Soll man denn sonst testen - Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche Ärzte gegen Tierversuche e.V - Ärzte gegen Tierversuche

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Soll man denn sonst testen - Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche Ärzte gegen Tierversuche e.V - Ärzte gegen Tierversuche
Ärzte gegen Tierversuche e.V.

Woran testen
soll man denn sonst
Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
Soll man denn sonst testen - Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche Ärzte gegen Tierversuche e.V - Ärzte gegen Tierversuche
Foto: Yuri Arcurs Photography/fotolia.com   Inhalt

                                                     Woran soll man
                                                     denn sonst testen?
                                                     Moderne Forschungsmethoden
                                                     ohne Tierversuche
© luchschenF/stock.adobe.com
Soll man denn sonst testen - Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche Ärzte gegen Tierversuche e.V - Ärzte gegen Tierversuche
Inhalt
1. Einleitung                                                         04

2. Innovative Forschungsmodelle des 21. Jahrhunderts                  05
		 1. Organoide und 3D-Zellkultur                                     06
				 iPSC – die Alleskönnerzellen                                     06
				 Mini-Organe – Abbilder menschlicher Organe                       06
				Ideale Krankheitsmodelle                                          07
		 2. Wie ein „Mini-Mensch“: Multi-Organ-Chips                        08
		 3. Computermodelle                                                 10
		 4. Bildgebende Verfahren                                           11
		 5. Ethisch vertretbare Forschung am Menschen                       11
			Klinische Studien                                                  11
			Bevölkerungsstudien                                                11

3. Tierversuchsfreie Methoden in der Aus-, Fort- und Weiterbildung    12

4. Validierung tierversuchsfreier Methoden                            14
		 1. Wozu werden Forschungsmethoden validiert?                       14
		 2. Wer ist zuständig für die Validierung von Forschungsmethoden?   14
		 3. Wie läuft die Validierung ab?                                   15
		 4. Wo liegen die Probleme?                                         16
		 5. Welche validierten Forschungsmethoden gibt es bereits?          16
		 6. Was muss sich in Zukunft verbessern?                            16
		 7. Werden tierversuchsfreie Methoden ausreichend gefördert?        18

5. Paradigmenwechsel hin zu einer tierversuchsfreien Forschung        19
		 1. Warum werden Tierversuche überhaupt noch gemacht?               19
		 2. Spiegeln Tiere den Menschen wirklich wider?                     19
		 3. Gäbe es ohne Tierversuche keinen medizinischen Fortschritt?     20

6. Quellen		                                                          22
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Einleitung

1                 Einleitung
Immer wieder wird behauptet, Tierversuche seien
notwendig, um Sicherheit für den Menschen zu ge-
währleisten und ohne Tierversuche würde medizi-
nischer Fortschritt zum Stillstand kommen. Zahlreiche
wissenschaftliche Publikationen zeigen auf, dass dies
nicht stimmt1–4. Kritik wird bei weitem nicht nur von
Tierrechtsorganisationen geübt, sondern auch von
zahlreichen renommierten Forschern aus der ganzen
Welt, sowie von Institutionen der Europäischen Kom-
mission und internationalen politischen Instanzen. Im-
mer mehr Staaten, darunter die USA5, die Niederlande6,
Großbritannien7 und Norwegen8, entwickeln konkrete
                                                          Heutzutage gibt es eine solche Fülle an großar-
strategische Pläne zu einem zumindest teilweisen Aus-
                                                          tigen tierversuchsfreien Forschungsmethoden,
stieg aus dem Tierversuch. Das Hauptproblem ist, dass
                                                          dass es schwerfällt, den Überblick zu behalten.
Tierversuche keine zuverlässige Vorhersagekraft für
                                                          Jeden Tag gibt es zahlreiche Meldungen zu neu-
menschenrelevante Fragestellungen haben und die
                                                          en innovativen Verfahren, die Forscher auf der
Übertragung der Ergebnisse auf den Menschen ein
                                                          ganzen Welt entwickeln. Um eine Übersicht und
unkalkulierbares Risiko darstellt.
                                                          eine gezielte Suche zu erleichtern, haben wir die
                                                          NAT-Database entwickelt, eine kostenlose zwei-
Dahingegen existieren heutzutage zahlreiche tierver-
                                                          sprachige Online-Datenbank (Deutsch und Eng-
suchsfreie In-vitro-Methoden, die zuverlässiger und
                                                          lisch) zu tierversuchsfreien Forschungsmethoden
kostengünstiger sind als Tierversuche und im Gegen-
                                                          (www.nat-database.de). NAT steht für Non-
satz zum Tierversuch für den Menschen relevante
                                                          Animal Technologies und die Datenbank enthält
Versuchsergebnisse liefern. Um jedoch einen Paradig-
                                                          hunderte Einträge, wobei sie kontinuierlich er-
menwechsel herbeizuführen, muss der Tierversuch als
                                                          weitert wird. Die Einträge enthalten eine kurze
„Goldstandard“ in der Forschung abgeschafft und For-
                                                          Zusammenfassung der Methode inkl. Quellen,
schungsgelder müssen umgeschichtet werden. Noch
                                                          sowie Informationen zum verantwortlichen
immer werden Tierversuchsprojekte in Deutschland
                                                          Forscher und dem entsprechenden Forschungs-
jährlich mit Milliarden unserer Steuergelder gefördert,
                                                          institut oder Unternehmen. Die Suchmaske er-
während in die moderne, tierversuchsfreie Forschung
                                                          möglicht sowohl eine freie Schlagwortsuche als
lediglich Millionenbeträge fließen9.
                                                          auch Filter-Möglichkeiten nach Fachbereich (z. B.
                                                          Onkologie oder Toxikologie), Modell (z. B. Multi-
Diese Broschüre gibt einen Überblick über innovative
                                                          Organ-Chips), Land usw.
tierversuchsfreie Forschungsmethoden und erklärt,
warum diese dem Tierversuch wissenschaftlich über-        www.nat-datenbank.de
legen sind.

4   Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
Soll man denn sonst testen - Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche Ärzte gegen Tierversuche e.V - Ärzte gegen Tierversuche
Innovative Forschungsmodelle des 21. Jahrhunderts

2
                                       Innovative
                                       Forschungsmodelle
                                       des 21. Jahrhunderts
                                                                          Heutige In-vitro-Modelle, die für die biomedizi-
                                                                          nische Forschung genutzt werden, sind komplexer
                In vitro (lat: „im Reagenzglas“):                         und physiologischer denn je. Sie reichen von dreidi-
                Test-Systeme mit schmerzfreier                            mensionalen Zellkulturen über Organoide bis hin zu
                                                                          Multi-Organ-Chips, auf denen mehrere Organmodel-
                Materie in Form von Zellen,                               le kombiniert und mit einem simulierten Blut- und
                Geweben, Mikroorganismen usw.                             Urinkreislauf miteinander verbunden werden. Diese
                                                                          humanen Zellmodelle können aus induzierten plu-
                                                                          ripotenten Stammzellen (iPSCs) gezüchtet werden,
                In silico (lat.: „im Silizium“):                          also Zellen, die sich in jeden beliebigen Zelltyp, wie
                Computer-basierte Modelle                                 Nerven- oder Hautzelle, verwandeln lassen. Die Zel-
                                                                          len können sowohl von gesunden Spendern als auch
                                                                          von Patienten stammen. Vor allem als Krankheits-
                In vivo (lat.: „im Lebenden“):                            modelle und für die Entwicklung von Medikamenten
                Versuche, die im lebenden                                 oder die Testung von giftigen Substanzen sind sie
                Organismus stattfinden                                    hochrelevant. Viele dieser Systeme wurden bereits
                                                                          erfolgreich validiert, insbesondere für den Bereich
                                                                          der gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuche wie die
                                                                          Sicherheitsprüfung von Chemikalien. Kontinuierliche
                                                                          Optimierungen, u. a. hinsichtlich der Integration von
                                                                          Blutgefäßen und Immunsystem, führen dazu, dass die
                                                                          humanbasierten In-vitro-Modelle die Problematik der
                                                                          mangelnden Übertragbarkeit von Tierversuchen auf
                                                                          den Menschen überwinden können.

                                                                          Für die wissenschaftliche Diskussion um die Abschaf-
                                                                          fung von Tierversuchen spielen die Etablierung dieser
                                                                          Systeme und ebenso die Entwicklung von komplexen
                                                                          Computersimulationen (In-silico-Verfahren) eine ent-
                                                                          scheidende Rolle. Mit diesen Verfahren stehen nun
                                                                          Forschungsmodelle zur Verfügung, die bereits heute
© BIOLines

                                                                          eine bessere Vorhersagekraft für den Menschen haben
                                                                          als Tierversuche, wie Vergleichsstudien zeigen10-12.
             Das Auge-auf-dem-Chip besteht aus menschlichen Augen-        In Kombination mit Humanstudien und bildgebenden
             hornhaut- und Bindegewebszellen sowie einem blinzelnden      Verfahren hat die Forschung das ideale Werkzeug, um
             Augenlid.                                                    zuverlässige Forschungsergebnisse zu generieren.

                                                                                    Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche   5
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Innovative Forschungsmodelle des 21. Jahrhunderts

1. Organoide und 3D-Zellkultur
In den vergangenen Jahren hat die humanbasier-                MINI-GEHIRNE
te In-vitro-Forschung eine spektakuläre Entwicklung
hingelegt. Forschern ist es um das Jahr 2010 erstmals
gelungen, sogenannte Organoide im Labor zu züch-
ten13–15. Dabei handelt es sich um dreidimensionale
humane Zellkulturen, die das Erscheinungsbild und
die Funktion eines menschlichen Organs erstaunlich
gut widerspiegeln16. Bis dato wurden in der biomedi-

                                                                                                                           © Plummer et al - SciRep 2019 (1).
zinischen In-vitro-Forschung hauptsächlich zweidimen-
sionale Zellkulturen eingesetzt. Das sind „unsterbliche“
Zelllinien, die eine flache Zellschicht bilden. Solch ein
Modell ist von Aufbau und Funktion eines dreidimen-
sionalen Organs weit entfernt. Die modernen 3-dimen-
sionalen Zellkultursysteme wie Organoide haben nicht
                                                              Menschliche Mini-Gehirne, die Gehirntumore entwickeln.
nur zahlreiche Vorteile gegenüber den alt bekannten           Unten (d-f) sieht man das gesunde Gehirngewebe in blau
Zelllinien, sondern auch gegenüber Tierversuchen. Die         und die Tumore in violett. Der Durchmesser der Mini-Ge-
humanbasierten In-vitro-Modelle wie Organoide sind            hirne beträgt ca. 0,5 mm.
für die Testung von Medikamenten und die Erforschung
humaner Krankheiten essentiell. Sie haben zudem den
einzigartigen Vorteil, dass sie eine personalisierte, also
auf den einzelnen Menschen individuell zugeschnitte-          verschiedenen Zellarten, die in der Regel einen halben bis
ne, Medizin ermöglichen. Eine Eigenschaft, die Tierver-       einen Millimeter groß sind. Sie lassen sich über mehrere
suche niemals widerspiegeln können.                           Wochen oder Monate in Zellkulturplatten kultivieren und
                                                              praktisch unbegrenzt in vitro vermehren. Sowohl iPSCs
                                                              als auch die Organoide selbst können in gefrorenem Zu-
iPSC – die Alleskönnaerzellen
                                                              stand gelagert werden, so dass aktuell riesige Biobanken
Humane Organoide werden basierend auf menschlichen            geschaffen werden, die iPSCs oder Organoide etlicher
Stammzellen gezüchtet17. Hierbei werden entweder              menschlicher Spender (gesunder und erkrankter) enthal-
Stammzellen aus Gewebebiopsien isoliert oder es wer-          ten18. Auf diese Weise können bei Bedarf Proben auf-
den z. B. Haut- oder Haarwurzelzellen eines mensch-           getaut und wieder in Kultur genommen werden, um die
lichen Spenders durch gentechnische Verfahren zu              gewünschten Testungen daran durchzuführen.
induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSC: induced
pluripotent stem cell) umprogrammiert. Auch Zahn-             Organoide konservieren in vitro die Eigenschaften des
mark oder Blut können als Quelle für Stammzellen die-         Zellspenders, so dass sie ein ideales Krankheitsmodell
nen. Großer Vorteil des iPSC-basierten Verfahrens ist,        für die biomedizinische Forschung darstellen, wenn
dass die Gewinnung der Spenderzellen für den Men-             man sie aus Patienten generiert. Zudem können Orga-
schen unkompliziert und schmerzfrei ist und dass die          noide in vitro gentechnisch so verändert werden, dass
geschaffenen iPSCs in vitro praktisch jedes beliebige         gezielt Krankheitsgene entweder korrigiert19 oder ein-
Organoid bilden können.                                       gebaut20 werden. Solche Krankheitsmodelle sind we-
                                                              sentlich aussagekräftiger als gentechnisch veränderte
                                                              „Tiermodelle“.
Mini-Organe –
Abbilder menschlicher Organe                                  Sowohl die molekularen Ursachen menschlicher Er-
Durch Anpassung der Kulturbedingungen, insbeson-              krankungen, als auch therapeutische Ansätze lassen
dere der eingesetzten Wachstumsfaktoren, werden               sich mithilfe dreidimensionaler Zellmodelle wie der
dann beispielsweise Darm-, Gehirn-, Leber- oder Nie-          Organoide exzellent erforschen21. Gehirnorganoide
renorganoide gezüchtet. Die Organoide – oder Mini-            („Mini-Hirne“) oder andere komplexe neuronale Zell-
Organe – sind komplexe dreidimensionale Gebilde aus           modelle wurden bereits aus Patienten gezüchtet, die

6   Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
Soll man denn sonst testen - Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche Ärzte gegen Tierversuche e.V - Ärzte gegen Tierversuche
ORGAN-BIOPSIE             DARM                   LEBER                  GEHIRN                   NIERE                 IN VIVO

                                                                                                                                  © Ärzte gegen Tierversuche e.V.
  ORGANOID                                                                                                            IN VITRO

    Da alle Organe ihre eigenen Stammzellen besitzen, kann aus jedem Organ im Labor ein Organoid gezüchtet werden. An den
 unterschiedlichen Farben bei den Fluoreszenz-mikroskopischen Aufnahmen sieht man, dass die Organoide komplexe und vielfältige
                                    Strukturen aufweisen, die denen des echten Organs ähneln.

     an Alzheimer22, Parkinson23, Schizophrenie24 und
     Autismus25 oder Chorea Huntington26 leiden. Bei neuro-              3D-BIODRUCK
     logischen Erkrankungen wie Morbus Alzheimer be-
     steht eine besonders dringende Notwendigkeit, neue                  Komplexe menschliche Zellmodelle kön-
     Modellsysteme zu etablieren, die auf menschlichen                   nen nicht nur aus Stammzellen kultiviert,
     Zellen basieren, da die bisherige Forschung an hun-                 sondern auch mittels 3D-Biodruck konstru-
     derten „Tiermodellen“ bis heute keine zufriedenstel-                iert werden36. Hierzu wird ein 3D-Drucker
     lende Behandlung ermöglicht27–29.                                   verwendet und spezielle Biotinten, die ne-
                                                                         ben einer Gel-artigen Substanz auch die
                                                                         menschlichen Zellen für das Modell enthal-
     Ideale Krankheitsmodelle                                            ten. Biotinten enthalten allerdings häufig
     Unzureichende Wirksamkeit und inakzeptable Ne-                      Substanzen tierischen Ursprungs wie fe-
     benwirkungen führen häufig dazu, dass Therapien                     tales Kälberserum (siehe Kasten Seite 10).
     abgebrochen werden müssen oder Medikamente                          Der Ansatz des Clean Bioprinting verfolgt
     sogar zurückgezogen werden. Als Krankheitsmo-                       die Etablierung eines Systems, das kom-
     dell sind dreidimensionale In-vitro-Modelle, die man                plett frei von tierischen Inhaltsstoffen ist37.
     aus Zellen von Patienten züchtet, ideal geeignet, da                Computergesteuert werden verschiedenste
     sie humanrelevante Ergebnisse liefern. Anhand von                   komplexe Zellmodelle gedruckt, die unter-
     Nervenzellen, die aus iPSCs von magersüchtigen                      schiedliche humane Zelltypen enthalten,
     Patientinnen kultiviert wurden, konnte ein Gen iden-                die in verschiedenen Anordnungen so zu-
     tifiziert werden, das im Zusammenhang mit Mager-                    sammengesetzt werden, dass eine Organ-
     sucht (Anorexia nervosa) zu stehen scheint30. Humane                ähnliche Struktur entsteht. So werden z. B.
     Gehirnorganoide werden auch für die Krebsforschung                  menschliche Herz-, Haut- oder Lungenmo-
     eingesetzt, indem sie mit menschlichen Tumorzellen                  delle gedruckt, um Medikamente zu te-
     versetzt werden, so dass sich in ihnen Gehirntumore                 sten, Krankheiten oder Infektionsprozesse
     entwickeln31. Anhand dieses In-vitro-Modells können                 zu erforschen und die Giftigkeit von Sub-
     dann Wirkstoffe hinsichtlich ihrer Wirksamkeit und                  stanzen zu testen38–40.
     Effektivität getestet werden.

                                                                               Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche   7
Soll man denn sonst testen - Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche Ärzte gegen Tierversuche e.V - Ärzte gegen Tierversuche
Innovative Forschungsmodelle des 21. Jahrhunderts

PERSONALISIERTE KREBSTHERAPIE
                                                                              KREBSPATIENT MIT TUMOR
Da jeder Mensch und auch jeder Tumor anders auf eine
bestimmte Behandlung reagiert, ist es ein großer Vorteil,
dass iPSC-basierte In-vitro-Modelle eine personalisierte
Medizin ermöglichen. Diese ist bereits in der klinischen                                      ?
Anwendung angekommen: In Absprache mit dem be-
handelnden Onkologen wird eine Tumor-Biopsie des
Patienten ins Labor geschickt, aus der Tumor-Organo-
ide („Mikrotumore“) gezüchtet werden. Daran können
dann diverse Therapiemöglichkeiten getestet werden
und die individuell am besten wirksamen Medikamente

                                                                                                                                                             © Ärzte gegen Tierversuche e.V.
werden dem Patienten schließlich verabreicht32. Die
Mikrotumor-Technologie eignet sich auch für die Er-
forschung neuer Medikamente, deren Wirksamkeit in
den Tumororganoiden analysiert werden kann33,34. Die
Entwicklung von Krebsmedikamenten in Tierversuchen
birgt die Gefahr, dass die Ergebnisse nicht auf den Men-
schen übertragbar sind. In Anbetracht der individuell
                                                              Die Mikrotumor-Technologie ermöglicht eine personalisier-
unterschiedlichen Wirksamkeit beim Menschen bzgl.
                                                               te Krebstherapie. Aus einer Tumorbiopsie eines Patienten
Effektivität und Nebenwirkungen von Krebsmedika-              werden Tumor-Organoide in vitro kultiviert und vermehrt.
menten hat die personalisierte Krebstherapie ein enorm        Anschließend werden diverse Therapiemöglichkeiten daran
hohes Potenzial im Gegensatz zur Testung in artfrem-            getestet und dem Patienten letztendlich die Medikation
den Spezies wie Mäusen, in denen menschliche Tumore             verabreicht, die in vitro die beste Wirkung gezeigt hat.
künstlich herangezüchtet werden35.

2. Wie ein „Mini-Mensch“: Multi-Organ-Chips
Ein In-vitro-System, das für die Zukunft der Biome-
dizin und der Medikamentenentwicklung von höchster
Bedeutung ist, ist der sogenannte Multi-Organ-Chip
(MOC)41. Bei MOCs werden mehrere Organoide oder
ähnliche menschliche Zellmodelle auf einem Biochip
untergebracht, auf dem sie über ein Mikrokanal-System
                                                                                                                           © Ärzte gegen Tierversuche e.V.

miteinander verbunden sind. Die Mikrokanäle, die die
Organe auf dem Chip miteinander verbinden, simulie-
ren den Blutkreislauf und ggf. auch den Urinkreislauf,
wenn sich ein Nierenmodell auf dem Chip befindet.
Aus dem Mikrokanal-System können Proben entnom-
men werden, die einer Blutabnahme oder Urinpro-               4-Organ-Chip
be beim Patienten entsprechen. Die Organe auf dem
Chip haben einen Stoffwechsel und können über das             In das System können Nährlösungen eingeleitet wer-
Mikrokanal-System miteinander interagieren und Stoffe         den, aber auch Medikamente, Chemikalien oder Gift-
austauschen. Verglichen mit der isolierten Kultivierung       stoffe sowie Wirkstoff-Kombinationen. Bei der Testung
der einzelnen Organmodelle, verbessern sich beim              kann eine intravenöse (in die Blutbahn) oder eine orale
MOC die Organ-spezifischen Funktionen teilweise so-           Gabe (über den Mund) bestimmter Substanzen simu-
gar durch die Interaktion mit den anderen Organen. Der        liert werden. Soll ein bestimmtes Medikament beim
MOC wird an ein elektronisches Steuerungselement an-          Patienten oral verabreicht werden, wird es in dem
geschlossen, so dass man diverse Messgrößen wie die           MOC erst in den Darm geleitet, wo es aufgenommen
Flussrate, oder die Reihenfolge, in der die Organe ange-      wird, und erreicht dann die weiteren Organe wie Leber
steuert werden, Computer-basiert regulieren kann.             und Niere, wo es abgebaut und ausgeschieden wird.

8   Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
Soll man denn sonst testen - Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche Ärzte gegen Tierversuche e.V - Ärzte gegen Tierversuche
10-ORGAN-CHIP                                                                        FLÜSSIGKEITS-
                                                                                       MISCHER

                                                                                                 PANKREAS

                                                                                LEBER
                                                                                                    DARM

                                                                                          LUNGE

                                                                                          HERZ

                                                                                         MUSKEL

                                                                                         GEHIRN

                                                                                                                         © Holloway PM et al. Stroke 2016 (modifiziert)
                                                                                  GEBÄRMUTTER

                                                                                          HAUT

                                                                                          NIERE

Forscher vom Massachusetts Institute of Technology, USA, entwickelten einen Organ-Chip, auch microphysiological
system (MPS) genannt, auf dem 10 menschliche Mini-Organe untergebracht sind: Bauchspeicheldrüse, Leber, Darm,
Lunge, Herz, Muskel, Gehirn, Gebärmutter, Haut und Niere45. Die Mini-Organe interagieren in dem MPS miteinander,
haben einen richtigen Stoffwechsel und erfüllen bis zu 4 Wochen lang Funktionen der echten Organe. Der bekannte
Entzündungshemmer Diclofenac wurde im MPS getestet, und Verteilung und Abbau spiegeln in den Mini-Organen und
im Durchfluss-System die Verstoffwechselung des Medikaments im menschlichen Körper wider.

Das MPS wird momentan für die Hochdurchsatz- Anwendung etabliert, d. h. automatisierte Abläufe, bei denen
Tausende Substanzen in kürzester Zeit gemessen werden können. Das ist entscheidend für die Etablierung in der
Pharmaindustrie. Auch die verwendeten Zellkultur-Modelle werden kontinuierlich weiterentwickelt, so dass sie den
echten menschlichen Organen immer mehr ähneln.

Gerade im Bereich der Toxikologie (Giftigkeitstestung)     suchungen). In den Chip sind Komponenten wie eine
etablieren sich diese Systeme rasant, da sie humanrele-    Mikropumpe oder pH- und Sauerstoffsensoren inte-
vante Daten liefern.                                       griert, die es ermöglichen, Blutdruck und Puls zu simu-
                                                           lieren42. Je nach wissenschaftlicher Fragestellung werden
Die Auswirkung der eingeleiteten Substanzen auf die        unterschiedliche und unterschiedlich viele Organe auf
einzelnen Organe kann untersucht werden, indem die         dem Chip platziert. So enthält ein MOC zur Erforschung
Organmodelle vom Chip entnommen und analysiert             von Diabetes ein Bauchspeicheldrüsen-Modell, sowie
werden. Auch der Abbau eines Wirkstoffs kann durch         insulin-sensitive Organe wie Leber oder Muskel43, wäh-
Analyse der entnommenen Proben aus dem Mikrokanal-         rend für die Erforschung von Fettleibigkeit Leber, Fett-
System verfolgt werden (pharmakokinetische Unter-          gewebe und ein Blutgefäß-Modell eingesetzt werden44.

                                                                      Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche   9
Soll man denn sonst testen - Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche Ärzte gegen Tierversuche e.V - Ärzte gegen Tierversuche
Innovative Forschungsmodelle des 21. Jahrhunderts

                                                                                                           FETALES KÄLBERSERUM

                                                                                                           Um Zellen am Leben zu halten und zum
                                                                                                           Wachsen zu bringen, benötigen sie ein
                                                                                                           Nährmedium, d. h. eine Flüssigkeit, in der
                                                                                                           verschiedene Nährstoffe enthalten sind.

                                                              Pixabay/Ärzte gegen Tierversuche e.V.
                                                                                                           Standardmäßig wird dafür bisher Blutserum
                                                                                                           von ungeborenen Kälbern genutzt.

                                                                                                           Um fetales Kälberserum (FKS) zu gewin-
                                                                                                           nen, wird direkt nach der Schlachtung ei-
                                                                                                           ner schwangeren Kuh dieser der Fötus aus
                                                                                                           der Gebärmutter herausgeschnitten. Dem
Mittels Multi-Organ-Chips soll erforscht werden, wie
sich der Aufenthalt im Weltall auf den Alterungsprozess                                                    noch lebenden Kalb wird eine dicke Nadel
des menschlichen Immunsystem auswirkt. (Symbolbild)                                                        ins schlagende Herz gestoßen, das Blut
                                                                                                           wird abgesaugt, bis das Tier blutleer ist
                                                                                                           und stirbt. Diese Prozedur geschieht ohne
MOCS IM WELTALL
                                                                                                           Betäubung, obwohl davon auszugehen ist,
Die NASA finanziert ein Forschungsprogramm, bei dem                                                        dass Kälberfeten bereits leidensfähig sind47.
MOCs mit modernen menschlichen Zellkultursystemen
zum ISS National Lab, einem Labor auf der ISS-Raum-                                                        Es gibt bereits eine Vielzahl FKS-freier Nähr-
station, geflogen werden46. Diese MOCs simulieren bei-                                                     medien48. Das humane Blutplättchen-Lysat
spielsweise ein humanes Immunsystem bestehend aus                                                          (hPL) etwa wird aus abgelaufenen Blutspen-
Immun-, Knochenmarks- und Blutgefäßzellen. Die Chips                                                       den gewonnen, die normalerweise wegge-
werden zwei Wochen lang im All getestet und anschlie-                                                      worfen werden. Daneben gibt es eine ganze
ßend eingefroren, um sie zu konservieren und nach ihrer                                                    Reihe weiterer FKS-freier Nährmedien, die
Rückkehr zur Erde verschiedenen Analysen zu unterzie-                                                      aus menschlichem Blut oder synthetisch
hen. Man möchte auf diese Weise herausfinden, wie sich                                                     hergestellt werden. Das größte Problem
der Aufenthalt im Weltall auf den Alterungsprozess des                                                     beim Umstieg auf diese ethisch unbedenk-
menschlichen Immunsystem auswirkt, um daraus Rück-                                                         lichen Nährmedien ist, dass Labore lieber
schlüsse auf die körpereigenen Reparaturmechanismen                                                        auf Altbewährtes zurückgreifen, denn seit
zu ziehen. Des Weiteren wird ein Nieren-Chip zum ISS-                                                      den 60er Jahren gilt das fetale Kälberserum
Labor geschickt, sowie Knochen- und Knorpel-Chips und                                                      als „Goldstandard“. Und das obwohl FKS
ein Chip, der die Blut-Hirn-Schranke abbildet. Für die Ent-                                                wegen seiner variablen Zusammensetzung
zündungsforschung folgt noch ein Chip, auf dem Lunge                                                       die Ergebnisse verfälschen kann.
und Knochenmark miteinander verbunden sind.

3. Computermodelle
Hochrelevant sind auch die so genannten In-silico-                                                    In-silico-Verfahren wie QSAR- (Quantitative Structure-
Verfahren, also Computer-basierte Methoden, die in                                                    Activity Relationship) oder PBKD- (Physiologically Ba-
den letzten Jahren entwickelt wurden, um die Wirk-                                                    sed Kinetic and Dynamic) sind von der europäischen
samkeit und Giftigkeit von Substanzen im menschlichen                                                 Institution ECVAM (European Centre for the Validation
Organismus vorherzusagen. Die chemischen Eigen-                                                       of Alternative Methods) und der weltweiten OECD be-
schaften neuer Substanzen werden mithilfe solcher                                                     reits validiert und als Alternative zu Tierversuchen im
Verfahren vorhergesagt und z. B. mit Daten von bereits                                                regulatorischen Bereich akzeptiert49.
anerkannten Chemikalien abgeglichen. Solche Computer-
programme haben nachgewiesenermaßen eine bessere
Vorhersagekraft im Vergleich zu Tierversuchen10–12.

10   Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
4. Bildgebende Verfahren
Bildgebende Verfahren gibt es schon seit vielen Jahr-      rimente an Tieren, für die häufig Affen, Mäuse, Ratten
zehnten und sie werden stetig weiterentwickelt und         oder Insekten eingesetzt werden. Die Verfahren sind
optimiert. Relevante Erkenntnisse für den Bereich der      auch zur Untersuchung neurologischer Erkrankungen
humanmedizinischen Grundlagenforschung lassen sich         und zur Diagnose von Gehirntumoren geeignet.
an menschlichen Patienten auf diese Weise direkt ge-
winnen. Hierzu zählen beispielsweise die Computer-         Ein häufiger Kritikpunkt, der bzgl. humaner Zellkultur-
tomografie und andere tomografische Verfahren 50,51.       modelle oder auch Multi-Organ-Chips geäußert wird,
Dabei werden Organe als dreidimensionales Gesamtbild       ist das Fehlen eines Gesamtorganismus, in dem man
dargestellt. In der Hirnforschung können so einzelne       systemische Effekte untersuchen kann. Kombiniert
Bereiche des menschlichen Gehirns während bestimm-         man die komplexen humanbasierten Zellmodelle mit
ter Hirnleistungen bildlich dargestellt werden. Aktive     Computersimulationen und mit Untersuchungen an
Hirnzellen lassen sich identifizieren, während sich eine   Probanden/Patienten unter dem Einsatz moderner bild-
Versuchsperson Bilder oder Wörter einprägt oder an-        gebenden Verfahren, so hat man ein umfassendes Port-
dere Aufgaben durchführt. Solche Untersuchungen des        folio für zuverlässige biomedizinische Untersuchungen
menschlichen Gehirns mittels bildgebender Verfahren        zur Verfügung.
liefern eine viel bessere Aussagekraft als absurde Expe-

5. Ethisch vertretbare Forschung am Menschen
Klinische Studien                                          wirksam befunden werden, in den klinischen Studien
Es besteht kein Zweifel daran, dass der lebende Mensch     am Menschen durchfallen52–54.
selbst das aussagekräftigste Forschungsobjekt ist, um
humanrelevante Daten zu produzieren. Aus diesem
Grund sind nicht- oder gering-invasive Humanstudien        Bevölkerungsstudien
von unschätzbarem Wert, um wertvolle Erkenntnisse          Wertvolle Forschungserkenntnisse lassen sich auch mit-
zu gewinnen. Selbstverständlich kann man aber ris-         hilfe epidemiologischer Studien (Bevölkerungsstudien)
kante Experimente, beispielsweise die Testung eines        gewinnen, also Untersuchungen an Gruppen von Men-
neuen Wirkstoffs, nicht direkt am Menschen durchfüh-       schen. Auf diese Weise können die Zusammenhänge
ren. Im Rahmen der Medikamentenentwicklung gibt            zwischen bestimmten Krankheiten und dem Lebensstil
es klinische Studien am Menschen, die vor der Zulas-       sowie den Lebensumständen von Menschen, wie Ernäh-
sung eines Wirkstoffs zum Tragen kommen. Bevor die         rung, Gewohnheiten und Arbeit, aufgedeckt werden.
klinischen Studien an menschlichen Probanden gestar-       Insbesondere die Kombination aus epidemiologischen
tet werden, finden zunächst präklinische Vortestungen      und epigenetischen (die Art und Weise, wie Gene ab-
statt, die zweifelsohne nötig sind, um die menschlichen    gelesen werden) Analysen ist ein Forschungsfeld, das
Testpersonen im Vorfeld bestmöglich abzusichern. Al-       sich rasant entwickelt und sehr wertvolle Erkenntnisse
lerdings sind bei diesen präklinischen Testungen im        für die menschliche Gesundheit liefert55,56. Aufgrund
Bereich der Medikamentenentwicklung immer noch             der Ergebnisse aus epidemiologischen Untersuchungen
Tierversuche vorgeschrieben. Das heißt, erst wenn ein      können wichtige vorbeugende Maßnahmen abgeleitet
Wirkstoff im Tierversuch als sicher und wirksam befun-     werden. So wurden auch die krebserregenden Eigen-
den wurde, wird er an menschlichen Probanden gete-         schaften von Tabakrauch und Asbest erkannt. Fleisch-
stet. Dies birgt für den Menschen ein hohes Risiko, da     und fettreiche Ernährung, Bewegungsmangel sowie
Tiere häufig ganz anders auf Substanzen reagieren als      psychosoziale Faktoren konnten aufgrund von Bevöl-
Menschen. Die Tatsache, dass die Tierversuche kein ge-     kerungsstudien als Hauptursachen für Diabetes, Krebs
eignetes Modell sind, um eine Substanzwirkung beim         und Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Schlaganfall,
Menschen vorherzusagen, ist ein Problem, das zuneh-        Herzinfarkt und Arteriosklerose identifiziert werden.
mend in der Wissenschaftswelt kritisiert wird. Zahl-
reiche Studien belegen, dass bis zu 95% der Medika-
mente, die in präklinischen Tierversuchen als sicher und

                                                                    Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche   11
Tierversuchsfreie Methoden in der Aus-, Fort- und Weiterbildung

3                             Tierversuchsfreie
                              Methoden
                              in der Aus-, Fort- und
                              Weiterbildung
Wer Biologe, Biologielehrer, Arzt oder Tier-                           Computersimulationen
arzt werden möchte, wird an den meisten                                Mit modernen Computerprogrammen lassen sich
deutschen Universitäten gleich zu Beginn                               physiologische Phänomene lebensecht nachahmen.
seines Studiums mit Tierversuchen bzw. dem                             Eine Kurve, z.B. zur Reizfrequenz, wird nicht durch
                                                                       den zuckenden Froschmuskel gezeichnet, sondern
sogenannten „Tierverbrauch“ konfrontiert.
                                                                       durch den Computer, nachdem der Studierende ver-
                                                                       schiedene Parameter im virtuellen Labor eingestellt
Darunter versteht man die Verwendung eigens zu                         hat. Viele Programme sind hoch interaktiv und fordern
Studienzwecken getöteter Tiere oder Teilen von ihnen,                  vom Studierenden aktive Mitarbeit. Auf diese Weise
Aufschneiden von Tieren sowie Übungen an Organprä-                     wird eine besonders hohe Einprägsamkeit erreicht.
paraten, aber auch Versuche an lebenden Tieren. So                     Computersimulationen gibt es nicht nur für physio-
sollen den Studierenden Grundbegriffe der Baupläne                     logische Versuche, sondern auch für morphologische
von Tieren und die Funktion der Organe vermittelt                      Präparationen, pharmakologische Experimente und
werden. Im Zoologiepraktikum beispielsweise werden                     vieles mehr.
Ratten, Schnecken, Insekten und andere Tiere getötet
und aufgeschnitten, um Aussehen und Lage der Organe
kennenzulernen. Weit verbreitet sind Tierversuche in
                                                                       Selbstversuche
der Physiologie, insbesondere sind hier die berüchtigten               Die Physiologie kann mit harmlosen Selbstversuchen
„Froschversuche“ zu nennen. Den Fröschen wird der                      am eigenen Körper erfahren werden. Die Einprägsam-
Kopf abgeschnitten, dann entnimmt man Organe wie                       keit erhöht sich dadurch erheblich. Mit myographischen
Nerven, Muskeln oder das Herz. Auch abgetrennt vom                     Verfahren können so Muskelströme und -mechanik z. B.
Körper reagieren die Organe auf Reize wie Strom-                       anstatt an einem Froschmuskel am Arm eines Studenten
schläge oder Auftragen bestimmter Medikamente. Seit                    bestimmt werden.
der italienische Arzt Aloysius Galvani im Jahr 1780 die
elektrische Froschmuskelreizung erstmals beschrieb,
                                                                       Verantwortungsvolle
haben Generationen von Studenten in aller Welt diesen
Versuch an Abermillionen von Fröschen durchgeführt.                    Verwendung toter Tiere
                                                                       Es ist absolut nicht nötig, für anatomische Studien
Dem gegenüber stehen mindestens 1.200 tierver-                         eigens Tiere zu töten. Schließlich werden für die
suchsfreie Lehrmittel zur Verfügung57. Zahlreiche Uni-                 Anatomiekurse im Studium der Humanmedizin ja auch
versitäten setzen bereits auf diese Innovationen, wäh-                 nicht eigens Menschen umgebracht. In den tierärzt-
rend andere immer noch auf archaischen Methoden                        lichen Kliniken und Praxen fallen gestorbene oder aus
beharren.                                                              medizinischer Indikation eingeschläferte Tiere an, die
                                                                       für diesen Zweck verwendet werden können. Auch

12   Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
für Biologiestudenten eignen sich natürlich zu Tode
gekommene Wirbeltiere oder auch tot aufgefundene
Insekten und Regenwürmer.

Plastinationen
Bei dem Verfahren der Plastination werden Organe
oder ganze Tiere in einen gummiartigen, beliebig lan-
ge haltbaren Zustand überführt, ohne dabei Form und
Farbe zu verlieren.

Simulatoren
Lebensechte Dummies gibt es sowohl für die Human-

                                                                                                                       © Skils Med Deutschland GmbH
als auch die Tiermedizin. Die „Patienten“ haben einen
Puls, Herzschlag, atmen und bluten. Studenten können
an ihnen chirurgische Eingriffe, Notfallmaßnahmen
und Behandlungen trainieren.

Virtual Reality                                          Der TraumaMan ist ein anatomisch korrektes
                                                         menschliches Modell, das es ermöglicht, eine Vielzahl
Virtual Reality für Chirurgen funktioniert wie ein       von chirurgischen Verfahren zu üben. Künstliches Blut
Flugsimulator in der Pilotenausbildung. Eine Echtzeit-   kann durch den „Körper“ gepumpt werden, so dass das
Simulation mit Videoaufnahmen aus echten OPs und         Gewebe blutet, wenn ein Fehler gemacht wird.
haptischer Wahrnehmung, d. h. der Chirurg fühlt,
wenn er mit den Instrumenten auf Gewebe trifft, es
schneidet, mit der Pinzette zieht oder schiebt. Das
Simulationsprogramm rechnet das Tastgefühl um und
präsentiert auf dem Bildschirm entsprechende Bilder
aus einer riesigen Videodatenbank.

Lernen am Patienten
Studierende der Tiermedizin können Behandlungen
und diagnostische Untersuchungen (EKG, Blutentnah-
me, Reflexe usw.) an Tierpatienten erlernen, so wie es
auch in der Humanmedizin üblich ist.

Assistieren
Operieren lernt ein angehender Arzt zunächst durch
Übungen an menschlichen Leichen und ein Tierarzt
an toten, auf natürliche Weise gestorbenen oder aus
                                                                                                                       © SynDaver

medizinischer Indikation eingeschläferten Tieren. Im
nächsten Schritt erfolgt das Assistieren bei einem er-
fahrenen Chirurgen, bis man schließlich in der Lage      Das realitätsgetreue, chirurgische menschliche Modell
ist, selbst Operationen – zunächst unter Aufsicht – am   der Firma SynDaver ermöglicht beliebig wiederholbare
Patienten vorzunehmen. So lässt sich das chirurgische    chirurgische Eingriffe, bietet ein integriertes Gefäßsystem
Handwerk sinnvoll erlernen.                              und verschiedene krankhafte Veränderungen.

                                                                  Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche   13
Validierung tierversuchsfreier Methoden

4
                               Validierung
                               tierversuchsfreier
                               Methoden
           Unter Validierung versteht man die wissenschaftliche Überprüfung einer Forschungs-
           methode für ihren praktischen Einsatz. Dabei wird sie in langwierigen und aufwendigen
           Verfahren unter anderem auf ihre Zuverlässigkeit, Wiederholbarkeit und Vorhersage-
           kraft beispielsweise schädlicher Wirkungen überprüft.

Es ist ein Kritikpunkt, den man häufig von Tierversuchs-   den nach diversen Kriterien, ob die jeweilige Methode
verfechtern hört: Die tierversuchsfreien Forschungsme-     geeignet ist oder nicht58. Die Validierung des Tests ist
thoden seien nicht validiert. Das ist schlichtweg eine     hierbei nur der erste Schritt, gefolgt von weiteren Stufen,
Falschaussage. Zahlreiche solcher Verfahren wurden         die der Test durchlaufen muss, bevor er letztendlich regu-
bereits erfolgreich validiert. Was nachweislich jedoch     latorisch akzeptiert wird. Die Validierung an sich ist hier
nie validiert wurde, sind die Tierversuche. Würden die     bereits ein strikter Prozess, der exakte Kriterien erfüllen
tierversuchsfreien Methoden eine so schlechte Voraus-      muss, die vom ECVAM und der OECD festgelegt sind59.
sagekraft und Reproduzierbarkeit an den Tag legen wie
Tierversuche, dann würden sie keine Validierung über-      Unsere NAT-Database (siehe Seite 4) bietet die Möglich-
stehen. Und würden Tierversuche dem Validierungs-          keit, nach validierten Methoden zu filtern. Diese ma-
prozedere bei tierversuchsfreien Methoden unterzogen       chen nur einen Bruchteil aller Datenbank-Einträge aus,
werden, würden sie durchfallen und dürften nicht zur       was die Realität widerspiegelt. Grundsätzlich werden
Anwendung kommen.                                          nämlich die meisten tierversuchsfreien Methoden, die
                                                           weltweit entwickelt werden, nicht validiert. Sie dienen
1. Wozu werden                                             häufig der akademischen bzw. Grundlagenforschung,
                                                           bei der eine Validierung einer Forschungsmethode
Forschungsmethoden validiert?
                                                           i.d.R. nicht im Vordergrund steht, sondern der wissen-
Validierung tierversuchsfreier Testverfahren ist ein       schaftliche Neuwert. Forschungsmodelle und -metho-
großes Thema, wenn es darum geht, diese Methoden           den sind hier nur Mittel, um wissenschaftliche Sachver-
als sogenannte „Alternativen zum Tierversuch“ zu eta-      halte zu erforschen.
blieren und für regulatorische, also gesetzlich vorge-
schriebene, Testungen zu akzeptieren. Die tierversuchs-    2. Wer ist zuständig für die Validie-
freie Methode muss von der Europäischen Kommission
                                                           rung von Forschungsmethoden?
und der Organisation for Economic Cooperation and
Development (OECD), einem Zusammenschluss der              Zuständig für die Validierung von „Alternativmethoden
wichtigsten Industrienationen, akzeptiert werden, da-      zum Tierversuch“ in Europa ist das ECVAM, das Europe-
mit das Produkt bzw. der Test offiziell als „Alternative   an Center for the Validation of Alternative Methods60.
zum Tierversuch“ deklariert wird. Der Weg zur regula-      Seine Aufgabe ist es, den Weg der tierversuchsfreien
torischen Akzeptanz eines Testverfahrens ist lang und      Verfahren hin zur regulatorischen Akzeptanz zu be-
steinig. Die Prozedur erstreckt sich über viele festge-    gleiten und zu koordinieren, so dass sie bei Sicher-
legte Schritte und etliche Gremien prüfen und entschei-    heitstestungen anstelle von bislang vorgeschriebenen

14   Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
PYROGENTEST

                                                                                                                 © unoL/shutterstock.com
Seit mehr als 100 Jahren werden Arzneimittel,
Impfstoffe und andere Substanzen standard-
mäßig auf fieberauslösende Verunreinigungen
(sog. Pyrogene) überprüft, indem die Testsub-
stanz Kaninchen injiziert wird, um mögliche Fie-    Beim Pyrogentest werden Kaninchen in enge Boxen gesperrt.
berreaktionen zu erkennen. Die Tiere werden
dabei so fixiert, dass sie sich nicht bewegen
können. Bereits in den 1990er Jahren wurde          Tierversuchen eingesetzt werden können. Im außer-
von Wissenschaftlern der Universität Konstanz       europäischen Ausland gibt es analoge Institutionen,
ein tierversuchsfreier Pyrogentest entwickelt,      die eng mit dem ECVAM zusammenarbeiten, ebenso
der mit menschlichem Blut arbeitet. Dieser Mo-      erfolgt ein stetiger Abgleich mit der OECD. Das ist in An-
nozyten Aktivierungstest (MAT) ist nicht nur aus    betracht unserer globalisierten Wirtschaft sehr wichtig,
ethischen Gründen dem Tierversuch überlegen,        damit im Idealfall Behörden weltweit eine Testmethode
sondern es lässt sich damit auch eine viel größe-   als „Alternative zum Tierversuch“ akzeptieren, wenn es
re Bandbreite an Verunreinigungen aufspüren63.      beispielsweise um die Registrierung einer Chemikalie
Der Test wurde 2005 international validiert und     oder die Entwicklung eines neuen Produktes geht. Das
2009 in das Europäische Arzneibuch aufgenom-        ECVAM ist Teil des JRC (Joint Research Center) und un-
men – allerdings parallel zum Kaninchentest.        tersteht der Europäischen Kommission.
Der MAT muss produktspezifisch validiert wer-
den, d.h. ein aufwendiges Überprüfungsver-
fahren für jedes Produkt durchlaufen, während
                                                    3. Wie läuft die Validierung ab?
dies vom Kaninchentest nicht verlangt wird. Ein     Wird eine tierversuchsfreie Testmethode beim ECVAM
drastisches Beispiel dafür, dass bei der Aner-      angemeldet, erfolgt vor Beginn des Validierungsver-
kennung von tierversuchsfreien Methoden mit         fahrens zunächst eine Konsultierung mehrerer Gremien
zweierlei Maß gemessen wird. 2021 kündigte          und Gruppen von Interessensvertretern (sog. Stakehol-
die EU-Behörde für Arzneimittelqualität EDQM        dern), die die Relevanz der Methode bewerten. Erst im
an, den Kaninchentest innerhalb von 5 Jahren        Anschluss daran startet ggf. der extrem aufwendige
auslaufen zu lassen – endlich!                      Validierungsprozess, der einer Art Qualitätssicherung
                                                    gleicht. Hierbei gibt das ECVAM konkrete experimen-

                                                             Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche   15
Validierung tierversuchsfreier Methoden

telle Kriterien vor, die der Test erfüllen muss. Es han-    5. Welche validierten Forschungs-
delt sich um strikte Anforderungen, durch die die Zu-       methoden gibt es bereits?
verlässigkeit des Testverfahrens belegt wird und die
gewährleisten sollen, dass der Test immer gleichblei-       Im Rahmen des Verbots von Tierversuchen für Kosmetik-
bende Ergebnisse produziert, egal, von wem und wo           produkte sind insbesondere viele Tests an humanen
er durchgeführt wird. Das heißt, die Ergebnisse müssen      3D-Zellkulturmodellen bzw. Gewebemodellen va-
eine gewisse Reproduzierbarkeit aufweisen oder in ver-      lidiert worden. Hierzu zählen z. B. 3-dimensionale
schiedenen Laboratorien dieselben Ergebnisse liefern.       Modelle der menschlichen Haut65, des Auges66 und
Durchgeführt werden die Validierungsstudien i.d.R. in       der Atemwege67. Bei diesen Tests befinden sich
den eigenen Laboren des ECVAM oder in den ca. 40 ak-        die komplexen Zellmodelle in einer Zellkulturplat-
kreditierten Laboren, die mit dem ECVAM zusammen-           te und die zu testende Substanz kann einfach auf-
arbeiten, den sog. NETVAL-Laboratorien (Network of          gebracht werden. In den meisten Fällen wird über
Laboratories for the Validation of Alternative Methods),    ein Photometer eine Farbreaktion nachgewiesen,
die sich an verschiedenen Standorten in Europa, auch        deren Intensität das Ausmaß der Schädigung der Zel-
in Deutschland, befinden61. Im Anschluss an die Vali-       len durch die Testsubstanz widerspiegelt. Von all diesen
dierung werden die Ergebnisse von dem wissenschaft-         Modellen gibt es mittlerweile auch regulatorisch ak-
lichen Expertenkomitee ESAC (ECVAM Scientific Advi-         zeptierte Tests, die eingesetzt werden können, um ge-
sory Committee) begutachtet. Letztendlich erstellt das      forderte Testkriterien wie Augenreizung, Hautreizung,
ECVAM in Zusammenarbeit mit weiteren Gremien aus            Reizung der Atemwege etc. nachzuweisen.
Interessensvertretern und Experten eine Empfehlung zu
einer Methode, die dann veröffentlicht und auch der         Eine detaillierte Übersicht aller Testmethoden, die be-
Europäischen Kommission vorgelegt wird. Diese Emp-          reits akzeptiert sind oder sich aktuell im Validierungs-
fehlung ist wohlgemerkt nicht verpflichtend oder ge-        prozess befinden, findet man in der Datenbank TSAR
setzlich bindend, sollte aber von Entscheidungsträgern      (Tracking System for Alternative Methods towards Re-
und Behörden in den Mitgliedsstaaten berücksichtigt         gulatory Acceptance)68. Auch hier ist jedoch Vorsicht
und adaptiert werden.                                       geboten, denn nicht all diese Methoden sind tatsäch-
                                                            lich frei von tierischen Geweben oder Komponenten,
                                                            es ist lediglich garantiert, dass nicht an lebenden Tieren
4. Wo liegen die Probleme?
                                                            getestet wird.
Der letzte Schritt nach erfolgreicher Validierung einer
Methode ist schließlich die offizielle regulatorische Ak-   Insbesondere im Bereich der Sicherheitstestung von
zeptanz eines Verfahrens als „Alternative zum Tier-         Chemikalien sind die computerbasierten Verfahren
versuch“. Diese Methode kann dann für bestimmte             (in silico) hervorzuheben49. Sie haben sich als vali-
Testungen im regulatorischen Bereich anstelle von           dierte und regulatorisch akzeptierte „Alternativme-
Tierversuchen eingesetzt werden, z. B. wenn es darum        thoden zum Tierversuch“ durchaus etabliert und
geht, zu prüfen, ob eine bestimmte Chemikalie die           kommen mittlerweile häufig zum Einsatz, wenn es
Haut reizt. Das Problem ist hier, dass die zuständigen      z. B. um die Zulassung von Chemikalien geht bzw.
europäischen Behörden diese Tests i.d.R. zwar auch          darum abzuschätzen, ob die Substanz schädliche
akzeptieren, jedoch gibt es nicht für all die zahlreichen   Auswirkungen auf den menschlichen Organismus
Testkriterien, die untersucht werden müssen, tierver-       haben könnte.
suchsfreie Verfahren, die anstelle von Tierversuchen
akzeptiert werden. Es ist also noch weitere Etablie-        6. Was muss sich in Zukunft
rungsarbeit nötig, um die Testung an Tieren komplett
                                                            verbessern?
zu verbannen.
                                                            Trotz der steigenden Zahl von validierten Methoden,
Der gesamte Validierungsprozess bis zur behördlichen        die tierversuchsfreie Testungen ermöglichen, wird lei-
Anerkennung und Aufnahme in Rechtsvorschriften              der bei der Validierung mit zweierlei Maß gemessen.
dauert etliche Jahre. Es kommt leider vor, dass selbst      Die Tierversuche sind im regulatorischen Bereich immer
validierte und anerkannte tierversuchsfreie Verfahren       noch das Maß der Dinge, der sogenannte Goldstan-
oftmals parallel zum Tierversuch geführt werden, wie        dard, an dem sich die humanbasierten tierversuchs-
z.B. beim Pyrogentest62 (siehe Kasten Seite 15).            freien Methoden zu allem Übel auch noch messen

16   Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
SCHEITERN DES 3R-KONZEPTS

HANDLUNGSBEDARF
Leider haben weder die EU noch Deutschland bisher

                                                                                                                © HYUNGKEUN/stock.adobe.com
eine konkrete Strategie entwickelt, um Tierversuche
(zumindest regulatorische) vollständig durch tierver-
suchsfreie Methoden abzuschaffen. Gut und erfreulich
ist aber, dass offen und kritisch darüber diskutiert wird,
und zwar mit allen beteiligten Interessensvertretern
inklusive NGOs, europäischen Behörden und Entschei-
dungsträgern. Auch wir zeigen zusammen mit unseren
                                                             Im Jahr 1959 wurde von den britischen For-
europäischen Dachverbänden ECEAE (European Coa-
                                                             schern William Russell und Rex Burch das
lition to End Animal Experiments) und Eurogroup for
                                                             sogenannte 3R-Konzpet vorgestellt. Die 3R
Animals den Handlungsbedarf auf, konkrete Ideen und
                                                             stehen für:
Strategien zu entwickeln, damit Entscheidungsträger
auf nationaler und europäischer Ebene die Abschaffung        • Replacement (Ersatz): Der Tierversuch
der Tierversuche klar fokussieren. Hierzu gehören vor          wird durch eine tierversuchsfreie
allem zwei Dinge: den innovativen tierversuchsfreien           Methode ersetzt.
Methoden das wohlverdiente Vertrauen zu schenken             • Reduction (Reduzierung): Anstelle
und zudem die Augen nicht davor zu verschließen, dass          des herkömmlichen Tierversuchs wird
Tierversuche aufgrund ihrer mangelnden Aussagekraft            eine Methode eingesetzt, die die
nicht das Forschungsmodell der Zukunft sein dürfen.            Anzahl der Versuchstiere verringert.
                                                             • Refinement (Verfeinerung): Maß-
                                                               nahmen, die die Leiden der Tiere
                                                               vermindern. Aber auch verbesserte
müssen. Und das, obwohl bekannt und wissenschaft-              Haltungsbedingungen zählen hierzu.
lich vielfach belegt ist, dass die Vorhersagekraft der       Dieses Konzept beruht auf der Annahme,
Tierversuche – auch bei Sicherheitsprüfungen und toxi-       der Tierversuch sei eine prinzipiell sinnvolle
kologischen Untersuchungen – schlecht ist. Warum soll        Methode. Eine Abkehr von ihr wird nicht in
ein innovatives Testverfahren, das auf humanen Zellen        Erwägung gezogen. Für Tierversuchsgegner
basiert und somit logischerweise den Menschen besser         sind die Rs Reduction und Refinement in-
widerspiegelt, seine Tauglichkeit an Tierversuchen un-       diskutabel. Selbst der Ersatz (Replacement)
ter Beweis stellen? Das ist absurd und auch ein Dilem-       ist nur bedingt zu akzeptieren, impliziert er
ma bei strategischen Überlegungen zur Abschaffung            doch, dass der Tierversuch im Prinzip eine ge-
von Tierversuchen im regulatorischen Bereich. Aus dem        eignete Methode sei, die lediglich ersetzt zu
Grund sprechen wir auch nicht von „Alternativen“, bzw.       werden braucht, um zu relevanten Ergebnis-
setzen den Begriff in Anführungszeichen, denn eine           sen für den Menschen zu gelangen.
„Alternative“ impliziert, dass etwas Gleichwertiges er-
setzt wird. Humanbasierte Methoden sind aber nicht           Tatsächlich sind Tierexperimente nicht nur
gleichwertig, sondern besser.                                aus ethischen Gründen abzulehnen, sondern
                                                             auch aufgrund der mangelnden Übertragbar-
Es muss ein generelles Umdenken stattfinden, weg             keit auf den Menschen. Dieser wissenschafts-
vom klassischen „Ersetzen“ vorgeschriebener Tierver-         kritische Aspekt wird bei der 3R-Philosophie
suche, denn genau so wird es eben nicht funktionie-          nicht berücksichtigt. In Wissenschaftskreisen
ren. Laut der europäischen Chemikalienagentur ECHA           wird auch von „Alternativmethoden“ oder
sind bestimmte Tierversuche mittlerweile recht gut           „Ersatz- und Ergänzungsmethoden“ ge-
oder gar vollständig „durch Alternativmethoden zu            sprochen. Auch diese Formulierungen sind
ersetzen“, komplexere Untersuchungen jedoch noch             irreführend, da tierversuchsfreie Methoden
nicht69. Beispielsweise sei es schwierig, einen 90-Tage-     keinen bloßen Ersatz, sondern gute Wissen-
Toxizitätstest bei einer Ratte in vitro zu simulieren. Das   schaft darstellen.
ist aber genau die falsche Herangehensweise. Es darf

                                                                 Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche                             17
© Vanderbilt University/            Validierung tierversuchsfreier Methoden
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                  Die Blut-Hirn-Schranke ist eine
                  Barriere zwischen Blut und Hirnzellen
                  und übt eine Filterfunktion aus, damit
                  Nährstoffe vom Blut ins Gehirn gelangen können,
                  nicht aber Giftstoffe und Krankheitserreger. An der
                  Vanderbilt Universität in Nashville, USA, wurde ein Chip
                  entwickelt, der diese komplexe Funktion darstellt und für die
                  Alzheimer-, Parkinson-, und Schlaganfallforschung genutzt
                  werden kann.
                                                                                      7. Werden tierversuchsfreie
                                                                                      Methoden ausreichend gefördert?
                           nicht das Ziel sein, einen aktuell verwendeten nach-       Tatsächlich gibt es in Deutschland kaum staatliche För-
                           weislich unzuverlässigen Rattentest in vitro zu simu-      dergelder, die die dringend notwendige Validierung
                           lieren, sondern man muss im Fokus behalten, dass           tierversuchsfreier Methoden finanzieren. Meist sind
                           man das toxische Langzeitpotenzial einer Substanz          es Unternehmen, die große Summen für Validierung
                           beim Menschen untersuchen will. Wer sagt, dass der         investieren, wenn sie Interesse an einer bestimmten
                           klassische 90-Tage-Test, bei der die Ratte jeden Tag (!)   Methode haben. Die Pharmaindustrie könnte bis zu
                           eine potenziell giftige Substanz oral per Schlundson-      600 Millionen Euro bei der Entwicklung eines einzigen
                           de verabreicht bekommt, die Methode der Wahl ist?          Medikaments einsparen, wenn man auf die neuen
                           Auch dieser Test wurde nie validiert, sondern hat sich     Verfahren zurückgreifen würde70. Wieviel Geld in die
                           einfach etabliert und wird nun seit Jahrzehnten stan-      Förderung tierversuchsfreier Forschung investiert wird,
                           dardmäßig durchgeführt. Würde man eine korrekte            wird von den staatlichen Förderstellen und Forschungs-
                           Validierung dieses Verfahrens vornehmen, würde er          gesellschaften nicht öffentlich mitgeteilt. Detaillierte Re-
                           mit höchster Wahrscheinlichkeit durchfallen, denn          cherchen zeigen, dass unter 1 % der staatlichen Förder-
                           die Fehleranfälligkeit des Tests und die mangelnde         gelder in der Forschung für tierversuchsfreie Methoden
                           Übertragbarkeit auf den Menschen sind nicht von der        eingesetzt werden und über 99 % immer noch in Pro-
                           Hand zu weisen.                                            jekte fließen, die Tierversuche beinhalten71. Solange sich
                                                                                      dieses Ungleichgewicht nicht drastisch ändert, wird es
                                                                                      schwierig bleiben, in Deutschland die tierversuchsfreie
                                                                                      Forschung in dem Maß zu etablieren, wie es nötig ist.

                           18   Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
Paradigmenwechsel hin zu einer tierversuchsfreien Forschung

5
                          Paradigmenwechsel
                          hin zu einer
                          tierversuchsfreien
                          Forschung
Tierversuchsfreie Forschung hat es nicht zuletzt so schwer, sich durchzusetzen, weil die Tierversuche
seit Jahrzehnten ihren festen Platz in der Gesellschaft haben. Das Bild von Tierversuchen, die nicht zu
ersetzen sind, weil sie unerlässlich für die Sicherheit der Menschen seien, wird hartnäckig aufrechter-
halten und es werden Ängste bei der Bevölkerung geschürt. Wissenschaftlich fundierte Beweise, die
dieses Bild klar widerlegen werden ignoriert und totgeschwiegen. Daher ist es so wichtig, Aufklä-
rungsarbeit zu leisten und mit unbegründeten Dogmen aufzuräumen, damit ein Paradigmenwechsel
hin zu einer tierversuchsfreien Wissenschaft und Forschung erreicht werden kann.

1. Warum werden Tierversuche
überhaupt noch gemacht?
Wenn Tierversuche so schlechte Ergebnisse liefern und tierversuchsfreie Forschung so viel besser ist,
warum müssen dann immer noch so viele Tiere in Versuchen sterben?

• Seit mehr als 150 Jahren gilt die Methode Tierver-                    der Welt der Wissenschaft einen Namen machen.
  such in der Wissenschaft als „Goldstandard“, ohne                     Diese verlangen häufig Tierversuche.
  dass sie jemals auf ihre medizinisch-wissenschaft-                  • Rund die Hälfte aller Tierversuche werden im Rahmen
  liche Relevanz hin überprüft oder validiert worden                    der Grundlagenforschung durchgeführt. Diese dient
  ist.                                                                  dem Zugewinn von Wissen ohne konkreten Bezug
• In die Tierversuchsforschung fließen enorme Sum-                      zur medizinischen Notwendigkeit oder gezielten An-
  men in Form von Forschungsgeldern, Drittmitteln                       wendungen.
  oder Stipendien.                                                    • Etwa ein Viertel der Tierversuche sind für Sicherheits-
• Nur mit einer langen Liste von Veröffentlichungen                     testungen und Medikamentenentwicklung aktuell
  in hochrangigen Fachzeitschriften kann man sich in                    gesetzlich vorgeschrieben.

2. Spiegeln Tiere den Menschen wirklich wider?
Tierversuche sind kein effektives Forschungsmodell,                   der menschlichen Physiologie und reagieren anders
um menschliche Krankheiten zu erforschen oder die                     auf Substanzen als der Mensch (Tabelle 1). Aufgrund
Wirkung von Substanzen auf den menschlichen Kör-                      der mangelnden Übertragbarkeit der Versuchsergeb-
per vorherzusagen. Tiere unterscheiden sich stark von                 nisse von Tieren auf den Menschen sind tierexperi-

                                                                                   Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche   19
Paradigmenwechsel hin zu einer tierversuchsfreien Forschung

mentelle Daten grundsätzlich unzuverlässig und stel-                       urteilt, da man komplexe menschliche Erkrankungen,
len ein Sicherheitsrisiko für den Menschen dar. Viele                      die über Jahre oder Jahrzehnte hin entstehen und an
der menschlichen Krankheiten, die an ihnen erforscht                       deren Entwicklung zahlreiche Einflussfaktoren beteiligt
werden, würden Tiere von Natur aus gar nicht entwi-                        sind, nicht durch stark vereinfachte künstliche Verän-
ckeln, beispielsweise Diabetes, Alzheimer, Parkinson                       derungen in Tieren abbilden kann.
oder zahlreiche Krebserkrankungen. Aus diesem Grund
werden „Tiermodelle“ geschaffen, indem bei gesunden                        Um die medizinische Forschung zuverlässiger und
Tiere durch simple gentechnische Modifikationen oder                       effizienter zu gestalten, ist es also unbedingt notwen-
absurde Versuchsaufbauten Krankheiten simuliert wer-                       dig, neue tierversuchsfreie Modelle zu etablieren, die
den (Tabelle 2). Solche Ansätze sind zum Scheitern ver-                    humanbasiert sind und valide Daten liefern.

3. Gäbe es ohne Tierversuche
keinen medizinischen Fortschritt?
                                                                           dann doch teils schwere oder tödliche Nebenwir-
                                                                           kungen aufweisen oder schlichtweg nicht wirken, wie
                                                                           man es sich erhofft hatte72–75. Hinzu kommt die Ge-
                                                                           fahr, dass viele Medikamente im Tierversuch aufgrund
                                                                           fehlender Wirksamkeit oder unerwünschter Nebenwir-
                                                                           kungen aussortiert werden, die aber beim Menschen
                                                                           vielleicht wirksam und unproblematisch wären. Viele
                                                                           wichtige Medikamente wie Aspirin, Ibuprofen oder Pe-
                                                                           nicillin wären uns vorenthalten geblieben, hätte man
                                                                           sich schon in früheren Zeiten auf den Tierversuch ver-
                                                                           lassen. Diese Stoffe rufen nämlich bei bestimmten Tier-
                                                                           arten aufgrund unterschiedlicher Stoffwechselvorgän-
                                                                           ge gravierende Schädigungen hervor (Tabelle 1). Als
                                                             © Novoheart

                                                                           diese Arzneien vor langer Zeit entdeckt wurden, gab
                                                                           es noch keine verpflichtende Testung in Tieren. Bei der
                                                                           heutigen Vorgehensweise wären sie bei der Wirkstoff-
Schlagende Miniherzen aus menschlichen Stammzellen.
                                                                           findung durchgefallen.

Tierversuchsbefürworter behaupten häufig, dass Tier-                       Auch wirtschaftlich würde sich ein Umstieg auf tierver-
versuche entscheidend waren für die Entwicklung                            suchsfreie Forschungsmethoden rentieren, wie immer
zahlreicher Medikamente. Da die Durchführung von                           mehr Studien aufzeigen4,7,76, denn die modernen Ver-
Tierversuchen die Voraussetzung dafür ist, dass ein                        fahren sind kostengünstiger und schneller als langwie-
Medikament überhaupt den Zulassungsprozess weiter                          rige Tierversuche, zudem sind sie hochdurchsatzfähig,
durchlaufen kann, sind sie zwangsläufig an dessen Ent-                     d. h. riesige Mengen von Substanzen können parallel
wicklung beteiligt. Dies heißt aber noch lange nicht,                      getestet werden.
dass das Medikament nicht ohne die Tierversuche
hätte entwickelt werden können. Darüber hinaus sind                        Würde man anstelle von Tierversuchen moderne
Tierversuche sogar hinderlich, weil sie die Forschung in                   human-basierte Modelle einsetzen, würde der medi-
die falsche Richtung lenken. Studien zeigen auf, dass                      zinische Fortschritt also nicht zum Erliegen kommen,
bis zu 95 % der Medikamente, die sich im Tierversuch                       sondern mit Sicherheit einen deutlichen Aufschwung
als sicher und wirksam erwiesen haben, nicht auf den                       erfahren.
Markt kommen52–54. Die Hauptursache dafür ist, dass
die Wirkstoffe in den klinischen Studien am Menschen

20   Moderne Forschungsmethoden ohne Tierversuche
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