UNGLEICHES NORDRHEIN-WESTFALEN - GLEICHWERTIGE LEBENSVERHÄLTNISSE FÜR MEHR CHANCENGERECHTIGKEIT UND STARKE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN - Bibliothek der ...

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UNGLEICHES NORDRHEIN-WESTFALEN - GLEICHWERTIGE LEBENSVERHÄLTNISSE FÜR MEHR CHANCENGERECHTIGKEIT UND STARKE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN - Bibliothek der ...
Stefan Fina, Martina Fromhold-Eisebith, Kati Volgmann

UNGLEICHES
NORDRHEIN-WESTFALEN
GLEICHWERTIGE LEBENSVERHÄLTNISSE
FÜR MEHR CHANCENGERECHTIGKEIT
UND STARKE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN

                                                        Landesbüro NRW
Die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) wurde 1925 gegründet und ist die traditionsreichste
politische Stiftung Deutschlands. Dem Vermächtnis ihres Namensgebers ist sie bis heute
verpflichtet und setzt sich für die Grundwerte der Sozialen Demokratie ein: Freiheit, Ge-
rechtigkeit und Solidarität. Ideell ist sie der Sozialdemokratie und den freien Gewerk-
schaften verbunden. Die FES fördert die Soziale Demokratie vor allem durch:

–   politische Bildungsarbeit zur Stärkung der Zivilgesellschaft;
–   Politikberatung;
–   internationale Zusammenarbeit mit Auslandsbüros in über 100 Ländern;
–   Begabtenförderung;
–   das kollektive Gedächtnis der Sozialen Demokratie mit u. a. Archiv und Bibliothek.

Über die Autor_innen

Stefan Fina ist im Rahmen einer gemeinsamen Berufung der RWTH Aachen University
und des ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung gGmbH Dortmund
Professor für Analyse und Monitoring urbaner Räume und leitet den Bereich Geoinfor-
mation und Monitoring am ILS.

Martina Fromhold-Eisebith leitet als Professorin den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie
am Geographischen Institut der RWTH Aachen University.

Kati Volgmann forscht am ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung
gGmbH zu Trends der Raumentwicklung und Fragen der Vermessung von Metropol-
funktionen in polyzentralen Räumen unter Verwendung (geo-)statistischer Methoden
und Datenpotenzialen aus der Regionalstatistik.

Unter Mitarbeit von: Katinka Gehrig-Fitting (Textbearbeitung), Christian Gerten (Web-
GIS), Jutta Rönsch (Karten und Abbildungen), Benjamin Scholz (Datenrecherchen und
Analysen).

Für diese Publikation sind in der FES verantwortlich

Petra Wilke, Leiterin des Landesbüros Nordrhein-Westfalen der Friedrich Ebert-Stiftung.
Damian Jordan, Referent im Landesbüro Nordrhein-Westfalen der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Stefan Fina, Martina Fromhold-Eisebith, Kati Volgmann

UNGLEICHES
NORDRHEIN-WESTFALEN
GLEICHWERTIGE LEBENSVERHÄLTNISSE
FÜR MEHR CHANCENGERECHTIGKEIT
UND STARKE ZUKUNFTSPERSPEKTIVEN

        Vorwort                                                                            3

1       Ungleiche Voraussetzungen für                                                       4
        die Herausforderungen der Zukunft
1.1     Die Messung regionaler Ungleichgewichte                                            5
1.2     Raumtypen der Chancengerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit                           6
1.3     Handlungsbedarfe zu den Raumtypen der Clusteranalyse                              13

2       Dimensionen der Ungleichheit                                                       15
2.1     Pandemie und Ungleichheit                                                         15
2.2     Arbeitsmarkt und Beschäftigung                                                    17
2.3     Lebens- und Bildungschancen                                                       26
2.4     Wohlstand und Gesundheit                                                          40
2.5     Staatliches Handeln und Partizipation                                             51
2.6     Wanderungen                                                                       62

3       Handlungsempfehlungen                                                              68
3.1     Einführung                                                                        68
3.2     Relevanz klassischer Ansätze einer ausgleichsorientierten Regionalförderung       68
3.3     Strukturwandel mit Zielen der Nachhaltigkeit verknüpfen                           69
3.4     Leitkonzepte als Orientierungsmarken nutzen                                       70
3.5     Krisenresilienz und Robustheit von Regionen stärken                               71
3.6     Mehr Fokus auf Gemeinwohlorientierung und Gerechtigkeit in der Raumentwicklung    71
3.7     Empfehlungen zu Raumtypen der Chancengerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit          72

4       Zusammenfassung und Ausblick                                                       76

        Anhang A: Dokumentation der Indikatoren                                           78
        Anhang B: Wertebereiche der Indikatoren                                           80
        Anhang C: Methodische Erläuterungen zur Clusteranalyse                            82
        Anhang D: Lesehilfe                                                               84
        Abbildungs- und Tabellenverzeichnis                                               86
        Literaturverzeichnis                                                              88
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Landesbüro Nordrhein-Westfalen
UNGLEICHES NORDRHEIN-WESTFALEN                                                                                              3

Vorwort

Gleichwertige Lebensverhältnisse sind ein wichtiges Fun-      3. Klein- und Mittelstädte mit funktionalen Herausforderungen
dament für eine funktionierende Demokratie und gesell-        4. Solide Mitte im geringer verdichteten Raum
schaftlichen Zusammenhalt. Unabhängig vom Wohnort             5. Gemeinden mit Risiken der Peripherisierung
sollen alle Bürger_innen in Deutschland die gleichen Ent-
wicklungschancen und Teilhabemöglichkeiten bekommen.          Dabei ist die Wahrnehmung von Lebensqualität natürlich
Der hohe Stellenwert dieses politischen Ziels wird auch       individuell. Je nach Prioritäten und Empfinden spielen bei-
durch seine Verankerung in Art. 72 des Grundgesetzes          spielsweise kurze oder lange Wege, die Verfügbarkeit und
deutlich.                                                     Qualität kultureller Angebote, die Leistungsfähigkeit des
                                                              ÖPNV, die Nähe zur Natur oder die Höhe der Lebenshal-
Obwohl die Frage nach gleichwertigen Lebensverhältnissen      tungskosten unterschiedlich große Rollen in der Beurteilung
keine neue ist, hat sie in den vergangenen Jahren an Aktu-    der eigenen Lebensqualität. Wichtig ist allerdings, dass Le-
alität und Brisanz gewonnen. Vom wirtschaftlichen Auf-        bens- und Teilhabechancen auch über regionale Unterschie-
schwung der 2010er Jahre haben nicht alle Menschen glei-      de hinweg gleichwertig sein sollten. Wenn Wirtschafts-
chermaßen profitiert, räumliche Unterschiede im Hinblick      wachstum oder Krisen unterschiedlich starke Auswirkungen
auf Wohlstand, Beschäftigung, Armut oder Gesundheit           auf bestimmte Regionen haben, dann beeinflusst dies wie-
werden größer. Diese Unterschiede wurden insbesondere         derum kommunale Haushalte, die wiederum weniger Mit-
in der Corona-Pandemie deutlich sichtbar und wurden von       tel für die Bereitstellung von Infrastruktur, Mobilität, Bildung
dieser zudem noch verschärft.                                 oder Daseinsvorsorge zur Verfügung haben.

Politisch stabil können eine Demokratie und ihre Gesell-      Die Studie gibt eine detaillierte Übersicht über die sozioöko-
schaft aber nur dann bleiben, wenn sie den Anspruch,          nomische Situation der Kommunen in Nordrhein-Westfalen.
gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, nie aus den     Die Autor_innen ordnen diese ein und präsentieren kon-
Augen verlieren. Ein Blick ins Ausland zeigt, dass das Aus-   krete Handlungsempfehlungen für die politische Debatte.
einanderdriften von Lebensrealitäten, gesellschaftlichen      Unser Dank gilt Prof. Dr. Stefan Fina und Prof. Dr. Martina
Gruppen oder auch städtischen und ländlichen Regionen         Fromhold-Eisebith, Dr. Kati Volgmann sowie dem Team des
zu zunehmenden Polarisierungen und zur Schwächung de-         Instituts für Landes- und Stadtentwicklungsforschung Dort-
mokratischer Institutionen führen kann.                       mund für die gute Zusammenarbeit. Wir würden uns freu-
                                                              en, wenn diese Studie dazu beiträgt, die Diskussion zur
Die vorliegende Studie beschreibt sozioökonomische und        Frage nach gleichwertigen Lebensverhältnissen in Nord-
regionale Disparitäten in Nordrhein-Westfalen, sie benennt    rhein-Westfalen argumentativ zu bereichern und voran-
daraus resultierende Herausforderungen und zeigt mögliche     zutreiben. Wir wünschen allen Leser_innen eine interessante
Handlungsansätze auf. Auf der Grundlage von repräsenta-       und aufschlussreiche Lektüre.
tiven Indikatoren zu den Themen Arbeitsmarkt und Be-
schäftigung, Lebens- und Bildungschancen, Wohlstand und
Gesundheit, staatliches Handeln und Partizipation sowie       PETRA WILKE
Wanderungsverhalten der Bevölkerung zeichnet sie ein          Leiterin des Landesbüros Nordrhein-Westfalen
hochgradig differenziertes Bild vom bevölkerungsreichsten     der Friedrich-Ebert-Stiftung
Bundesland in Deutschland. Das überrascht nicht, betrach-
tet man die regionale Heterogenität, durch die NRW sich       DAMIAN JORDAN
auszeichnet. Dementsprechend würde eine Einordnung in         Referent im Landesbüro Nordrhein-Westfalen
Städte und Kreise entlang eines Stadt-Land-Gefälles zu kurz   der Friedrich-Ebert-Stiftung
greifen. Die Autor_innen arbeiten fünf Cluster heraus, die
besonders an den Kriterien Chancengerechtigkeit und Zu-
kunftsfähigkeit ausgerichtet sind:

1. Dynamische Großstadtregionen mit Exklusionsgefahr
2. (Groß-)städte im andauernden Strukturwandel
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Landesbüro Nordrhein-Westfalen                                                                                     4

1

UNGLEICHE VORAUSSETZUNGEN FÜR
DIE HERAUSFORDERUNGEN DER ZUKUNFT

Nordrhein-Westfalen sieht sich nach aufreibenden Jahrzehnten        ragend, in anderen Landesteilen dagegen problematisch.
des Strukturwandels mit neuen Herausforderungen konfron-            Zahlreiche Kommunen operieren bereits seit Jahrzehnten un-
tiert. Das bevölkerungsreichste deutsche Bundesland ringt seit      ter finanziellen Sparzwängen. Verschuldung und Investitions-
vielen Jahren um Ideen und Konzepte, die den Bedeutungs-            stau werden bei gleichzeitig steigenden Ausgaben für Sozial-
verlust der einstigen Industriestärke kompensieren helfen und       kosten zu einem Imageproblem, das lange anhaftet. Es folgt
die von der Gesellschaft mitgetragen werden. Vielfältige struk-     die Abwanderung junger Menschen auf der Suche nach Chan-
turpolitische Ideen und Konzepte wurden in den vergangenen          cen anderswo – zurück bleibt eine alternde Bevölkerung.
Jahrzehnten bereits erprobt, um die wirtschaftlichen Prämissen
einer modernen und wettbewerbsfähigen Dienstleistungs-              In vielen Großstädten stabilisiert die kontinuierliche Zuwan-
und Technologiegesellschaft des 21. Jahrhunderts aufzugrei-         derung aus dem Ausland den demografischen Wandel. Nord-
fen. Und trotz persistenter Problemlagen gelingt dies vielen        rhein-westfälische Kommunen verweisen zu Recht auf die
Unternehmen und ihren Beschäftigten zunehmend gut. So               beachtlichen Integrationsleistungen einer über mehrere Ge-
haben nicht nur Städte und Kommunen entlang der Rhein-              nerationen gewachsenen multikulturellen Stadtgesellschaft.
schiene eine nationale und internationale wirtschaftliche Strahl-   Bei allen damit einhergehenden Problemlagen ist anzuerken-
kraft entwickelt. Besonders eindrucksvoll ist auch die Entwick-     nen, wie vielen Menschen mit Migrationshintergrund über die
lung international renommierter Hochschulstandorte in               vergangenen Jahrzehnte berufliche Perspektiven und eine
Aachen, Bielefeld, Bonn, Münster, Essen-Duisburg, Düsseldorf,       Heimat in Nordrhein-Westfalen geboten werden konnte. Über-
Dortmund, Köln und Wuppertal. Hier gelingt es immer besser,         wunden erscheint auch eine bundesweit bekannt gewordene
lokal vorhandenes Wissen und Know-how in wettbewerbs-               Form von Ruhrpottromantik, in der man noch im ausgehenden
fähiges Unternehmertum zu überführen.                               20. Jahrhundert stilprägend mit der Perspektivlosigkeit koket-
                                                                    tierte.1 Heute ist ein großer Anteil junger Menschen zu Recht
Attraktive großstädtische Arbeitsmärkte und die sogenannte          stolz auf Bildungserfolge und findet vor Ort passende Beschäf-
Schwarmstadtdynamik führen allerdings durch anhaltenden             tigungsangebote, viele Unternehmen sind global vernetzt und
Wachstumsdruck zu neuen Problemlagen, die deutliche Über-           wettbewerbsfähig.
lastungserscheinungen von Infrastruktur und Wohnungsmärk-
ten zur Folge haben. Wie in anderen Teilen Deutschlands fin-        Unklar ist bislang allerdings, inwiefern die Disruptionen der
den somit auch in Nordrhein-Westfalen Trends und Treiber            Corona-Pandemie Rückschläge auslösen könnten. Im Coro-
einer sozialräumlichen Polarisierung neuen Nährboden, die           na-Jahr 2020 erfuhr der Anspruch an gleichwertige Lebens-
dem sozialpolitischen Ideal gleichwertiger Lebensverhältnisse       verhältnisse neue Bedeutungsdimensionen. Die Wertschät-
entgegenwirken und den gesellschaftlichen Zusammenhalt              zung sogenannter systemrelevanter Jobs und offene Fragen
gefährden. Neue Risiken ergeben sich aus bundespolitischen          ihrer fairen Vergütung, die Bedeutung von Nachbarschaftshil-
Maßnahmen, z. B. mit dem Kohleausstieg im Rheinischen Re-           fe und Ausstattungsfragen einer nun stärker beanspruchten
vier. Einem möglichen Aufbäumen alter Beharrungskräfte soll         Nahversorgung für Menschen während des Lockdowns und
hier mit enorm hohen Investitionen für die Zukunft entgegen-        im Homeoffice, das schwache sozialpolitische Sicherheitsnetz
gewirkt und Konfliktpotenziale sollen vorauseilend befriedet        für außertarifliche und selbstständige Beschäftigungsverhält-
werden. Um Ideen und Fördermittel wird gerungen, neue Fra-          nisse, nicht zuletzt die hohen Belastungen für Familien und
gen räumlicher Gerechtigkeit schließen sich an (vgl. auch Mä-       Bildungsrückstände für Kinder, Schüler_innen und Studieren-
ding 2021).                                                         de – im Krisenmodus zeigt sich, wie stark und unmittelbar
                                                                    defizitäre Rahmenbedingungen auf den Lebensalltag von
Für Strukturpolitik stellen sich diesbezüglich Fragen von Prio-     Menschen wirken. Etwas Gutes lässt sich den teilweise auf
ritäten und Schwerpunktsetzungen. Manche Entwicklungen              dramatische Art und Weise sichtbar gewordenen Missständen
einer sozial selektiv wirkenden Transformation sind dabei be-       aber vielleicht doch abgewinnen: Beschwichtigungspolitiken
sonders schmerzhaft. Städte im Ruhrgebiet weisen die bun-           aus der Vergangenheit weichen einem Wettbewerb um Poli-
desweit höchsten Raten an Kinderarmut auf, Bildungs- und
Arbeitsmarktchancen sind stark orts- und milieuabhängig. Die
Ausstattung mit Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvor-          1   Vgl. z. B. die Bücher des Schriftstellers und Kabarettisten Frank Goosen
sorge ist in manchen nordrhein-westfälischen Städten hervor-            zum Ruhrgebiet der 1980er Jahre.
UNGLEICHES NORDRHEIN-WESTFALEN                                                                                                               5

tikentwürfe, die im Einklang mit Zielsetzungen nachhaltiger            Diese Indikatorik erlaubt in einer zusammenfassenden
Entwicklung Fragen sozialer Gerechtigkeit und Zukunftspers-            Raumtypologie („Clusterkarte zur Chancengerechtigkeit
pektiven in den Blick nehmen.                                          und Zukunftsfähigkeit“) einen einfach zu erfassenden
                                                                       Überblick über sozioökonomische Disparitäten und wird
Auf dieser Grundlage erscheint es dringlich, die Chancen und           durch Einzelkarten von Indikatoren mit Textinterpretation
Perspektiven für die sozioökonomische Zukunft Nordrhein-               ergänzt.
Westfalens einer eingehenderen Analyse zu unterziehen. Die
vorliegende Studie beschreibt die Herausforderungen und           2. Darauf aufbauend werden Handlungsbedarfe diskutiert
mögliche Handlungsansätze für das Bundesland Nordrhein-              und Empfehlungen abgeleitet. Die politischen Hand-
Westfalen.                                                           lungsempfehlungen befassen sich mit den Chancen und
                                                                     Herausforderungen aktueller und künftig zu erwartender
                                                                     Transformationsimpulse. Sie sind eingebettet in ein um-
1.1 DIE MESSUNG REGIONALER                                           fassendes, konzeptbasiertes Verständnis des wirtschafts-
UNGLEICHGEWICHTE                                                     und sozialgeografischen Handlungsrahmens Nordrhein-
                                                                     Westfalens, adressieren aber auch die erstellte Raum­
Nordrhein-Westfalen lässt sich in die drei Landesteile Nord-         typologie des Berichts mit ihren spezifischen Herausfor-
rhein (nördliches Rheinland, meist aber nur als Rheinland            derungen.
­bezeichnet), Westfalen und Lippe gliedern. Das viertgrößte
 Bundesland Deutschlands ist mit knapp 18 Millionen Einwoh-
 ner_innen der am dichtesten besiedelte Flächenstaat (526           Infobox 1
 Einwohner_innen/km2) (Landesbetrieb IT.NRW 2021). Die              Untersuchungsdesign zu sozioökonomischen Disparitäten
                                                                    in Nordrhein-Westfalen
 hohe Einwohnerdichte resultiert aus einer Verstädterungsdy-
 namik, die ihren Ursprung in der Industrialisierung und dem       Ausgangspunkt für das Untersuchungsdesign ist die landespolitische
 Arbeitskräftebedarf entlang der Rohstoffabbauflächen für          Zielsetzung, nach der „[l]ändliche Regionen und Ballungsräume […]
                                                                   gleichwertige Entwicklungschancen [erhalten]“ (LEP NRW 2017/2020:
 Kohle und Erze fand und sich bis heute zu einem eng verwo-        9). Weiter heißt es dazu im Landesentwicklungsplan: „Leitvorstellung
 benen Städtenetz weiterentwickelt hat. So sind von den 79         bei der Erfüllung dieser Aufgabe ist eine nachhaltige Raumentwick-
 Großstädten Deutschlands allein 29 in Nordrhein-Westfalen         lung, die die sozialen und wirtschaftlichen Ansprüche an den Raum
                                                                   mit seinen ökologischen Funktionen in Einklang bringt und zu einer
 zu finden (BBSR 2017). Gleichzeitig finden sich in Nord-          dauerhaften, großräumig ausgewogenen Ordnung mit gleichwertigen
 rhein-Westfalen weitflächig weniger verdichtete Landesteile,      Lebensverhältnissen in den Teilräumen des Landes beiträgt“ (LEP NRW
 in denen moderne Landwirtschaft betrieben wird und eine           2017/2020: 12). Das politische Ziel gilt parteiübergreifend. So bekennt
                                                                   sich die aktuelle Landesregierung in ihrem Koalitionsvertrag zur För-
 klein- und mittelständische Unternehmenskultur zu Hause           derung gleichwertiger Lebensverhältnisse, und auch auf bundespoliti-
 ist. Aus diesem Verständnis der Geografie lässt sich feststel-    scher Ebene erfährt das grundgesetzlich verankerte Postulat der Gleich-
 len, dass die Rahmenbedingungen für Zukunftschancen und           wertigkeit der Lebensverhältnisse neuen Rückenwind. Durch den im
                                                                   September 2019 von drei Bundesministerien vorgestellten Kommissi-
 Perspektiven in Nordrhein-Westfalen sehr kleinräumig variie-      onsbericht „Unser Plan für Deutschland“ ist das Thema gleichwertiger
 ren. Hoch verschuldete Großstädte mit enormen sozialen            Lebensverhältnisse wieder in den Fokus gerückt (BMI 2019).
 Problemlagen im Ruhrgebiet liegen unter Umständen nur
                                                                   Die Studie greift diese Zielsetzung mit Methoden der Raumbeob-
 wenige Kilometer von wohlhabenden Umlandkommunen                  achtung auf. Für eine zusammenfassende Darstellung von Kenngrö-
 der Rheinmetropolen entfernt. Klein- und Mittelstädte weisen      ßen der Ungleichheit wurden die Themenbereiche Beschäftigung
 als Versorgungszentren für den umgebenden, weniger ver-           und Arbeitsmarkt, Bildung und Lebenschancen, Wohlstand und Ge-
                                                                   sundheit, staatliches Handeln und Partizipation und Wanderungs-
 dichteten Raum andere Charakteristika auf als dörflich ge-        geschehen mit ausgewählten Indikatoren zu einer Disparitätenkarte
 prägte Landgemeinden.                                             (siehe Abbildung 2) verarbeitet. Gegenüber früheren deutschland-
                                                                   weiten Studien (siehe Infobox 2) konnte mit neuen Datengrundlagen
                                                                   aus einem umfangreicheren Satz an Indikatoren ausgewählt werden,
Das politische Postulat der Gleichwertigkeit von Lebensver-        die auf Ebene von kreisfreien Städten und Gemeinden analysiert
hältnissen kann schon deshalb nicht gleichartige oder identi-      und bewertet wurden (n = 396). Aufgrund der hohen Qualität der
sche Lebensverhältnisse meinen. Raumfunktionen ergänzen            Dateninfrastrukturen ist dieser Anspruch für das Bundesland Nord-
                                                                   rhein-Westfalen ohne einschneidende Abstriche an der Auswahl von
sich, Lebensqualität wird in unterschiedlichen sozialräumlichen    Kennziffern leistbar und verbessert die in anderen Studien meist ver-
Settings unterschiedlich erlebt. Auf dieser Grundlage ist die      wendete Betrachtungsebene der kreisfreien Städte und Landkreise
Wahl einer möglichst umfassenden, aber kleinräumigen Be-           (n = 54) um ein Vielfaches.
trachtung sozioökonomischer Disparitäten eine wesentliche          Die Auswahl orientiert sich an dem Leitmotiv der Chancengerech-
methodische Innovation dieses Berichts.                            tigkeit und Zukunftsfähigkeit. Der Begriff der Chancengerechtigkeit
                                                                   beschreibt im Kontext dieser Studie die raumstrukturellen Rahmen-
                                                                   bedingungen im Zugang zu sozialen und ökonomischen Systemen.
Forschungsleitend für die Untersuchung sind zwei Schwer-           Konkrete Beispiele sind Bildungsmöglichkeiten oder Leistungen der
punktsetzungen:                                                    Daseinsvorsorge, die sich an den Bedarfen der Bevölkerung in den
1. Die Erfassung und Beschreibung sozioökonomischer Dis­           Kommunen ausrichten. Zukunftsfähigkeit wiederum adressiert Vo-
                                                                   raussetzungen einer Region für nachhaltige Wertschöpfungsket-
   pa­ritäten mit einer Indikatorik, die in der Zusammenschau      ten der Zukunft. Beispielhaft hierfür steht eine Kommunalpolitik,
   maßgeblicher Themenbereiche den Ist-Zustand („Input“,           die mit lokalen Stakeholder_innen endogene Entwicklungspoten-
   z. B. Investitionen in die Infrastruktur), ihre unmittelbare    ziale in die Zukunft weiterdenkt und damit zusammenhängende
                                                                   Herausforderungen wie die (Weiter-)Bildung von Beschäftigten
   („Output“, z. B. Verbesserung von Erreichbarkeiten) und         oder die Ausrichtung an Nachhaltigkeitszielen in den Blick nimmt.
   perspektivische Wirkung („Outcome“, z. B. positive Ent-
   wicklung der Beschäftigungsquote durch verbesserte Er-          >
   reichbarkeiten von Arbeitsmärkten) in den Blick nimmt.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Landesbüro Nordrhein-Westfalen                                                                                                                                                                                                                6

 >                                                                         Abbildung 1
                                                                           Disparitätenkarte Deutschland
 Hierfür erlaubt neben der thematischen Vielfalt auch die räumliche
 Auflösung der Bewertung präzise Einblicke und Deutungen der Mus-                                                                                          Flensburg

 ter an Ungleichheit für das Bundesland Nordrhein-Westfalen. Auf die-
                                                                                                                                                                              Kiel
 ser Grundlage werden Defizite und Handlungsbedarfe herausgear-                                                                                                                                                         Rostock

 beitet und mögliche Politikentwürfe für die Herstellung gleichwertiger                                                                                                                Lübeck

 Lebensverhältnisse im 21. Jahrhundert diskutiert. Deutlich gemacht                                                                     Bremerhaven                 Hamburg
                                                                                                                                                                                                        Schwerin

 werden muss, dass die Messmethodik keine unumstößlichen Ergeb-
 nisse liefern kann. Sie ermöglicht vielmehr einen Erkenntnisgewinn,                                                        Oldenburg
                                                                                                                                            Bremen

 dessen Rahmenbedingungen einer veränderlichen Dynamik unter-
 liegen. Diese können nur im Kontext heute vorhandenen Wissens                                                                                                                                                                                  Berlin
 beschrieben und für die Herausforderungen der Zukunft interpre-
                                                                                                                                                                                                                                                             Frankfurt
                                                                                                                                                                                           Wolfsburg                                  Potsdam                 (Oder)
                                                                                                                                                                 Hannover
                                                                                                                            Osnabrück

 tiert werden. Umso wichtiger erscheint es, die Datengrundlagen und                                                                     Bielefeld
                                                                                                                                                                 Hildesheim
                                                                                                                                                                                     Braunschweig               Magdeburg

                                                                                                                  Münster                                                     Salzgitter

 die Methodik transparent zu beschreiben und einem gesellschaft-
 lichen Diskurs zuzuführen, der Struktur- und Sozialpolitik informiert.               Duisburg
                                                                                                   Bottrop
                                                                                                                         Hamm            Paderborn

                                                                                                                                                                     Göttingen                                   Halle (Saale)
                                                                                                                  Dortmund
                                                                                                    Essen                                                 Kassel
                                                                                                                                                                                                                                  Leipzig
                                                                                                                  Hagen
                                                                                      Krefeld
                                                                                                             Wuppertal

 Vor diesem Hintergrund wurden die zugrundeliegenden Indikatoren und                      Düsseldorf
                                                                                                                                                                                                 Erfurt
                                                                                                                                                                                                                                                    Dresden
                                                                                                                                                                                                                Jena
 Karten für eine Webanwendung unter https://fes.de/ungleiches-nrw.de             Aachen             Köln                  Siegen
                                                                                                                          Siegen                                                                                                        Chemnitz

 aufbereitet, in der die eingeflossenen Daten interaktiv für Gemeinden,                             Bonn

 Städte und Landkreise überprüft werden können.                                                                Koblenz

                                                                                                                                   Frankfurt
                                                                                                                    Wiesbaden         a.M.

                                                                                                                             Mainz      Darmstadt
                                                                                           Trier                                                                       Würzburg

                                                                                                                                                                                                  Erlangen
                                                                                                                                     Mannheim
                                                                                                                                                                                                       Fürth

Das Umsetzungskonzept (siehe Infobox 1 und Anhang C)                                         Saarbrücken
                                                                                                                            Ludwigs-
                                                                                                                              hafen Heidel-
                                                                                                                                     berg
                                                                                                                                                    Heilbronn
                                                                                                                                                                                                 Nürnberg

orientiert sich methodisch an der bundesweiten Studie „Un-                                                                      Karlsruhe                                                                                Regensburg

                                                                                                                                     Pforzheim      Stuttgart                                             Ingolstadt

gleiches Deutschland 2019“ (Fina et al. 2019b, siehe auch                                                                                           Reutlingen
                                                                                                                                                                                                                                                    Passau

                                                                                                                                                                       Ulm

Infobox 2) sowie der parallel im März 2021 erschienenen
                                                                                                                                                                                             Augsburg

                                                                                                                                                                                                               München
                                                                                                                 Freiburg

Studie „Ungleiches Hessen“ des ILS – Institut für Landes- und
                                                                                                                                                    Konstanz

Stadtentwicklungsforschung gGmbH (Fina/Heider 2021). Für
diese Berichte wurden im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung
                                                                                          dynamische Groß- und Mittelstädte mit Exklusionsgefahr
(FES) Berlin und des Landesbüros Hessen zahlreiche Daten-                                 starkes (Um-)Land
grundlagen und Indikatoren für die Bewertung sozioökono-                                  Deutschlands solide Mitte
mischer Disparitäten aufgebaut und mit kartenbasierten in-                                ländlich geprägte Räume in der dauerhaften Strukturkrise
teraktiven Webanwendungen visualisiert. Die vorliegende                                   städtisch geprägte Regionen im andauernden Strukturwandel
                                                                                          Stadtstaaten Berlin, Hamburg, Bremen (ohne Daten für kommunale Finanzen)
Studie nutzt dieses Vorwissen und ergänzt den metho­
dischen Teil um spezifische Problemkomplexe in Nord-                       Quelle: eigene Darstellung (aus: Fina et al. 2019: 6).
                                                                           Datengrundlage: GeoBasis-DE/BKG 2017.
rhein-Westfalen.

  Infobox 2                                                               1.2 RAUMTYPEN DER CHANCENGERECH-
  Einordnung im deutschlandweiten Vergleich                               TIGKEIT UND ZUKUNFTSFÄHIGKEIT
 Sieben Großstädte (Bonn, Köln, Leverkusen, Düsseldorf, Krefeld, Müns-
 ter und Bielefeld) und die Städteregion Aachen gehören zum Raumtyp       Räumliche Disparitäten haben mehrere Dimensionen, die sich
 der dynamischen Großstädte mit Exklusionsgefahr. Diese Städte bie-       mit einzelnen Kennziffern aus unterschiedlichen Themenbe-
 ten einem großen Teil der Bevölkerung sehr gute Einkommens- und
 Beschäftigungsmöglichkeiten sowie eine hohe Lebensqualität, die          reichen veranschaulichen lassen. Die nachfolgend vorgestellten
 man sich allerdings leisten können muss. Hohe Armuts- und Arbeits-       Kennziffern (Indikatoren) stehen repräsentativ für die genann-
 losigkeitsquoten in Kombination mit hohen Lebenshaltungskosten be-       ten Themenbereiche. Sie wurden ausgewählt aus einem Port-
 hindern benachteiligte Haushalte in ihrer gesellschaftlichen Teilhabe.
 Überdurchschnittlich ausgeprägt sind diese eher negativ konnotierten     folio an Indikatorkandidaten. Mögliche selbstverstärkende
 Kenngrößen in den Ruhrgebietsstädten, in Mönchengladbach, Wupper-        Effekte durch wechselseitige Abhängigkeiten, sogenannte
 tal und Remscheid, die sich folglich im Raumtyp der städtisch gepräg-    Autokorrelationen, wurden mit statistischen Methoden aus-
 ten Regionen im andauernden Strukturwandel wiederfinden (zwölf
 Städte). Lediglich der Rheinisch-Bergische Kreis ist dem starken (Um-)   geschlossen. Als Resultat einer Clusteranalyse (Methodik siehe
 Land zugeordnet, in dem Einwohner_innen seit langer Zeit von der         Anhang C) werden die 396 nordrhein-westfälischen Städte
 räumlichen Nähe zu lukrativen Arbeitsmärkten profitieren. Hier sind      und Gemeinden in fünf Raumtypen zur Chancengerechtigkeit
 Überlastungen der Infrastruktur ein negativer Folgeeffekt, zum Bei-
 spiel im Hinblick auf Stauzeiten im Pendelverkehr und den stetig ho-     und Zukunftsfähigkeit mit jeweils ähnlichen Werteausprägun-
 hen Zuzugsraten durch Binnenmigration. 31 Landkreise und die kreis-      gen eingeordnet, die im weiteren Verlauf dieses Abschnitts
 freie Stadt Bottrop entsprechen als solide Mitte dem bundesdeutschen     detailliert vergleichend gegenübergestellt werden. Definitionen
 Durchschnitt. In diesem Raumtyp sind durchschnittlich viele Menschen
 hochqualifiziert, Armutsquoten sind ebenso durchschnittlich wie Wohl-    für die einzelnen Indikatoren finden sich in Anhang A.
 standskennziffern (Einkommen, Gehälter) oder Belastungen wie Miet-
 preise. Durchschnittlich viele Bürger_innen in diesem Raumtyp gehen      Arbeitsmarkt und Beschäftigung
 wählen und verfügen über eine durchschnittlich gute infrastrukturelle
 Ausstattung (Breitbandanschlüsse, Erreichbarkeit von Hausärzt_innen).    (hochqualifizierte Beschäftigte, Pendelnde mit
 Ländlich geprägte Räume in der dauerhaften Strukturkrise dagegen         einem Arbeitsweg von 50 km und länger)
 kommen in Nordrhein-Westfalen nicht vor.
                                                                          Hochqualifizierte Beschäftigte nehmen im nationalen und glo-
                                                                          balen Wettbewerb eine Schlüsselposition ein. Eine innovative
                                                                          Wirtschaft mit hochwertigen Aktivitäten stärkt die Zukunfts­
                                                                          optionen Nordrhein-Westfalens. Bildung spielt dabei eine
UNGLEICHES NORDRHEIN-WESTFALEN                                                                                                  7

­ esentliche Zugangsvoraussetzung für den Arbeitsmarkt,
w                                                                 auf die regionalen Einkommensunterschiede vor allem zwi-
insbesondere hinsichtlich lukrativer und zukunftsorientierter     schen den Ballungsräumen und den weniger verdichteten
Beschäftigungsverhältnisse. Der Anteil der Beschäftigten mit      Regionen. Hier fallen die regionalen Unterschiede am deut-
Hochschulabschluss an allen sozialversicherungspflichtig Be-      lichsten aus.
schäftigten am Arbeitsort zeigt, wie hochwertig und inno­
vationsfähig die Regionalwirtschaft ist und inwieweit die zu-     Hohe Mieten sind eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung
nehmende Nachfrage nach wissensintensiver Arbeit auf              insbesondere für Familien und einkommensschwächere
entsprechend hochqualifizierte Fachkräfte trifft. Je höher der    Haushalte. Die durchschnittlichen Angebotsmieten (Kaltmie-
Anteil, desto besser sind die Zukunftsperspektiven für Beschäf-   ten) geben Aufschluss über die Höhe dieser Mehrbelastung.
tigte und Unternehmen.                                            Steigende Mietpreise können zudem zur Verdrängung ein-
                                                                  kommensschwacher Haushalte aus betroffenen Regionen
Berufliche Mobilität und berufliche Flexibilität haben in den     führen und sind somit ein treibender Faktor räumlicher Un-
vergangenen Jahren zu einem erhöhten Pendelaufkommen              gleichheit.
geführt, nicht zuletzt auch aufgrund der Zunahme befristeter
Arbeitsverhältnisse. Lange Wege zwischen Wohn- und Ar-            Staatliches Handeln und Partizipation
beitsort können zu einer erheblichen finanziellen und psychi-     (Verschuldung der Gemeinden je Einwohner_in,
schen Mehrbelastung für die betroffenen Personen führen.          Breitbandversorgung mit 1 Gbit/s)
Pendeln wird meist als Kompromiss angesehen, damit Haus-
halte ihren Wohnort nicht verlagern müssen. Ein Großteil der      Die finanzielle Situation vieler Kommunen hat sich in den
Pendelnden, die einen längeren Arbeitsweg mit mehr als            vergangenen 20 Jahren stark verschlechtert. Strukturwandel,
50 Kilometern in Kauf nehmen, sind hochqualifizierte Beschäf-     Finanzkrise, Migration, demografischer Wandel, aber nicht
tigte. Das ist ein Zeichen für ein räumliches Ungleichgewicht     zuletzt auch die Corona-Krise betreffen die Gemeinden in
zwischen dem Angebot an Arbeitsplätzen und entsprechend           Nordrhein-Westfalen in einem ungleichen Ausmaß. Sie stel-
qualifizierten Arbeitskräften, was die Chancengerechtigkeit       len die Gemeinden vor die Entscheidung, Steuern oder Ver-
und Zukunftsfähigkeit des dortigen Arbeitsmarkts gefährden        schuldung zu erhöhen, was wiederum Einfluss auf die zu-
könnte. Das wiederum deutet auf eine funktionale Abhängig-        künftige Handlungsfähigkeit hat. Die aktuelle Lage der
keit von den großen Arbeitsmarktzentren hin.                      kommunalen Haushalte wird mit dem Indikator der
                                                                  Pro-Kopf-Verschuldung gemessen, also die Verschuldung
Lebens- und Bildungschancen                                       einer Gemeinde, die auf einen einzelnen Einwohner/eine ein-
(Kinderarmut)                                                     zelne Einwohnerin entfällt.

Für Kinder und Jugendliche ist Armut eine schwerwiegende          Die Digitalisierung der Gesellschaft und Wirtschaft (vor allem
Belastung und Bürde für den weiteren Lebensweg zugleich.          Erfordernisse von Industrie 4.0) wird ohne Breitbandnetz auf
Sie ist oftmals ein Grund für geringere Zukunftschancen auf       Glasfaserbasis nicht vorankommen. Die Breitbandverfügbarkeit
dem Bildungs- und Berufsweg der Kinder. Als Kennziffer ge-        über leitungsgebundene Technologien [in Prozent der Haus-
hen die Leistungsempfänger_innen an den Personen unter            halte] ≥ 1 Gbit/s beschreibt die theoretische Verfügbarkeit. Sie
18 Jahren in die Analyse ein. Sie geben das aktuelle Ausmaß       gibt Auskunft darüber, wo die Voraussetzungen für digitale
von Kinderarmut in einer Untersuchungsregion und die Ab-          Geschäftsmodelle, z. B. für Smart Cities, autonomes Fahren
hängigkeit von staatlichen Leistungen der Grundsicherung          und Industrie 4.0, der Zukunft gegeben sind.
wieder.
                                                                  Wanderungen
Wohlstand und Gesundheit                                          (Wanderungssaldo der 18- bis unter 30-Jährigen)
(Beschäftigungsquote Frauen, Mediangehalt
am Wohnort, Mietpreise)                                           Bildungs- und Berufseinstiegswanderungen sind als demo-
                                                                  grafische Grundgröße ein Anzeiger regionaler Bildungs- und
Nie waren das Ausbildungsniveau und die Erwerbsquoten von         Arbeitsmarktpotenziale, die selbstverstärkende Effekte für die
Frauen in Deutschland höher als heute. Damit bildet die Be-       Zukunft erzeugen. Der Wanderungssaldo (Zuzüge minus Fort-
schäftigungsquote von Frauen eine wesentliche Größe für die       züge) der 18- bis unter 30-Jährigen eignet sich, um die At-
Chancengerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit in den Regionen        traktivität, aber auch mangelnde Anziehungskraft der Gemein-
Nordrhein-Westfalens. Gut ausgebildete und hochqualifizier-       den als Bildungs- und Arbeitsort sowie Wohnstandort
te Frauen erhöhen Innovation, Wachstum und Fortschritt des        abzubilden.
Arbeitsmarkts.
                                                                  Abbildung 2 zeigt die resultierenden Raumtypen des oben
Finanzieller Wohlstand lässt sich für viele Menschen auf das      beschriebenen Untersuchungsdesigns in einer Karte der
erzielte Arbeitseinkommen zurückführen. Der Median der mo-        Chancengerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit für Nord-
natlichen Bruttoarbeitsentgelte von sozialversicherungspflich-    rhein-Westfalen. Die Namen für die einzelnen Raumtypen
tig Vollzeitbeschäftigten (ohne Auszubildende) gibt Auskunft      in der Kartenlegende sind abgeleitet von den Ausprägungen
über das durchschnittliche Einkommen, das Beschäftigten am        der einzelnen Indikatoren in Tabelle 1. Die dort aufgeführten
Wohnort zur Verfügung steht. Eine Ungleichheit birgt die Ge-      Mittelwerte über alle Städte und Gemeinden eines Raumtyps
fahr eines wachsenden Ungerechtigkeitsempfindens bezüglich        zeigen für jeden Indikator über- und unterdurchschnittliche
des Verdienstes. Die Bruttoarbeitsgehälter geben Hinweise         Ausprägungen im Landesvergleich. Als Lesehilfe werden die
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Landesbüro Nordrhein-Westfalen                     8

Indikatorwerte in einer eigenen Spalte mit Symbolen2 und
Farben3 bewertet. Diese helfen, um zwischen Wert und Be-
deutung einer Indikatorausprägung unterscheiden zu können.
Zwei Beispiele verdeutlichen dies: Ein im NRW-Vergleich über-
durchschnittlicher Wert für den Anteil hochqualifizierter Be-
schäftigter auf dem Arbeitsmarkt führt zu einem Pfeil nach
schräg oben – der Wert ist positiv. Für die Region ist ein Ar-
beitsmarkt mit einem hohen Anteil dieser Beschäftigten weg-
weisend für die Zukunftsfähigkeit des Arbeitsmarktes – die
Bewertung ist deshalb ebenfalls positiv, der Indikatorwert grün
hinterlegt. Im Gegensatz dazu zeigt ein unterdurchschnittlicher
Wert für Kinderarmut, gemessen am nordrhein-westfälischen
Mittelwert, einen geringen Anteil an armutsgefährdeten Kin-
dern an. Der Wert ist gering, der Pfeil zeigt nach unten. Die
Bedeutung dagegen ist aber positiv, denn ein geringer Wert
ist erstrebenswert. Deswegen ist hier der Wert ebenfalls mit
einer grünen Farbe hinterlegt.

Die Farblogik der Disparitätenkarte orientiert sich an der Zen-
tralität bzw. dem Verstädterungsgrad des Raumtyps, von vor-
nehmlich großstädtisch über mittel- und kleinstädtische Städ-
te bis zu weniger verdichteten und peripher gelegenen
Kommunen. Mit der Farbwahl ist, im Gegensatz zur gesamt-
deutschen Disparitätenkarte in Abbildung 1, zunächst keine
übergreifende Gesamtbewertung verbunden. Denn gerade
zwischen den Kommunen Nordrhein-Westfalens sind Stand-
ortvorteile und -nachteile sehr differenziert zu betrachten.
Dieser Komplexität wird mit einer detaillierten Beschreibung
der Disparitätenkarte mit weiteren Informationen zur Charak-
terisierung der Raumtypen in Tabelle 2, Anhang B und den
nachfolgenden Interpretationstexten Rechnung getragen.

Die Angaben in Tabelle 2 zeigen die Minimal- und Maximal-
werte der Indikatoren für jeden Raumtyp mit Angabe der
betreffenden Gemeinde, die den angegebenen Wert aufweist.
Auf diese Weise wird nicht nur die Bandbreite innerhalb der
fünf Cluster deutlich. Es lassen sich so auch einzelne Gemein-
den identifizieren, die durch auffällige Indikatorausprägungen
die Ergebnisse beeinflussen. So zeigen z. B. Kommunen im
Raumtyp der (Groß-)Städte im andauernden Strukturwandel
eine sehr hohe Bandbreite an Verschuldungsquoten pro Kopf
von 1.249 Euro in Minden bis 11.101 Euro in Siegburg. Der in
der Clusterbeschreibung verwendete Mittelwert grenzt sich
in diesem Fall zwar arithmetisch von den Indikatorwerten an-
derer Raumtypen deutlich ab. Er unterliegt aber dennoch einer
beträchtlichen Varianz. Weitere Beispiele für Indikatoren mit
einer hohen Spannweite innerhalb der Cluster sind die Wan-
derungssalden (Raumtyp dynamische Großstadtregionen mit
Exklusionsgefahr und solide Mitte in geringer verdichteten
Räumen) oder die Mietpreise (Raumtyp dynamische Groß-
stadtregionen mit Exklusionsgefahr).

2   Stark überdurchschnittlich bzw. überdurchschnittlich: bzw. ;
    durchschnittlich: ; unterdurchschnittlich bzw. stark unterdurchschnitt-
    lich: bzw. .
3     Dunkelrot bzw. rot: sehr negativ bzw. negativ;
      grau: weder ­positiv noch negativ;
      grün bzw. dunkelgrün: positiv bzw. sehr positiv.
UNGLEICHES NORDRHEIN-WESTFALEN                                                                                                                                                                                                    9

 Abbildung 2
 Disparitätenkarte Nordrhein-Westfalen                                                                                                                                NOR DR H E I N-WE STFALE N
 Anteil an allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten
 in Prozent

                                                                                                                                NIEDERSACHSEN

                                                                                                                                                                                         Kreis
                                                                                                                                                                                    Minden-Lübbecke

                                                                                                           Kreis Steinfurt
                       NIEDERLANDE                                                                                                                                               Kreis Herford

                                                                                                                                                                             Bielefeld               Kreis Lippe
                                                                                          Kreis Coesfeld            Münster

                                                            Kreis Borken                                                                                   Kreis Gütersloh
                                                                                                                                     Kreis Warendorf

                  Kreis Kleve                                                      Kreis
                                                                              Recklinghausen
                                                                                                                                                                                         Kreis Paderborn           Kreis Höxter
                                            Kreis Wesel                                                                         Hamm
                                                                    Bottrop
                                                                               Gelsen-
                                                                               kirchen                                 Kreis Unna
                                                                  Ober-                  Herne
                                                                 hausen                                Dortmund                                        Kreis Soest
                                                      Duisburg                           Bochum
                                                                              Essen
                                                                 Mülheim
                                                                 a.d.Ruhr                  Ennepe-
                                            Krefeld                                       Ruhr-Kreis
                           Kreis Viersen                                                                   Hagen
                                                                    Mettmann
                                                          Düsseldorf            Wuppertal                                                              Hochsauerlandkreis
                                Mönchen-                                                                          Märkischer Kreis
                                gladbach                                               Remscheid
                                                                            Solingen
                                              Rhein-Kreis
                                                Neuss                                                                                   Kreis Olpe
         Kreis Heinsberg
                                                                       Leverkusen
                                                                                    Rheinisch-         Oberbergischer
                                                                                    Bergischer             Kreis                                                                     HESSEN
                                              Rhein-Erft-                             Kreis
                                                                      Köln                                                                       Kreis
                                                Kreis
                                                                                                                                          Siegen-Wittgenstein

              Städteregion         Kreis Düren                                              Rhein-Sieg-Kreis
                Aachen

                                                                               Bonn

                                                                                                           RHEINLAND-PFALZ

                                Kreis Euskirchen
  BELGIEN

  0     10 km

        Raumtypen der Chancengerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit
                     dynamische Großstadtregionen mit Exklusionsgefahr

                     (Groß-)Städte im andauernden Strukturwandel

                     Klein- und Mittelstädte mit funktionalen Herausforderungen*

                     solide Mitte in geringer verdichteten Räumen

                     Gemeinden mit Risiken der Peripherisierung

        * Ausnahmen sind die Großstädte Hamm und Gütersloh, die im raumplanerischen System der Zentralen Orte als Mittelzentren definiert sind.

        Die Disparitätenkarte fasst Städte und Gemeinden in Nordrhein-Westfalen mit ähnlichen sozioökonomischen Profilen zu Raumtypen der Chancen-
        gerechtigkeit und Zukunftsfähigkeit zusammen.
        Die Farblogik orientiert sich an der Zentralität bzw. dem Verstädterungsgrad der dargestellten Raumtypen, von vornehmlich großstädtisch über
        mittel- und kleinstädtisch geprägten Städten bis zu ländlich und peripher gelegenen Kommunen.

 Quelle: eigene Darstellung.
 Datengrundlage: eigene Berechnung, GeoBasis-DE/BKG 2020.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Landesbüro Nordrhein-Westfalen                                                                10

 Tabelle 1
 Charakterisierung der Raumtypen für Nordrhein-Westfalen aus Abbildung 2

   Charakterisierung                                      Indikatorwerte                          räumliche Ausdehnung

   Dynamische Großstadtregionen mit Exklusionsgefahr (50 Gemeinden; 4,53 Mio. Einw.)

    Ein sehr hoher Anteil an hochqualifizierten Be-       HQ-Beschäftigte
   schäftigten, hohe Mediangehälter und ein zwar          (20,2 %, NRW Ø 12,1 %)
    negativer, aber im NRW-Vergleich überdurch-           Pendelnde (> 50 km)
   schnittlicher Wanderungssaldo sind kennzeich-          (9,6 %, NRW Ø 9,9 %)
    nend für den Cluster der „Schwarmstädte“ und
    deren dynamisches Umland. Er setzt sich im            Kinderarmut
   ­Wesentlichen aus den Metropolen des Rhein-            (11,7 %, NRW Ø 11,2 %)
    lands und ihren Umlandgemeinden zusammen,             Beschäftigungsquote Frauen
    ebenso wie aus Hochschulstandorten wie                (56,0%, NRW Ø 55,9 %)
    Münster, Aachen mit Würselen und Roetgen,             Mietpreise
    Herdecke und Jülich. Werte für den Wande-             (8,72 EUR/qm, NRW Ø 6,8 EUR/qm)
    rungssaldo und die Breitbandversorgung liegen
    leicht über dem Durchschnitt. Trotz wirtschaft­       Mediangehalt Wohnort
    licher Stärke deuten die mittlere Kinderarmut,        (3.786 EUR, NRW Ø 3.448 EUR)
    die hohen Mietpreise sowie die Pro-Kopf-Ver-          Breitbandversorgung 1 Gbit/s
   schuldung auf eine erhöhte Exklusionsgefahr            (35,7 %, NRW Ø 30,8 %)
    insbesondere für einkommensschwächere
                                                          Verschuldung je Einw.
    Haushalte hin.
                                                          (2.461 EUR, NRW Ø 2.108 EUR)
                                                          Wanderungssaldo 18–30 Jahre
                                                          (–36 Pers. je 1.000 Einw., NRW Ø –70)

   (Groß-)Städte im andauernden Strukturwandel (45 Gemeinden; 6,56 Mio. Einw.)

   Dieser Cluster enthält vornehmlich (groß-)städtisch    HQ-Beschäftigte
   geprägte Kommunen. Enthalten sind die hoch ver-        (13,3 %, NRW Ø 12,1 %)
   schuldeten Städte und Gemeinden des Ruhrgebiets
                                                          Pendelnde (> 50 km)
   mit Leverkusen, Mönchengladbach, Bedburg und
                                                          (9,3 %, NRW Ø 9,9 %)
   Düren, Siegen, Arnsberg, Soest sowie die westfäli-
   schen Städte Bielefeld, Herford, Bad Salzuflen, Min-   Kinderarmut
   den, Detmold und Paderborn. Charakteristisch sind      (22,6 %, NRW Ø 11,2 %)
   die extrem hohen Werte für die Kinderarmut. Im
                                                          Beschäftigungsquote Frauen
   Durchschnitt lebt fast jedes vierte Kind in einem
                                                          (52,3 %, NRW Ø 55,9 %)
   von Sozialtransfers abhängigen Haushalt. Die Ein-
   kommensmöglichkeiten sind zwar unterdurch-             Mietpreise
   schnittlich und die Frauenbeschäftigungsquote re-      (6,78 EUR/qm, NRW Ø 6,8 EUR/qm)
   lativ niedrig, es gibt aber durchaus einen hohen
                                                          Mediangehalt Wohnort
   Anteil an hochqualifizierten Beschäftigungsverhält-
                                                          (3.401 EUR, NRW Ø 3.448 EUR)
   nissen. Die relativ stabile demografische Entwick-
   lung (siehe Wanderungssaldo) dürfte in diesem          Breitbandversorgung 1 Gbit/s
   Raumtyp durch hohe Anteile an Fluchtzuwande-           (58,5 %, NRW Ø 30,8 %)
   rung begründet sein.
                                                          Verschuldung je Einw.
                                                          (4.583 EUR, NRW Ø 2.108 EUR)
                                                          Wanderungssaldo 18–30 Jahre
                                                          (29 Pers. je 1.000 Einw., NRW Ø –70)

   Klein- und Mittelstädte mit funktionalen Herausforderungen (72 Gemeinden; 2,84 Mio. Einw.)

   Dieser Cluster enthält überwiegend mittel- und         HQ-Beschäftigte
   kleinstädtisch geprägte Gemeinden mit teilweise        (10,0 %, NRW Ø 12,1 %)
    ländlichen Strukturen im Sieger- und Sauerland, im
                                                          Pendelnde (> 50 km)
   Münsterland sowie Ostwestfalen abseits der wirt-
                                                          (9,4 %, NRW Ø 9,9 %)
   schaftlichen Großstädte. Ausnahmen sind die Mit-
   telzentren Gütersloh (seit 2018 Großstadt) und         Kinderarmut
   Hamm mit jeweils über 100.000 Einwohner_innen.         (14,2 %, NRW Ø 11,2 %)
   Problematisch in diesem Cluster ist die Arbeits-
                                                          Beschäftigungsquote Frauen
    marktstruktur mit einem sehr geringen Anteil an
                                                          (52,3 %, NRW Ø 55,9 %)
    hochqualifizierten Beschäftigten, stark unterdurch-
   schnittlichen Einkommensmöglichkeiten, einer           Mietpreise
   ­unterdurchschnittlichen Beschäftigungsquote für       (6,65 EUR/qm, NRW Ø 6,8 EUR/qm)
   Frauen sowie Defiziten für Geschäftsfelder, die
                                                          Mediangehalt Wohnort
   von einer zukunftsfähigen Breitbandversorgung
                                                          (3.351 EUR, NRW Ø 3.448 EUR)
   abhängig sind. Folglich zeigen auch Sozialindika­
   toren an, dass z. B. ein hoher Anteil an Kindern       Breitbandversorgung 1 Gbit/s
    in sehr einkommensschwachen Haushalten auf-           (24,7 %, NRW Ø 30,8 %)
    wächst. Zwar liegen Verschuldung und Lebenshal-
                                                          Verschuldung je Einw.
   tungskosten im Mittelfeld der betrachteten Werte.
                                                          (2.064 EUR, NRW Ø 2.108 EUR)
    Insgesamt müssen diese Gemeinden in Zukunft
   aber mit weiteren demografischen und ökonomi-          Wanderungssaldo 18–30 Jahre
   schen Herausforderungen rechnen.                       (–36 Pers. je 1.000 Einw., NRW Ø –70)
UNGLEICHES NORDRHEIN-WESTFALEN                                                                                                                                                                 11

   Charakterisierung                                                                   Indikatorwerte                                                                   räumliche Ausdehnung

   Solide Mitte in geringer verdichteten Räumen (179 Gemeinden; 3,22 Mio. Einw.)

   Dieser Raumtyp enthält eine Reihe positiver Aus-                                    HQ-Beschäftigte
   prägungen, z. B. bei der geringen Anzahl an Fern-                                   (10,6 %, NRW Ø 12,1 %)
   pendler_innen, der Kinderarmut und den Miet­
                                                                                       Pendelnde (> 50 km)
   preisen. Er hat aber ein wesentliches Problem:
                                                                                       (8,6 %, NRW Ø 9,9 %)
   die hohen Abwanderungsraten von Menschen im
   Ausbildungs- und Berufseinstiegsalter. Die eher                                     Kinderarmut
   durchschnittlichen Einkommensmöglichkeiten und                                      (7,8 %, NRW Ø 11,2 %)
   der unterdurchschnittliche Anteil an hochqualifi-
                                                                                       Beschäftigungsquote Frauen
   zierten Beschäftigten stützen die These, dass in
                                                                                       (58,4 %, NRW Ø 55,9 %)
   den betroffenen Kommunen Arbeitsmarkt- und Er-
   reichbarkeitsprobleme wichtige Handlungsfelder                                      Mietpreise
   der Zukunft sind. Der Ausbau der aktuell noch                                       (6,37 EUR/qm, NRW Ø 6,8 EUR/qm)
   durchschnittlichen Breitbandversorgung lässt zum
                                                                                       Mediangehalt Wohnort
   Beispiel auf Versorgungslücken der Infrastruktur
                                                                                       (3.411 EUR, NRW Ø 3.448 EUR)
   schließen. In diesen eher dünn besiedelten Ge-
   meinden hängt viel davon ab, inwiefern es gelingt,                                  Breitbandversorgung 1 Gbit/s
   jungen Menschen Rückkehr- und/oder Bleibepers-                                      (28,2 %, NRW Ø 30,8 %)
   pektiven anzubieten.
                                                                                       Verschuldung je Einw.
                                                                                       (1.457 EUR, NRW Ø 2.108 EUR)
                                                                                       Wanderungssaldo 18–30 Jahre
                                                                                       (–106 Pers. je 1.000 Einw., NRW Ø –70)

   Gemeinden mit Risiken der Peripherisierung (50 Gemeinden; 0,77 Mio. Einw.)

   Dieser Raumtyp zeichnet sich auf der positiven                                      HQ-Beschäftigte
   Seite zwar durch vergleichsweise geringe Lebens-                                    (11,1 %, NRW Ø 12,1 %)
    haltungskosten (siehe Mietpreise), eine geringe
                                                                                       Pendelnde (> 50 km)
   Kinderarmut oder eine geringe Pro-Kopf-Verschul-
                                                                                       (15,9 %, NRW Ø 9,9 %)
   dung aus. Der Anteil an hochqualifizierten Beschäf-
   tigten sowie die Beschäftigungsquote für Frauen                                     Kinderarmut
   sind durchschnittlich. Problematisch sind jedoch der                                (8,0 %, NRW Ø 11,2 %)
    negative Wanderungssaldo, der sehr hohe Anteil
                                                                                       Beschäftigungsquote Frauen
   an Fernpendler_innen und die stark unterdurch­
                                                                                       (55,5 %, NRW Ø 55,9 %)
   schnitt­liche Breitbandversorgung, die einer Aus-
    breitung digitaler Geschäftsfelder im Wege steht.                                  Mietpreise
    Die betroffenen Kommunen liegen auch geogra-                                       (6,45 EUR/qm, NRW Ø 6,8 EUR/qm)
   fisch häufig in (groß-)stadtfernen Lagen (Eifel,
                                                                                       Mediangehalt Wohnort
   ­N iederrhein, Ostwestfalen), die auf problematische
                                                                                       (3.424 EUR, NRW Ø 3.448 EUR)
    Erreichbarkeiten zukunftsfähiger Arbeitsmärkte
   schließen ­lassen. Die dünne Besiedlung in klein-                                   Breitbandversorgung 1 Gbit/s
   städtischen und ländlichen Sozialstrukturen dürfte                                  (18,9 %, NRW Ø 30,8 %)
    der Grund dafür sein, dass Kinderarmut und Ver-
                                                                                       Verschuldung je Einw.
   schuldung pro Kopf relativ gering sind.
                                                                                       (1.918 EUR, NRW Ø 2.108 EUR)
                                                                                       Wanderungssaldo 18–30 Jahre
                                                                                       (–115 Pers. je 1.000 Einw., NRW Ø –70)

 Werte: stark überdurchschnittlich bzw. überdurchschnittlich:    bzw.     ; durchschnittlich: ; unterdurchschnittlich bzw. stark unterdurchschnittlich:   bzw.      .

 Bewertung:     dunkelrot bzw.     rot: sehr negativ bzw. negativ;      grau: weder p
                                                                                    ­ ositiv noch negativ;   grün bzw.     dunkelgrün: positiv bzw. sehr positiv.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – Landesbüro Nordrhein-Westfalen                                                                                    12

 Tabelle 2
 Bandbreiten von Indikatorwerten in den Raumtypen

   Indikator               Wert        dynamische          (Groß-)Städte            Klein- und        solide Mitte         Gemeinden
                                        Großstadt-        im andauernden          Mittelstädte         in geringer         mit Risiken
                                      regionen mit            Struktur-          mit funktionalen     verdichteten        der Peripheri-
                                       Exklusions-            wandel                  Heraus-            Räumen             sierung
                                         gefahr                                   forderungen

                           Minimum         13,3                  6,77                  5,61                6,18                7,32
   hochqualifizierte                     (Wülfrath)          (Bergkamen)           (Augustdorf)         (Versmold)          (Hellenthal)
   Beschäftigte in
   Prozent                 Maximum        36,24                  21,80                17,16               18,66               15,25
                                          (Bonn)              (Paderborn)          (Meckenheim)         (Havixbeck)         (Möhnesee)

                           Minimum           7                   4,90                   4,40              5,20                11,50
  Pendelnde                          (Burscheid, Neuss)   (Remscheid, Velbert)     (Plettenberg)       (Neuenrade)         (Nümbrecht)
  ≥ 50 km je 100
  SV-Beschäftigte          Maximum        18,90                  16,10                14,90                12,70               26,40
                                       (Bad Honnef)       (Oer-Erkenschwick)         (Weeze)             (Geldern)         (Blankenheim)

                           Minimum         3,33                  10,55                 4,93                2,29                3,49
                                         (Roetgen)             (Bedburg)             (Selfkant)        (Hallenberg)           (Velen)
   Kinderarmut,
   in Prozent aller
   Kinder                  Maximum       21,92                   39,95                27,73               16,69                15,94
                                      (Monheim am           (Gelsenkirchen)           (Marl)        (Bad Oeynhausen)          (Eitorf)
                                         Rhein)

                           Minimum         50,87                 45,04                 38,38              52,48                51,20
                                          (Bonn)            (Gelsenkirchen)          (Selfkant)        (Neuenrade)        (Niederkrüchten)
   Beschäftigungs­
   quote von Frauen
                           Maximum         60,12                57,42                 58,34               64,59                60,66
                                          (Hilden)           (Gevelsberg)           (Gütersloh)        (Rosendahl)         (Borgentreich)

                           Minimum          6,9                   5,72                 5,01                4,19                 4,53
  Mietpreise                              (Jülich)              (Hagen)              (Altena)        (Marienmünster)       (Borgentreich)
  in Euro pro
  Quadratmeter²            Maximum         11,69                   9,12                9,06                  8                 7,50
                                           (Köln)              (Siegburg)           (Wesseling)        (Weilerswist)         (Heiden)

                           Minimum       3.455,89              3.101,65              3.012,04            2.977,44            3.067,17
                                        (Würselen)        (Oer-Erkenschwick)         (Weeze)            (Versmold)         (Beverungen)
   Medianentgelt
   am Wohnort
   in Euro                 Maximum       4.222,91               3.701,97            3.698,33             3.800,50            3.872,27
                                        (Odenthal)             (Bedburg)           (Nachrodt-              (Titz)             (Alpen)
                                                                                  Wiblingwerde)

                           Minimum            0                 10,40                    0                   0                   0
                                     (Rösrath, Roetgen)        (Velbert)           (Aldenhoven,      (Schlangen, Much,        (Höxter,
  Breitband­                                                                          Altena)       Hövelhof, Morsbach,    Ruppichteroth)
  verfügbarkeit                                                                                     Borchen, Monschau)
  ≥ 1 Gbit/s in %
  der Haushalte
                           Maximum        92,5                   93,50                 94,70              99,30                97,90
                                       (Düsseldorf)            (Bochum)              (Selfkant)         (Metelen)            (Raesfeld)

                           Minimum       30,10                 1.248,92                28,79              21,66                19,20
  Verschuldung                        (Monheim am              (Minden)              (Gangelt)          (Wenden)             (Raesfeld)
  kommunaler                             Rhein)
  Haushalte in Euro
  je Einwohner_in          Maximum       5.508,31               11.101,14            5.026,03            5.356,86            5.723,25
                                          (Bonn)               (Siegburg)           (Waldbröl)        (Engelskirchen)       (Heimbach)

                           Minimum       –222,46                –58,69               –221,14            –386,31              –410,58
  Wanderungssaldo                       (Odenthal)             (Waltrop)              (Selm)           (Monschau)          (Borgentreich)
  der 18- bis unter
  30-Jährigen
  je 1.000 Einw.           Maximum       241,92                 184,58                210,79               21,08               13,37
                                       (Düsseldorf)           (Paderborn)             (Kleve)            (Straelen)        (Langerwehe)

 Quelle: siehe Anhang A.
UNGLEICHES NORDRHEIN-WESTFALEN                                                                                                                               13

1.3 HANDLUNGSBEDARFE ZU DEN                                                      und zukunftsfähigen Entwicklung der Regionen in NRW bieten.
RAUMTYPEN DER CLUSTERANALYSE                                                     Den Interpretationen links in der Tabelle werden schlaglicht-
                                                                                 artig die wichtigsten Erfordernisse in der rechten Spalte ge-
Aus einer zusammenfassenden Interpretation der oben be-                          genübergestellt. Der Abschnitt „Handlungsempfehlungen“
schriebenen Raumtypen sind in nachfolgender tabellarischer                       dieses Berichts greift diese Punkte zur Ausformulierung kon-
Gegenüberstellung Handlungsbedarfe abgleitet, die Orientie-                      kreter Vorschläge für Förderansätze, Instrumente und Maß-
rung für die passgenaue Gestaltung einer chancengerechten                        nahmen auf.

 Tabelle 3
 Kurzbeschreibung und Handlungsbedarfe in den Raumtypen

   Dynamische Großstadtregionen mit Exklusionsgefahr

    Die 4,53 Millionen Einwohner_innen in 50 Städten und Ge-        – Erhalt der Attraktivität als Standort für hochwertige Arbeitsplätze trotz steigender
    meinden profitieren von ökonomischen Standortvorteilen            lokaler Kosten für Gewerbeaktivitäten und qualifizierte Arbeitskräfte
    und ihrer Zentralität. Gute Verdienstmöglichkeiten, hohe        – Erhalt der Attraktivität als Wohnort für Hochqualifizierte trotz steigender
   Qualifikationsniveaus und vergleichsweise niedrige Abwan-          Wohnkosten und eventuell wachsender sozialer Konflikte sowie konzentrierter
    derungsraten stehen hohen Lebenshaltungskosten und                Umweltbelastungen
   ­einer sozialen Exklusionsgefahr gegenüber, die eine neue        – Integration bislang exkludierter, bei Bildung und Beschäftigung in wachsendem
   Welle der Suburbanisierung ins Umland und damit verbun-            Maße „abgehängter“ sozialer Gruppen in die städtische Gesellschaft und den
    dene Infrastrukturengpässe auslöst.                               Arbeitsmarkt
                                                                    – Steigerung öffentlicher Einnahmen und Konsolidierung der städtischen Haushalte

   (Groß-)Städte im andauernden Strukturwandel

   Die überwiegend urbanen Räume mit 45 Städten und Ge-             – Steigerung der Attraktivität als Standort für hochwertige, auf Innovationen und neue
   meinden und 6,56 Millionen Einwohner_innen sind gekenn-            Technologien gestützte Arbeitsplätze, die den aktiven Strukturwandel hin zu
   zeichnet durch ökonomische und soziale Problemlagen. Ge-           zukunftsfähigen Gewerbeaktivitäten antreiben
   ringe Verdienstmöglichkeiten, eine sehr hohe Kinderarmut,        – gesteigerte Arbeitsplatzangebote für alle Qualifikationsgruppen und dabei speziell
   niedrige Frauenbeschäftigungsquoten und eine sehr hohe             für Frauen im Zuge von lokalen Unternehmensgründungen und -erweiterungen
   Pro-Kopf-Verschuldung beeinträchtigen die Chancengerech-         – Aufwertung der Wohn- und Aufenthaltsqualität für alle Bevölkerungsgruppen, um
   tigkeit und Zukunftsfähigkeit. Die Abwanderungsraten wer-          weitere Zuzüge zu begünstigen und Abwanderungen zu verhindern
   den vermutlich durch Fluchtzuwanderung gedämpft. Das             – verstärkte Integration zuziehender sozialer Gruppen in die städtische Gesellschaft,
   Arbeitsplatzangebot hält einen beträchtlichen Anteil hoch-         vor allem bezogen auf Bildungsangebote und Arbeitsmarkt
   qualifizierter Jobs bereit, Qualifikationsniveaus sind hoch,     – Steigerung öffentlicher Einnahmen und Konsolidierung der städtischen Haushalte
   der Anteil an Fernpendler_innen ist gering.

   Klein- und Mittelstädte mit funktionalen Herausforderungen

    Die 72 Gemeinden und 2,84 Millionen Einwohner_innen             – Steigerung der Attraktivität als Standort für eine große Qualifikationsbreite an
   sind mit funktionalen Nachteilen konfrontiert, die sich in         Arbeitsplatzangeboten, speziell auch für Frauen
   ­einem geringen Qualifikationsniveau, einem geringen Medi-       – Steigerung hochwertiger, auf Innovationen und neue Technologien gestützte
   angehalt sowie in einer unterdurchschnittlichen Infrastruk­        Wirtschaftsaktivitäten und Unternehmensgründungen, gestützt auf verbesserte
   turausstattung, z. B. bei der Breitbandversorgung, ausdrücken.     IT-Infrastruktur
    Diese Nachteile deuten auf ein geringes Arbeitsplatzange-       – Sicherung einer guten Erreichbarkeit naheliegender Oberzentren mit öffentlichen
    bot insbesondere für hochqualifizierte Beschäftigte hin. Die      Verkehrsmitteln
   ökonomischen und infrastrukturellen Nachteile stehen im          – verstärkte Integration zuziehender sozialer Gruppen in die städtische Gesellschaft,
   Zusammenhang mit einem geringen Einkommen und einer                vor allem bezogen auf Bildungsangebote und Arbeitsmarkt
    hohen Kinderarmut.                                              – Sicherung und Steigerung öffentlicher Einnahmen zur Konsolidierung der Haushalte

   Solide Mitte in geringer verdichteten Räumen

   Dieser Cluster umfasst 179 überwiegend gering verdichtete        – Erhalt der Attraktivität als Standort für eine große Qualifikationsbreite an
   und kleinstädtische Gemeinden mit 3,22 Millionen Einwoh-           Arbeitsplatzangeboten trotz eventuell wachsender nationaler wie internationaler
   ner_innen abseits der wirtschaftlichen Zentren. Mit einer          wirtschaftlicher Wettbewerbsnachteile
   hohen Frauenbeschäftigungsquote, einer geringen Kinder-          – Steigerung hochwertiger, auf Innovationen und neue Technologien gestützte
   armut und einer geringen Pro-Kopf-Verschuldung weisen              Wirtschaftsaktivitäten und Unternehmensgründungen, gestützt auf verbesserte
   sie für zukünftige Entwicklungen gute Lebenschancen auf.           IT-Infrastruktur
   Allerdings deutet der negative Wanderungssaldo und der           – Steigerung der Attraktivität für Zuzüge jüngerer, qualifizierter Bevölkerungsgruppen
   geringe Anteil von Hochqualifizierten auf ein geringes Ar-         bzw. junger Familien
   beitsplatzangebot für Hochqualifizierte. Insbesondere die        – Erhalt und Sicherung der relativ soliden Situation öffentlicher Finanzen
   demografische Entwicklung könnte sich im Wettbewerb der
   Regionen zu einem Standortnachteil mit Folgeeffekten auf
   Wirtschaft und soziale Entwicklung entwickeln.
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