Soll man denn sonst testen - Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche Ärzte gegen Tierversuche e.V - Ärzte gegen Tierversuche
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Ärzte gegen Tierversuche e.V. Woran testen soll man denn sonst Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
Foto: Yuri Arcurs Photography/fotolia.com Inhalt Woran soll man denn sonst testen? Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche © luchschenF/stock.adobe.com
Inhalt 1. Einleitung 04 2. Innovative Forschungsmodelle des 21. Jahrhunderts 05 1. Organoide und 3D-Zellkultur 06 iPSC – die Alleskönnerzellen 06 Mini-Organe – Abbilder menschlicher Organe 06 Ideale Krankheitsmodelle 07 2. Wie ein „Mini-Mensch“: Multi-Organ-Chips 08 3. Computermodelle 10 4. Bildgebende Verfahren 11 5. Ethisch vertretbare Forschung am Menschen 11 Klinische Studien 11 Bevölkerungsstudien 11 3. Tierversuchsfreie Methoden in der Aus-, Fort- und Weiterbildung 12 4. Validierung tierversuchsfreier Methoden 14 1. Wozu werden Forschungsmethoden validiert? 14 2. Wer ist zuständig für die Validierung von Forschungsmethoden? 14 3. Wie läuft die Validierung ab? 15 4. Wo liegen die Probleme? 16 5. Welche validierten Forschungsmethoden gibt es bereits? 16 6. Was muss sich in Zukunft verbessern? 16 7. Werden tierversuchsfreie Methoden ausreichend gefördert? 18 5. Paradigmenwechsel hin zu einer tierversuchsfreien Forschung 19 1. Warum werden Tierversuche überhaupt noch gemacht? 19 2. Spiegeln Tiere den Menschen wirklich wider? 19 3. Gäbe es ohne Tierversuche keinen medizinischen Fortschritt? 20 6. Quellen 22
Einleitung 1 Einleitung Immer wieder wird behauptet, Tierversuche seien notwendig, um Sicherheit für den Menschen zu ge- währleisten und ohne Tierversuche würde medizi- nischer Fortschritt zum Stillstand kommen. Zahlreiche wissenschaftliche Publikationen zeigen auf, dass dies nicht stimmt1–4. Kritik wird bei weitem nicht nur von Tierrechtsorganisationen geübt, sondern auch von zahlreichen renommierten Forschern aus der ganzen Welt, sowie von Institutionen der Europäischen Kom- mission und internationalen politischen Instanzen. Im- mer mehr Staaten, darunter die USA5, die Niederlande6, Großbritannien7 und Norwegen8, entwickeln konkrete Heutzutage gibt es eine solche Fülle an großar- strategische Pläne zu einem zumindest teilweisen Aus- tigen tierversuchsfreien Forschungsmethoden, stieg aus dem Tierversuch. Das Hauptproblem ist, dass dass es schwerfällt, den Überblick zu behalten. Tierversuche keine zuverlässige Vorhersagekraft für Jeden Tag gibt es zahlreiche Meldungen zu neu- menschenrelevante Fragestellungen haben und die en innovativen Verfahren, die Forscher auf der Übertragung der Ergebnisse auf den Menschen ein ganzen Welt entwickeln. Um eine Übersicht und unkalkulierbares Risiko darstellt. eine gezielte Suche zu erleichtern, haben wir die NAT-Database entwickelt, eine kostenlose zwei- Dahingegen existieren heutzutage zahlreiche tierver- sprachige Online-Datenbank (Deutsch und Eng- suchsfreie In-vitro-Methoden, die zuverlässiger und lisch) zu tierversuchsfreien Forschungsmethoden kostengünstiger sind als Tierversuche und im Gegen- (www.nat-database.de). NAT steht für Non- satz zum Tierversuch für den Menschen relevante Animal Technologies und die Datenbank enthält Versuchsergebnisse liefern. Um jedoch einen Paradig- hunderte Einträge, wobei sie kontinuierlich er- menwechsel herbeizuführen, muss der Tierversuch als weitert wird. Die Einträge enthalten eine kurze „Goldstandard“ in der Forschung abgeschafft und For- Zusammenfassung der Methode inkl. Quellen, schungsgelder müssen umgeschichtet werden. Noch sowie Informationen zum verantwortlichen immer werden Tierversuchsprojekte in Deutschland Forscher und dem entsprechenden Forschungs- jährlich mit Milliarden unserer Steuergelder gefördert, institut oder Unternehmen. Die Suchmaske er- während in die moderne, tierversuchsfreie Forschung möglicht sowohl eine freie Schlagwortsuche als lediglich Millionenbeträge fließen9. auch Filter-Möglichkeiten nach Fachbereich (z. B. Onkologie oder Toxikologie), Modell (z. B. Multi- Diese Broschüre gibt einen Überblick über innovative Organ-Chips), Land usw. tierversuchsfreie Forschungsmethoden und erklärt, warum diese dem Tierversuch wissenschaftlich über- www.nat-datenbank.de legen sind. 4 Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
Innovative Forschungsmodelle des 21. Jahrhunderts 2 Innovative Forschungsmodelle des 21. Jahrhunderts Heutige In-vitro-Modelle, die für die biomedizi- nische Forschung genutzt werden, sind komplexer In vitro (lat: „im Reagenzglas“): und physiologischer denn je. Sie reichen von dreidi- Test-Systeme mit schmerzfreier mensionalen Zellkulturen über Organoide bis hin zu Multi-Organ-Chips, auf denen mehrere Organmodel- Materie in Form von Zellen, le kombiniert und mit einem simulierten Blut- und Geweben, Mikroorganismen usw. Urinkreislauf miteinander verbunden werden. Diese humanen Zellmodelle können aus induzierten plu- ripotenten Stammzellen (iPSCs) gezüchtet werden, In silico (lat.: „im Silizium“): also Zellen, die sich in jeden beliebigen Zelltyp, wie Computer-basierte Modelle Nerven- oder Hautzelle, verwandeln lassen. Die Zel- len können sowohl von gesunden Spendern als auch von Patienten stammen. Vor allem als Krankheits- In vivo (lat.: „im Lebenden“): modelle und für die Entwicklung von Medikamenten Versuche, die im lebenden oder die Testung von giftigen Substanzen sind sie Organismus stattfinden hochrelevant. Viele dieser Systeme wurden bereits erfolgreich validiert, insbesondere für den Bereich der gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuche wie die Sicherheitsprüfung von Chemikalien. Kontinuierliche Optimierungen, u. a. hinsichtlich der Integration von Blutgefäßen und Immunsystem, führen dazu, dass die humanbasierten In-vitro-Modelle die Problematik der mangelnden Übertragbarkeit von Tierversuchen auf den Menschen überwinden können. Für die wissenschaftliche Diskussion um die Abschaf- fung von Tierversuchen spielen die Etablierung dieser Systeme und ebenso die Entwicklung von komplexen Computersimulationen (In-silico-Verfahren) eine ent- scheidende Rolle. Mit diesen Verfahren stehen nun Forschungsmodelle zur Verfügung, die bereits heute © BIOLines eine bessere Vorhersagekraft für den Menschen haben als Tierversuche, wie Vergleichsstudien zeigen10-12. Das Auge-auf-dem-Chip besteht aus menschlichen Augen- In Kombination mit Humanstudien und bildgebenden hornhaut- und Bindegewebszellen sowie einem blinzelnden Verfahren hat die Forschung das ideale Werkzeug, um Augenlid. zuverlässige Forschungsergebnisse zu generieren. Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche 5
Innovative Forschungsmodelle des 21. Jahrhunderts 1. Organoide und 3D-Zellkultur In den vergangenen Jahren hat die humanbasier- MINI-GEHIRNE te In-vitro-Forschung eine spektakuläre Entwicklung hingelegt. Forschern ist es um das Jahr 2010 erstmals gelungen, sogenannte Organoide im Labor zu züch- ten13–15. Dabei handelt es sich um dreidimensionale humane Zellkulturen, die das Erscheinungsbild und die Funktion eines menschlichen Organs erstaunlich gut widerspiegeln16. Bis dato wurden in der biomedi- © Plummer et al - SciRep 2019 (1). zinischen In-vitro-Forschung hauptsächlich zweidimen- sionale Zellkulturen eingesetzt. Das sind „unsterbliche“ Zelllinien, die eine flache Zellschicht bilden. Solch ein Modell ist von Aufbau und Funktion eines dreidimen- sionalen Organs weit entfernt. Die modernen 3-dimen- sionalen Zellkultursysteme wie Organoide haben nicht Menschliche Mini-Gehirne, die Gehirntumore entwickeln. nur zahlreiche Vorteile gegenüber den alt bekannten Unten (d-f) sieht man das gesunde Gehirngewebe in blau Zelllinien, sondern auch gegenüber Tierversuchen. Die und die Tumore in violett. Der Durchmesser der Mini-Ge- humanbasierten In-vitro-Modelle wie Organoide sind hirne beträgt ca. 0,5 mm. für die Testung von Medikamenten und die Erforschung humaner Krankheiten essentiell. Sie haben zudem den einzigartigen Vorteil, dass sie eine personalisierte, also auf den einzelnen Menschen individuell zugeschnitte- verschiedenen Zellarten, die in der Regel einen halben bis ne, Medizin ermöglichen. Eine Eigenschaft, die Tierver- einen Millimeter groß sind. Sie lassen sich über mehrere suche niemals widerspiegeln können. Wochen oder Monate in Zellkulturplatten kultivieren und praktisch unbegrenzt in vitro vermehren. Sowohl iPSCs als auch die Organoide selbst können in gefrorenem Zu- iPSC – die Alleskönnaerzellen stand gelagert werden, so dass aktuell riesige Biobanken Humane Organoide werden basierend auf menschlichen geschaffen werden, die iPSCs oder Organoide etlicher Stammzellen gezüchtet17. Hierbei werden entweder menschlicher Spender (gesunder und erkrankter) enthal- Stammzellen aus Gewebebiopsien isoliert oder es wer- ten18. Auf diese Weise können bei Bedarf Proben auf- den z. B. Haut- oder Haarwurzelzellen eines mensch- getaut und wieder in Kultur genommen werden, um die lichen Spenders durch gentechnische Verfahren zu gewünschten Testungen daran durchzuführen. induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSC: induced pluripotent stem cell) umprogrammiert. Auch Zahn- Organoide konservieren in vitro die Eigenschaften des mark oder Blut können als Quelle für Stammzellen die- Zellspenders, so dass sie ein ideales Krankheitsmodell nen. Großer Vorteil des iPSC-basierten Verfahrens ist, für die biomedizinische Forschung darstellen, wenn dass die Gewinnung der Spenderzellen für den Men- man sie aus Patienten generiert. Zudem können Orga- schen unkompliziert und schmerzfrei ist und dass die noide in vitro gentechnisch so verändert werden, dass geschaffenen iPSCs in vitro praktisch jedes beliebige gezielt Krankheitsgene entweder korrigiert19 oder ein- Organoid bilden können. gebaut20 werden. Solche Krankheitsmodelle sind we- sentlich aussagekräftiger als gentechnisch veränderte „Tiermodelle“. Mini-Organe – Abbilder menschlicher Organe Sowohl die molekularen Ursachen menschlicher Er- Durch Anpassung der Kulturbedingungen, insbeson- krankungen, als auch therapeutische Ansätze lassen dere der eingesetzten Wachstumsfaktoren, werden sich mithilfe dreidimensionaler Zellmodelle wie der dann beispielsweise Darm-, Gehirn-, Leber- oder Nie- Organoide exzellent erforschen21. Gehirnorganoide renorganoide gezüchtet. Die Organoide – oder Mini- („Mini-Hirne“) oder andere komplexe neuronale Zell- Organe – sind komplexe dreidimensionale Gebilde aus modelle wurden bereits aus Patienten gezüchtet, die 6 Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
ORGAN-BIOPSIE DARM LEBER GEHIRN NIERE IN VIVO © Ärzte gegen Tierversuche e.V. ORGANOID IN VITRO Da alle Organe ihre eigenen Stammzellen besitzen, kann aus jedem Organ im Labor ein Organoid gezüchtet werden. An den unterschiedlichen Farben bei den Fluoreszenz-mikroskopischen Aufnahmen sieht man, dass die Organoide komplexe und vielfältige Strukturen aufweisen, die denen des echten Organs ähneln. an Alzheimer22, Parkinson23, Schizophrenie24 und Autismus25 oder Chorea Huntington26 leiden. Bei neuro- 3D-BIODRUCK logischen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer be- steht eine besonders dringende Notwendigkeit, neue Komplexe menschliche Zellmodelle kön- Modellsysteme zu etablieren, die auf menschlichen nen nicht nur aus Stammzellen kultiviert, Zellen basieren, da die bisherige Forschung an hun- sondern auch mittels 3D-Biodruck konstru- derten „Tiermodellen“ bis heute keine zufriedenstel- iert werden36. Hierzu wird ein 3D-Drucker lende Behandlung ermöglicht27–29. verwendet und spezielle Biotinten, die ne- ben einer Gel-artigen Substanz auch die menschlichen Zellen für das Modell enthal- Ideale Krankheitsmodelle ten. Biotinten enthalten allerdings häufig Unzureichende Wirksamkeit und inakzeptable Ne- Substanzen tierischen Ursprungs wie fe- benwirkungen führen häufig dazu, dass Therapien tales Kälberserum (siehe Kasten Seite 10). abgebrochen werden müssen oder Medikamente Der Ansatz des Clean Bioprinting verfolgt sogar zurückgezogen werden. Als Krankheitsmo- die Etablierung eines Systems, das kom- dell sind dreidimensionale In-vitro-Modelle, die man plett frei von tierischen Inhaltsstoffen ist37. aus Zellen von Patienten züchtet, ideal geeignet, da Computergesteuert werden verschiedenste sie humanrelevante Ergebnisse liefern. Anhand von komplexe Zellmodelle gedruckt, die unter- Nervenzellen, die aus iPSCs von magersüchtigen schiedliche humane Zelltypen enthalten, Patientinnen kultiviert wurden, konnte ein Gen iden- die in verschiedenen Anordnungen so zu- tifiziert werden, das im Zusammenhang mit Mager- sammengesetzt werden, dass eine Organ- sucht (Anorexia nervosa) zu stehen scheint30. Humane ähnliche Struktur entsteht. So werden z. B. Gehirnorganoide werden auch für die Krebsforschung menschliche Herz-, Haut- oder Lungenmo- eingesetzt, indem sie mit menschlichen Tumorzellen delle gedruckt, um Medikamente zu te- versetzt werden, so dass sich in ihnen Gehirntumore sten, Krankheiten oder Infektionsprozesse entwickeln31. Anhand dieses In-vitro-Modells können zu erforschen und die Giftigkeit von Sub- dann Wirkstoffe hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und stanzen zu testen38–40. Effektivität getestet werden. Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche 7
Innovative Forschungsmodelle des 21. Jahrhunderts PERSONALISIERTE KREBSTHERAPIE KREBSPATIENT MIT TUMOR Da jeder Mensch und auch jeder Tumor anders auf eine bestimmte Behandlung reagiert, ist es ein großer Vorteil, dass iPSC-basierte In-vitro-Modelle eine personalisierte Medizin ermöglichen. Diese ist bereits in der klinischen ? Anwendung angekommen: In Absprache mit dem be- handelnden Onkologen wird eine Tumor-Biopsie des Patienten ins Labor geschickt, aus der Tumor-Organo- ide („Mikrotumore“) gezüchtet werden. Daran können dann diverse Therapiemöglichkeiten getestet werden und die individuell am besten wirksamen Medikamente © Ärzte gegen Tierversuche e.V. werden dem Patienten schließlich verabreicht32. Die Mikrotumor-Technologie eignet sich auch für die Er- forschung neuer Medikamente, deren Wirksamkeit in den Tumororganoiden analysiert werden kann33,34. Die Entwicklung von Krebsmedikamenten in Tierversuchen birgt die Gefahr, dass die Ergebnisse nicht auf den Men- schen übertragbar sind. In Anbetracht der individuell Die Mikrotumor-Technologie ermöglicht eine personalisier- unterschiedlichen Wirksamkeit beim Menschen bzgl. te Krebstherapie. Aus einer Tumorbiopsie eines Patienten Effektivität und Nebenwirkungen von Krebsmedika- werden Tumor-Organoide in vitro kultiviert und vermehrt. menten hat die personalisierte Krebstherapie ein enorm Anschließend werden diverse Therapiemöglichkeiten daran hohes Potenzial im Gegensatz zur Testung in artfrem- getestet und dem Patienten letztendlich die Medikation den Spezies wie Mäusen, in denen menschliche Tumore verabreicht, die in vitro die beste Wirkung gezeigt hat. künstlich herangezüchtet werden35. 2. Wie ein „Mini-Mensch“: Multi-Organ-Chips Ein In-vitro-System, das für die Zukunft der Biome- dizin und der Medikamentenentwicklung von höchster Bedeutung ist, ist der sogenannte Multi-Organ-Chip (MOC)41. Bei MOCs werden mehrere Organoide oder ähnliche menschliche Zellmodelle auf einem Biochip untergebracht, auf dem sie über ein Mikrokanal-System © Ärzte gegen Tierversuche e.V. miteinander verbunden sind. Die Mikrokanäle, die die Organe auf dem Chip miteinander verbinden, simulie- ren den Blutkreislauf und ggf. auch den Urinkreislauf, wenn sich ein Nierenmodell auf dem Chip befindet. Aus dem Mikrokanal-System können Proben entnom- men werden, die einer Blutabnahme oder Urinpro- 4-Organ-Chip be beim Patienten entsprechen. Die Organe auf dem Chip haben einen Stoffwechsel und können über das In das System können Nährlösungen eingeleitet wer- Mikrokanal-System miteinander interagieren und Stoffe den, aber auch Medikamente, Chemikalien oder Gift- austauschen. Verglichen mit der isolierten Kultivierung stoffe sowie Wirkstoff-Kombinationen. Bei der Testung der einzelnen Organmodelle, verbessern sich beim kann eine intravenöse (in die Blutbahn) oder eine orale MOC die Organ-spezifischen Funktionen teilweise so- Gabe (über den Mund) bestimmter Substanzen simu- gar durch die Interaktion mit den anderen Organen. Der liert werden. Soll ein bestimmtes Medikament beim MOC wird an ein elektronisches Steuerungselement an- Patienten oral verabreicht werden, wird es in dem geschlossen, so dass man diverse Messgrößen wie die MOC erst in den Darm geleitet, wo es aufgenommen Flussrate, oder die Reihenfolge, in der die Organe ange- wird, und erreicht dann die weiteren Organe wie Leber steuert werden, Computer-basiert regulieren kann. und Niere, wo es abgebaut und ausgeschieden wird. 8 Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
10-ORGAN-CHIP FLÜSSIGKEITS- MISCHER PANKREAS LEBER DARM LUNGE HERZ MUSKEL GEHIRN © Holloway PM et al. Stroke 2016 (modifiziert) GEBÄRMUTTER HAUT NIERE Forscher vom Massachusetts Institute of Technology, USA, entwickelten einen Organ-Chip, auch microphysiological system (MPS) genannt, auf dem 10 menschliche Mini-Organe untergebracht sind: Bauchspeicheldrüse, Leber, Darm, Lunge, Herz, Muskel, Gehirn, Gebärmutter, Haut und Niere45. Die Mini-Organe interagieren in dem MPS miteinander, haben einen richtigen Stoffwechsel und erfüllen bis zu 4 Wochen lang Funktionen der echten Organe. Der bekannte Entzündungshemmer Diclofenac wurde im MPS getestet, und Verteilung und Abbau spiegeln in den Mini-Organen und im Durchfluss-System die Verstoffwechselung des Medikaments im menschlichen Körper wider. Das MPS wird momentan für die Hochdurchsatz- Anwendung etabliert, d. h. automatisierte Abläufe, bei denen Tausende Substanzen in kürzester Zeit gemessen werden können. Das ist entscheidend für die Etablierung in der Pharmaindustrie. Auch die verwendeten Zellkultur-Modelle werden kontinuierlich weiterentwickelt, so dass sie den echten menschlichen Organen immer mehr ähneln. Gerade im Bereich der Toxikologie (Giftigkeitstestung) suchungen). In den Chip sind Komponenten wie eine etablieren sich diese Systeme rasant, da sie humanrele- Mikropumpe oder pH- und Sauerstoffsensoren inte- vante Daten liefern. griert, die es ermöglichen, Blutdruck und Puls zu simu- lieren42. Je nach wissenschaftlicher Fragestellung werden Die Auswirkung der eingeleiteten Substanzen auf die unterschiedliche und unterschiedlich viele Organe auf einzelnen Organe kann untersucht werden, indem die dem Chip platziert. So enthält ein MOC zur Erforschung Organmodelle vom Chip entnommen und analysiert von Diabetes ein Bauchspeicheldrüsen-Modell, sowie werden. Auch der Abbau eines Wirkstoffs kann durch insulin-sensitive Organe wie Leber oder Muskel43, wäh- Analyse der entnommenen Proben aus dem Mikrokanal- rend für die Erforschung von Fettleibigkeit Leber, Fett- System verfolgt werden (pharmakokinetische Unter- gewebe und ein Blutgefäß-Modell eingesetzt werden44. Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche 9
Innovative Forschungsmodelle des 21. Jahrhunderts FETALES KÄLBERSERUM Um Zellen am Leben zu halten und zum Wachsen zu bringen, benötigen sie ein Nährmedium, d. h. eine Flüssigkeit, in der verschiedene Nährstoffe enthalten sind. Pixabay/Ärzte gegen Tierversuche e.V. Standardmäßig wird dafür bisher Blutserum von ungeborenen Kälbern genutzt. Um fetales Kälberserum (FKS) zu gewin- nen, wird direkt nach der Schlachtung ei- ner schwangeren Kuh dieser der Fötus aus der Gebärmutter herausgeschnitten. Dem Mittels Multi-Organ-Chips soll erforscht werden, wie sich der Aufenthalt im Weltall auf den Alterungsprozess noch lebenden Kalb wird eine dicke Nadel des menschlichen Immunsystem auswirkt. (Symbolbild) ins schlagende Herz gestoßen, das Blut wird abgesaugt, bis das Tier blutleer ist und stirbt. Diese Prozedur geschieht ohne MOCS IM WELTALL Betäubung, obwohl davon auszugehen ist, Die NASA finanziert ein Forschungsprogramm, bei dem dass Kälberfeten bereits leidensfähig sind47. MOCs mit modernen menschlichen Zellkultursystemen zum ISS National Lab, einem Labor auf der ISS-Raum- Es gibt bereits eine Vielzahl FKS-freier Nähr- station, geflogen werden46. Diese MOCs simulieren bei- medien48. Das humane Blutplättchen-Lysat spielsweise ein humanes Immunsystem bestehend aus (hPL) etwa wird aus abgelaufenen Blutspen- Immun-, Knochenmarks- und Blutgefäßzellen. Die Chips den gewonnen, die normalerweise wegge- werden zwei Wochen lang im All getestet und anschlie- worfen werden. Daneben gibt es eine ganze ßend eingefroren, um sie zu konservieren und nach ihrer Reihe weiterer FKS-freier Nährmedien, die Rückkehr zur Erde verschiedenen Analysen zu unterzie- aus menschlichem Blut oder synthetisch hen. Man möchte auf diese Weise herausfinden, wie sich hergestellt werden. Das größte Problem der Aufenthalt im Weltall auf den Alterungsprozess des beim Umstieg auf diese ethisch unbedenk- menschlichen Immunsystem auswirkt, um daraus Rück- lichen Nährmedien ist, dass Labore lieber schlüsse auf die körpereigenen Reparaturmechanismen auf Altbewährtes zurückgreifen, denn seit zu ziehen. Des Weiteren wird ein Nieren-Chip zum ISS- den 60er Jahren gilt das fetale Kälberserum Labor geschickt, sowie Knochen- und Knorpel-Chips und als „Goldstandard“. Und das obwohl FKS ein Chip, der die Blut-Hirn-Schranke abbildet. Für die Ent- wegen seiner variablen Zusammensetzung zündungsforschung folgt noch ein Chip, auf dem Lunge die Ergebnisse verfälschen kann. und Knochenmark miteinander verbunden sind. 3. Computermodelle Hochrelevant sind auch die so genannten In-silico- In-silico-Verfahren wie QSAR- (Quantitative Structure- Verfahren, also Computer-basierte Methoden, die in Activity Relationship) oder PBKD- (Physiologically Ba- den letzten Jahren entwickelt wurden, um die Wirk- sed Kinetic and Dynamic) sind von der europäischen samkeit und Giftigkeit von Substanzen im menschlichen Institution ECVAM (European Centre for the Validation Organismus vorherzusagen. Die chemischen Eigen- of Alternative Methods) und der weltweiten OECD be- schaften neuer Substanzen werden mithilfe solcher reits validiert und als Alternative zu Tierversuchen im Verfahren vorhergesagt und z. B. mit Daten von bereits regulatorischen Bereich akzeptiert49. anerkannten Chemikalien abgeglichen. Solche Computer- programme haben nachgewiesenermaßen eine bessere Vorhersagekraft im Vergleich zu Tierversuchen10–12. 10 Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
4. Bildgebende Verfahren Bildgebende Verfahren gibt es schon seit vielen Jahr- rimente an Tieren, für die häufig Affen, Mäuse, Ratten zehnten und sie werden stetig weiterentwickelt und oder Insekten eingesetzt werden. Die Verfahren sind optimiert. Relevante Erkenntnisse für den Bereich der auch zur Untersuchung neurologischer Erkrankungen humanmedizinischen Grundlagenforschung lassen sich und zur Diagnose von Gehirntumoren geeignet. an menschlichen Patienten auf diese Weise direkt ge- winnen. Hierzu zählen beispielsweise die Computer- Ein häufiger Kritikpunkt, der bzgl. humaner Zellkultur- tomografie und andere tomografische Verfahren 50,51. modelle oder auch Multi-Organ-Chips geäußert wird, Dabei werden Organe als dreidimensionales Gesamtbild ist das Fehlen eines Gesamtorganismus, in dem man dargestellt. In der Hirnforschung können so einzelne systemische Effekte untersuchen kann. Kombiniert Bereiche des menschlichen Gehirns während bestimm- man die komplexen humanbasierten Zellmodelle mit ter Hirnleistungen bildlich dargestellt werden. Aktive Computersimulationen und mit Untersuchungen an Hirnzellen lassen sich identifizieren, während sich eine Probanden/Patienten unter dem Einsatz moderner bild- Versuchsperson Bilder oder Wörter einprägt oder an- gebenden Verfahren, so hat man ein umfassendes Port- dere Aufgaben durchführt. Solche Untersuchungen des folio für zuverlässige biomedizinische Untersuchungen menschlichen Gehirns mittels bildgebender Verfahren zur Verfügung. liefern eine viel bessere Aussagekraft als absurde Expe- 5. Ethisch vertretbare Forschung am Menschen Klinische Studien wirksam befunden werden, in den klinischen Studien Es besteht kein Zweifel daran, dass der lebende Mensch am Menschen durchfallen52–54. selbst das aussagekräftigste Forschungsobjekt ist, um humanrelevante Daten zu produzieren. Aus diesem Grund sind nicht- oder gering-invasive Humanstudien Bevölkerungsstudien von unschätzbarem Wert, um wertvolle Erkenntnisse Wertvolle Forschungserkenntnisse lassen sich auch mit- zu gewinnen. Selbstverständlich kann man aber ris- hilfe epidemiologischer Studien (Bevölkerungsstudien) kante Experimente, beispielsweise die Testung eines gewinnen, also Untersuchungen an Gruppen von Men- neuen Wirkstoffs, nicht direkt am Menschen durchfüh- schen. Auf diese Weise können die Zusammenhänge ren. Im Rahmen der Medikamentenentwicklung gibt zwischen bestimmten Krankheiten und dem Lebensstil es klinische Studien am Menschen, die vor der Zulas- sowie den Lebensumständen von Menschen, wie Ernäh- sung eines Wirkstoffs zum Tragen kommen. Bevor die rung, Gewohnheiten und Arbeit, aufgedeckt werden. klinischen Studien an menschlichen Probanden gestar- Insbesondere die Kombination aus epidemiologischen tet werden, finden zunächst präklinische Vortestungen und epigenetischen (die Art und Weise, wie Gene ab- statt, die zweifelsohne nötig sind, um die menschlichen gelesen werden) Analysen ist ein Forschungsfeld, das Testpersonen im Vorfeld bestmöglich abzusichern. Al- sich rasant entwickelt und sehr wertvolle Erkenntnisse lerdings sind bei diesen präklinischen Testungen im für die menschliche Gesundheit liefert55,56. Aufgrund Bereich der Medikamentenentwicklung immer noch der Ergebnisse aus epidemiologischen Untersuchungen Tierversuche vorgeschrieben. Das heißt, erst wenn ein können wichtige vorbeugende Maßnahmen abgeleitet Wirkstoff im Tierversuch als sicher und wirksam befun- werden. So wurden auch die krebserregenden Eigen- den wurde, wird er an menschlichen Probanden gete- schaften von Tabakrauch und Asbest erkannt. Fleisch- stet. Dies birgt für den Menschen ein hohes Risiko, da und fettreiche Ernährung, Bewegungsmangel sowie Tiere häufig ganz anders auf Substanzen reagieren als psychosoziale Faktoren konnten aufgrund von Bevöl- Menschen. Die Tatsache, dass die Tierversuche kein ge- kerungsstudien als Hauptursachen für Diabetes, Krebs eignetes Modell sind, um eine Substanzwirkung beim und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Schlaganfall, Menschen vorherzusagen, ist ein Problem, das zuneh- Herzinfarkt und Arteriosklerose identifiziert werden. mend in der Wissenschaftswelt kritisiert wird. Zahl- reiche Studien belegen, dass bis zu 95% der Medika- mente, die in präklinischen Tierversuchen als sicher und Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche 11
Tierversuchsfreie Methoden in der Aus-, Fort- und Weiterbildung 3 Tierversuchsfreie Methoden in der Aus-, Fort- und Weiterbildung Wer Biologe, Biologielehrer, Arzt oder Tier- Computersimulationen arzt werden möchte, wird an den meisten Mit modernen Computerprogrammen lassen sich deutschen Universitäten gleich zu Beginn physiologische Phänomene lebensecht nachahmen. seines Studiums mit Tierversuchen bzw. dem Eine Kurve, z.B. zur Reizfrequenz, wird nicht durch den zuckenden Froschmuskel gezeichnet, sondern sogenannten „Tierverbrauch“ konfrontiert. durch den Computer, nachdem der Studierende ver- schiedene Parameter im virtuellen Labor eingestellt Darunter versteht man die Verwendung eigens zu hat. Viele Programme sind hoch interaktiv und fordern Studienzwecken getöteter Tiere oder Teilen von ihnen, vom Studierenden aktive Mitarbeit. Auf diese Weise Aufschneiden von Tieren sowie Übungen an Organprä- wird eine besonders hohe Einprägsamkeit erreicht. paraten, aber auch Versuche an lebenden Tieren. So Computersimulationen gibt es nicht nur für physio- sollen den Studierenden Grundbegriffe der Baupläne logische Versuche, sondern auch für morphologische von Tieren und die Funktion der Organe vermittelt Präparationen, pharmakologische Experimente und werden. Im Zoologiepraktikum beispielsweise werden vieles mehr. Ratten, Schnecken, Insekten und andere Tiere getötet und aufgeschnitten, um Aussehen und Lage der Organe kennenzulernen. Weit verbreitet sind Tierversuche in Selbstversuche der Physiologie, insbesondere sind hier die berüchtigten Die Physiologie kann mit harmlosen Selbstversuchen „Froschversuche“ zu nennen. Den Fröschen wird der am eigenen Körper erfahren werden. Die Einprägsam- Kopf abgeschnitten, dann entnimmt man Organe wie keit erhöht sich dadurch erheblich. Mit myographischen Nerven, Muskeln oder das Herz. Auch abgetrennt vom Verfahren können so Muskelströme und -mechanik z. B. Körper reagieren die Organe auf Reize wie Strom- anstatt an einem Froschmuskel am Arm eines Studenten schläge oder Auftragen bestimmter Medikamente. Seit bestimmt werden. der italienische Arzt Aloysius Galvani im Jahr 1780 die elektrische Froschmuskelreizung erstmals beschrieb, Verantwortungsvolle haben Generationen von Studenten in aller Welt diesen Versuch an Abermillionen von Fröschen durchgeführt. Verwendung toter Tiere Es ist absolut nicht nötig, für anatomische Studien Dem gegenüber stehen mindestens 1.200 tierver- eigens Tiere zu töten. Schließlich werden für die suchsfreie Lehrmittel zur Verfügung57. Zahlreiche Uni- Anatomiekurse im Studium der Humanmedizin ja auch versitäten setzen bereits auf diese Innovationen, wäh- nicht eigens Menschen umgebracht. In den tierärzt- rend andere immer noch auf archaischen Methoden lichen Kliniken und Praxen fallen gestorbene oder aus beharren. medizinischer Indikation eingeschläferte Tiere an, die für diesen Zweck verwendet werden können. Auch 12 Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
für Biologiestudenten eignen sich natürlich zu Tode gekommene Wirbeltiere oder auch tot aufgefundene Insekten und Regenwürmer. Plastinationen Bei dem Verfahren der Plastination werden Organe oder ganze Tiere in einen gummiartigen, beliebig lan- ge haltbaren Zustand überführt, ohne dabei Form und Farbe zu verlieren. Simulatoren Lebensechte Dummies gibt es sowohl für die Human- © Skils Med Deutschland GmbH als auch die Tiermedizin. Die „Patienten“ haben einen Puls, Herzschlag, atmen und bluten. Studenten können an ihnen chirurgische Eingriffe, Notfallmaßnahmen und Behandlungen trainieren. Virtual Reality Der TraumaMan ist ein anatomisch korrektes menschliches Modell, das es ermöglicht, eine Vielzahl Virtual Reality für Chirurgen funktioniert wie ein von chirurgischen Verfahren zu üben. Künstliches Blut Flugsimulator in der Pilotenausbildung. Eine Echtzeit- kann durch den „Körper“ gepumpt werden, so dass das Simulation mit Videoaufnahmen aus echten OPs und Gewebe blutet, wenn ein Fehler gemacht wird. haptischer Wahrnehmung, d. h. der Chirurg fühlt, wenn er mit den Instrumenten auf Gewebe trifft, es schneidet, mit der Pinzette zieht oder schiebt. Das Simulationsprogramm rechnet das Tastgefühl um und präsentiert auf dem Bildschirm entsprechende Bilder aus einer riesigen Videodatenbank. Lernen am Patienten Studierende der Tiermedizin können Behandlungen und diagnostische Untersuchungen (EKG, Blutentnah- me, Reflexe usw.) an Tierpatienten erlernen, so wie es auch in der Humanmedizin üblich ist. Assistieren Operieren lernt ein angehender Arzt zunächst durch Übungen an menschlichen Leichen und ein Tierarzt an toten, auf natürliche Weise gestorbenen oder aus © SynDaver medizinischer Indikation eingeschläferten Tieren. Im nächsten Schritt erfolgt das Assistieren bei einem er- fahrenen Chirurgen, bis man schließlich in der Lage Das realitätsgetreue, chirurgische menschliche Modell ist, selbst Operationen – zunächst unter Aufsicht – am der Firma SynDaver ermöglicht beliebig wiederholbare Patienten vorzunehmen. So lässt sich das chirurgische chirurgische Eingriffe, bietet ein integriertes Gefäßsystem Handwerk sinnvoll erlernen. und verschiedene krankhafte Veränderungen. Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche 13
Validierung tierversuchsfreier Methoden 4 Validierung tierversuchsfreier Methoden Unter Validierung versteht man die wissenschaftliche Überprüfung einer Forschungs- methode für ihren praktischen Einsatz. Dabei wird sie in langwierigen und aufwendigen Verfahren unter anderem auf ihre Zuverlässigkeit, Wiederholbarkeit und Vorhersage- kraft beispielsweise schädlicher Wirkungen überprüft. Es ist ein Kritikpunkt, den man häufig von Tierversuchs- den nach diversen Kriterien, ob die jeweilige Methode verfechtern hört: Die tierversuchsfreien Forschungsme- geeignet ist oder nicht58. Die Validierung des Tests ist thoden seien nicht validiert. Das ist schlichtweg eine hierbei nur der erste Schritt, gefolgt von weiteren Stufen, Falschaussage. Zahlreiche solcher Verfahren wurden die der Test durchlaufen muss, bevor er letztendlich regu- bereits erfolgreich validiert. Was nachweislich jedoch latorisch akzeptiert wird. Die Validierung an sich ist hier nie validiert wurde, sind die Tierversuche. Würden die bereits ein strikter Prozess, der exakte Kriterien erfüllen tierversuchsfreien Methoden eine so schlechte Voraus- muss, die vom ECVAM und der OECD festgelegt sind59. sagekraft und Reproduzierbarkeit an den Tag legen wie Tierversuche, dann würden sie keine Validierung über- Unsere NAT-Database (siehe Seite 4) bietet die Möglich- stehen. Und würden Tierversuche dem Validierungs- keit, nach validierten Methoden zu filtern. Diese ma- prozedere bei tierversuchsfreien Methoden unterzogen chen nur einen Bruchteil aller Datenbank-Einträge aus, werden, würden sie durchfallen und dürften nicht zur was die Realität widerspiegelt. Grundsätzlich werden Anwendung kommen. nämlich die meisten tierversuchsfreien Methoden, die weltweit entwickelt werden, nicht validiert. Sie dienen 1. Wozu werden häufig der akademischen bzw. Grundlagenforschung, bei der eine Validierung einer Forschungsmethode Forschungsmethoden validiert? i.d.R. nicht im Vordergrund steht, sondern der wissen- Validierung tierversuchsfreier Testverfahren ist ein schaftliche Neuwert. Forschungsmodelle und -metho- großes Thema, wenn es darum geht, diese Methoden den sind hier nur Mittel, um wissenschaftliche Sachver- als sogenannte „Alternativen zum Tierversuch“ zu eta- halte zu erforschen. blieren und für regulatorische, also gesetzlich vorge- schriebene, Testungen zu akzeptieren. Die tierversuchs- 2. Wer ist zuständig für die Validie- freie Methode muss von der Europäischen Kommission rung von Forschungsmethoden? und der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD), einem Zusammenschluss der Zuständig für die Validierung von „Alternativmethoden wichtigsten Industrienationen, akzeptiert werden, da- zum Tierversuch“ in Europa ist das ECVAM, das Europe- mit das Produkt bzw. der Test offiziell als „Alternative an Center for the Validation of Alternative Methods60. zum Tierversuch“ deklariert wird. Der Weg zur regula- Seine Aufgabe ist es, den Weg der tierversuchsfreien torischen Akzeptanz eines Testverfahrens ist lang und Verfahren hin zur regulatorischen Akzeptanz zu be- steinig. Die Prozedur erstreckt sich über viele festge- gleiten und zu koordinieren, so dass sie bei Sicher- legte Schritte und etliche Gremien prüfen und entschei- heitstestungen anstelle von bislang vorgeschriebenen 14 Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
PYROGENTEST © unoL/shutterstock.com Seit mehr als 100 Jahren werden Arzneimittel, Impfstoffe und andere Substanzen standard- mäßig auf fieberauslösende Verunreinigungen (sog. Pyrogene) überprüft, indem die Testsub- stanz Kaninchen injiziert wird, um mögliche Fie- Beim Pyrogentest werden Kaninchen in enge Boxen gesperrt. berreaktionen zu erkennen. Die Tiere werden dabei so fixiert, dass sie sich nicht bewegen können. Bereits in den 1990er Jahren wurde Tierversuchen eingesetzt werden können. Im außer- von Wissenschaftlern der Universität Konstanz europäischen Ausland gibt es analoge Institutionen, ein tierversuchsfreier Pyrogentest entwickelt, die eng mit dem ECVAM zusammenarbeiten, ebenso der mit menschlichem Blut arbeitet. Dieser Mo- erfolgt ein stetiger Abgleich mit der OECD. Das ist in An- nozyten Aktivierungstest (MAT) ist nicht nur aus betracht unserer globalisierten Wirtschaft sehr wichtig, ethischen Gründen dem Tierversuch überlegen, damit im Idealfall Behörden weltweit eine Testmethode sondern es lässt sich damit auch eine viel größe- als „Alternative zum Tierversuch“ akzeptieren, wenn es re Bandbreite an Verunreinigungen aufspüren63. beispielsweise um die Registrierung einer Chemikalie Der Test wurde 2005 international validiert und oder die Entwicklung eines neuen Produktes geht. Das 2009 in das Europäische Arzneibuch aufgenom- ECVAM ist Teil des JRC (Joint Research Center) und un- men – allerdings parallel zum Kaninchentest. tersteht der Europäischen Kommission. Der MAT muss produktspezifisch validiert wer- den, d.h. ein aufwendiges Überprüfungsver- fahren für jedes Produkt durchlaufen, während 3. Wie läuft die Validierung ab? dies vom Kaninchentest nicht verlangt wird. Ein Wird eine tierversuchsfreie Testmethode beim ECVAM drastisches Beispiel dafür, dass bei der Aner- angemeldet, erfolgt vor Beginn des Validierungsver- kennung von tierversuchsfreien Methoden mit fahrens zunächst eine Konsultierung mehrerer Gremien zweierlei Maß gemessen wird. 2021 kündigte und Gruppen von Interessensvertretern (sog. Stakehol- die EU-Behörde für Arzneimittelqualität EDQM dern), die die Relevanz der Methode bewerten. Erst im an, den Kaninchentest innerhalb von 5 Jahren Anschluss daran startet ggf. der extrem aufwendige auslaufen zu lassen – endlich! Validierungsprozess, der einer Art Qualitätssicherung gleicht. Hierbei gibt das ECVAM konkrete experimen- Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche 15
Validierung tierversuchsfreier Methoden telle Kriterien vor, die der Test erfüllen muss. Es han- 5. Welche validierten Forschungs- delt sich um strikte Anforderungen, durch die die Zu- methoden gibt es bereits? verlässigkeit des Testverfahrens belegt wird und die gewährleisten sollen, dass der Test immer gleichblei- Im Rahmen des Verbots von Tierversuchen für Kosmetik- bende Ergebnisse produziert, egal, von wem und wo produkte sind insbesondere viele Tests an humanen er durchgeführt wird. Das heißt, die Ergebnisse müssen 3D-Zellkulturmodellen bzw. Gewebemodellen va- eine gewisse Reproduzierbarkeit aufweisen oder in ver- lidiert worden. Hierzu zählen z. B. 3-dimensionale schiedenen Laboratorien dieselben Ergebnisse liefern. Modelle der menschlichen Haut65, des Auges66 und Durchgeführt werden die Validierungsstudien i.d.R. in der Atemwege67. Bei diesen Tests befinden sich den eigenen Laboren des ECVAM oder in den ca. 40 ak- die komplexen Zellmodelle in einer Zellkulturplat- kreditierten Laboren, die mit dem ECVAM zusammen- te und die zu testende Substanz kann einfach auf- arbeiten, den sog. NETVAL-Laboratorien (Network of gebracht werden. In den meisten Fällen wird über Laboratories for the Validation of Alternative Methods), ein Photometer eine Farbreaktion nachgewiesen, die sich an verschiedenen Standorten in Europa, auch deren Intensität das Ausmaß der Schädigung der Zel- in Deutschland, befinden61. Im Anschluss an die Vali- len durch die Testsubstanz widerspiegelt. Von all diesen dierung werden die Ergebnisse von dem wissenschaft- Modellen gibt es mittlerweile auch regulatorisch ak- lichen Expertenkomitee ESAC (ECVAM Scientific Advi- zeptierte Tests, die eingesetzt werden können, um ge- sory Committee) begutachtet. Letztendlich erstellt das forderte Testkriterien wie Augenreizung, Hautreizung, ECVAM in Zusammenarbeit mit weiteren Gremien aus Reizung der Atemwege etc. nachzuweisen. Interessensvertretern und Experten eine Empfehlung zu einer Methode, die dann veröffentlicht und auch der Eine detaillierte Übersicht aller Testmethoden, die be- Europäischen Kommission vorgelegt wird. Diese Emp- reits akzeptiert sind oder sich aktuell im Validierungs- fehlung ist wohlgemerkt nicht verpflichtend oder ge- prozess befinden, findet man in der Datenbank TSAR setzlich bindend, sollte aber von Entscheidungsträgern (Tracking System for Alternative Methods towards Re- und Behörden in den Mitgliedsstaaten berücksichtigt gulatory Acceptance)68. Auch hier ist jedoch Vorsicht und adaptiert werden. geboten, denn nicht all diese Methoden sind tatsäch- lich frei von tierischen Geweben oder Komponenten, es ist lediglich garantiert, dass nicht an lebenden Tieren 4. Wo liegen die Probleme? getestet wird. Der letzte Schritt nach erfolgreicher Validierung einer Methode ist schließlich die offizielle regulatorische Ak- Insbesondere im Bereich der Sicherheitstestung von zeptanz eines Verfahrens als „Alternative zum Tier- Chemikalien sind die computerbasierten Verfahren versuch“. Diese Methode kann dann für bestimmte (in silico) hervorzuheben49. Sie haben sich als vali- Testungen im regulatorischen Bereich anstelle von dierte und regulatorisch akzeptierte „Alternativme- Tierversuchen eingesetzt werden, z. B. wenn es darum thoden zum Tierversuch“ durchaus etabliert und geht, zu prüfen, ob eine bestimmte Chemikalie die kommen mittlerweile häufig zum Einsatz, wenn es Haut reizt. Das Problem ist hier, dass die zuständigen z. B. um die Zulassung von Chemikalien geht bzw. europäischen Behörden diese Tests i.d.R. zwar auch darum abzuschätzen, ob die Substanz schädliche akzeptieren, jedoch gibt es nicht für all die zahlreichen Auswirkungen auf den menschlichen Organismus Testkriterien, die untersucht werden müssen, tierver- haben könnte. suchsfreie Verfahren, die anstelle von Tierversuchen akzeptiert werden. Es ist also noch weitere Etablie- 6. Was muss sich in Zukunft rungsarbeit nötig, um die Testung an Tieren komplett verbessern? zu verbannen. Trotz der steigenden Zahl von validierten Methoden, Der gesamte Validierungsprozess bis zur behördlichen die tierversuchsfreie Testungen ermöglichen, wird lei- Anerkennung und Aufnahme in Rechtsvorschriften der bei der Validierung mit zweierlei Maß gemessen. dauert etliche Jahre. Es kommt leider vor, dass selbst Die Tierversuche sind im regulatorischen Bereich immer validierte und anerkannte tierversuchsfreie Verfahren noch das Maß der Dinge, der sogenannte Goldstan- oftmals parallel zum Tierversuch geführt werden, wie dard, an dem sich die humanbasierten tierversuchs- z.B. beim Pyrogentest62 (siehe Kasten Seite 15). freien Methoden zu allem Übel auch noch messen 16 Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
SCHEITERN DES 3R-KONZEPTS HANDLUNGSBEDARF Leider haben weder die EU noch Deutschland bisher © HYUNGKEUN/stock.adobe.com eine konkrete Strategie entwickelt, um Tierversuche (zumindest regulatorische) vollständig durch tierver- suchsfreie Methoden abzuschaffen. Gut und erfreulich ist aber, dass offen und kritisch darüber diskutiert wird, und zwar mit allen beteiligten Interessensvertretern inklusive NGOs, europäischen Behörden und Entschei- dungsträgern. Auch wir zeigen zusammen mit unseren Im Jahr 1959 wurde von den britischen For- europäischen Dachverbänden ECEAE (European Coa- schern William Russell und Rex Burch das lition to End Animal Experiments) und Eurogroup for sogenannte 3R-Konzpet vorgestellt. Die 3R Animals den Handlungsbedarf auf, konkrete Ideen und stehen für: Strategien zu entwickeln, damit Entscheidungsträger auf nationaler und europäischer Ebene die Abschaffung • Replacement (Ersatz): Der Tierversuch der Tierversuche klar fokussieren. Hierzu gehören vor wird durch eine tierversuchsfreie allem zwei Dinge: den innovativen tierversuchsfreien Methode ersetzt. Methoden das wohlverdiente Vertrauen zu schenken • Reduction (Reduzierung): Anstelle und zudem die Augen nicht davor zu verschließen, dass des herkömmlichen Tierversuchs wird Tierversuche aufgrund ihrer mangelnden Aussagekraft eine Methode eingesetzt, die die nicht das Forschungsmodell der Zukunft sein dürfen. Anzahl der Versuchstiere verringert. • Refinement (Verfeinerung): Maß- nahmen, die die Leiden der Tiere vermindern. Aber auch verbesserte müssen. Und das, obwohl bekannt und wissenschaft- Haltungsbedingungen zählen hierzu. lich vielfach belegt ist, dass die Vorhersagekraft der Dieses Konzept beruht auf der Annahme, Tierversuche – auch bei Sicherheitsprüfungen und toxi- der Tierversuch sei eine prinzipiell sinnvolle kologischen Untersuchungen – schlecht ist. Warum soll Methode. Eine Abkehr von ihr wird nicht in ein innovatives Testverfahren, das auf humanen Zellen Erwägung gezogen. Für Tierversuchsgegner basiert und somit logischerweise den Menschen besser sind die Rs Reduction und Refinement in- widerspiegelt, seine Tauglichkeit an Tierversuchen un- diskutabel. Selbst der Ersatz (Replacement) ter Beweis stellen? Das ist absurd und auch ein Dilem- ist nur bedingt zu akzeptieren, impliziert er ma bei strategischen Überlegungen zur Abschaffung doch, dass der Tierversuch im Prinzip eine ge- von Tierversuchen im regulatorischen Bereich. Aus dem eignete Methode sei, die lediglich ersetzt zu Grund sprechen wir auch nicht von „Alternativen“, bzw. werden braucht, um zu relevanten Ergebnis- setzen den Begriff in Anführungszeichen, denn eine sen für den Menschen zu gelangen. „Alternative“ impliziert, dass etwas Gleichwertiges er- setzt wird. Humanbasierte Methoden sind aber nicht Tatsächlich sind Tierexperimente nicht nur gleichwertig, sondern besser. aus ethischen Gründen abzulehnen, sondern auch aufgrund der mangelnden Übertragbar- Es muss ein generelles Umdenken stattfinden, weg keit auf den Menschen. Dieser wissenschafts- vom klassischen „Ersetzen“ vorgeschriebener Tierver- kritische Aspekt wird bei der 3R-Philosophie suche, denn genau so wird es eben nicht funktionie- nicht berücksichtigt. In Wissenschaftskreisen ren. Laut der europäischen Chemikalienagentur ECHA wird auch von „Alternativmethoden“ oder sind bestimmte Tierversuche mittlerweile recht gut „Ersatz- und Ergänzungsmethoden“ ge- oder gar vollständig „durch Alternativmethoden zu sprochen. Auch diese Formulierungen sind ersetzen“, komplexere Untersuchungen jedoch noch irreführend, da tierversuchsfreie Methoden nicht69. Beispielsweise sei es schwierig, einen 90-Tage- keinen bloßen Ersatz, sondern gute Wissen- Toxizitätstest bei einer Ratte in vitro zu simulieren. Das schaft darstellen. ist aber genau die falsche Herangehensweise. Es darf Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche 17
© Vanderbilt University/ Validierung tierversuchsfreier Methoden Wikimedia Commons Die Blut-Hirn-Schranke ist eine Barriere zwischen Blut und Hirnzellen und übt eine Filterfunktion aus, damit Nährstoffe vom Blut ins Gehirn gelangen können, nicht aber Giftstoffe und Krankheitserreger. An der Vanderbilt Universität in Nashville, USA, wurde ein Chip entwickelt, der diese komplexe Funktion darstellt und für die Alzheimer-, Parkinson-, und Schlaganfallforschung genutzt werden kann. 7. Werden tierversuchsfreie Methoden ausreichend gefördert? nicht das Ziel sein, einen aktuell verwendeten nach- Tatsächlich gibt es in Deutschland kaum staatliche För- weislich unzuverlässigen Rattentest in vitro zu simu- dergelder, die die dringend notwendige Validierung lieren, sondern man muss im Fokus behalten, dass tierversuchsfreier Methoden finanzieren. Meist sind man das toxische Langzeitpotenzial einer Substanz es Unternehmen, die große Summen für Validierung beim Menschen untersuchen will. Wer sagt, dass der investieren, wenn sie Interesse an einer bestimmten klassische 90-Tage-Test, bei der die Ratte jeden Tag (!) Methode haben. Die Pharmaindustrie könnte bis zu eine potenziell giftige Substanz oral per Schlundson- 600 Millionen Euro bei der Entwicklung eines einzigen de verabreicht bekommt, die Methode der Wahl ist? Medikaments einsparen, wenn man auf die neuen Auch dieser Test wurde nie validiert, sondern hat sich Verfahren zurückgreifen würde70. Wieviel Geld in die einfach etabliert und wird nun seit Jahrzehnten stan- Förderung tierversuchsfreier Forschung investiert wird, dardmäßig durchgeführt. Würde man eine korrekte wird von den staatlichen Förderstellen und Forschungs- Validierung dieses Verfahrens vornehmen, würde er gesellschaften nicht öffentlich mitgeteilt. Detaillierte Re- mit höchster Wahrscheinlichkeit durchfallen, denn cherchen zeigen, dass unter 1 % der staatlichen Förder- die Fehleranfälligkeit des Tests und die mangelnde gelder in der Forschung für tierversuchsfreie Methoden Übertragbarkeit auf den Menschen sind nicht von der eingesetzt werden und über 99 % immer noch in Pro- Hand zu weisen. jekte fließen, die Tierversuche beinhalten71. Solange sich dieses Ungleichgewicht nicht drastisch ändert, wird es schwierig bleiben, in Deutschland die tierversuchsfreie Forschung in dem Maß zu etablieren, wie es nötig ist. 18 Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
Paradigmenwechsel hin zu einer tierversuchsfreien Forschung 5 Paradigmenwechsel hin zu einer tierversuchsfreien Forschung Tierversuchsfreie Forschung hat es nicht zuletzt so schwer, sich durchzusetzen, weil die Tierversuche seit Jahrzehnten ihren festen Platz in der Gesellschaft haben. Das Bild von Tierversuchen, die nicht zu ersetzen sind, weil sie unerlässlich für die Sicherheit der Menschen seien, wird hartnäckig aufrechter- halten und es werden Ängste bei der Bevölkerung geschürt. Wissenschaftlich fundierte Beweise, die dieses Bild klar widerlegen werden ignoriert und totgeschwiegen. Daher ist es so wichtig, Aufklä- rungsarbeit zu leisten und mit unbegründeten Dogmen aufzuräumen, damit ein Paradigmenwechsel hin zu einer tierversuchsfreien Wissenschaft und Forschung erreicht werden kann. 1. Warum werden Tierversuche überhaupt noch gemacht? Wenn Tierversuche so schlechte Ergebnisse liefern und tierversuchsfreie Forschung so viel besser ist, warum müssen dann immer noch so viele Tiere in Versuchen sterben? • Seit mehr als 150 Jahren gilt die Methode Tierver- der Welt der Wissenschaft einen Namen machen. such in der Wissenschaft als „Goldstandard“, ohne Diese verlangen häufig Tierversuche. dass sie jemals auf ihre medizinisch-wissenschaft- • Rund die Hälfte aller Tierversuche werden im Rahmen liche Relevanz hin überprüft oder validiert worden der Grundlagenforschung durchgeführt. Diese dient ist. dem Zugewinn von Wissen ohne konkreten Bezug • In die Tierversuchsforschung fließen enorme Sum- zur medizinischen Notwendigkeit oder gezielten An- men in Form von Forschungsgeldern, Drittmitteln wendungen. oder Stipendien. • Etwa ein Viertel der Tierversuche sind für Sicherheits- • Nur mit einer langen Liste von Veröffentlichungen testungen und Medikamentenentwicklung aktuell in hochrangigen Fachzeitschriften kann man sich in gesetzlich vorgeschrieben. 2. Spiegeln Tiere den Menschen wirklich wider? Tierversuche sind kein effektives Forschungsmodell, der menschlichen Physiologie und reagieren anders um menschliche Krankheiten zu erforschen oder die auf Substanzen als der Mensch (Tabelle 1). Aufgrund Wirkung von Substanzen auf den menschlichen Kör- der mangelnden Übertragbarkeit der Versuchsergeb- per vorherzusagen. Tiere unterscheiden sich stark von nisse von Tieren auf den Menschen sind tierexperi- Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche 19
Paradigmenwechsel hin zu einer tierversuchsfreien Forschung mentelle Daten grundsätzlich unzuverlässig und stel- urteilt, da man komplexe menschliche Erkrankungen, len ein Sicherheitsrisiko für den Menschen dar. Viele die über Jahre oder Jahrzehnte hin entstehen und an der menschlichen Krankheiten, die an ihnen erforscht deren Entwicklung zahlreiche Einflussfaktoren beteiligt werden, würden Tiere von Natur aus gar nicht entwi- sind, nicht durch stark vereinfachte künstliche Verän- ckeln, beispielsweise Diabetes, Alzheimer, Parkinson derungen in Tieren abbilden kann. oder zahlreiche Krebserkrankungen. Aus diesem Grund werden „Tiermodelle“ geschaffen, indem bei gesunden Um die medizinische Forschung zuverlässiger und Tiere durch simple gentechnische Modifikationen oder effizienter zu gestalten, ist es also unbedingt notwen- absurde Versuchsaufbauten Krankheiten simuliert wer- dig, neue tierversuchsfreie Modelle zu etablieren, die den (Tabelle 2). Solche Ansätze sind zum Scheitern ver- humanbasiert sind und valide Daten liefern. 3. Gäbe es ohne Tierversuche keinen medizinischen Fortschritt? dann doch teils schwere oder tödliche Nebenwir- kungen aufweisen oder schlichtweg nicht wirken, wie man es sich erhofft hatte72–75. Hinzu kommt die Ge- fahr, dass viele Medikamente im Tierversuch aufgrund fehlender Wirksamkeit oder unerwünschter Nebenwir- kungen aussortiert werden, die aber beim Menschen vielleicht wirksam und unproblematisch wären. Viele wichtige Medikamente wie Aspirin, Ibuprofen oder Pe- nicillin wären uns vorenthalten geblieben, hätte man sich schon in früheren Zeiten auf den Tierversuch ver- lassen. Diese Stoffe rufen nämlich bei bestimmten Tier- arten aufgrund unterschiedlicher Stoffwechselvorgän- ge gravierende Schädigungen hervor (Tabelle 1). Als © Novoheart diese Arzneien vor langer Zeit entdeckt wurden, gab es noch keine verpflichtende Testung in Tieren. Bei der heutigen Vorgehensweise wären sie bei der Wirkstoff- Schlagende Miniherzen aus menschlichen Stammzellen. findung durchgefallen. Tierversuchsbefürworter behaupten häufig, dass Tier- Auch wirtschaftlich würde sich ein Umstieg auf tierver- versuche entscheidend waren für die Entwicklung suchsfreie Forschungsmethoden rentieren, wie immer zahlreicher Medikamente. Da die Durchführung von mehr Studien aufzeigen4,7,76, denn die modernen Ver- Tierversuchen die Voraussetzung dafür ist, dass ein fahren sind kostengünstiger und schneller als langwie- Medikament überhaupt den Zulassungsprozess weiter rige Tierversuche, zudem sind sie hochdurchsatzfähig, durchlaufen kann, sind sie zwangsläufig an dessen Ent- d. h. riesige Mengen von Substanzen können parallel wicklung beteiligt. Dies heißt aber noch lange nicht, getestet werden. dass das Medikament nicht ohne die Tierversuche hätte entwickelt werden können. Darüber hinaus sind Würde man anstelle von Tierversuchen moderne Tierversuche sogar hinderlich, weil sie die Forschung in human-basierte Modelle einsetzen, würde der medi- die falsche Richtung lenken. Studien zeigen auf, dass zinische Fortschritt also nicht zum Erliegen kommen, bis zu 95 % der Medikamente, die sich im Tierversuch sondern mit Sicherheit einen deutlichen Aufschwung als sicher und wirksam erwiesen haben, nicht auf den erfahren. Markt kommen52–54. Die Hauptursache dafür ist, dass die Wirkstoffe in den klinischen Studien am Menschen 20 Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
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