Sozial, Ökologisch und Demokratisch - LINKE Industriepolitik in Zeiten der Krise - Fraktion DIE LINKE. im Bundestag

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Sozial, Ökologisch und Demokratisch - LINKE Industriepolitik in Zeiten der Krise - Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
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                    Sozial, Ökologisch
                    und Demokratisch
                    LINKE Industriepolitik in Zeiten der Krise
Sozial, Ökologisch und Demokratisch - LINKE Industriepolitik in Zeiten der Krise - Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
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Inhalt
Vorwort                                                                       3

Corona-Krise: Zeit für lenkende Industriepolitik – Einleitung                 5

Status Quo – Industrie und Industriepolitik                                  7

Die deutsche Industrie in der Krise                                           7

Welche Industriepolitik brauchen wir?                                        8

Industriepolitische Instrumente für eine sozial-ökologische Transformation   8

Industriestrategie 2030: Exportüberschuss – Made in Germany                  9

Grundrisse einer linken transformativen Industriepolitik                     13

Transformative Industriepolitik: Fördern, aber auch fordern                  13

Handlungsfelder transformativer Industriepolitik                             13

Mit großer Mission die Pfadabhängigkeit durchbrechen                         21

Konversion statt Wachstum um jeden Preis                                     22

DGB-Kommentar: »Gerechte Transformation erfordert aktive Industriepolitik«   23

Demokratische Investitionslenkung als Kernprojekt                            24

Industriepolitik für die Zukunft – Fazit                                     26

Literatur                                                                    27

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Sozial, Ökologisch und Demokratisch - LINKE Industriepolitik in Zeiten der Krise - Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Platz der Republik 1, 11011 Berlin
Telefon: 030/22751170, Fax: 030/22756128
E-Mail: fraktion@linksfraktion.de
V.i.S.d.P.: Jan Korte

Redaktion: Tilman von Berlepsch
Layout/Druck: Fraktionsservice
Endfassung: Mai 2021
Dieses Material darf nicht zu Wahlkampfzwecken
verwendet werden!
Mehr Informationen zu unseren parlamentarischen
Initiativen finden Sie unter: www.linksfraktion.de
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Sozial, Ökologisch und Demokratisch - LINKE Industriepolitik in Zeiten der Krise - Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Vorwort
Die Beschäftigten in der Industrie stehen unter enor-
men Druck: Globale Überproduktion, ständiger Kosten-
druck, die Klimakrise und nun auch noch die Corona-
Pandemie. Doch für die Bewältigung der Klimakrise und
der zunehmenden sozialen Polarisierung hilft nicht der
wehmütige Blick auf die Vergangenheit, sondern nur ein
radikaler sozial-ökologischer Aufbruch in die Zukunft
der Industrie. Die gegenwärtige Industriepolitik ist auf
die Interessen der Konzerne ausgerichtet und vernach-
lässigt die Beschäftigten. Und auch die Klimapolitik der
Bundesregierung wirkt sozial ungerecht. Anstatt auf
Marktinstrumente zu setzen müssen menschen- und
klimaschädlicher Produktion Grenzen gesetzt werden.
Ja, es werden industrielle Arbeitsplätze verloren gehen.
Wenn gleichzeitig neue Produktionskapazitäten in
ökologischen und zukunftssicheren Branchen aufgebaut
werden, können aber auch sehr viele neue Arbeitsplät-
ze entstehen: z.B. in der Windkraft, bei der Herstellung
von Batteriezellen oder auch in der Wasserstofftechno-
logie. Dafür brauch es aber eine aktive Industriepolitik
die diese Chancen ergreift und unterstützt. Die Trans-
formation darf nicht managementgetrieben, sondern
muss mit und von den Beschäftigten selbst angegangen
werden. Dafür braucht es auch mehr Mitsprache bei
den Investitionsentscheidungen der Unternehmen. Das
muss wirtschaftsdemokratisch gegen die Konzernlei-
tungen durchgesetzt werden. Daher ist eine Stärkung
der Gewerkschaften und Betriebsräte unumgänglich.
Ein großangelegtes sozial-ökologisches Investitionspro-
gramm mit demokratischer Beteiligung der Beschäftig-
ten und der Zivilgesellschaft ist der Schlüssel für einen
gelingenden Wandel. Linke Industriepolitik muss eine
transformative Industriepolitik sein, zu deren Weiter-
entwicklung ich euch alle herzlich einlade, um gemein-
sam mit der LINKEN für eine soziale, ökologische und
demokratische Industrie zu kämpfen.

Euer

Alexander Ulrich

Parlamentarischer Geschäftsführer
und Industriepolitischer Sprecher der Linksfraktion
im Bundestag

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ZITAT
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                                                           Heraklit von Ephesus, Philosoph,
                                                                         ca. 535 – 475 v. Chr.

                                      ZITAT
»Es handelt sich bei den Green New Deal
  Konzepten um eine Generalüberholung
                    des Betriebssystems.
           Krempeln wir die Ärmel hoch
       und erledigen das, was ansteht.«
             Naomi Klein, Journalistin, 2019

                                                                                        ZITAT
                                                                    »Wir können werden,
                                                          was wir uns zutrauen zu sein.«
                                                 Alexandria Ocasio-Cortez, US-Demokratin,
                                                                                    2019

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Sozial, Ökologisch und Demokratisch - LINKE Industriepolitik in Zeiten der Krise - Fraktion DIE LINKE. im Bundestag
Corona-Krise: Zeit für lenkende Industriepolitik – Einleitung
Der Parfümhersteller Dior sowie der Schnapsbrenner           1,8 Millionen Arbeitsplätzen, acht Prozent der Wert-
Jägermeister stellen ihre Produktion auf Desinfekti-         schöpfung und enger Verknüpfung mit der deutschen
onsmittel um. Der Automobilzulieferer Zettl und der          Identität als »Autonation« und »Exportweltmeister«,
Textilhersteller Trigema beginnen mit der Produktion         befindet sich in einem disruptiven Umbruch. Zwar ist
von Schutzmasken. GM, BMW und Tesla beginnen mit             ihr Umbau aus Klimagerechtigkeitsgründen unabding-
der Produktion von Beatmungsgeräten. In der Corona-          bar, die derzeitigen Umbruchsprozesse finden jedoch
Pandemie haben sich die gesellschaftlichen Bedürfnis-        markt- oder managementgetrieben statt. Die AfD steht
se schlagartig gewandelt und weder der Markt noch der        in den Startlöchern, um die Wut derjenigen in Ressen-
Preis wirken als steuerndes Korrektiv. Es schlägt die        timents zu kanalisieren, deren Jobs vermeintlich durch
Stunde lenkender Industriepolitik.                           Umwelt- und Klimapolitik gefährdet sind.

Doch schon vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie              Die Frage stellt sich: Wie kann eine sozial-ökologische
wurde öffentlich und fachpolitisch intensiv über Indus-      Transformation der deutschen Wirtschaft industriepoli-
triepolitik diskutiert. Die zunehmende Konkurrenz aus        tisch gelenkt werden? Klar ist: Eine Industriepolitik, die
China in einer wachsenden Zahl von Industriebranchen,        versucht klima- und beschäftigungspolitische Heraus-

in denen Deutschland und Europa bislang die Spitzen-         forderungen über technologische Marktführerschaft
reiter waren, bewog auch den deutschen Wirtschafts-          und eine Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zu be-
minister Peter Altmaier (CDU) im Februar 2019 zur            wältigen, ist sozial ungerecht. DIE LINKE. im Bundestag
Vorlage eines Entwurfes für eine »Industriestrategie         schlägt vor, an einer transformativen Industriepolitik
2030«. Zunächst bejubelt von linken und sozialdemokra-       anzusetzen, die klare sozial-ökologische Kriterien erfüllt
tischen Parteien und Ökonom:innen sowie den Gewerk-          und auf gebrauchswertorientierte Konversion ausge-
schaften, dass überhaupt mal wieder eine Debatte über        richtet ist.
Industriepolitik stattfinde, wurde der Wirtschaftsminis-
ter jedoch schnell von Industrie- und Arbeitgeberver-        Dabei geht es nicht darum, zum guten alten Normal-
bänden zurückgepfiffen.                                      arbeitsverhältnis des Fordismus zurückzukehren, da
                                                             das fordistische Modell auch auf einer »fossilistischen
Im Energiesektor polarisiert die Diskussion um den           Wachstumsökonomie« basierte (Urban 2019, S.18). Es
Kohleausstieg, der ohnehin schon gebeutelte Regionen         muss vielmehr in einer sozial-ökologischen Transfor-
Arbeitsplätze und Identität kosten wird. Andererseits        mation auch der gesellschaftliche Gebrauchswert der
geht der Windenergieausbau viel zu langsam vonstatten.       Arbeit diskutiert werden. Die Gesellschaft muss sich
                                                             demokratisch darauf verständigen, welche wirtschaft-
Gleichzeitig ist der Verkehrssektor der einzige Sektor, in   lichen Bereiche wachsen und welche schrumpfen
dem die CO2-Emissionen auf viel zu hohem Niveau ver-         müssen. Selbst für ein wachstumsunabhängiges Sys-
harren und die Umwelt- und Raum-Verteilungsprobleme          tem brauchen wir sektorales Wachstum. Bestehende
durch immer mehr und immer größere Autos zuneh-              Produktionskapazitäten und Investitionen müssen (um)
men. Doch die deutsche Autoindustrie – mit insgesamt         gelenkt werden.

                                                                                                                          5
Der Staat muss dabei durch konsequente Ordnungs-
und Förderpolitik die technologischen und industriellen
Weichen für die Unternehmen stellen, da Staat und
Unternehmen mit ihren Investitionsentscheidungen
die zentrale Steuerungsmacht über Produktions- und
Lebensweisen besitzen.

Da es hierbei schnell um harte Investitionsentscheidun-
gen geht, führen solche Diskussionen immer auch zu
Macht- und damit Demokratiefragen. Die Notwendigkeit
in der Transformation auch über Investitionsentschei-
dungen mitzubestimmen – und damit über den Kern der
Unternehmerfreiheit – macht Betriebsräte und Gewerk-
schaften zu einem entscheidenden industriepolitischen
Akteur.

Eine demokratische Investitionslenkung, die Steuerung
von Produktionskapazitäten auf mehreren Ebenen und
visionäre industriepolitische Groß- und Konversionspro-
jekte mit sozial-ökologischer Mission sind die Kernele-
mente einer transformativen Industriepolitik.

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Status Quo – Industrie und Industriepolitik
Die deutsche Industrie in der Krise                        oder schrumpft. Die Märkte sind gesättigt. Das führt
                                                           zur Konzentration, Marktausweitung (regional und bei
In Deutschland arbeiten etwa sieben Millionen              der Produktpalette) und Produktionsausweitung. Die
Menschen in der Industrie. Sie verteilen sich auf 29       globalen Umbrüche betreffen besonders deutsche Un-
Branchen und 47.000 Betriebe. Der Anteil des verar-        ternehmen, deren Wertschöpfungsketten und ihr Netz
beitenden Gewerbes ist in Deutschland mit 23 Prozent       von Zulieferern, Dienstleistern für Service, Wartung und
wesentlich höher als in vergleichbaren Ländern. So         Finanzierung. Ebenso ist die Transformation hiesiger
wird der hohe Wertschöpfungsanteil der Industrie in        Schlüsselbranchen unter anderem der Stahl- und Me-
Deutschland weitestgehend als ökonomische Stärke           tallverarbeitung, des Maschinen- und Anlagenbaus, der
angesehen.                                                 Elektrotechnik und Elektronik, der Grundstoffindustrie
                                                           bis hin zu Raffinerien und dem Tankstellennetz zu er-
Besonders die Autoindustrie und mit ihr auch der           warten. Zudem bringen die Metatrends Digitalisierung
Maschinenbau haben eine besondere Bedeutung für die        und Automatisierung weitere Rationalisierungswellen
deutsche Wirtschaft und damit auch für die deutsche        mit sich. Die Nationale Plattform Zukunft der Mobilität
Gesellschaft. In der deutschen Automobilindustrie ar-      stellte im Januar 2020 einen Bericht vor, der bis 2030
beiten bundesweit circa 880.000 Menschen. Das ist ein      410.000 Arbeitsplätze in der deutschen Automobilindus-
Anteil an der Gesamtbeschäftigung von zwei Prozent.        trie in Gefahr sieht.
Berücksichtigt man auch die weiteren Multiplikatoref-
fekte durch Zulieferer und Produktionsverflechtung,        Dieser Einbruch hat längst begonnen. Bei Bosch wer-
verdoppelt sich die Zahl der von der deutschen Autoin-     den Stellen gestrichen, Continental will ganze Werke
dustrie abhängigen Beschäftigten auf 1,8 Millionen, also   schließen und Schaeffler setzt auf Kurzarbeit. Schon
rund vier Prozent aller Erwerbstätigen und 15 Prozent      2019 titelte das Handelsblatt: »Autozulieferern droht
aller Industriebeschäftigten.                              ein Fiasko.« Die Erlöse der 600 größten Autozulieferer
                                                           schrumpften um fünf Prozent. Die Umsatzrenditen
Die deutsche Automobilbranche hat eine Exportquote         waren auf den niedrigsten Wert seit 2012 gefallen. Die
von 78 Prozent. Kraftwagen und Kraftwagenteile sind        Corona-Pandemie beschleunigte den Absturz. Die
2019 mit 16,9 Prozent der gesamten deutschen Exporte,      Industrieproduktion in der Kfz-Branche erreichte im Mai
laut Statistischem Bundesamt, »wie schon in den ver-       2020 nur 50 Prozent des Vor-Corona-Niveaus.
gangenen Jahren Deutschlands wichtigste Exportgüter«.
So leisten die deutschen Autobauer einen entscheiden-      Doch nicht nur wirtschaftliche Probleme stellen die
den Beitrag zum »deutschen Exportwunder« und zur           Industrie vor große Herausforderungen. Die Industrie
Erzielung von Außenhandelsüberschüssen.                    ist mit einem Anteil von 22 Prozent nach dem Ener-
                                                           giesektor der zweitgrößte Treibhausgasemittent in
Mit dem Wirtschaftswunder und dem Zeitalter des            Deutschland und damit eine klimapolitische Last. Rund
Massenkonsums ist das Auto zum Leitprodukt der             200 Millionen Tonnen Treibhausgase wurden 2017 von
westlichen Wohlstandsgesellschaften geworden. Doch         deutschen Industriebetrieben emittiert.
sind die Autos nicht einfach millionenhaft vom Himmel
gefallen. Der Siegeszug des Automobils ist nicht das       Rund zwei Drittel der Industrie-Emissionen ergeben sich
Ergebnis einer natürlichen Evolution menschlicher          aus selbst erzeugtem Strom (häufig in Kraft-Wärme-
Mobilitätsbedürfnisse. Vielmehr war die Durchdringung      Kopplung) und aus der Wärmebereitstellung für diverse
der Gesellschaft als Automobilismus ein politisches        Produktionsprozesse. Dabei variiert der industrielle
Projekt von wirtschaftlichen und politischen Interessen-   Prozesswärmebedarf stark. Die Nahrungsmittelindus-
gruppen. Der Automobilismus ist »die Folge eines über      trie verwendet Warmwasser und Dampf auf niedrigem
Jahrzehnte angelegten Planes, in dessen Mittelpunkt        Temperaturniveau. Die Grundstoffindustrie (Stahl,
das Versprechen von einem eigenen Auto als wichtiger       Chemie, Zement) braucht Temperaturen von 600 Grad
Teil des privaten Glücks steht« (Canzler/Knie 2018,        bis weit über 1.000 Grad Celsius.
S.14). Dieses »Narrativ« wurde kulturell, politisch und
ökonomisch-materiell flankiert, bis sich das Auto als      Von den Emissionen aus der Verbrennung der fossilen
Freiheitssymbol, Erwerbslebensziel und Anker volks-        Energieträger Kohle, Erdöl und Erdgas (für Strom und
wirtschaftlicher Akkumulation verselbstständigt hat.       Wärme) werden die sogenannten prozessbedingten
                                                           Emissionen unterschieden, die als »Abfall« chemischer
Die globale Automobilindustrie im Allgemeinen und          Reaktionsprozesse anfallen und rund ein Drittel der
die deutschen Hersteller im Speziellen befinden sich       gesamten Industrie-Emissionen ausmachen. Verant-
in mehrfacher Hinsicht in der Krise und steuern auf wei-   wortlich für diese Sondergruppe der Emissionen sind
tere grundlegende Probleme zu, die durch die Corona-       überwiegend industrielle Großanlagen aus vier Bran-
Pandemie offen zutage treten.                              chen: Raffinerien, Eisen und Stahl, Grundstoffchemie
                                                           sowie Zement und Kalk. So entstehen beispielsweise
Die globale Autoindustrie kämpft seit Jahren mit Über-     bei der Stahlherstellung prozessbedingte Emissionen
kapazitäten. Die Nachfrage in den alten großen Indus-      hauptsächlich durch den Einsatz von Koks für die Reduk-
triezentren Nordamerika, Europa und Japan stagniert        tion des Eisenerzes. Bei der Zementherstellung ent-

                                                                                                                  7
steht CO2 durch die Entsäuerung des Kalksteins. In der      Interessensgegensätze, die so nicht existieren und die
Chemieindustrie dominiert inzwischen die Herstellung        von bestimmten Interessengruppen geschürt werden,
von Ammoniak die prozessbedingten Emissionen von            um einer sozial-ökologischen Industriepolitik entge-
Grundchemikalien. Vor allem in diesen Branchen ist eine     genzuwirken. Manche industriepolitischen Ziele stehen
relative Entkopplung von fossilen Energieträgern wie Öl,    den individuellen Interessen eines Unternehmens ent-
Kohle und Erdgas notwendig (Agora Energiewende 2019,        gegen. So könnte eine Verbesserung des Arbeits- und
siehe auch Aktionsplan Klimagerechtigkeit 2020).            Umweltschutzes zu zusätzlichen Kosten führen, die
                                                            dem Ziel des Unternehmens einer möglichst kosten-
Aus der Perspektive einer sozial-ökologisch motivierten     günstigen Produktion entgegenstehen. Sind die Stei-
Industriepolitik stellt sich die Frage, wie das Zwischen-   gerung der Wettbewerbsfähigkeit und Kostensenkung
ziel bis 2030 (60 Millionen Tonnen weniger CO2 im           auch als industriepolitische Ziele definiert, entsteht ein
Vergleich zu 2020) erreicht werden kann und gleichzei-      Zielkonflikt. Berücksichtigt man jedoch auch langfris-
tig gute Beschäftigung und eine hohe Lebensqualität         tige Faktoren, wie geringerer Krankheitsstand durch
erhalten bleibt. Der Soziologe Klaus Dörre spricht von      bessere Gesundheit der Beschäftigten und Marktvor-
einer »ökologisch-ökonomischen Zangenkrise«, in der         teile durch eine umweltfreundlichere Produktion, kann
alle frühindustrialisierten Länder und besonders die        der Staat in längerer, weiserer Vorausschau mit seiner
Bundesrepublik Deutschland stecken. Es ist zu einer         Industriepolitik auch die Unternehmen »zu ihrem Glück
Steigerung ökonomischer Krisengefahren gekommen,            zwingen«.
die unmittelbar an Klima- und Ressourcenausbeutung
gekoppelt ist. Wirtschaftswachstum und Klimaprobleme        Industriepolitische Instrumente für eine sozial-
bedingen sich gegenseitig. Ist das Wachstum schwach,        ökologische Transformation
steigen Prekarität und Ungleichheit. Nimmt die Wirt-
schaft Fahrt auf, nehmen die Klimaprobleme zu. Gerin-       Eine Vielzahl an wirtschaftspolitischen Instrumen-
geres Verkehrsaufkommen und sinkender Energiever-           ten zielt auf die Gestaltung der Industrie ab. Es wird
brauch zur Hochphase der Corona-Schutzmaßnahmen             zwischen vertikaler und horizontaler oder »neutra-
veranschaulichen diesen Zusammenhang sehr deutlich.         ler« Industriepolitik unterschieden. Neutral soll die
Der fundamentale Widerspruch zwischen Kapital und           horizontale Industriepolitik deswegen sein, weil sie
Klima verdichtet sich in dem Dilemma: Ökonomischer          keine bestimmten Branchen oder Unternehmen
Zusammenbruch jetzt oder Klimakatastrophe später?           bevorzugt, sondern lediglich die Rahmenbedingungen
Das Dilemma kann nur durch schnelles Handeln gelöst         und Standortfaktoren für alle Wirtschaftsaktivitäten
werden. Es braucht eine transformative Industriepolitik,    gleichermaßen verbessern soll. Da horizontale Indust-
die in neue grüne Technologien investiert und gleichzei-    riepolitik auf eine Stärkung der Wettbewerbsbedingun-
tig gute Arbeitsplätze schafft.                             gen der gesamten heimischen Industrie abzielt, wird
                                                            sie folgend als wettbewerbsorientiert bezeichnet. Sie
Welche Industriepolitik brauchen wir?                       sei weniger anfällig für »politische« Interessen oder
                                                            lobbygetriebenen Missbrauch einer staatlichen För-
Industriepolitik steht in einem Spannungsfeld zwischen      derung. So seien die Bereitstellung von Infrastruktur
Wettbewerb und Transformation. Viele industriepoliti-       und Bildung neutrale Arten der Wirtschaftsförderung.
sche Ansätze sind wettbewerbs- und geopolitisch moti-       Doch die Wahl der Infrastruktur, der Zeitpunkt und
viert. Eine sozial-ökologisch motivierte Industriepolitik   Ort ihrer Errichtung oder die Priorisierung der Bildung
bedeutet allerdings nicht, im Wettbewerb mit China und      erfordern eine politische Entscheidung und sind somit
den USA die besseren Rahmenbedingungen für euro-            zumindest industriepolitisch relevant, wenn auch nicht
päische oder deutsche Unternehmen herzustellen, son-        genuin Industriepolitik selbst. Vertikale oder sektorale
dern alte Industrien zu modernisieren und neue Indus-       Industriepolitik ist weniger marktgläubig und wett-
trien zu antizipieren. Eder und Schneider (2018, S.472f.)   bewerbsorientiert und vertraut auf Planbarkeit und
stellen fest: »Industriepolitik steht einer Bearbeitung     staatlichen Einfluss.
der ökologischen Krise nicht per se entgegen, sie ist
vielmehr unverzichtbar, um einen strukturellen Wandel       Horizontale oder vertikale Industriepolitik?
und die Überwindung nicht nachhaltiger industrieller
Produktionsformen im Sinne einer sozial-ökologischen        Doch auch eine rein vertikale, also sektorale Indus-
Transformation voranzutreiben.«                             triepolitik wie sie in Frankreich beispielsweise zur
                                                            Forcierung von Rüstung, Raum- und Luftfahrt sowie
Am erfolgversprechenden sind Modelle wie der Green          der Atomkraft führte, ist krachend gescheitert und hat
New Deal, die betonen, dass gerade durch den radika-        strukturellen Wandel eher verzögert als befördert oder
len Umbau der Wirtschaft ein Jobmotor entsteht (Klein       gestaltet. Der Industrieanteil an der Wertschöpfung ist
2019). Akteure eines solchen Green New Deal wären           in Frankreich schneller gesunken als im europäischen
nicht mehr nur der Staat, sondern auch die Gewerk-          Durchschnitt und liegt heute nur noch bei unter 10
schaftsbewegung, die dafür einen »Climate Turn« und         Prozent. Eine zu enge Verflechtung zwischen Industrie-
die ökologischen Bewegungen, die einen »Labour Turn«        interessen und der Politik hat zur dauerhaften Fortfüh-
hinlegen müssten (Dörre 2020, S.304).                       rung bestehender industriepolitischer Interventionen
                                                            geführt. Nicht nur der freie Markt, auch ein bestehen-
Der vielfach beschworene vermeintlich unlösbare             des Subventionssystem kann zu Pfadabhängigkeiten
Zielkonflikt zwischen »Arbeit« und »Umwelt« suggeriert      führen.

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Auch das neue britische Atomkraftwerk Hinkley Point       von industriellen Kapazitäten und leitete daraus eine
C wäre ohne massive staatliche Subventionen nicht         globalpolitisch motivierte Industriepolitik ab.
rentabel. Es fließen nach wie vor viele Subventionen in
fossile Energieträger. Mit dem von der Bundesregierung    Ideen wie eine staatliche Beteiligungsfaszilität, die nicht
vereinbarten Kohleausstieg wurden den Kohleunter-         nur deutsche und europäische Unternehmen vor dem
nehmen wirtschaftlich unrentable Fördermengen und         Aufkauf aus China schützen sollte, sondern auch zur
Kohleverstromung zusätzlich vergoldet.                    staatlichen Investitionslenkung genutzt werden könnte,
                                                          lehnten BDI und DIHK, flankiert von Ökonom:innen und
Auch die Bundesregierung agiert also sektoral, wenn       Wirtschaftspresse, mit aller Deutlichkeit ab. In der end-
es um die Interessen der Kohle-, vor allem aber wenn      gültigen Fassung der Industriestrategie von November
es um die Vertretung der Interessen der deutschen         2019 waren dann progressive Elemente der vorherigen
Autoindustrie in der EU geht. Wenn das Herzstück          Fassung verschwunden. Die Ambitionen des Staates
des deutschen Industriekapitals von europäischen          lenkend in den Markt einzugreifen, wurden auf ein Mini-
Grenzwerten oder Abgasmessmethoden eingeschränkt          mum reduziert. Das von Altmaier vormals als »erste[s]
werden soll, werden ideologisch-theoretische Konzepte,    umfassende[s] Konzept zur Sicherung unseres Wohl-
wie die deutsche Präferenz für horizontale marktori-      stands seit der Agenda 2010«1 bezeichnete Papier sollte
entierte Industriepolitik schnell mal beiseitegescho-     plötzlich nur noch den Charakter einer Absichtserklä-
ben (vgl. Haas/Sander 2019). Auch wenn im Zuge des        rung haben. Anstatt einer Vision für eine moderne und
Corona-Konjunkturpakets und der sich zuspitzenden         nachhaltige Industrie und Produktion in Deutschland
Klimakrise zögerliche Markteingriffe mit ökologischer     präsentierte Altmaier Vorschläge für eine Novelle des
Lenkungswirkung vollzogen wurden, verfolgte die           Außenwirtschaftsrechts, um Fusionen von Großkonzer-
Bundesregierung bislang grundsätzlich eher einen          nen zu erleichtern, forderte eine angebotsorientierte
horizontalen Ansatz von Industriepolitik und beschränk-   Deckelung der Sozialabgaben sowie eine Senkung der
te sich auf angebotsorientiertes Ordnungsrecht. Klare     Körperschaftssteuer.
Wettbewerbsregeln und gute Investitionsbedingungen
für Unternehmen sollten die wirtschaftlichen Rahmen-      Die bisher einzige in Gesetz gegossene Konsequenz
bedingungen möglichst industriefreundlich gestalten.      aus der Industriestrategie 2030 ist eine Verschärfung
                                                          des Außenwirtschaftsgesetzes, die der Regierung mehr
Industriestrategie 2030: Exportüberschuss –               Möglichkeiten zur Kontrolle und zu Verboten von Unter-
Made in Germany                                           nehmensübernahmen einräumt.2 Dies ist als Reaktion
                                                          auf das – fast traumatische – Erlebnis der Übernahme
Im Februar 2019 legte Bundeswirtschaftsminister Peter     des Augsburger Industrie-Roboterherstellers Kuka
Altmaier einen Entwurf für eine »Nationale Industrie-     durch den chinesischen Midea-Konzern zu werten,
strategie 2030« vor. Getrieben von den industriepoli-
tischen Ambitionen Chinas und dem Vorsprung der
US-amerikanischen Internet-Giganten in industriellen      1
                                                           Zitiert nach Welt.de vom 29.11.2019.
Schlüsselbereichen verknüpfte Altmaier mit viel Pathos    2
                                                           Im Zuge der Übernahme des Saatgut- und Pestizidherstellers Monsanto
Ludwig Erhards Programmatik des »Wohlstands für alle«     durch den Chemiekonzern Bayer kam zudem die Diskussion auf, ob nicht
                                                          auch Nachhaltigkeits- und soziale Kriterien bei der Fusionskontrolle
und den Fortbestand der Demokratie mit dem Erhalt         berücksichtigt werden sollten.

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das in Wirtschaftskreisen als der Beginn des Ausver-        Vor allem eine angebotsorientierte Standortpolitik, die
kaufs deutscher Ingenieurskunst durch China gedeutet        einseitig nur die Beschäftigten belastet, ist strikt abzu-
wurde. Ferner wurde der im Altmaier-Papier genannte         lehnen: angefangen bei Vorschlägen zum Bürokratieab-
Sozialabgabendeckel, also die Begrenzung des Gesamt-        bau nach dem »one in, one out«-Prinzip, wonach keine
beitragssatzes zur Sozialversicherung auf 40 Prozent        zusätzliche Regelung aufgestellt werden darf, bevor eine
im Corona-Konjunkturpaket untergebracht. Auch eine          andere abgeschafft wird – eine am Neuregelungsbe-
Flexibilisierung der Arbeitsmarktregulierung wurde in       darf durch Klimaschutz und Digitalisierung vollständig
der Corona-Krise teilweise durchgesetzt, als das SPD-       vorbeiziehende legislative Selbsteinschränkung – bis hin
geführte Arbeits- und Sozialministerium die Höchst-         zur Deckelung der Sozialversicherungsbeiträge, Steu-
arbeitszeitgrenzen für sogenannte systemrelevante           ersenkungen für Unternehmen, einer Komplettabschaf-
Berufe lockerte. Ein weiteres Vorhaben des Strategiepa-     fung des Solidaritätszuschlages, einer Flexibilisierung
pieres, die Auftraggeberhaftung beim Mindestlohn auf        der Arbeitszeiten und zu guter Letzt die Begrenzung der
die erste Stufe des Nachunternehmers zu begrenzen,          Auftraggeberhaftung beim Mindestlohn. Gerade eine
wurde hingegen nicht durchgesetzt.                          Lockerung der Arbeitsmarktregelungen ist eine perfide
                                                            Instrumentalisierung einer Industriestrategie, die sich
Die Nationale Industriestrategie 2030 scheint der Ver-      damit ihrem selbstgesteckten Ziel, der Schaffung von
such zu sein, den erfolgreichen chinesischen Staatsin-      Wohlstand und guter Arbeit, jegliche Grundlage ent-
terventionismus nachzuahmen und dafür einige bisheri-       zieht. Denn rigide Arbeitsmärkte sind weniger krisen-
ge Restriktionen in der Fiskalpolitik aufzugeben. Andres    anfällig und bilden in disruptiven Umbrüchen einen
Fisahn (2019, S.5) zieht das Fazit: »Es handelt sich um     Stabilitätsanker. Sowohl für die Beschäftigten selbst als
eine deutsche Strategie im Interesse der deutschen          auch volkswirtschaftlich durch die Nachfrage aus ihren
Wirtschaft.« Der Vorsitzende der Monopolkommission          Löhnen. Eine Fokussierung auf reine Angebots- und
Achim Wambach (2019, S.5) stellt fest: »Die Berück-         Wettbewerbsaspekte ist daher aus sozialen und klima-
sichtigung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit         politischen Gründen nicht zielführend.
deutscher Unternehmen möglicherweise auch zu Las-
ten des Wettbewerbs ist allerdings explizit im Auftrag      Bundeswirtschaftsminister Altmaier schrieb noch in
des Bundeswirtschaftsministers.« Es gehe dabei vor          seiner Industriestrategie die »falsche Unterscheidung in
allem darum, das inländische Gemeinwohl zu steigern,        ‚alte schmutzige‘ Industrien und ‚saubere neue‘ Indus-
indem Skalenerträge oder Marktmacht im Ausland              trien« führe in die Irre (BMWi 2019, S.11) und gibt damit
ausgenutzt werden, damit »Renten aus dem Ausland ins        eine strukturkonservierende Marschrichtung zum Erhalt
Inland umgeleitet werden können« (ebd.). Eine solche        aller Arbeitsplätze vor. Ob Altmaier mit diesem nationa-
auf strategische Außenhandelsüberschüsse abzielende         len Standort-Programm dem Ziel der Beschäftigungssi-
Wirtschaftspolitik ist nach wie vor die Handlungsmaxi-      cherung überhaupt gerecht werden kann, ist mehr als
me der deutschen Industriepolitik (Klein/Pettis 2020).      fraglich. Langfristig bleiben alte schmutzige Arbeits-
                                                            plätze nämlich nicht zukunftsfähig und ein Erhalt dieser
Die Industriestrategie des BMWi zielt auf eine Steige-      Arbeitsplätze ist weder ökologisch noch ökonomisch
rung der Wettbewerbsfähigkeit: »Das Ziel ist nie die        sinnvoll. Vor allem dann nicht, wenn neue Technologien
Subvention, sondern immer die Wettbewerbsfähigkeit«,        alte Arbeitsplätze gefährden. Nicht die Transformation
so Altmaier 2019 auf einer Tagung der Stiftung Markt-       gefährdet die Arbeitsplätze, sondern ihre Verweigerung.
wirtschaft. Sie zielt damit auf ein Wachstum, das auf       Die Nationale Industriestrategie der Bundesregierung
dem Export von Industriegütern auf Kosten Dritter           zielt auf eine Konservierung des exportorientierten
basiert. Umweltschutz und soziale Belange tauchen nur       Wertschöpfungsmodells ab und nicht auf eine ökologi-
beiläufig und als Hemmnis für die Wettbewerbsfähigkeit      sche Transformation der Industrie.
auf. Anrechnen muss man Altmaiers Debattenaufschlag
jedoch, dass Marktversagen anerkannt wird, konkrete         Restriktionen für eine progressive Industrie­
Probleme der Industrie selbstkritisch erläutert werden      politik durch die EU
und explizit ordnungspolitische Eingriffe befürwortet
werden. Selbst eine temporäre staatliche Beteiligung        Eine große Hürde für eine investive Industriepolitik auf
in bestimmten Industriesektoren wird als Möglichkeit        nationaler Ebene ist das Korsett des EU-Wettbewerbs-
staatlicher Intervention aufgeführt. Eine Ausweitung        rechts im europäischen Binnenmarkt. Besonders die
des Anteils der Industrie an der Bruttowertschöpfung        engen Grenzen für staatliche Beihilfen oder öffentli-
von 23 auf 25 Prozent sowie die Schaffung europäischer      che Auftragsvergabe durch ein starres Vergaberecht
Champions durch eine Lockerung des europäischen             schränken den nationalen Handlungsspielraum für eine
Wettbewerbsrechts werden lediglich als Mittel zum           progressive Industriepolitik ein (Pianta/Lucchese/
Zweck angesehen, um »den willkürlichen Angriffen            Mascia 2016). Eine Schwächung der Gewerkschaften
Anderer in marktwirtschaftliche Prozesse entschlossen       als wichtige Akteur einer Industriepolitik im Sinne der
entgegen treten« zu können (BMWi 2019, S.3). Ein biss-      Beschäftigten findet außerdem durch den – nicht mehr
chen staatliche Industriepolitik sei leider notwendig, um   ganz so – »neuen lohnpolitischen Interventionismus«
den chinesischen Staatsmonopolen auf Augenhöhe zu           der European Economic Governance statt (Schulten/
begegnen und einen gravierenden Verlust technologi-         Müller 2013). Im Zuge der Eurokrise wurde durch Me-
scher und ökonomischer Souveränität abzuwehren, so          moranda in den Krisenländern und in der restlichen
die Prämisse. Grundsätzlich gelte aber: »Wir brauchen       Europäischen Union durch das Europäische Semester
mehr, nicht weniger Marktwirtschaft« (ebd., S.2).           zunehmend lohnpolitisch interveniert. Und das vor al-

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lem in eine Richtung: Mindestlöhne und Renten sollten       einer auf freien Wettbewerb ausgerichteten Industrie-
gekürzt, Arbeitsmärkte flexibilisiert werden. Das führte    verflechtung offengelegt. Julia Eder (2020) begrüßt zwar
in vielen EU-Staaten zu einer Abnahme der Tarifabde-        aus sozialen und ökologischen Gründen die zunehmen-
ckung und einer schwindenden Macht der Gewerk-              de Regionalisierung der Wirtschaft, merkt aber an, dass
schaften. Dass die europäische Wirtschafts- und damit       das Credo der EU-Kommission der »geschlossenen
auch Industriepolitik hauptsächlich angebotsorientiert      Wertschöpfungsketten« nicht wieder nur dem Ziel der
ausgerichtet ist, verwundert daher kaum.                    »Erzielung von Exportüberschüssen am Weltmarkt«
                                                            dienen dürfe.
Zudem war die Industriepolitik der EU bislang stark auf
die Rüstungspolitik fokussiert. So wurde zum Beispiel       Das umweltpolitisch motivierte Schlüsselinstrument
im Rahmen des Europäischen Verteidigungsfonds die           um die Treibhausgase in der Industrie einzudämmen
Militarisierung der EU vorangetrieben (Solty 2020, S.5).    ist das Europäische Emissionshandelssystem (EU-ETS).
Der Aufbau einer eigenen EU-Armee in »Ständiger             Dabei erhalten die Unternehmen Emissionszertifikate,
Strukturierter Zusammenarbeit« (PESCO) wurde als            die sie selbst aufbrauchen oder frei handeln können. Da
Industriepolitik deklariert und damit überhaupt erst        eine Zuteilung zunächst kostenlos erfolgte und emissi-
möglich gemacht, da es sich eigentlich um eine verfas-      onsintensive Unternehmen besonders viele Zertifikate
sungswidrige europäische Rüstungsförderung handelt.         erhalten haben, blieb eine Emissionsreduktion aus und
                                                            es wurden lediglich neue Felder für spekulative Ge-
Die Systemkonkurrenz zwischen dem Westen und                schäfte und Finanzanlagen und damit eine zusätzliche
China sowie die zunehmende Rivalität zwischen den           Einnahmequelle für fossile Unternehmen geschaffen.
USA und der EU führten zu einer Renaissance der eu-         Die kostenlose Ausgabe der Zertifikate ist mittlerweile
ropäischen Industriepolitik. Der Bedeutungsverlust von      beendet und die Obergrenzen (Caps) wurden gesenkt,
multilateralen Handelsbeziehungen und der WTO und           so dass möglicherweise bald zumindest eine minimale
zunehmenden Handelskonflikten kumulieren in einem           Steuerungswirkung durch dieses Instrument einsetzt.
globalen Trend nationalistischer Industriepolitiken.        Der Zertifikatehandel wird jetzt in Deutschland durch
                                                            eine CO2-Steuer ergänzt werden. Das Dilemma: Ein
Als neue EU-Kommissionspräsidentin stellte Ursula           Preis in notwendiger Höhe würde die gesellschaftliche
von der Leyen einen Europäischen Green Deal vor. Der        Ungleichheit erhöhen. Denn eine CO2-Steuer wirkt
European Green Deal hat in seiner derzeitigen Form den      regressiv, da Menschen mit geringeren Einkommen
Charakter eines Investitionsprogrammes, das europä-         einen größeren Anteil ihres Einkommens dafür aufwen-
ische Konzerne technologisch fit für den Wettbewerb         den müssen als Menschen mit höheren Einkommen.
mit China und den USA machen soll. Die europäische          Bei einem zu niedrigen Preis hingegen wäre die Steuer
Industriepolitik reiht sich ein in den globalen betriebs-   gänzlich wirkungslos. Konzepte eines einkommensab-
wirtschaftlichen Trend des »Reshorings« und einer           hängigen Rückzahlungsbonus sind denkbar, die dann ex
Produktionsrückverlagerung nach dem Motto »local for        Post die durch eine CO2-Steuer hervorgerufene Un-
local«. Die Debatte um das Zurückholen ausgelagerter        gleichheit wieder etwas ausgleichen würden.
Produktionsprozesse hat zu Beginn der Corona-Pande-
mie einen Aufschwung erlebt. Gerade die Verlagerung         Klimaschutz durch den Markt?
von medizinischen oder lebensnotwendigen Gütern
und Lebensmitteln hat, bei aus Panik geschlossenen          Eine grundsätzliche Diskrepanz besteht in der Frage,
Grenzübergängen, die Abhängigkeit und Vulnerabilität        ob durch die Beseitigung von Marktversagen und damit

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durch eine Wiederherstellung des Wettbewerbsdrucks          passenden Technologie gelöst werden könnte. Indust-
oder durch das Zurückdrängen der Marktmechanismen           riepolitik ist dann in erster Linie technologisch motiviert
eine ökologisch nachhaltige und soziale Industrie zu        und hat den Anspruch staatliche Innovationssysteme
erreichen ist. Nach Vorstellungen der EU und der Bun-       zu schaffen, um die Technologieführerschaft (wieder)
desregierung, könne das Marktversagen aufgehoben            zu erlangen. Eine wettbewerbsorientierte nachhaltige
werden, indem der Natur ein Preis gegeben werde, der        Industriepolitik zielt also auf technische Modernisierung
dann Einzug in die betriebswirtschaftliche Kostenkalku-     bei gleichzeitiger ideologischer Restauration ab. Die
lation findet. Sobald die Kosten für Umweltzerstörung       alten Wachstumspfade sollen grün angestrichen, aber
den Profit aus ihrer Ausbeutung übersteigen, würde          erhalten bleiben. Ob das auch ökologisch nachhaltig ist,
der Umweltschutz zum Unternehmensziel. Naturschutz          bleibt fraglich.
wird damit lediglich als marktwirtschaftlich ineffizient
erklärt. Dabei ist ein Umwelt- und Klimaschutz, der sich    Es lässt sich zusammenfassend sagen, dass eine nach
der kapitalistischen Logik bedient, äußerst fragwürdig.     sozialen und ökologischen Kriterien konzipierte, das
Denn die Natur steht dem Kapital als Produktivkraft         heißt auf die Transformation der Industrie abzielende
gratis zur Verfügung und ihre ständige Ausbeutung ist       Industriepolitik nur aus einer Kombination von techni-
eine rationale Handlung im kapitalistischen System. So      scher Modernisierung und einem Umbau der Produkti-
unterbleibt der Umweltschutz einfach, wenn er zu teuer      on sowie der Produktionsverhältnisse bestehen kann.
ist, wie das Beispiel der CO2-Steuer zeigt. Ein Preis in    Dabei ist vor allem eine Orientierung an demokratisch
der Höhe, die Lenkungswirkung erzielen würde, wird          festgelegten gesellschaftlichen Zielen erforderlich.
gemeinhin als wachstumsbremsend angesehen und               Weder eine auf Marktkonformität abzielende Ideologie
wird deshalb nicht eingeführt. Auch strenge ordnungs-       (Merkel) noch eine, die Planung und Dirigismus zum
rechtliche Vorgaben werden mit dem Verweis auf zu           Selbstzweck erklärt, sollte das bestimmende Moment
hohe Kosten abgelehnt. Zudem ist das Ziel von kos-          bei der Wahl industriepolitischer Instrumente sein. Eine
tengetriebenem Umwelt- und Klimaschutz lediglich die        demokratische Verständigung über gesellschaftliche
Wachstumsfaktoren der Umwelt als Ressourcenquelle           Ziele, wie ökologische Nachhaltigkeit, gute Beschäf-
und Schadstoffdeponie zu sichern. Eine wirklich ökolo-      tigung und soziale Gerechtigkeit sind eine zwingende
gisch nachhaltige Industriepolitik darf sich daher nicht    Voraussetzung für eine kluge Industriepolitik.
auf wettbewerbs- und marktorientierte Instrumente
beschränken.                                                Nachfolgend werden die Grundrisse einer linken und
                                                            damit »transformativen« Industriepolitik skizziert. Dabei
Nachhaltige Industriepolitik, die negative externe Ef-      werden die Ansätze einer nachhaltigen und auf Investi-
fekte mit marktwirtschaftlichen Instrumenten internali-     tion und Modernisierung der Produktion ausgerichteten
sieren möchte, überträgt der Wissenschaft die Ver-          Industriepolitik um das Konzept der wirtschaftsdemo-
antwortung technologische Lösungen für die Krise der        kratischen Investitionslenkung zur Realisierung von
gesellschaftlichen Naturverhältnisse zu finden. Sie folgt   gebrauchswertorientierten Konversions- und missionso-
damit der zweckrationalen Technikideologie des »So-         rientierten Leuchtturmprojekten erweitert.
lutionismus«, die besagt, dass jedes Problem mit einer

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Grundrisse einer linken transformativen Industriepolitik
Transformative Industriepolitik: Fördern,                  Unternehmen steigern und Mitnahmeeffekte eintreten,
aber auch fordern                                          müssen sie immer mit ordnungsrechtlichen Vorgaben,
                                                           wie etwa einem Emissionsreduzierungsgesetz, kom-
Unbestreitbar ist: Es müssen Maßnahmen zum Schutz          biniert werden. Das schließt eine rückwärtsgewandte
des Klimas ergriffen werden, bei Strafe des Ausster-       strukturkonservierende Industriepolitik, wie beispiels-
bens menschlichen Lebens auf der Erde. Dabei schert        weise eine Abwrackprämie für Autos mit Verbrennungs-
sich das Klima wenig über eine soziale Ausgewogenheit      motoren, aus.3 So können Subventionen auch positive
bei den Maßnahmen, die zu seiner Rettung ergriffen         externe Effekte, wie Versorgungssicherheit oder Um-
werden. Die Kosten des Klimaschutzes dürfen nicht          weltschutz, hervorrufen. Staatliche Beihilfen müssen je-
ungerecht verteilt werden. Daher ist ein Zieldreieck       doch regelmäßig einer Überprüfung unterzogen werden,
sinnvoll, das den Anforderungen an ökologische und         damit Subventionsspiralen vermieden werden.
soziale Nachhaltigkeit sowie gute Beschäftigung glei-
chermaßen genügt.                                          Auch Staatsbeteiligungen werden eine Rolle spielen.
                                                           Wenn Unternehmen nicht das nötige Eigenkapital
DIE LINKE. im Bundestag schlägt eine ökosozialistische     aufbringen können, um Produktionslinien oder das
Perspektive für einen Umbau der Industrie vor. Dabei       Geschäftsmodell umzustellen, muss der Staat mit stra-
ist in erster Linie die Produktion von Rüstungsgütern,     tegischen Beteiligungen in die Unternehmen einsteigen.
sinnlosen Verpackungen und übertriebenen Luxusgü-          Die entstehenden Erträge durch Kapitalbeteiligungen
tern zu vermeiden. Produktlebenszeiten müssen verlän-      müssen dem Gemeinwohl zugutekommen und dürfen
gert, die Reparatur- und Recyclefähigkeit erhöht sowie     nicht von profitorientierten Privatunternehmen abge-
geplante Obsoleszenz, also das geplante Kaputtgehen        schöpft werden.
von Produkten zum Zwecke der Absatzsteigerung,
müssen verboten werden. Das alles könnte ordnungs-         Dabei darf nicht der Fehler passieren, die Hindernisse
rechtlich über eine Erweiterung der Ökodesignrichtlinie    der politischen Durchsetzungsfähigkeit zu unterschät-
geregelt werden. Neben den Produkten muss allerdings       zen. Die bestehenden sozialen Kräfteverhältnisse, die
auch der Produktionsprozess selbst nach ökologischen       Macht bestimmter Kapitalfraktionen und die hegemo-
und sozialen Kriterien umgestellt werden. Alle Produkti-   niale Absicherung des Modells deutscher Marktwirt-
onsfaktoren und Produktionsmittel (Ressourcen & Ener-      schaft muss ausreichend berücksichtig werden, um
gie) müssen effizient und umweltschonend eingesetzt        eine progressive Industriepolitik zu implementieren (vgl.
werden. Dafür braucht es Klimaschutz-in-der-Industrie-     Eder/Schneider 2018, S.478). Da der politische Einfluss
Gesetz, wie es die Fraktion DIE LINKE. im Bundestag        auf die Finanzpolitik von progressiven Akteur:innen, wie
(2020) im Aktionsplan Klimagerechtigkeit gefordert hat.    NGOs, sozial-ökologischen Parteien und Gewerkschaf-
Eine Kreislaufwirtschaft mit zero waste und zero emis-     ten dem Einfluss der export- und finanzorientierten Ka-
sions muss das Leitbild sein. Einige ökologisch schädli-   pitalfraktionen unterlegen ist, muss eine Allianz geformt
che Industriebereiche müssen zügig umgebaut, andere        werden, die bereit ist, die Durchsetzungsfähigkeit auch
zügig verkleinert werden.                                  durch den Kampf um eine gesellschaftliche Hegemonie
                                                           für eine progressive Industriepolitik, die auf eine tief-
Der Schlüssel zur Orientierung der Industrie an sozialen   greifende Veränderung der Wirtschaftsstruktur abzielt,
und ökologischen Zielen liegt in einer demokratischen      zu erreichen. Das IG-Metall-Vorstandsmitglied Hans-
Investitionslenkung. Dafür braucht es einen ambitio-       Jürgen Urban schlägt dafür eine »sozial-ökologische Re-
nierten Policy Mix aus Verordnungen und gesetzlichen       formallianz« vor und die US-amerikanische Organizerin
Vorgaben sowie Subventionen (Beihilfen). Liegen letzte-    Jane McAlevey einen »Generalstab für einen Green New
ren klare sozial-ökologische Kriterien zugrunde, können    Deal«. DIE LINKE. im Bundestag ist bereit, Teil eines
sie eine große Steuerungswirkung entfalten. Subventi-      solchen gesellschaftlichen Bündnisses zu sein.
onen vermindern als Transferzahlungen des Staates die
Kosten der Unternehmen und liefern so ökonomische          Handlungsfelder transformativer
Anreize zur Verhaltensänderung in die gewünschte           Industriepolitik
Richtung. Subventionen können in unterschiedlichen
Formen gewährt werden: als direkte finanzielle Zu-         Ein industriepolitisches sozial-ökologisches Transforma-
schüsse, Abschreibungserleichterungen, Abgaben- und        tionsprojekt besteht aus einer systemischen Kombi-
Steuererleichterungen, zinsvergünstigte Darlehen,          nation unterschiedlicher Politikfelder, die gemeinsame
Bürgschaften sowie die Bereitstellung von Gütern und       gesellschaftliche Ziele verbindet. Es braucht eine Kom-
Dienstleistungen zu geringeren Preisen, wie Grundstü-
cke oder Beratungen. Besonders Anlagensubventionen         3
                                                             Die 2009 als »Umweltprämie« deklarierte Abwrackprämie war ein
sind für eine sozial-ökologische Transformation not-       konjunkturelles Strohfeuer. Die eingesetzten fünf Milliarden Euro führten
wendig. Die Kosten beispielsweise für Anlagen einer        nur zu Vorzieheffekten. Die Klimabilanz war ebenfalls schlecht. Schütt
wasserstoffbasierten Stahlreduktion sind so teuer, dass    und Haas (2020, S.549) machen darauf aufmerksam, dass im Konjunk-
nur mittels Subventionen die umweltschutzbedingten         turpaket mit der Subventionierung von Plug-in-Hybriden wieder »de
                                                           facto eine Kaufprämie für Verbrennungsmotoren« verabschiedet wurde.
höheren Kosten ausgeglichen werden könnten. Damit          Auch die allgemeine Mehrwertsteuersenkung macht sich bei großen
Subventionen jedoch nicht einseitig die Gewinne von        Anschaffungen, wie einem Automobil, wesentlich stärker bemerkbar, als
                                                           bei Konsumprodukten.

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bination von finanziellen Anreizen und Verboten (Pull-     entscheidungen beansprucht, müssen widerständige
und Push-Faktoren), verbindlicher öffentlicher Kontrolle   Praktiken sowie konfliktfreudige Strategien und Bünd-
sowie mehr Demokratie in der Wirtschaftspolitik und in     niskonstellationen Treiber einer transformativen Indus-
den Unternehmen. Die Industrieunternehmen müssen           triepolitik werden. Kernelement dieser transformativen
industriepolitisch gefördert und gefordert werden.         Industriepolitik ist eine wirtschaftsdemokratische
                                                           Investitionslenkung im Mehrebenensystem. Eine demo-
Um Sprunginnovationen und technologische Entde-            kratische und der Wirtschaft selbstbewusst gegenüber-
ckungen voranzutreiben, sollten Regierungen und            tretende Gesellschaft muss sich auch eine schärfere
Privatwirtschaft, aber auch Unternehmen untereinan-        Intervention in den Markt erlauben. Nachfolgend wird
der, kooperieren. Ein Nebeneinander-her-forschen wie       auf einige ausgewählte Handlungsfelder transformativer
es momentan die Regel ist, führt zu enormer Ressour-       Industriepolitik näher eingegangen, die als essentiell für
cenverschwendung. Bestimmte Branchen und Sektoren          die Bewältigung der sozial-ökologischen Herausforde-
sollten besonders durch Regierungen gefördert werden,      rungen ausgemacht werden.
wobei immer nur Felder und nicht einzelne Unterneh-
men herausgepickt werden sollten. Vor allem muss           Forschung und Innovation
technologischen Lock-In-Situationen, also Pfadabhän-
gigkeiten, entgegengewirkt werden.                         Eine Aufrechterhaltung des gesellschaftlichen Wohl-
                                                           standes ist ohne industrielle Produktion nicht möglich.
Eine reine Fokussierung auf die Steigerung der Wettbe-     Auch zum Erhalt der Umwelt und für eine ökologisch
werbsfähigkeit wie sie nach wie vor vorherrschend ist      nachhaltige Entwicklung ist eine starke Industrie un-
(verstanden vor allem als preisliche Wettbewerbsfähig-     verzichtbar. Natürlich trägt der Industriesektor zu einer
keit, die durch Kostensenkung erhöht werden kann),         globalen Klima- und Umweltbelastung bei. Er ist jedoch
ist kontraproduktiv. Industriepolitik sollte kein reines   auch Teil der Lösung, will man den erreichten Zivilisa-
Instrument zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des       tionsstand halten. Die für eine Energiewende notwen-
eigenen Standortes gegenüber internationaler Konkur-       digen Solar- und Windkraftkapazitäten können nur auf
renz sein. Ein angebotsorientierter Wettlauf nach unten    Basis industrieller Großprojekte erreicht werden. Eine
bei Sozial- und Umweltstandards schadet am Ende            auf Deindustrialisierung abzielende Politik würde ihrer
allen.                                                     eigenen Intention zuwiderlaufen. Dann nämlich, wenn
                                                           Wertschöpfungsprozesse in Länder mit geringeren
Wir brauchen eine Globalisierung, die nicht Standards      Umweltstandards abwandern und die Emissionen sich
nach unten angleicht, sondern eine Angleichung nach        dadurch örtlich verlagern, global aber steigen (Carbon
oben vorantreibt; eine investive Sozialpolitik, die        Leakage).
nicht Ex-Post Ungleichheit und Arbeitslosigkeit durch
Sozialhilfe auffängt, sondern durch Qualifikation und      Forschung und Innovation fällt daher eine Schlüssel-
Empowerment den Menschen, die vom Strukturbruch            rolle zu: Um den sozial-ökologischen Umbau voran zu
betroffen sind, befähigt zu Akteuren des Wandels zu        bringen, ist vor allem eine ökologische Modernisierung
werden. »Eine an gesellschaftlichen Zielen orientierte     der industriellen Technologie und ihrer Produkte von-
Industriepolitik trägt zu höheren Einkommen, sozialer      nöten. Insbesondere Schlüsseltechnologien, soge-
Gleichheit (zwischen Personen und Regionen) und der        nannte »Game-Changer-Technologien«, werden ganze
Eingrenzung des Klimawandels bei«, so der österreichi-     Wirtschaftsbranchen erst erschaffen und zukünftige
sche Wirtschaftsforscher Karl Aiginger (2019).             Wertschöpfungsprozesse prägen. Die Erforschung
                                                           dieser Technologien muss gefördert werden. Allerdings
Eine im Sinne der sozial-ökologischen Transformation       sollte diese Art der fundamentalen Grundlagenfor-
wünschenswerte Industriepolitik nutzt horizontale          schung nicht durch die Mobilisierung von privatem
und sektorale Instrumente, ist nachfrage- und ange-        Kapital geschehen. Wie wir gesehen haben, sind solche
botsorientiert, zielt auf Kooperation statt Konkurrenz     Technologien meistens noch fern der Marktreife und
und vereint eine ökologische Modernisierung des            private Investitionsanreize reichen nicht aus, um alte
Wertschöpfungsprozesses mit selektivem Wachstum.           Pfadabhängigkeiten aufzulösen und neue Produktions-
Die Instrumente einer transformativen Industriepolitik     verfahren einzuleiten. Hier muss öffentliche Förderung
zeichnen sich durch einen starken Eingriff in den Markt    einspringen und Forschung in bestimmte Schlüs-
aus und zielen auf die Bewältigung der sozial-ökologi-     seltechnologien direkt finanzieren. Der Staat sollte
schen Herausforderungen. Dabei spielen aber auch ei-       Forschungsnetzwerke anstoßen und eine Infrastruktur
nige Instrumente eine Rolle, die horizontaler und damit    bereitstellen, die die Entstehung von positiven Netz-
weniger marktverzerrend wirken, wie die Förderung von      werkeffekten begünstigt. Eine steuerliche Forschungs-
Grundlagenforschung, ökologischer Kaufprämien oder         förderung wie sie praktiziert und von liberaler Seite
staatliche Eigenkapitalhilfen. Die keynesianisch gepräg-   immer wieder gefordert wird, ist hingegen kontrapro-
ten Ansätze einer investiven nachhaltigen Industriepo-     duktiv. Sie verleitet zu Mitnahmeeffekten bei Unter-
litik müssen um wirtschaftsdemokratische Elemente          nehmen, die ohnehin schon in der Forschung tätig sind
ergänzt werden, um eine sozial gerechte Verteilung der     und begünstigt große Unternehmen gegenüber kleinen,
Kosten und Gewinne des Umbaus der Wirtschaft zu            möglicherweise viel innovativeren. Zudem hat eine rein
gewährleisten. Da diese Erweiterung zwangsweise zu         steuerliche Forschungsförderung keinerlei Lenkungs-
einem Interessenskonflikt mit der Kapitalseite der Un-     wirkung.
ternehmen führt, die die Hoheit über ihre Investitions-

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Auch eine inkrementelle, also schrittweise technolo-                       port, Mobilität, Gesundheit und Arbeit). Vor allem die
gische Verbesserung einzelner Produkte und Produk-                         Beschäftigten und ihre Betriebsräte müssten als »Innovati-
tionsschritte, ist anzustreben. Problematisch an einer                     onstreiber« im Zentrum stehen, findet auch der DGB (2020,
auf Modernisierung setzenden Wachstumsstrategie                            S.4). Eine Studie von Jirjahn und Smith (2017) zeigte, dass
sind jedoch Rebound-Effekte, da Effizienzsteigerungen                      gerade Unternehmen mit Betriebsräten deutlich höhere
die Kosten des Umweltverbrauchs senken und da-                             Produktivitätssteigerungen und ökologische Investitionen
durch wiederum höheren Verbrauch anregen können.                           aufweisen. Regelmäßig findet sich Deutschland und hier
Technologiesprünge und Sprunginnovationen müssen                           gerade die gewerkschaftlich gut organisierten Branchen
initiiert, doch auch mit Geduld und einem langen Atem                      (Auto, Maschinenbau und Chemie) in den Innovationsran-
finanziert werden. Sie können nicht erzwungen wer-                         kings auf einem der vorderen Plätze. Die Mitarbeiterkom-
den und auch eine Spur Glück oder Zufall gehört dazu.                      petenz geht weit über reine »shop-floor-Innovationen«,
Die Förderung von Grundlagenforschung reicht jedoch                        also handwerkliche Verbesserungen oder Fertigungsma-
nicht aus, auch die Übertragung der Technologie in eine                    nagement am Ort der Wertschöpfung, hinaus. Der Erfolg
industrielle Massenproduktion und die damit verbundene                     von technischen Innovationen hängt also auch von ihrer
Hochskalierung durch die Errichtung neuer Maschinen,                       Einbettung in die betrieblichen Prozesse ab.
Produktionslinien und Fabriken muss staatlich initiiert
und gefördert werden. Dabei muss Industriepolitik eine                     Expansive Finanzpolitik & De-Investment
sektorübergreifende Perspektive einnehmen, auch der
mit der Industrie eng verknüpfte Dienstleistungssektor                     Der Industrieverband BDI (2018) beziffert die notwen-
und die gesamte Wertschöpfungskette müssen in den                          digen zusätzlichen Investitionen für eine ökologische
Blick genommen werden.4                                                    Modernisierung der Industrie bis 2050 auf mindestens
                                                                           1,5 Billionen Euro. Zudem sind massive Investitionen
Bei der Forschungsförderung muss vom Staat auch                            von Bund, Ländern und Kommunen notwendig. Allein
eine Prioritätensetzung erfolgen. Eine technologieof-                      bei den Städten und Gemeinden hat sich in den letzten
fene breite Förderung jeglicher Forschung ist einer                        Jahren ein Investitionsstau von 147 Milliarden Euro
wettbewerbsfixierten Industriepolitik zuzuordnen, die                      angehäuft, so das KfW-Kommunalpanel 2020.
weder eine Lenkungswirkung in Richtung sozial-ökologi-
scher Transformation entfalten noch den Unternehmen                        Eine Abkehr vom Dogma der »Schwarzen Null« und
eine langfristige ordnungspolitische Planungssicherheit                    der Schuldenbremse im Grundgesetz und den Landes-
geben kann.                                                                verfassungen ist daher aus industriepolitischer Sicht
                                                                           dringend geboten. Das gilt besonders in Phasen von
Ein wichtiger Kern des deutschen Innovationstypus sind                     Null- und Negativzinsen, wo der Staat sehr günstig Kre-
die betriebliche und Unternehmens-Mitbestimmung sowie                      dite aufnehmen kann. Die Finanzierung von Zukunftsin-
das Tarifvertragssystem. Neben »technischen« stehen                        vestitionen sollte aus Generationengerechtigkeitsgrün-
gleichberechtigt die »sozialen« Innovationen (in Bildung,                  den über langfristige Kredite, die auch von zukünftigen
Arbeitsmarkt, Umwelt und Klimawandel, Energie, Trans-                      Generationen bezahlt werden, erfolgen. Zudem hat die
                                                                           öffentliche Hand mit einem Nachfragevolumen von 500
                                                                           Milliarden Euro Marktmacht und kann so die Nachfrage
4
  Eder und Schneider (2018, S.485) betonen, dass Industriepolitik auch     nach emissionsarmen und effizienteren Produkten und
geschlechtersensibel sein muss, da ihre Auswirkungen Männer und Frau-
en unterschiedlich betreffen. Zum Beispiel liegt der Anteil von Frauen     Gebäuden ankurbeln. Mit dem Vergaberecht hat der
unter den Industriebeschäftigten seit 2000 nur bei etwa 33 Prozent. Eine   Staat außerdem die Möglichkeit, Tariftreue und grüne
progressive Industriepolitik muss daher auch eine Angleichung der Löh-     Arbeitsplätze zu begünstigen.
ne zwischen den Sektoren fordern, damit auch Arbeitsplätze außerhalb
des industriellen Sektors attraktiver werden.

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