So leben wir 2020 - Aktuelle Siemens-Studie zum Bauen und Wohnen

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3. Internationales Branchenseminar für Frauen 2005

                       So leben wir 2020 –
                       Aktuelle Siemens-Studie zum
                       Bauen und Wohnen
Katinka Schulz
Dipl. Psych.,
Zukunftsforschung
TNS Infratest
München, Deutschland

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So leben wir 2020 – Aktuelle Siemens-Studie zum Bauen und Wohnen
3. Internationales Branchenseminar für Frauen 2005

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So leben wir 2020 – Aktuelle Siemens-Studie
zum Bauen und Wohnen
1 Horizons 2020 – Ein Szenario als Denkanstoss für die Zukunft

                                                         „Ein Szenario ist kein fertiges Bild,
                                                         sondern der Beginn eines Dialogs“.

Wie werden wir in Zukunft leben? Wofür oder wogegen werden wir uns entscheiden oder ent-
scheiden müssen? Wie werden wir lernen und arbeiten? Wie werden wir wohnen? Fragen an
die Zukunft gibt es viele, besonders in einer als sehr unsicher empfundenen Zeit. Darüber
hinaus versetzt die aktive Auseinandersetzung mit der Zukunft Gesellschaften in die Lage,
anstehende Fragen so zu entscheiden, dass Antworten und Lösungen auch mittelfristig gültig
sind.

Auch Siemens hat sich auf die Suche nach Antworten gemacht und das Leben von morgen im
Kommunikationsszenario Horizons2020 untersucht. Im Auftrag des Unternehmens hat TNS
Infratest europaweit 116 Experten aus Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Kultur und Technik zu
bestimmten Entwicklungen der nächsten fünfzehn Jahre befragt. Unter der Einbeziehung ei-
nes wissenschaftlichen Beirats sind zwei Szenariobilder zum Leben im Jahr 2020 entstanden.
Durch das Erarbeiten dieser beiden extremen, alternativen Zukunftsbilder soll die Spannbreite
der möglichen Zukunftsentwürfe aufgezeigt werden. Die wahrscheinlichste Entwicklung liegt in
der Regel zwischen diesen polaren Entwicklungen des Möglichkeitsspektrums.

Im folgenden werden die beiden Szenariobilder beschrieben, indem ausgehend vom allge-
mein vorherrschenden Lebensgefühl ausschließlich auf den Bereich Wohnen und Bauen ein-
gegangen wird.

2 Szenario 1: Gleichheit, Freiheit, Bescheidenheit
2.1   Allgemein vorherrschendes Lebensgefühl

Die Gegenwart wird im Jahre 2020 in ganz Europa von einem starken Staat geprägt, der für
Sicherheit, Chancengleichheit und Freiheit sorgt.

Die größte Veränderung gegenüber 2005 ist die (Wieder-) Entdeckung der Langsamkeit. Der
früher als unaufhaltbar empfundene Trend zum ständigen „höher, weiter, schneller“ wurde
gedrosselt, wenn nicht in einigen Lebensbereichen sogar gestoppt. Die Bürger haben trotz
Doppelerwerbstätigkeit und Multijobbertum ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit
und damit zu mehr Lebensqualität gefunden. Der Grund liegt in der (Rück-) Besinnung auf die
wesentlichen Werte im Leben sowie in der Freizeitgestaltung als „Quality Time“ zur Stärkung
der eigenen Ressourcen.

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Deshalb haben auch Sinne, deren Entfaltung Zeit und Aufmerksamkeit benötigt, wie Riechen,
Schmecken und Fühlen eine Renaissance erlebt. Der Wunsch, alles sofort haben zu wollen,
ist der Bereitschaft sich zu beschränken gewichen. Die Gesellschaft musste gezwungener-
maßen lernen, dass das wirtschaftliche Wachstum begrenzt ist. Obwohl die Arbeitseinkom-
men nominal immer noch steigen, ist für viele Menschen die Kaufkraft für den privaten Kon-
sum geringer geworden. Einer der wesentlichen Gründe hierfür ist der Abbau von Sozialleis-
tungen, d. h. dass eine Vielzahl von Angeboten, die früher vom Staat kostenlos zur Verfügung
gestellt wurden, heute Eigenmittel erfordern. Dies gilt für die Gesundheit, die Bildung und vor
allem für die Mobilität. Da aber alle Bürger gleichermaßen betroffen sind, hat man sich notge-
drungen mit den Einschränkungen abgefunden.

Der quantitativ hohe Anteil an alten, geistig und körperlich leistungsfähigen Menschen hat die
Gesellschaft auch qualitativ verändert. Das frühere Lebensmodell, dass Bildung überwiegend
in der Jugend, Arbeit im Erwachsenenalter und Freizeit im Rentenalter stattfindet, gilt nicht
mehr. Der Wandel von einer altersdifferenzierten zu einer altersintegrierten Gesellschaft hat
sich vollzogen, indem Menschen aller drei Altersstufen gleichermaßen arbeiten, sich bilden
und ihre Freizeit geniessen wollen.

2.2     Konsequenzen für Bauen und Wohnen

Wohnen als zentraler Lebensinhalt

Die Intensität der Nutzung des persönlichen Wohnraums hat in den letzten 20 Jahren stark
zugenommen. Homing heißt der neue Trend, der auf zwei unterschiedliche Ursachen zurück-
zuführen ist. Zum einen fungiert das Zuhause als persönlicher Rückzugsort von der Arbeit als
Multijobber und Doppelerwerbstätiger. In diesem Zuge werden viele der ehemals außerhäusli-
chen Sport- und Erholungsaktivitäten nach innen verlegt, um die zuhause verbrachte Zeit zu
maximieren. Der Absatz von Heimsaunen, Indoor-Fitness-Geräten und Familienspielen hat
sich deshalb stark erhöht. Zum anderen hat die Zahl an Ich-AGs, deren Firmensitz der häusli-
che Schreibtisch ist, ebenso zugenommen wie die häuslichen Arbeitszeiten als Angestellter,
da die Flexibilisierung der Arbeitswelt geringere Präsenzzeiten im Büro verlangt.

Smart Home: Zunehmende Technisierung des Wohnraums

Der vernetzte, automatisierte und ferngesteuerte Haushalt (Domotik) gehört zu den größten
Innovationsbereichen des letzten Jahrzehnts. Dabei haben Techniksysteme Einzug gehalten,
die Sicherheit, Raumtemperatur, Beleuchtung und Kommunikation in einer Bedienungskonso-
le kombinieren. Vernetzte Backöfen und Waschmaschinen können zum einen vom Büro aus
bedient werden, zum anderen informieren sie den Bewohner beispielsweise über das Handy
im Falle einer Störung. Auch Heizung, Beleuchtung, Warmwasser und Klimasysteme sind aus
der Ferne steuerbar und erlauben daher einen gezielten Energieeinsatz. Selbstlernende Com-
putersysteme erkennen die Lebensabläufe der Bewohner und erinnern sie daran, dass die
Herdplatte noch nicht abgeschaltet ist. Der Wecker ist mit dem Navigationssystem verbunden
und richtet die Weckzeit innerhalb eines definierten Zeitfensters selbstständig nach der
morgendlichen Verkehrssituation aus. Durch die Vernetzung der Haushaltsgeräte untereinan-
der werden Informationen, wie beispielsweise dass der Kuchen fertig ist, in die laufende
Fernsehsendung eingeblendet. In den verschiedenen Räumen sind Monitore angebracht, um
entweder die Fernsehsendung auf dem Weg zum Kühlschrank mitverfolgen zu können oder
den Schlaf der Kinder zu überwachen.

Vor allem die früher oftmals seitenlangen und unverständlichen Bedienungsanleitungen für
Einzelgeräte sowie eine lästigen Vielzahl an Fernbedienungen auf dem Wohnzimmertisch und
der damit verbundene „Technostress“ beschleunigten die Entwicklung des vernetzten Zuhau-
ses. Durch die integrierten Lösungsangebote der Elektronikkonzerne konnte eine optimale
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Balance zwischen hochwertiger Technik und maximaler Convenience erreicht werden. Wem
die Bedienung der Geräte via Touchscreen immer noch zu aufwändig ist, der kann sich für
Konsolen mit zusätzlicher Sprachsteuerung entscheiden. Aufgrund der Massenfertigung kön-
nen diese Lösungen inzwischen kostengünstig angeboten werden.

Inzwischen wird der etwas in die Jahre gekommene Begriff „Wohnzimmer“ durch das Wort
„Medienzone“ ersetzt. Hier steht der zentrale Computer, der Fernseherlebnis zu Kinoqualität
und Klangerlebnisse in Life-Qualität liefert und mit dem man Fernsehsendungen je nach indi-
viduellen Vorlieben bearbeiten kann. Teilweise ist er aber auch in die Oberfläche eines „Inte-
rac-Table“ integriert, so dass man an einem meist zentral stehenden Tisch arbeiten, im Inter-
net surfen oder sich mit der Familie die Zeit mit elektronischen Unterhaltungsspielen vertrei-
ben kann.

Die geringere gemeinsame Anwesenheitszeit aller Familienmitglieder infolge von Doppeler-
werbstätigkeit, Ganztagsschulen oder Multijobs erfordert sogenannte „Heim-Marktplätze“.
Diese sind meistens als „Fridge-Screen“ in die Kühlschranktüre als dem Ort, der von allen
Familienmitgliedern am häufigsten aufgesucht wird, integriert. Hier kann man auf dem Touch-
screen den Familienmitgliedern Nachrichten hinterlassen, aufgrund der integrierten Funktion
als TV- und Radiogerät die Tagesnachrichten beim Kochen verfolgen, die Bestückung des
Kühlschranks überprüfen und sich einen elektronischen Einkaufszettel erstellen lassen oder
über das Internet Kochrezepte beziehen.

Immer häufiger wird inzwischen im eigenen Zuhause aber auch eine Zone eingerichtet, wel-
che ein „Time-Out“ von der Technik und damit ein Gefühl völliger Ungestörtheit bietet. Häufig
fällt dabei die Wahl auf das Schlafzimmer oder den Hobbyraum, in dem eher ruhigen und
langsamen Aktivitäten nachgegangen wird, wie z. B. Meditation oder Malen.

Urbanes Wohnen

Die Stadt als Standort mit hoher Infrastrukturdichte und vielen Unterhaltungsangeboten wird
inzwischen hauptsächlich von zwei Altersgruppen bewohnt: Zum einen von jungen Menschen,
für die aufgrund ihrer hohen Konsumorientierung die Nähe von Bars, Kinos und Shops das
entscheidende Kriterium ist. Außerdem werden für Alleinlebende oder junge Paare entweder
schicke Ein- und Zwei-Zimmer-Wohnungen oder günstige, große Wohnungen durch das Zu-
sammenlegen mehrerer kleinerer Wohnungen in weniger attraktiven Wohngebäuden angebo-
ten, so dass die damalige durchschnittliche Quadratmeterzahl pro Kopf um die Jahrtausend-
wende inzwischen stark angestiegen ist. Auch für ältere Menschen ist die Stadt wieder inte-
ressant, wie man an deren verstärktem „Back-to-the-City-Movement“ sieht. Sie präferieren das
serviceorientierte Wohnen mit Einkaufs-, Putz-, Unterhaltungs- und sonstigen Concierge-
diensten. Da zu diesem Zweck viele der leer stehenden Standardwohnbauten der 50-er bis
70-er Jahre des letzten Jahrhunderts umfunktioniert wurden und die Mieten subventioniert
werden, ist das serviceorientierte Wohnen für viele ältere Menschen erschwinglich geworden.

Zwischenstadt- die neue Stadt

Der schon lange währende Trend zur Flucht in die Umlandbezirke am Rand großer Städte -
den Zwischenstädten - hat sich insbesondere für Familien, aber auch für einen Teil der allein
lebenden Personen mittleren Alters in den letzten 20 Jahren ungebremst fortgesetzt, da hier
ein besserer Kompromiss zwischen Infrastrukturangebot, günstiger Wohnfläche und Naturnä-
he vorgefunden wird. Die „New Urbanism“-Bewegung führte in den USA zu einer attraktiven
Umgestaltung der Zwischenstädte und inspirierte daher auch europäische Städteplaner. So
haben die Zwischenstädte zum großen Teil die Funktionen der historischen Kernstädte über-
nommen, indem sie Shops und Unterhaltungsmöglichkeiten zu symbolischen Zentren grup-
pierten. Factory Outlet Center, Multiplex-Kinos, Erlebnisbäder, (Musical-)Theater und Disko-

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theken in ehemaligem Fabrikambiente haben einen suburbanen Lokaltourismus in Gang ge-
setzt.

Höhere Ausgaben für Gesundheit und Alterssicherung, die Flexibilisierung der Arbeitswelt, die
häufig für unregelmäßiges Einkommen sorgt, sowie die Reduktion der öffentlichen Fördermit-
tel haben die Nachfrage nach preisgünstigen Eigenheimen und möglichst geringen Betriebs-
kosten bei gleichzeitig hohem Technisierungslevel erhöht. Die Bauwirtschaft hat rechtzeitig
auf diesen „Cheap-and-Smart“-Trend mit einer Erhöhung der Vorfertigungstiefe, mit Ausbau-
häusern und Niedrigenergiehäusern mit vernetzter und digitaler Informations- und Kommuni-
kationstechnologie als Standard reagiert.

In Osteuropa sind aufgrund der Errichtung großer Industrieanlagen neue Zwischenstädte mit
arbeitsnahem Wohnen, einem hohen Grünflächenanteil und einem großen Unterhaltungsan-
gebot entstanden. Hier droht mittelfristig jedoch dieselbe Gefahr wie bei den Zwischenstädten
aus dem letzten Jahrhundert: Eine Städteplanung kann fehlende gewachsene Strukturen nicht
wettmachen.

Das neue Leben auf dem Land

Im Ballungsraum ist auch in den entlegeneren Regionen mit einem weiteren Anstieg der Sied-
lungsfläche zu rechnen. Dabei ist lediglich in wenigen Fällen die Sehnsucht nach dem Leben
auf dem Land der bestimmende Grund und wenn, dann höchstens in attraktiven Regionen für
Leute mit sehr hohem Einkommen und für kreative Selbstständige, die ohne regelmäßige
Face-to-Face-Kontakte in ihrem Beruf auskommen.

Ansonsten wird das Land in weniger attraktiven Regionen zum Fluchtpunkt für Menschen,
welche das Arbeitsleben überfordert und die auf die geringeren Wohn- und Lebenshaltungs-
kosten trotz schlechterer Erreichbarkeit aufgrund des Rückzugs der öffentlichen Verkehrsan-
bieter aus der Fläche angewiesen sind. Der hier genutzte Wohnraum erfüllt häufig nur die
Mindestkriterien an Qualität. Die oftmals fälschlicherweise angenommene Rückbesinnung
seiner Bewohner auf die „wahren“ Werte und ausschließliche Konzentration auf die Familie im
Rahmen ihres Lebens auf dem Land sind auch Folge von nicht in Erfüllung gegangenen Kar-
rierewünschen.

Öffentlicher Raum

Öffentlicher und Individualverkehr sind weiter zusammengewachsen. Umsteigestationen wie
Bahnhöfe, Flughäfen oder Park-and-Ride-Plätze sind zu großen, attraktiven Malls geworden,
die einerseits ein schnelles und unkompliziertes Umsteigen ermöglichen, andererseits aber
aufgrund ihrer Einkaufsmöglichkeiten und ihres gastronomischen Angebots zum Verweilen
einladen. In Städten werden Parks zu meditativen Naturräume für eine erholsame Rückbesin-
nung umfunktioniert, indem sie den Spaziergänger mit Labyrinthen, Klangspielen und Zen-
Gärten zu inneren Rohe verhalfen.

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3 Szenario 2: Dynamik, Netzwerk, Risiko
3.1   Allgemein vorherrschendes Lebensgefühl

Das Leben ist immer schneller und die Strukturen zunehmend amorpher geworden. Gesell-
schaftliche Institutionen wie Partnerschaften, Netzwerke, Interessenzusammenschlüsse, aber
auch Unternehmen und Kollegenkreise sind immer seltener langfristige Konstanten im Leben
des Einzelnen, da Beziehungen und Arbeitsverhältnisse nur auf unbestimmte Zeit geschlos-
sen werden. Es gibt weder eine eindeutige Festlegung noch durchgängige Merkmale, wer zu
welchen Interessengruppen gehört und wer nicht. In den Unternehmen sind die Übergänge
zwischen Kern- und Randbelegschaften fließend. Mitarbeiter wissen häufig nicht, ob der
Teamkollege zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein „fester“, ein „fester-freier“ oder ein „freier“ Mit-
arbeiter ist und wie lange die Person Teammitglied ist. Die Beziehungen zu Freunden, Be-
kannten und Menschen mit gleichen Interessen haben oft eine deutlich geringere Verbindlich-
keit als früher. Man entscheidet spontan, mit wem und womit man seine Freizeit verbringen
möchte, das Leben entzieht sich damit einer auch nur mittelfristigen Planung.

Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Befindlichkeit der Gesellschaft, die vorwiegend
durch Individualität und Selbstverantwortung gekennzeichnet ist. Jeder Einzelne muss sein
persönliches Netzwerk schaffen und pflegen, sonst drohen Isolation und Einsamkeit. Die Ver-
lagerung der Verantwortung auf den Einzelnen hat zu einer Gesellschaft geführt, die von star-
ken Gegensätzen geprägt ist. Sie zerfällt in Arme und Reiche, in mehr Leistungsorientierte
und mehr Freizeitorientierte. Vor allem hatte die Unterscheidung „arm an Geld, reich an Zeit -
reich an Geld, arm an Zeit“ noch nie eine so große Bedeutung wie heute.
Unterschiedliche Lebenswelten und Lebenschancen ergeben sich in hohem Maße auch aus
der Tatsache, ob und inwieweit der Einzelne Mitglied der „Digital World“ ist. Diese Gesell-
schaft des „Divide“, des Zerfallens in „Dabei sein“ und „Nicht dabei sein“ ist aber nicht statisch.
Wer heute zu den Gewinnern in der Gesellschaft gehört, kann morgen bereits zu den Verlie-
rern zählen und umgekehrt. Die soziale Stellung ist keine Konstante mehr, sondern hängt da-
von ab, welche Chancen der Einzelne in seinem Leben nutzt.

In dieser Gesellschaft der Gegensätze stehen Menschen, die in lokalen Dimensionen denken,
einer globalen Elite gegenüber, die 3 - 5 % der Weltbevölkerung ausmacht, also ca. 300 Milli-
onen Menschen, die überall auf der Welt „zu Hause sind“ und eine gemeinsame weltweite
Kultur repräsentieren. Sie sind über verschiedene Kulturen, Religionen und Herkunftsländer
hinweg miteinander verbunden, sie gestalten das globale Dorf, kommunizieren und diskutie-
ren miteinander, finden überall Kontakt und arbeiten an gemeinsamen Themen und Problem-
lösungen.

3.2   Konsequenzen für Bauen und Wohnen

Living Environment Divide

Die Schere zwischen Arm und Reich zeigt sich auch beim Wohnen. So lebt ein Teil der Men-
schen mit geringem Einkommen in den Wohnungen aus den immensen Leerständen abge-
wohnter Standardwohnbauten aus den 50- bis 80-er Jahren. Ein anderer Teil der unteren Ein-
kommensschicht präferiert sog. „Low Level Wohnraum“, der billig und nach etwa 50-jähriger
Nutzungszeit wieder leicht zu verwerten ist und an wenig attraktiven Standorten wie z. B. ver-
kehrs- oder industrienahen Bereichen errichtet wurde. Migranten bewohnen meistens die
schmucklosen, aber funktionalen Containersiedlungen. An den Rändern der großen Städte in
Osteuropa haben sich große Armensiedlungen gebildet, die aufgrund der provisorischen Be-
hausungen oder der Unterbringung in ehemaligen, nicht oder nur notdürftig renovierten Plat-
tenbausiedlungen häufig nur unzureichende Sanitär- und Heizungsanlagen aufweisen.

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Der vermögendere Bevölkerungsteil bewohnt überwiegend „High Level Wohnraum“, der über
die Vernetzung, Digitalisierung und Telematik sämtlicher Funktionen in den Wohnräumen de-
finiert ist. High Level Living findet in Vierteln oder Anlagen mit eigenem Sicherheits- sowie
einem Conciergedienst statt, der für den (energie-) technischen Bereich zuständig ist und
Dienstleistungen für Kinderbetreuung ebenso organisiert wie Theaterkarten. Immer häufiger
weisen diese Premium-Wohnanlagen eine gemeinsame „Online-Community-Plattform“ auf,
die eine eigene Identität stiftet und dazu beiträgt, dass sich aufgrund der Vernetzung der Be-
wohner untereinander aus einer virtuellen Nachbarschaft eine reale Nachbarschaft entwickeln
kann. Viele Bewohner nutzen deshalb die virtuelle Shopping Mall, die auf ihre Bedürfnisse
ausgerichtet ist. Hier kann man Bestellungen aufgeben und die Lieferung entweder an den
„Global Point“, einer Art Marktplatz mit Servicezentrum in der Wohnanlage, oder ins eigene
Haus veranlassen.

Born to Move

In einer Gesellschaft, in der sich Lebenskontexte schnell ändern, ist die Wohnmobilität im-
mens gestiegen. In Abhängigkeit vom Wechsel der jeweiligen Arbeitsbedingungen, der finan-
ziellen Ressourcen und des Familienkontextes ist man auch mit einem Wechsel des Wohn-
raums konfrontiert. Deshalb ist für Immobilien die einfache Möglichkeit ihres Wiederverkaufs
zum wichtigsten Kaufkriterium geworden. Viele der inzwischen internationalen Immobilien-
maklergesellschaften bieten die Möglichkeit des Rückkaufs an. Außerdem hat sich eine elekt-
ronische Verkaufsplattform und Tauschbörse für Immobilien entwickelt, wodurch „das Haus
oder die Wohnung fürs Leben“ endgültig der Vergangenheit angehören.

Der häufigste Anlass zum Wohnortwechsel beruht auf beruflichen Veränderungen. Bei Kin-
dern im Schulalter und eingeschränkter Flexibilität des Lebenspartners aufgrund dessen eige-
ner beruflicher Situation entscheiden sich immer mehr Familien für „Wohnortsplitting“,
d. h. einen Haushalt am Ort des Arbeitsplatzes und den anderen Haushalt am Ort der Rest-
familie. Aus dieser „Living Apart Together“-Situation von Paaren (LATs) haben sich mehrere
neue Wohnformen entwickelt. Aus ökonomischen Gründen sind immer häufiger Wohnge-
meinschaften von Professionals anzutreffen, die in ihrer Freizeit zum Wohnort ihrer Familie
zurückkehren. Da oft aber auch die Convenience am Arbeitsort im Vordergrund steht, konnte
sich aufgrund der beruflich bedingten Teilzeitsingles das sog. „Concierge-Wohnen“ mit Wä-
sche- und Einkaufsservice in der Nähe von Arbeitgebern oder Orten mit einer hohen Unter-
nehmensdichte etablieren. Die Anzahl von „Hometels“, einer Mischung aus Hotel und kleinem
Arbeitsbüro für Arbeitsnomaden, hat ebenfalls immens zugenommen.

Funktionalität des Wohnraums

Inzwischen ist die optimale Anpassung des Wohnraums an die jeweilige Lebensphase und die
damit verbundene Anzahl der Bewohner gefragt. Diese Entwicklung hat die Nachfrage nach
kurz- und langzeitvariablen Trennwandsystemen verstärkt, die je nach der jeweiligen Bedürf-
nisstruktur der Bewohner eingezogen oder wieder abgebaut werden können. Häuser werden
zunehmend modular gebaut, wobei sich an das boxförmige Grundmodul mit Küche, Medien-
zone und Schlafbereich weitere kleinere Module wie z. B. für Sport/Hobby oder für Kinder an-
schließen können. Bei Auszug der Kinder können diese entweder ihr Wohnmodul „mitneh-
men“ oder es an junge Familien weiterverkaufen.

Die mobile Immobilie

Die häufige Konfrontation mit einem beruflich bedingten Wechsel hat als Gegentrend die
Sehnsucht nach örtlicher Verbundenheit und den eigenen vier Wänden geweckt. Die Bauwirt-
schaft hat darauf mit der Entwicklung einer mobilen Wohnbox als kleinstem Fertighausprodukt
reagiert. Aufgrund seiner geringen Ausmaße (im Schnitt 4x12 Meter) kann es in wenigen
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Stunden auf- und abgebaut werden und ist jederzeit bereit mitzuziehen. Dieses Konzept stößt
auf eine hohe Akzeptanz, da auf etwa einem Drittel aller Neubauflächen, die aus dem attrakti-
ven Rückbau der Städte entstanden sind, statt neuer Häuser Gerüste gebaut werden, in wel-
che die Wohnboxen eingeschoben werden können. Eine Alternative stellt die teurere Variante
in Form der Errichtung von Fundamenten für diese Wohnboxen in einem attraktiven Umfeld
dar. Diese vermitteln ihren Bewohnern bei einer voneinander abgegrenzten Postierung das
Wohngefühl des früheren Einfamilienhauses, wohingegen eine dichtere Postierung temporäre
Siedlungen und Nachbarschaften entstehen lässt. Bei der teureren Lifestylevariante wird die
Box auf Flachdächer von Wohnhäusern als alternatives Penthouse oder auf Schwimmflächen
in stadtnahen Seen oder Flüssen postiert. Damit zerfällt die Immobilie immer stärker in die
beiden Komponenten „Wohnobjekt“ und „Stellfläche“.

Eine weitere aktuelle Zeiterscheinung ist die virtuelle Adresse, die aus der Sehnsucht resul-
tiert, sich mit Personen, mit denen man ausschließlich via Web kommuniziert, in einer Räum-
lichkeit zum Zwecke unterschiedlicher Aktionen zu treffen. Hier gibt es inzwischen zahlreiche
Kauf- und Verkaufsplattformen für virtuelle Adressen mit Bildern und 3D-Führungen und man-
cher, der es im Leben nicht zum Erwerb einer attraktiven Immobilie geschafft hat, kann hier
zumindest einen Ausgleich in der virtuellen Welt finden.

Verlagerung des Lebensmittelpunktes in den außerhäuslichen Bereich

Insbesondere in den Stadtwohnungen verbringt man immer weniger Zeit zu Hause. Küchen
sind deshalb in Wohnmodulen oder -boxen von vernachlässigbarer Größe und gehen ohne
Abtrennung in die Medienzone über. Der Grund für den außerhäuslichen Trend ist die ständi-
ge und fast zwanghafte Offenheit für Kontakte, sei es in puncto Partnersuche bei Singles oder
Netzwerkknüpfung zu beruflichen Zwecken. Restaurants und Cafés haben diese Entwicklung
erkannt und bieten eine Option zum Arbeitsplatz und häuslichen Umfeld in Form eines soge-
nannten „Third Place“, der einerseits eine professionelle Logistik und andererseits ein Hei-
matgefühl bietet. Außerdem ist ein steigendes Angebot an Business Lounges als zusätzliches
Büro zum häuslichen Schreibtisch, als Büroersatz mit gleichzeitiger Kontaktmöglichkeit zu
anderen selbstständig arbeitenden Professionals zu verzeichnen.

Von der Bauwirtschaft zur Bauindustrie

Sowohl beim Bau kleinerer Wohnhäuser als auch beim mehrgeschossigen Wohnungsbau
wird die Vorfertigungstiefe in Form einer Umstellung des handwerklichen Bauens zum indus-
triellen Bauen zunehmen. „Zusammensetzen statt Bauen“ heißt das neue Motto. Die Vorteile
liegen in der Kostengünstigkeit, der hohen Detailqualität und in der Kostensicherheit.

Im privaten Wohnungsbau hat ein Trend zu „House on Demand“-Systemen eingesetzt, bei
dem nicht mehr der Hersteller Fertighaus-Modelle mit bestimmten Variationsmöglichkeiten
anbietet, sondern der Kunde selbst sein Haus mit oder ohne Hilfe eines Architekten am Com-
puter zusammenstellen kann. Dadurch wird die Grenze zwischen Fertighaus und Architekten-
haus immer mehr aufgehoben. Inzwischen haben Konzentrationsprozesse zwischen Bauwirt-
schaft und Möbelherstellern stattgefunden, wie die ersten Fertighauslinien eines skandinavi-
schen Möbelherstellers und eines italienischen Designmöbelherstellers zeigen.

Im Mehrgeschossbau führt der Trend der hohen Vorfertigungstiefe zum sog. Systembauen,
d. h. dass z. B. der Einbau von Fenster durch vorgefertigte Montagewinkel einfach und schnell
vonstatten geht. Dieses System-Prinzip wurde auch auf andere Bauteile übertragen, wie
Dachsysteme mit Sonnenkollektoren, vorgefertigte Wandteile mit technischer Infrastruktur und
Treppenhäuser mit Aufzug. Aufgrund der industriellen Vorfertigung sind viele Akteure, die an
Bauplanung und -ausführung beteiligt waren, weggefallen. Inzwischen tritt eine Vielzahl an
Bauträger als Komplettanbieter und einziger Ansprechpartner gegenüber dem Bauherrn auf.

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Dem Nachteil des Wegfalls von Arbeitsplätzen stehen der Vorteil einer Verkürzung der Bau-
zeit und eine höhere Qualitätssicherung gegenüber.

Aufgrund des Kostenbewusstseins nicht nur bei der Erstellung, sondern auch bei den Be-
triebskosten hat sich das Niedrigenergiehaus als Standard durchgesetzt. Häufig ist man nicht
nur sein eigener Energieproduzent, sondern gibt auch Energie ans Stromnetz zurück. Passiv-
energiehäuser im Mehrgeschossbau erfüllen nun endlich die in sie gesetzten Erwartungen
auch bei den inzwischen extremeren Klimaschwankungen. Die durch Niedrig- oder Passiv-
energiehäuser erzielte Energieeinsparung wird jedoch schon im Vorfeld von einer wenig
nachhaltigen Bauwirtschaft torpediert, da an der Energie zur Herstellung der Bauteile nicht
gespart wird und sich die Transportwege der Baumaterialien durch die Globalisierung sogar
verlängert haben.

Da in der Gesellschaft persönliche Egoismen und positive Selbstdarstellung im Vordergrund
stehen, hat sich der öffentliche Raum zu einer permanenten Bühne der Selbstinszenierung
entwickelt. Davon zeugt die Omnipräsenz von Livecam-Großleinwänden in den Städten, die
dem einzelnen zum einen das Gefühl des ständigen Gesehenwerdens verleiht. Zum anderen
werden damit Live-Verbindungen zu Menschen an anderen Orten geschaffen, so dass die
Welt zeitweilig zu einer Community schrumpft, die sich durch ähnliche Tätigkeiten und Stim-
mungen definiert.

Durch den schnellen Zeittakt, die Dichte gleichzeitiger Lebensstile und die daraus resultieren-
de ansteigende Reizschwelle müssen Shopping-Malls, Restaurants, Museen oder Sportstät-
ten sehr viel stärker als früher „eventisiert“ werden, ansonsten lässt das Interesse der Nutzer
schnell nach. Hier muss einerseits Architektur noch sehr viel stärker wie bisher für Erlebnis-
charakter sorgen und andererseits möglichst viele Optionen für schnelle Umbauten zulassen.

4 Ausblick
Es soll weniger um die Entscheidung gehen, welches der beiden Szenariobilder das wahr-
scheinlichere in der Zukunft ist. Vielmehr sollen beide Szenariobilder das Spektrum wahr-
scheinlicher Trends aufzeigen und zu gesellschaftlichen Diskursen anregen. Ob beispielswei-
se der öffentliche Raum als kollektiver Ort eher für Ruhe und Besinnung oder seine freneti-
sche Erlebnisqualität für Anregung sorgt, liegt als Gestalter von Räumen auch in Ihren Hän-
den.

                                          „Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist sie zu gestalten.“
                                                                                                Anonymus

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