geburtenanstieg auf       5
1,9 Kinder je Frau, der gelegentlich unter der                                                                               Anteil kinderloser Frauen nach Alters-
                                                                                                                             gruppe/Geburtsjahrgang im Jahr 2012, in
Bezeichnung „Honecker-Buckel“ firmiert.
                                                                                                                             Prozent
Doch die Wirkung dieser Maßnahmen hielt           0                                                                          (Datengrundlage: Statistisches Bundesamt8)
nicht lange an. Denn der Zuwachs war vor               70 - 75 65 - 69 60 - 64 55 - 59 50 - 54 45 - 49 40 - 44
                                                                                                                                 West
allem dadurch zustande gekommen, dass                   1937 -   1943 -     1948 -   1953 -    1958 -    1963 -   1968 -
                                                        1942      1947       1952     1957      1962      1967     1972          Ost
die Frauen in jüngerem Alter und in kürzeren                              Alter/Geburtsjahr der Frauen
Abständen, aber nicht mehr Kinder bekamen.
So sank die Kinderzahl je Frau bald wieder
auf ähnlich niedrige Werte wie zuvor.              Die deutlichsten Unterschiede zwischen                           kinderlosen Frauen zwischen 20 und 39
                                                   ost- und westdeutschen Müttern finden sich                       Jahren äußerten 2003 im Westen 40 Prozent
Kurz bevor die Mauer fiel, bekamen die             heute noch beim Anteil der außerehelichen                        keinen eigenen Kinderwunsch, im Osten
Frauen in der DDR durchschnittlich 1,6             Geburten. Dieser war in der ehemaligen                           dagegen nur 26 Prozent. Eine Ursache dafür
Kinder, während der Westen auf knapp 1,4           DDR schon in den 1970er Jahren rasant                            könnte sein, dass westdeutsche Frauen nach
Kinder je Frau kam. Doch unmittelbar nach          angestiegen, vor allem nach der Einführung                       wie vor von dem traditionelleren Modell
der Wiedervereinigung sackte der Wert im           einer einjährigen Erziehungspause bei voller                     geprägt sind, nach dem die Familiengrün-
Osten rapide auf einen absoluten Tiefstand         Lohnfortzahlung. Diese konnten unverheira-                       dung mit einer (Hausfrauen-)Ehe verknüpft
von knapp 0,8 ab. Dieses „Geburtenloch“            tete Frauen schon bei der Geburt des ersten                      ist. Lange galten Frauen, die ihrem Beruf
der Nachwendezeit geht vor allem auf die           Kindes in Anspruch nehmen, verheiratete                          nachgehen, anstatt sich ganztägig um ihren
Unsicherheit der Menschen angesichts der           Mütter jedoch erst mit dem Zweitgeborenen.                       Nachwuchs zu kümmern, im Westen als
dramatischen gesellschaftlichen Umbrüche           Zwar wurde 1986 das „Babyjahr“ auf alle                          „Rabenmütter“, in manchen Gegenden mag
zurück. Viele junge Frauen entschieden sich,       Erstlingsmütter ausgeweitet, doch da lag der                     dies sogar bis heute so sein. Unter diesem
mit dem Heiraten und dem Kinderkriegen             Anteil der unehelich geborenen Kinder schon                      gesellschaftlichen Druck fällt es vor allem gut
erst einmal abzuwarten. Ähnlich wie die Frau-      bei 30 Prozent.6 Für ostdeutsche Frauen war                      ausgebildeten Frauen schwer, Kinder in ihre
en im Westen schoben sie die Familiengrün-         es offenbar so sehr zur Normalität gewor-                        Lebensplanung aufzunehmen. 2012 waren im
dungsphase nun auf – zwangsläufig, denn die        den, sich unabhängig von einem Trauschein                        gesamtdeutschen Durchschnitt 20 Prozent
Ausbildungszeiten verlängerten sich und es         für Kinder zu entscheiden, dass sie auch                         der damals 45- bis 49-jährigen Frauen kin-
wurde auch für sie schwieriger, Familie und        nach der Wende nicht das traditionellere                         derlos geblieben, unter den Akademikerinnen
Beruf zu vereinbaren.3 Hatten im Osten die         westdeutsche Familienmodell übernahmen.                          sogar 28 Prozent. Dabei liegen die Anteile in
politisch motivierten Anreize für eine frühe       Vielmehr stieg die Quote der nichtehelich ge-                    den alten Bundesländern deutlich höher als
Mutterschaft nachhaltig dafür gesorgt, dass        borenen Kinder in den neuen Bundesländern                        in den neuen. Ostdeutsche Frauen profitieren
Frauen ihr erstes Kind schon mit 22 oder           weiter an. Sie liegt heute bei 62 Prozent. In                    offenbar bis heute von dem sozialistischen
23 Jahren bekamen – im Schnitt drei Jahre          den alten Bundesländern stammen dagegen                          Frauenbild der DDR, in dem Kinder und be-
früher als im Westen –, stieg nun das Alter        nur 29 Prozent der Kinder von unverheirate-                      rufliche Selbstverwirklichung zusammenge-
der Mütter bei der Geburt ihres ersten Kindes      ten Müttern, überwiegend von jungen Frauen                       hörten. Damit stehen sie Frauen aus Ländern
rasant an.4 Heute liegt es bei durchschnittlich    unter 24 Jahren ( 6).7                                           mit einer fortgeschrittenen Gleichstellung der
28 Jahren und damit nur noch leicht unter                                                                           Geschlechter – wie Frankreich oder Schwe-
dem durchschnittlichen Alter westdeutscher         Westdeutsche Frauen bleiben dagegen eher                         den – deutlich näher als viele westdeutsche
Erstgebärender von etwas über 29 Jahren.5          kinderlos, viele von ihnen freiwillig: Von den                   Frauen ( 11).

                                                                                                                                                     Berlin-Institut 13
3 Zuwanderung
Mehr Vorurteile dort,
wo weniger Migranten sind
Zuwanderung hat in Deutschland Tradition.
Nach dem Kriegsende 1945 kamen rund 12,5                                                        Bei der Zuwanderung ist Deutschland
Millionen Flüchtlinge und 11 Millionen Ver-                                                     noch immer gespalten
triebene in das flächenmäßig geschrumpfte
                                                                                                Die Gruppe der Migranten ist keinesfalls gleichmä-
Land. Mit der Teilung Deutschlands ent-                                                         ßig über das Land verteilt. In den Ballungsräumen
wickelte sich die Zuwanderung in Ost und                                                        Berlin, Hamburg und Bremen sowie in den großen
West unterschiedlich. Die DDR hatte von                                                         Flächenstaaten Nordrhein-Westfalen, Hessen und
Anfang an dagegen anzukämpfen, dass viele                                                       Baden-Württemberg liegt der Migrantenanteil bei
                                                                                                über 25 Prozent, in den ostdeutschen Flächenländern
ihrer Bewohner das Land verlassen woll-                                                         dagegen beträgt er nur zwischen 4 und 5 Prozent.9
ten. Zwischen 1949 und 1961 emigrierten                                                         Da Neuzuwanderer sich bevorzugt dort niederlassen,
mindestens 2,7 Millionen DDR-Bürger. Erst                                                       wo sie die Chance auf eine Arbeitsstelle haben und
                                                                                                wo sich schon Menschen aus ähnlichen Herkunfts-
der Bau der Mauer im Jahr 1961 stoppte
                                                                                                regionen finden, profitieren wirtschaftsstarke
diesen Strom.1 Um die Lücken auf dem                                                            Regionen und Städte auch heute noch überpro-
Arbeitsmarkt zu füllen, warb die DDR Kräfte                                                     portional von der Zuwanderung. Periphere und
aus den sozialistischen Bruderstaaten an. Bis                                                   strukturschwache Räume im Osten und Westen des
                                                                                                Landes haben Zuwanderern dagegen wenig zu bieten.
Mitte der 1980er Jahre kamen etwa 500.000                                                       Die deutschen Schrumpfregionen schaffen es somit
Personen, unter anderem aus Polen, Kuba,            bis 5                                       nicht, ihre Bevölkerungsverluste durch Zuwanderung
Mosambik, Angola und China.2 Ihr Aufenthalt         5,1 bis 10                                  auszugleichen.
war zeitlich strikt begrenzt und der Aus-           10,1 bis 15
                                                    15,1 bis 20                                 Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund an
tausch mit der einheimischen Bevölkerung                                                        der Gesamtbevölkerung in Prozent nach Bundeslän-
ausdrücklich nicht erwünscht. Zur Wende             20,1 bis 25
                                                                                                dern, 2013
lebten nur gut 190.000 Ausländer in der             über 25                                     (Datengrundlage: Statistisches Bundesamt16)
DDR, etwa ein Prozent der Bevölkerung.3
Viele von ihnen kehrten auf Wunsch und mit
finanzieller Unterstützung der Bundesregie-      onen. Mit der Ölkrise und dem einsetzenden     Direkt nach der Wende prägten hauptsäch-
rung in ihre Heimat zurück. Erst im Jahr 1993    Konjunktureinbruch Anfang der 1970er Jahre     lich Aussiedler (seit 1993 Spätaussiedler
beschloss die Regierung eine Bleiberechtsre-     verhängte die Regierung einen „Anwer-          genannt) die Zuwanderung, also deutsch-
gelung unter bestimmten Voraussetzungen.4        bestopp“. Die bis dahin in Deutschland         stämmige Minderheiten aus dem ehemali-
                                                 lebenden Gastarbeiter durften jedoch bleiben   gen Ostblock. Bis heute sind mehr als vier
Auch der Westen litt in den Zeiten des Wirt-     und auch ihre Familien nachholen. Aus einem    Millionen Aussiedler in die Bundesrepublik
schaftswunders der 1950er und 60er Jahre         vorübergehenden Arbeitsaufenthalt wurde        eingewandert.7 Sie bilden die mit Abstand
an Arbeitskräftemangel und begann, gezielt       damit eine dauerhafte Einwanderung, die po-    größte Migrantengruppe in Deutschland –
Menschen aus anderen Ländern als Gastar-         litisch jedoch weder gewollt war noch durch    weit vor den Menschen türkischer Herkunft.
beiter anzuwerben – in größeren Dimensio-        Integra-tionsmaßnahmen unterstützt wurde.5     Als einzige Gruppe haben sie sich im ganzen
nen als die damalige DDR. In den Hochzeiten      Zudem machten in Westdeutschland seit den      Land niedergelassen – auch weil ihre Ansied-
der Zuwanderung verzeichnete die alte Bun-       1980er Jahren Flüchtlinge einen erheblichen    lung staatlich gelenkt wurde.
desrepublik ein jährliches Zuwanderungsplus      Teil der Zuwanderung aus. Zwischen 1980
von mehr als 500.000 Personen. Bis 1973          und 1990 wurden im jährlichen Mittel mehr
stieg die Zahl der Ausländer auf fast 4 Milli-   als 70.000 Asylanträge gestellt.6

14 So geht Einheit
Von 1994 an gingen die Zuwanderungszahlen          jüngeren Jahrgangsstufen sogar bis zu einem         Arbeitsmarkt nur schwer behaupten. Im Wes-
stetig zurück. Ein Grund war die Verschärfung      Drittel.8 Die Mehrheit dieser jungen Menschen       ten zeigt sich das niedrige Bildungsniveau
des Asylrechts, mit der die Bundesregierung        kennt Migration nur aus familiären Erzählun-        der ehemaligen Gastarbeiter noch deutlich in
auf den anhaltenden Zustrom aus ärmeren            gen. Sie selbst sind zumeist schon in Deutsch-      den nachfolgenden Generationen. Doch sie
Weltregionen und aus dem zerfallenden              land geboren und besitzen in der Regel auch         profitieren zumindest in den wirtschaftsstar-
Jugoslawien reagierte. Die Gesetzesände-           den deutschen Pass.                                 ken Regionen vom stabilen Arbeitsmarkt.10
rungen spiegelten die in Öffentlichkeit und
Politik vorherrschende reservierte Haltung         Integrationspolitik und Willkommens- Die Einstellungen gegenüber Migranten
gegenüber Zuwanderung wider. Doch es               kultur in Ost und West               unterscheiden sich ebenfalls. So wird die
kamen auch kaum noch Arbeitsmigran-                                                                    Integrationsbereitschaft der einheimischen
ten. In den Rezessionsjahren 2008/2009             Vor der Wende hatten weder West- noch               Bevölkerung in den ostdeutschen Bundes-
wanderten sogar mehr Menschen ab als zu.           Ostdeutschland viel Erfahrung mit einer poli-       ländern als geringer eingestuft als in den
Erst als sich die Wirtschaft erholte und ein       tisch geförderten Integration von Migranten         westdeutschen – und zwar von Ostdeutschen
deutlicher Fachkräftemangel abzusehen war,         gesammelt. Daran änderte sich auch in den           mit wie ohne Migrationshintergrund.11 Auch
erweiterte Deutschland die Einwanderungs-          Jahren danach nicht viel. Integration fand, von     rechtsextreme Meinungen kommen im Osten
möglichkeiten wieder. Die Nettozuwanderung         den Menschen selbst betrieben, dennoch statt,       häufiger vor.12 Zudem driften die beiden
steigt seitdem stark an. Vorläufige Zahlen für     allerdings je nach Region unterschiedlich.          Landesteile bezüglich ihrer Vorbehalte
2014 verweisen auf ein Plus von 470.000                                                                auseinander: 2012 gab es kaum Unterschiede
Migranten – der höchste Wert seit 1993.            Wissenschaftlich gemessen wird der Erfolg           in der Willkommenskultur zwischen Ost- und
Davon kommen mindestens zwei Drittel aus           von Integration erst seit einigen Jahren und        Westdeutschland; 2015 sagte nur jeder
EU-Staaten. Heute leben in Deutschland etwa        mit unterschiedlichen Methoden, so dass es          zweite Ostdeutsche, dass Zuwanderer in der
16,5 Millionen Menschen mit Migrations-            keine Vergleiche der Integrationssituation vor      Bevölkerung willkommen seien, während es
hintergrund, also Ausländer sowie deutsche         und nach der Wende gibt. Anhand der sozio-          in Westdeutschland zwei von drei waren.13
Staatsbürger, die selbst zugewandert sind          ökonomischen Lage von Migranten lassen              Bleibt es bei dieser Tendenz, kann Zuwan-
oder einen ausländischen oder selbst zuge-         sich aber Unterschiede zu beiden Seiten der         derung kaum als erfolgreiche Strategie zur
wanderten Elternteil haben. Sie machen ein         ehemaligen Grenze feststellen. Im Osten             Abfederung des fortgeschrittenen demo-
Fünftel der Gesamtbevölkerung aus, in den          weisen Migranten deutlich bessere Bildungs-         grafischen Wandels in den ostdeutschen
                                                   abschlüsse auf als die einheimische Bevölke-        Bundesländern dienen.
                                                   rung, können sich aber auf dem schwachen
Trotz Verbesserungen Fremdenfeind-
lichkeit im Osten höher
                                                                                     Ablehnung                                Zustimmung
Extremmeinungen gegen Ausländer sind bei Men-
schen im Westen deutlich schwächer ausgeprägt      Ausländer begehen
als bei jenen im Osten. Diese neigen nicht nur     häufiger Straftaten
anteilig stärker dazu, Ausländer in Deutschland
mit negativen Auswirkungen zu verbinden. Sie
lehnen auch deutlich häufiger mögliche positive    Ausländer nehmen Deutschen
Auswirkungen ab. Mangelnde Erfahrung im            die Arbeitsplätze weg
Zusammenleben mit Ausländern ist eine der
Ursachen für die Vorbehalte. So gaben 2012 nur
17 Prozent der Menschen im Osten an, Kontakte zu   Ausländer verknappen
Ausländern in der Familie zu haben (Westen: 36     unsere Wohnungen
Prozent), 18 Prozent in der Nachbarschaft (Wes-
ten: 51 Prozent) und 33 Prozent am Arbeitsplatz
(Westen: 62 Prozent).14                            Ausländer unterstützen
                                                   unser Rentensystem
Anteile der maximalen Zustimmung (Skalenwerte
6 und 7 von 7) oder Ablehnung (Skalenwerte 1 und
                                                   Ausländer bereichern
2 von 7) zu bestimmten Aussagen, in Prozent
                                                   unsere Kultur
(Datengrundlage: Allbus15)

   1996 - West
                                                   Ausländer schaffen
   2006 - West                                     Arbeitsplätze
   1996 - Ost
   2006 - Ost                                                               -60   -40            -20           0         20            40          60
                                                                                                          in Prozent

                                                                                                                                      Berlin-Institut 15
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