SPD und Gewerkschaften: Vom Wandel einer privilegierten Partnerschaft

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SPD und Gewerkschaften: Vom Wandel einer
privilegierten Partnerschaft
                                                                                                                            Wolfgang Schroeder

Das über Jahrzehnte hinweg lose, aber beständige Bündnis zwischen SPD und Gewerkschaften war für die politischen Kräfteverhält-
nisse und die politisch-kulturellen Allianzen in der Bundesrepublik stilbildend – trotz immer auch vorhandener Konflikte zwischen
den beiden ungleichen Partnern. Sind also die Spannungen, die es seit einigen Jahren im Verhältnis von SPD und Gewerkschaften ganz
offensichtlich gibt, nichts anderes als eine vorübergehende Beziehungskrise? Oder zeigen sich hier Symptome eines unumkehrbaren
Entfremdungsprozesses? Und was wären die Folgen für die SPD, die Gewerkschaften wie auch für das politische System in Deutsch-
land?

                                                            Markt – weniger Staat“ und die strategi-             SPD schädlich für deren Mehrheitsfähig-

1
Einleitung
                                                            sche Flexibilität sozialdemokratischer Par-
                                                            teien auf dem Weg zur Regierungsüber-
                                                            nahme bzw. in Regierungspositionen lie-
                                                                                                                 keit sei. Denn das gesellschaftliche Image
                                                                                                                 der Gewerkschaften sei so schlecht und die
                                                                                                                 Mobilisierungsfähigkeiten der Gewerk-
                                                            ßen sich nur durch die Emanzipation von              schaften seien so schwach, dass die SPD von
Auffallend an den jüngeren Kontroversen                     den Ansprüchen und Interessen der Ge-                deren Unterstützung sowieso keinen Nut-
seit der „Agenda 2010“ ist, dass sowohl Ge-                 werkschaften durchsetzen. Dieser These               zen habe. Während diese beiden Gruppen
werkschaften als auch Sozialdemokratie                      von einer zunehmenden (und zunehmend                 die Kosten eines Endes der konstruktiven
aus einer Position der Schwäche agieren.                    notwendigen) Distanzierung steht die Ein-            Beziehungen zwischen SPD und Gewerk-
Beide haben ihre eigenen, jedoch nicht                      schätzung gegenüber, dass es im Verhältnis           schaften für gering erachten, rechnet die
unähnlichen Bestands- und Akzeptanz-                        zwischen Gewerkschaften und Sozialde-                Mehrheit mit einer modifizierten Konti-
probleme – und werfen sie sich zugleich                     mokratie immer schon wechselhafte Pha-               nuität, die beiden weiterhin Vorteile ver-
gegenseitig vor. Auch wenn es die SPD 2005                  sen gab: ein Spannungsbogen, der von                 schaffen könnte.
geschafft hat, wieder an der Regierung be-                  größerer Übereinstimmung bis hin zu an-                   In diesem Beitrag wird die These ver-
teiligt zu sein, sind ihre Nöte offensichtlich:             gespannten, ja konfliktreichen Beziehungs-           treten, dass die seit einigen Jahren offen-
hohe Mitglieder- und Wählerverluste, ge-                    mustern reicht. Deshalb könne man keines-            sichtlichen Spannungen zwischen SPD und
rade im Milieu gewerkschaftlich organi-                     falls von einer linearen Erosionsentwick-            Gewerkschaften nicht nur den Konjunktu-
sierter Arbeitnehmer, und eine trotz Pro-                   lung sprechen (Armingeon 1988, S. 130).              ren der jeweiligen politischen Prioritäten
grammdebatte und neuem Grundsatzpro-                        Einmütigkeit habe sich – so Schneider                und programmatischen Ziele geschuldet
gramm nicht abgeschlossene Identitätssu-                    (1994) – ohnehin nie gezeigt, und eine in-           sind, wenngleich auch dies eine wichtige
che, die sich nach der Etablierung eines                    haltliche oder strategische Alternative zur          Rolle spielt. Vielmehr gibt es eine tiefer rei-
Fünfparteiensystems auf Länderebene so-                     Zusammenarbeit sei – unter der Perspekti-            chende Kluft, die sich aus den sozialstruk-
gar noch verschärft hat. Aber auch die Ge-                  ve machtpolitischer Durchsetzungsfähig-              turellen Verschiebungen zwischen der ge-
werkschaften haben an Stärke eingebüßt.                     keit – letztlich nicht in Sicht.                     sellschaftlichen, der gewerkschaftlichen so-
Sie sind politisch in der Defensive. In der                      James Piazza (2001) kommt hinsicht-             wie der sozialdemokratischen Mitglieder-
Tarifpolitik versuchen sie, unter schwieri-                 lich des Verhältnisses zwischen Gewerk-              struktur ergibt. Während sich die SPD von
gen Rahmenbedingungen die Verteilungs-                      schaften und sozialdemokratischen Par-               ihrer Arbeiterherkunft gelöst hat und der
position der Arbeitnehmer zu sichern und                    teien in einer internationalen Vergleichs-           Anteil der anderen sozialen Gruppen nahe-
Arbeitsplätze zu halten. Hinzu kommen                       studie zu dem Ergebnis, dass vor allem die           zu ständig gestiegen ist, blieb bei den Ge-
Mitgliederrückgänge, die Alterung der                       Globalisierung die Sozialdemokratie zu ei-           werkschaften ein ähnliches Wachstum von
Mitgliedschaft und eine bis heute nicht ge-                 nem eher sozialliberalen Politikstil ge-             sozialen Milieus und Gruppen jenseits der
lungene Adaption des wirtschaftlichen                       zwungen habe. Die klassische Beziehung               gewerblichen Arbeiterschaft bislang aus.
Strukturwandels hin zu einer modernen                       von Gewerkschaften und sozialdemokrati-              Doch anders als in den vorgenannten Ein-
Wissens- und Dienstleistungsökonomie                        schen Parteien werde dadurch komplett
innerhalb der gewerkschaftlichen Mit-                       „entbunden“ (de-linked). Stephen S. Silvia
gliedschaft.                                                (1992) geht demgegenüber schlichtweg
     Im wissenschaftlichen und politischen                  von einer Abnutzung des Verhältnisses aus,           Wolfgang Schroeder, Prof. Dr., Universität
Diskurs sind namhafte Stimmen zu hören,                     die durch die neue de-ideologisierte und             Kassel, Lehrstuhl „Politisches System der
die die Distanzierung der Sozialdemokratie                  rational-karriereorientierte Generation in           Bundesrepublik Deutschland/Staatlichkeit
(in ganz Europa) von den Gewerkschaften                     der SPD vorangetrieben werde.                        im Wandel“. Arbeitsschwerpunkte: Arbeits-
als eine Bedingung für die erfolgreiche                          So sind Gewerkschaftsskeptiker in der           beziehungen, Verbände, Parteien und Sozial-
Transformation der Sozialdemokratie se-                     SPD fest davon überzeugt, dass schon die             staatspolitik.
hen. Die sozialdemokratische Formel „mehr                   unterstellte Nähe der Gewerkschaften zur             e-mail: wolfgang.schroeder@uni-kassel.de

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                                                                                                                             WSI Mitteilungen 5/2008
                                                                                                                                                         231
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schätzungen werden die Folgen dieser Drift     dies scheiterte und die Spannungen zunah-        tung zu. Denn es gibt vielfältige inhaltliche
kritisch gesehen: Nach Lage der Dinge          men, kam es Anfang der 1980er Jahre sogar        und personelle Verbindungslinien zwi-
kann sich der definitive Bruch einer lose      zu ersten Demonstrationen der Gewerk-            schen Gewerkschaften und Sozialdemo-
verkoppelten Bezugnahme zwischen Ge-           schaften gegen die Sparpolitik einer SPD-        kratie, sodass sich empirisch die These von
werkschaften und Sozialdemokratie für          geführten Regierung.                             einem bevorstehenden Bruch zwischen bei-
beide Seiten negativ auswirken: Für die So-         Die vierte Phase, die durch die Opposi-     den nicht begründen lässt. Das bedeutet im
zialdemokratie hinsichtlich ihrer Mobili-      tionsrolle der SPD zwischen 1982 und 1998        Umkehrschluss allerdings nicht, vorhande-
sierungs- und Mehrheitsfähigkeit; für die      gekennzeichnet war, führte einerseits zu ei-     ne Probleme verharmlosen zu können. Im
Gewerkschaften hinsichtlich einer realisti-    ner neuen Annäherung, was sich auch              Folgenden werden die nach wie vor beste-
schen Gestaltungspolitik, die in vielen Be-    deutlich im Berliner Programm von 1989           henden Verbindungslinien zwischen SPD
reichen einer staatlich flankierten Ressour-   niederschlug; andererseits gelang es nicht,      und Gewerkschaften wie auch vorhandene
cenpolitik bedarf.                             neue inhaltliche, strategische Verabredun-       Risse genauer betrachtet, um anschließend
                                               gen zu treffen. In der Zeit des deutschen Ei-    auszutarieren, was die neue Konstellation
                                               nigungsprozesses kam es zu deutlichen            von zwei Parteien mit sozialdemokrati-

2
Phasen und Probleme
                                               Spannungen, weil die Gewerkschaften die
                                               Einigungspolitik der Kohl-Regierung durch
                                               eigene organisationspolitische Aktivitäten
                                                                                                schen Wurzeln im deutschen Bundestag für
                                                                                                die Zukunftsperspektiven von SPD und
                                                                                                Gewerkschaften sowie ihr Verhältnis zu-
einer Beziehung                                unterstützten, während große Teile der So-       einander bedeuten kann.
                                               zialdemokratie noch Skepsis und Vorbe-
Zeichnet man die historischen Entwick-         halte gegenüber der schnellen Einheit heg-
lungslinien des SPD-Gewerkschaftsver-
hältnisses nach, so lassen sich für Deutsch-
land fünf Phasen unterscheiden, wobei die
                                               ten. Im Laufe der 1990er Jahre verbesserten
                                               sich die Beziehungen wieder.
                                                    Die fünfte Phase umfasst die Zeit so-
                                                                                                3
                                                                                                Die Ist-Situation
wesentlichen Unterschiede sich daraus er-      zialdemokratischer Regierungsbeteiligung
geben, ob die SPD an der Regierung betei-      (seit 1998), wobei infolge des Umbaus            3.1 DIE DGB-GEWERKSCHAFTEN
ligt ist und ob es um einen Zuwachs oder       des Wohlfahrtsstaates und divergierender
einen Abbau sozialstaatlicher Leistungen       Prioritäten nahezu dauerhaft Spannungen          Die deutschen Gewerkschaften erlebten in
geht.                                          bestanden, die weder durch das „Bündnis          der sogenannten Phase der fordistischen
     Phase 1 beschreibt die grundsätzliche     für Arbeit“ (1998–2003) noch durch ein           Massenproduktion, also etwa zwischen
Neuordnung und Klärung der Beziehun-           neues, deutlich verbessertes Betriebsverfas-     1955 und 1985, ihr „goldenes Zeitalter“ als
gen zwischen Gewerkschaften und Par-           sungsgesetz (2001) nachhaltig abgebaut           selbstbewusster und öffentlich anerkannter
teien, die von der Gründung parteipoli-        werden konnten. Im Gegenteil: Latente            Akteur. Seither versuchen sie sich organisa-
tisch unabhängiger Einheitsgewerkschaf-        Konflikte führten ab 2003 infolge der Agen-      torisch und konzeptionell auf die Heraus-
ten 1945 bis Mitte der 1960er Jahre reichte.   da 2010 zu einem starken Entfremdungs-           forderungen des postindustriellen Kapita-
In dieser Zeit war die SPD in der Opposi-      prozess, dessen Folgen eine kleine Gruppe        lismus einzustellen. Sie agieren politisch in
tion, und beide Organisationen erlebten        von Gewerkschaftsfunktionären dazu nutz-         drei Dimensionen: Erstens sind sie in das
ihre ersten grundlegenden programmati-         te, eine links-traditionalistische Alternative   politische System partiell eingebunden
schen und organisatorischen Transforma-        zur SPD zu gründen. Hiermit wollten sie          (Konsultations- und Einflussmöglichkei-
tionsprozesse.                                 gewissermaßen die Lücke, die aus ihrer           ten) und besitzen zugleich besondere Zu-
     In der zweiten Phase, die zwischen 1966   Sicht „new labour“ aufgerissen hatte, durch      gangsgarantien durch das Mitbestim-
und 1974 verortet werden kann, machte die      eine neue „old labour“-Alternative beset-        mungs- und Betriebsverfassungsrecht so-
SPD ihre ersten Erfahrungen als Regie-         zen. Mit der großen Koalition hat sich das       wie ihre besondere Stellung bei den Sozial-
rungspartei. Die Gewerkschaften wurden         Verhältnis zwar wieder entspannt, was al-        versicherungen. Zweitens agieren sie als
als politischer Mitgestalter gewonnen (z. B.   lerdings bislang weder zu neuer Selbstsi-        Interessengruppen, die die Anliegen der
in der Konzertierten Aktion 1967–1977),        cherheit noch zu neuen Kooperationsper-          Beschäftigten gegenüber der Regierung
was für beide Akteure in Zeiten sozialstaat-   spektiven geführt hat.                           und den Parteien vertreten. Drittens han-
licher Expansion Nutzen stiftete (z. B. die         Auch wenn die tiefer liegenden Proble-      deln sie bisweilen partiell auch wie eine so-
Rechte und Stellung der Gewerkschaften         me in der Beziehung zwischen SPD und             ziale Bewegung, wenn sie sich mit anderen
im Betriebsverfassungsgesetz 1972; ihre        Gewerkschaften primär durch sozialstruk-         Gruppen für gesamtgesellschaftliche Ziele
Unterstützung der SPD-Politik bei den          turell geprägte Interessen und Politikop-        engagieren.
Ostverträgen) und keine existenziellen Be-     tionen geprägt sind und somit eine objek-            Unabhängig davon, ob die Gewerk-
lastungsproben mit sich brachte.               tive Kluft darstellen, so kann als verblei-      schaften als korporatistischer Akteur, als
     In der anschließenden dritten Phase       bendes Bindeglied die Bedeutung wechsel-         Interessengruppe oder als soziale Bewe-
fand man sich in einer „Kooperationskrise“     seitiger Kommunikation nicht hoch genug          gung auftreten, hängt ihr Einfluss in diesen
wieder. Die Politik sah sich durch das Ende    bewertet werden. Zugespitzt könnte man           jeweiligen Arenen und Rollen davon ab, ob
des Wirtschaftsbooms neuen Herausforde-        formulieren: Ein intensiver Austausch            sie eine hohe Mitgliederzahl hinter sich
rungen gegenüber, die sie unter anderem        kann einen Teil der Diskrepanz heilen. Da-       bzw. ein nachhaltiges Vetopotenzial haben.
durch eine stärkere Einbindung der Ge-         bei kommt den jeweiligen Eliten der Partei-      Die hohe und repräsentative Mitglieder-
werkschaften zu lösen versuchte. Nachdem       und Gewerkschaftspolitik große Bedeu-            zahl ist wichtig, um die finanziellen Res-

232       WSI Mitteilungen 5/2008
sourcen – vom Personal bis hin zu den          3.2 DIE SPD                                    wenn es nicht mehr gelingt, diese Gruppe
Streikkassen – zu sichern. Darüber hinaus                                                     zu integrieren, so hat dies auch erhebliche
sind sie neben einer passiven Folgebereit-     VERÄNDERUNGEN IM                               Konsequenzen für das Profil und Image der
schaft der Mehrheit ihrer Mitglieder auf die   WÄHLERPOTENZIAL                                SPD im Parteienwettbewerb. Diese These
aktive Mitarbeit eines relevanten Mitglie-                                                    gewinnt mit der Existenz einer zweiten
deranteils angewiesen. Das sie auf Letzteres   Mit dem Godesberger Programm von 1959          sozialdemokratischen Partei im Parlament,
nicht mehr selbstverständlich vertrauen        wandelte sich die SPD auch programma-          die in weit stärkerem Maße im Bereich der
können, zeigt sich unter anderem in der        tisch von einer Klassen- zu einer Volks-       Umverteilungs- und Sozialstaatspolitik ega-
Krise des Ehrenamtes. Die Gegenwartsdiag-      partei. Damit trug sie nicht nur dem so-       litäre Positionen vertritt, noch größere Be-
nose ist eindeutig: Ein drastischer Mitglie-   zialstrukturellen Wandel auf dem Wähler-       deutung. Zugleich ist aber auch offensicht-
derrückgang gefährdet die politische           markt Rechnung. Schaut man sich die            lich, dass in einer derart differenzierten,
Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften.         Daten zu Gruppenbindung und Wahlver-           sozial und kulturell gespaltenen Arbeitneh-
Nachdem in den 1950er Jahren noch vom          halten an, so lassen sich daraus vor allem     mergesellschaft eine schlichte Re-Orientie-
„Wunder der Organisation“ (Pirker 1960)        zwei Ergebnisse festhalten: Erstens, die so-   rung auf das klassische Arbeiterpotenzial
gesprochen wurde und ein Nettoorganisa-        zialstrukturelle Basis der Sozialdemokratie    für die Mehrheitsfähigkeit der SPD falsch
tionsgrad (nur erwerbstätige Mitglieder)       bilden nach wie vor die Arbeitnehmer-          wäre, zumal dann, wenn sich daraus eine
von 36 % und ein Bruttoorganisationsgrad       wähler; zweitens, wählen von ihnen grup-       nachhaltige Schwächung in anderen Wäh-
von etwa 40 % erreicht wurde, stand bereits    penbezogen betrachtet die gewerkschaft-        lersegmenten ergeben würde. Tatsächlich
in den 1960er Jahren die Frage auf der Ta-     lich organisierten Arbeiter am häufigsten      haben in den letzten Jahrzehnten bedeutsa-
gesordnung, wie es den Gewerkschaften ge-      SPD (Wessels 2000).                            me Verschiebungen zwischen den Wähler-
lingen könnte, ihre Mitgliederstruktur mit          Während das SPD-Wahlergebnis bei          segmenten stattgefunden, die auch von den
dem wirtschaftlich-gesellschaftlichen Wan-     der Bundestagswahl 2005 unter dem Ar-          Gewerkschaften nicht ignoriert werden
del zu synchronisieren (Müller-Jentsch/        beiterwähleranteil lag, entschieden sich Ge-   können. Das Reservoir aus unorganisierten
Ittermann 2000, S. 91). In den 1970er Jah-     werkschaftsmitglieder zu 12,8 % und ge-        Arbeitern und Gewerkschaftsmitgliedern
ren gelang es den Gewerkschaften zwar          werkschaftlich organisierte Arbeiter sogar     (Arbeiter wie Nicht-Arbeiter), aus dem die
trotz einer bereits damals einsetzenden        zu 17,9 % öfter an den Wahlurnen für die       SPD noch in den 1950er und 1960er Jahren
Verschiebung zwischen und innerhalb der        SPD. Ein klarer Trend, der nach oben oder      schöpfen konnte, hat sich beträchtlich re-
Branchen, das Organisationsniveau auszu-       unten zeigt, lässt sich aus diesen Daten im    duziert. Der Anteil dieser Gruppen an der
dehnen, indem sie das gewerbliche Arbei-       zeitlichen Verlauf allerdings nicht erken-     SPD-Wählerschaft ist zwischen 1953 und
terpotenzial verstärkt integrierten. Zu-       nen. Etwas anders sieht es bei der Frage       heute von über 60 % auf deutlich unter
gleich wurden Nicht-Erwerbstätige wie          hinsichtlich der Neigung zur SPD aus, also     30 % gesunken (ebd.). Dagegen hat die Be-
Rentner und Arbeitslose als Mitglieder auf-    der Parteisympathie (ARD/Infratest dimap       deutung der Angestellten auf allen Ebenen
genommen. Deren Anteil in den DGB-Ge-          Wahlbefragung 2005).                           zugenommen. Sie sind es auch, die eher
werkschaften liegt heute bei knapp über             Gerade bei den treuesten Stamm-           wählen gehen, die am ehesten durch die Bil-
30 %. Angesichts eines sich ändernden Ar-      wählern ist hinsichtlich der Parteisympa-      der von der „neuen Mitte“ angezogen wur-
beitsmarktes war diese Mitgliederpolitik       thie ein signifikanter Rückgang festzustel-    den und zugleich auch am ehesten bereit
defensiv, denn die Anpassung an die verän-     len: In einem Zeitraum von 15 Jahren hat       sind, die „Seiten zu wechseln“.
derte Arbeitsmarktdynamik wurde damit          sich die Neigung gewerkschaftlich organi-
verfehlt. Während sich die Beschäftigung       sierter Arbeiter zur SPD halbiert. Beson-      ENTWICKLUNG DER
im produzierenden Gewerbe drastisch re-        ders brisant fielen die Wahlverluste der       SPD-MITGLIEDSCHAFT
duzierte (von ca. 56 % im Jahr 1965 auf et-    SPD bei der Bundestagswahl 2002 im Ver-
wa 25,4 % im Jahr 2007), hat sie sich im       gleich zur 1998er Wahl aus. Dieser Trend       Für die SPD ist die Stimmenmaximierung
Dienstleistungsbereich mehr als verdoppelt     setzte sich bei der Bundestagswahl 2005        auf dem Wählermarkt das dominante Ziel.
und ist auf ca. 72,4 % angestiegen. Zwar ist   fort, bei der die SPD unter den Arbeitern      Zugleich wird die eigene Partei und deren
auch in den DGB-Gewerkschaften der An-         um 5 Prozentpunkte auf 37 % abrutschte,        Mitgliederentwicklung als wichtig erach-
gestelltenanteil gewachsen, gleichwohl ver-    aber auch die CDU verlor 7 Prozentpunk-        tet, denn im Gegensatz zur CDU war die
lief dieses Wachstum nicht synchron zum        te (30 %). Gewinner war die Linkspartei,       SPD schon unmittelbar nach dem Krieg
realen Anstieg der Angestellten unter den      die sich um 7 Prozentpunkte auf 12 % ver-      eine ausgeprägte Mitgliederpartei, die mit
Beschäftigten. Die gewerkschaftliche Mit-      besserte. Bei den gewerkschaftlich organi-     über 700.000 Mitgliedern bereits 1946 über
gliederstruktur bildet also nicht mehr die     sierten Arbeitern sah es ähnlich aus:          eine profunde Massenbasis verfügte. Die
Sozialstruktur des Arbeitsmarktes und der      Während SPD (von 54 % auf 51 %) und            niedrigste Mitgliederzahl verzeichnete die
Gesellschaft ab. Angesichts des gewerk-        CDU (von 26 % auf 21 %) deutliche Ein-         SPD bislang im Jahr 1954: Sie rutschte nach
schaftlichen Selbstverständnisses, mitten in   bußen hinnehmen mussten, stieg der An-         dem katastrophalen Bundestagswahlergeb-
der Gesellschaft die Interessen der Mehr-      teil der gewerkschaftlich organisierten Ar-    nis des Jahres 1953 auf 585.479 Mitglieder
heit aller Beschäftigten zu vertreten, wird    beiterwähler bei der Linkspartei (von 4 %      ab. Ihren Mitgliederhöchststand erreich-
dieser Sachverhalt zu einem zentralen          auf 14 %) deutlich an (ebd.).                  te sie 1976 mit einer Gesamtzahl von
Problem.                                            Der Akzeptanzverlust bei den Arbei-       1.022.191. Zwischen 1967 und 1976 wuchs
                                               tern kann nicht nur unter quantitativen        die Mitgliederzahl um etwa 300.000 an.
                                               Gesichtspunkten diskutiert werden. Denn        Seither gab es mit Ausnahme des Eini-

                                                                                                         WSI Mitteilungen 5/2008
                                                                                                                                    233
gungsjahres 1990 keinen Mitgliederzu-            Tabelle 1: Anteile der Arbeiter, Angestellten und Beamten in Gesell-
wachs mehr. Zwischen 1976 und 2007               schaft, SPD und DGB – in % –
ist die Mitgliederzahl der SPD um etwa                                                       1950           1970        1980          1990    2000      2004*
47 % (= 476.968) gesunken (Niedermeyer           Arbeiter            Gesellschaft            48,8           47,4        42,3          37,4    33,4       29,9
2007).                                                               SPD                     45,0           34,5        27,4          26,0    19,3       12,1
    Während die Sozialdemokratie den so-                             DGB                     83,2           75,8        68,2          66,6    60,2       52,8
zialstrukturellen Wandel der Bundesrepu-         Angestellte         Gesellschaft            16,5           29,6        37,2          43,3    48,5       51,2
                                                                     SPD                     17,0           20,6        23,4          26,6    27,8       23,9
blik in ihrer Mitgliederstruktur näherungs-
                                                                     DGB                     10,5           14,7        21,0          23,3    28,6       30,8
weise nachvollziehen konnte, sind die Ge-        Beamte              Gesellschaft             4,1            5,5         8,4           8,5     6,8        6,6
werkschaften bislang nicht in der Lage ge-                           SPD                      5,0            9,9         9,4          10,8    10,7        9,1
wesen, diese Entwicklung in der eigenen                              DGB                      6,3            9,5        10,8          10,1     7,2        7,5
Mitgliedschaft abzubilden (Tabelle 1). Letz-     Andere**            Gesellschaft            30,6           17,5        12,1          10,8    11,3       12,3
teres zeigt sich besonders zugespitzt im Ver-                        SPD                     33,0           35,0        39,8          36,6    42,2       54,9
hältnis zwischen Arbeitern und Angestell-                            DGB                      0,0            0,0         0,0           0,0     4,0        8,9
                                                 * Werte der SPD von 2006.
ten. Zwar ist auch in den DGB-Gewerk-            ** Hausfrauen, Studenten, Pensionäre, Selbstständige, Sonstige.
schaften der Angestelltenanteil gewachsen,       Quelle: SPD-Parteivorstand, Berlin 2006; DGB Homepage; bpb Datenreport, Bonn 2006.

aber nicht parallel zum realen Anstieg der
Angestellten unter den Beschäftigten. Ei-       Personalunion wird von beiden Seiten für                           prägungen bei den einzelnen DGB-Ge-
nem Arbeiteranteil von 53 % in den Ge-          wichtig gehalten. Dabei werden seitens der                         werkschaften wie auch für einzelne histori-
werkschaften stehen weniger als 15 % in         Gewerkschaften auch durchaus aktiv eige-                           sche Phasen festzustellen sind.
der SPD gegenüber.                              ne Konzepte öffentlich kommuniziert und
                                                beworben. Entscheidend ist jedoch, dass ei-

4
                                                ne grundsätzliche Opposition zur SPD und
                                                eine Absage an deren Regierungsfähigkeit
                                                nicht angestrebt werden, solange erkenn-
                                                                                                                   5
                                                                                                                   Verbindungslinien zwischen
Optionen im Verhältnis                          bar ist, dass es sich um eine Politik handelt,                     SPD und Gewerkschaften
zwischen SPD und                                die im Rahmen bestehender Möglichkeiten
Gewerkschaften                                  gewerkschaftliche Interessen berücksich-                           Es gibt zwei wesentliche Dimensionen, die
                                                tigt.                                                              sich im Verhältnis zwischen Gewerkschaf-
Vor dem Hintergrund der skizzierten sozi-                                                                          ten und SPD verändert haben: Erstens hat
alstrukturellen Veränderungen in der Wäh-       (3) Autonome Gewerkschaftspolitik: Diese                           sich die sozialstrukturelle Basis von Ge-
ler- und Mitgliederstruktur von SPD und         Option geht davon aus, dass die beiden                             werkschaften und Sozialdemokratie in den
Gewerkschaften werden nun einige syste-         großen Parteien – sowohl als „große Koali-                         letzten Jahren auseinander entwickelt. Und
matische Überlegungen angestellt. Das Ver-      tion“ in der Regierung wie auch getrennt in                        zweitens haben sich die jeweiligen Arenen,
hältnis zwischen Gewerkschaften und SPD         Regierung und Opposition – auf der in-                             in denen die beiden Akteure agieren (Par-
kann unter den Bedingungen sozialdemo-          haltlichen Ebene gewissermaßen einen                               lamentarismus und Tarifautonomie) deut-
kratischer Regierungsbeteiligung drei un-       monolithischen Block bilden. Angesichts                            lich gewandelt. Schnittmengen sind schwie-
terschiedliche Formen annehmen:                 unvereinbarer Interessen und Strategien                            riger herzustellen. Beides müssen aber kei-
                                                sowie sich derart „neoliberal“ verhaltender                        ne Gründe für einen grundlegenden politi-
(1) Anpassung bzw. Unterordnung der Ge-         sozialdemokratischer Parteien gehen die                            schen Entfremdungsprozess sein. Denn die
werkschaften: Diese Option besagt, dass die     Gewerkschaften ihren eigenen Weg bzw.                              realen Interessenunterschiede können
Gewerkschaften auf die Bildung eigener of-      versuchen mittels gesellschaftlicher Mobi-                         durch übereinstimmende Deutungen der
fensiver Akzente verzichten. Dies heißt         lisierung von der SPD aufgekündigte Posi-                          Situationen, Handlungsinstrumente, durch
nicht automatisch, dass sie sich unkritisch     tionen erneut parteipolitisch zu verankern.                        Strategien des (Aus)Tauschs und der Betei-
verhalten. Sie kritisieren die Regierungspo-    Deshalb konzentrieren sich die Gewerk-                             ligung zumindest relativiert werden. Von
litik in einzelnen Punkten und praktizieren     schaften in diesem Modell auf eine Mobili-                         besonderer Bedeutung ist in diesem Zu-
zugleich auch einen situativen Lobbyis-         sierung der Gesellschaft und der Mitglieder                        sammenhang eine flexible Kooperation der
mus. Sie versuchen jedoch nicht, für ihre       durch Demonstrationen bis hin zur Grün-                            jeweiligen Eliten auf der Basis gemeinsa-
besonderen Interessen zu mobilisieren, was      dung bzw. Unterstützung einer „Linkspar-                           mer Leitbilder. Und tatsächlich gibt es viel-
die Regierungsstabilität gefährden könnte.      tei“, um ihre Interessen auch jenseits der                         fältige inhaltliche und programmatische
Diese Variante der Unterordnung kann sich       SPD artikulieren bzw. parteipolitisch ver-                         Gemeinsamkeiten (Schabedoth 2008), die
in der Bandbreite vom aktiven Transmissi-       ankern zu können.                                                  nicht alleine mit einer ähnlichen Herkunft
onsriemen in die Gesellschaft bis hin zum                                                                          und einer gemeinsamen Verantwortung in
stillschweigenden Mitspieler bewegen.           Bei diesen Optionen handelt sich selbstver-                        der Gegenwart zu tun haben.
                                                ständlich um Idealtypen. In der Realität ist
(2) Konfliktpartnerschaft: Die Gewerk-          das Verhältnis der Gewerkschaften zur SPD                          5.1 PROGRAMMATIK
schaften pendeln zwischen Kooperation           zwischen diesen Idealtypen angesiedelt,
und Konflikt. Einmischung und aktive Be-        mit einer leichten Tendenz zur Konflikt-                           Die Struktur der Einheitsgewerkschaft ver-
teiligung der Gewerkschaften bis hin zur        partnerschaft, wobei unterschiedliche Aus-                         bietet eine direkte Option zugunsten der

234        WSI Mitteilungen 5/2008
SPD im Wahlkampf. Gleichwohl besteht            änderungen an der „Agenda 2010“ und            dazu beitragen, die gewerkschaftlichen Po-
auf der Ebene der Grundwerte, der Ziele         flankiert durch das neue Hamburger SPD-        sitionen einander anzunähern. Auch die
und Instrumente eine traditionell enge Be-      Grundsatzprogramm (2007), die SPD-Po-          jahrzehntelange Gepflogenheit, führende
ziehung, die wir durchaus als privilegierte     litik auch emotional wieder in die Nähe ge-    Gewerkschafter als Minister in Regierun-
Partnerschaft bezeichnen können. Im Ge-         werkschaftlicher Befindlichkeiten rücken,      gen unter SPD-Führung einzubinden (das
gensatz zur CDU/CSU spricht die SPD den         ohne damit die neue sozialdemokratische        Amt des Arbeitsministers) ist eine Form
Gewerkschaften in ihren Programmen eine         Politik aufzugeben.                            der Kontaktpolitik. Eine Zäsur bezüglich
herausragende Rolle als positiver Faktor                                                       dieser Tradition gab es erstmals 2002 – bis
gesellschaftlicher Integration und Gestal-      5.2 PERSONELLE VERFLECHTUNGEN                  heute.
tung zu, was im Godesberger (1959), im                                                             Inwieweit die gewerkschaftlich organi-
Berliner (1989) aber auch im Hamburger          Gerade angesichts einer auseinanderfallen-     sierten Bundestagsabgeordneten ein Ga-
Programm (2007) deutlich herausgestellt         den sozialstrukturellen Basis sind die SPD-    rant für einen intensiven Austausch zwi-
wird. Besonders verbindend ist bisher der       und Gewerkschaftseliten besonders gefor-       schen SPD und Gewerkschaften sind, ist
weitgehende Konsens zwischen SPD und            dert, inhaltliche Schnittmengen und ge-        schwierig zu beantworten. Denn aus der
DGB über die Leistungen und die Leis-           meinsame Projekte zu definieren. Gute          Sicht der Parlamentarier kann die Mit-
tungsfähigkeit des deutschen Modells von        Voraussetzungen dafür sind allemal vor-        gliedschaft in einer Gewerkschaft sowohl
Sozialstaat und industriellen Beziehungen,      handen, schon allein aufgrund persönli-        normative als auch instrumentelle Gründe
vor allem die Anerkennung von Tarifauto-        cher und personeller Verflechtungen. Ge-       haben. Weder das eine noch das andere sagt
nomie und Mitbestimmung als fester Be-          werkschafter wählen mehrheitlich SPD; ein      allerdings etwas über die Bereitschaft und
standteil der SPD-Regierungspolitik. Alles,     Teil von ihnen unterstützt sie nach wie vor    Fähigkeit aus, gewerkschaftliche Interessen
was diesen Konsens erschüttert oder auf-        aktiv. Und SPD-Mitglieder sind auch Ge-        im politischen Raum zu vertreten. Gleich-
zukündigen scheint, wird umso sensibler         werkschafter: Etwa ein Drittel aller SPD-      wohl hat der hohe Anteil von Gewerk-
wahrgenommen, so z. B. das „Schröder-           Mitglieder ist gewerkschaftlich organisiert.   schaftsmitgliedern bei sozialdemokrati-
Blair-Papier 1999“ sowie eine sozialdemo-       Quantitativ betrachtet kommt die Majo-         schen Bundestagsabgeordneten seitens der
kratische Regierungspolitik, die auf Priva-     rität der sozialdemokratischen Gewerk-         Unternehmerverbände immer wieder zu
tisierung, Eigeninitiative und eine Reduk-      schaftsmitglieder aus den Verbänden des        dem Vorwurf geführt, es handele sich bei
tion des Staates im Sinne einer neu akzen-      öffentlichen Dienstes. So liegt etwa der       der SPD-Bundstagsfraktion um eine „Ge-
tuierten Aktivierungsstrategie setzte, nicht    ver.di- und der GEW-Anteil unter den ge-       werkschafts-Fraktion“ (Schmollinger 1973,
zuletzt auch durch die „Rente ab 67“.           werkschaftlich organisierten Sozialdemo-       S. 229). Tatsächlich aber spielen die ge-
     Die Agenda 2010 wird seitens der           kraten deutlich über ihrem DGB-Anteil,         werkschaftlich organisierten Bundestags-
Mehrheit der Gewerkschafter als eine an-        während die IG Metall in der SPD deutlich      abgeordneten weder als Adressat entspre-
gebotsorientierte Politik, aber auch als eine   unterrepräsentiert ist. Doppelmitglied-        chender Zielgruppenarbeit eine wirklich
ideologische Entkopplung von den ge-            schaften, also SPD-Parlamentarier und Ge-      wichtige Rolle noch sind Entscheidungen
meinsamen Wurzeln verstanden, womit             werkschaftsmitglied zu sein, führen – ge-      bekannt, bei denen diese Bundestagsabge-
zudem die soziale Symmetrie gefährdet           stützt durch klare Rollendefinitionen –        ordneten im Konfliktfall und als Block In-
werde. Während die Gewerkschaften in            nicht zu tief gehenden Konflikten. Im Ge-      teressen der Gewerkschaften gegen die Op-
ihren Diskursen mit der Sozialdemokratie        genteil: Gewerkschaften benötigen einen        tionen der Fraktions- und Parteispitze ver-
die Bedeutung der Verteilungsgerechtigkeit      Zugang zum politischen System. Ebenso          folgt hätten.
herausstellen, besteht die Mehrheit der         kann es für eine sozialdemokratische Partei        Und ohnehin: Seit 1990 ist bei allen
SPD-Führung darauf, dass dieses Gerech-         in Regierung und Parlament, die Konflikte      Bundestagsfraktionen mit Ausnahme der
tigkeitskonzept relativiert werden müsse        mit der Arbeitnehmerschaft und ihren Ge-       PDS ein deutlicher Rückgang hinsichtlich
und Teilhabe-, Chancen- wie auch Genera-        werkschaften nicht bewusst in Kauf neh-        des gewerkschaftlichen Organisationsgra-
tionengerechtigkeit ebenfalls eine wichtige     men will, hilfreich sein, eine Rückbindung     des feststellbar. Die jüngere Generation der
Rolle spielen sollten. Vor diesem Hinter-       an die gewerkschaftliche Funktionselite zu     Abgeordneten setzt viel seltener als ihre
grund wuchs bei einigen Funktionären der        haben. Die Voraussetzungen dafür sind          Vorgänger auf das Prinzip überlappender
Gewerkschaften die Bereitschaft, sich nicht     nach wie vor gegeben: Mit Ausnahme des         Mitgliedschaften. Mit der Bundestagswahl
nur von der sozialdemokratischen Regie-         ver.di Vorsitzenden, der das Parteibuch der    1990 sank der gewerkschaftliche Organisa-
rungspraxis zu distanzieren, sondern auch       Grünen besitzt, sind alle DGB-Vorsitzen-       tionsgrad in der SPD-Fraktion von über
eine eigene Partei links von der SPD aufzu-     den zugleich auch SPD-Mitglieder.              90 % auf rund 74 %, der der CDU/CSU-
bauen. Auch wenn deren Zustandekom-                 Mit dem 1968 unter Willy Brandt ge-        Fraktion von fast 20 % auf 7,5 %. Diese
men letztlich von einer Vielzahl von Zufäl-     gründeten Gewerkschaftsrat besteht auch        Entwicklung hielt auch bei der Bundes-
len getragen war, bleibt festzuhalten, dass     ein Gremium des regelmäßigen Austauschs        tagswahl 2005 an: Der Anteil der gewerk-
die handelnden Akteure das „window of           zwischen Partei- und Gewerkschaftsspit-        schaftlich organisierten Parlamentarier in
opportunity“ nutzten, um eine kommuni-          zen, das insbesondere in Phasen des Kon-       der SPD-Fraktion ging weiter auf mittler-
kative Plattform zu schaffen, die eng an den    flikts den Charakter einer Clearingstelle      weile rund 59 % zurück. Bei der CDU/CSU
programmatischen Positionen der beiden          annehmen kann. Und da alle Gewerk-             liegt er gegenwärtig bei unter 1 %. Aber
großen Gewerkschaften IG Metall und             schaftsvorsitzenden mit sozialdemokrati-       nicht nur die Gewerkschaftsmitgliedschaft
ver.di orientiert ist. Erst der SPD-Vorsit-     schem Parteibuch an diesen Gesprächen          der Parlamentarier ist rückläufig. Auch die
zende Beck konnte, unterstützt durch Ver-       teilnehmen, kann diese Einrichtung auch        emotionale Bindung zu den Gewerkschaf-

                                                                                                          WSI Mitteilungen 5/2008
                                                                                                                                     235
ten lockert sich. Vor allem bei den jüngeren     ziehungen zwischen Gewerkschaften und              Für die SPD bedeutet die dauerhafte
Abgeordneten gibt es aufgrund fehlender          Sozialdemokratie immer noch intensiver         Parlamentarisierung der Linkspartei, dass
Erfahrungen, anderer Herkunft und Sozia-         und umfangreicher als zu jeder anderen         sie diese als zusätzliche Option in ihre
lisation ein Maß an Entfremdung gegen-           Partei. So haben im Jahre 2005 etwa 47 %       Machtpolitik einbeziehen muss, um die ei-
über den Gewerkschaften wie nie zuvor in         der Gewerkschaftsmitglieder SPD gewählt,       gene Regierungsfähigkeit in einem Fünf-
der Geschichte des bundesdeutschen Parla-        24 % die CDU und 13 % die Linkspar-            oder Sechsparteiensystem zu ermöglichen.
mentarismus.                                     tei (ARD/Infratest dimap Wahlbefragung         Dies heißt jedoch keinesfalls, dass sie damit
                                                 2005). Auf zwei wesentlichen Ebenen –          strukturell nach links rücken müsste; ihr
                                                 Mitglieder- und Wählerebene – gibt es viel-    könnte – machtpolitisch gesehen – auch be-

6
Fazit und Ausblick
                                                 fältige Überschneidungen, wenn auch mit
                                                 abnehmender Tendenz. Die deutlichen
                                                 Mitglieder- und Wählerverluste der SPD
                                                                                                reits der hinzugewonnene Flexibilitätsspiel-
                                                                                                raum genügen. Das heißt: Wenn es den Ge-
                                                                                                werkschaften nicht gelingen würde, sich in
                                                 sind Folge ihrer Verluste in ihrem Kern-       der Dienstleistungs- und Wissensökonomie
Die Beziehungen zwischen SPD und Ge-             milieu, bei den Arbeitnehmern, ohne dass       (und damit in wichtigen gesellschaftlichen
werkschaften haben sich deutlich verän-          sie im gleichen Umfang andere Gruppen          Zentren bzw. Mitglieder- und Wähler-
dert. Sie sind programmatisch und perso-         gewinnen oder stärker an sich binden           schichten) stärker zu verankern, dann
nell weniger eng, komplizierter und emo-         konnten. Aber während hinsichtlich der         müsste auch die SPD auf gewerkschaftliche
tional schwächer geworden. Die Distanz,          Wahlentscheidung noch keine dramatische        Interessen zunehmend weniger Rücksicht
die sich hier zeigt, erklärt sich nicht allein   Erosion oder gar Entkopplung zwischen          nehmen. Die SPD könnte sich dann in so-
aus zyklisch-konjunkturellen Schwankun-          SPD und gewerkschaftlich organisierter         zialstaatlichen Fragen problemloser mittig
gen, wie sie immer schon bestanden haben,        Wählerschaft festzustellen ist, hat sich das   oder sogar in Richtung liberaler Positionen
insbesondere in Abhängigkeit davon, ob           inhaltliche Verhältnis geändert. Die SPD zu    bewegen. Zugleich würde die SPD infolge
sich die SPD in der Opposition oder in           wählen, ist bei dieser Wählerschicht zuneh-    einer solchen Konstellation in nahezu jeder
Regierungsverantwortung befand. Hinzu            mend weniger ein Zeichen von emotionaler,      Situation, die mittelfristig absehbar ist, eine
kommen offensichtliche Prozesse ideologi-        organischer Zuneigung, sondern eher Aus-       entscheidende Rolle für die Mehrheitsver-
scher Entkopplung, insbesondere während          druck instrumenteller, rationaler Präferenz.   hältnisse im Parlament spielen, wenn sie
der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder.               Die Gewerkschaften haben ihren Ein-       klug und flexibel agiert. Und in den Ge-
Die Hauptursache aber ist, dass die Mit-         fluss im politischen System bislang ihrer      werkschaften könnte als Reaktion auf die
glieds- bzw. Wählerschaften von Gewerk-          Fähigkeit zuzuschreiben, einen wesentli-       flexible Pendelpolitik der SPD sogar die Be-
schaften und SPD hinsichtlich ihrer sozial-      chen Teil der Arbeitnehmerschaft reprä-        wegung in Richtung Linkspartei einen stär-
strukturellen Zusammensetzung deutlich           sentieren zu können. Gefährdet werden          keren Schub erhalten, den es in pointierter
auseinanderdriften.                              könnte dies, wenn die bis heute unzurei-       Form zurzeit nicht gibt.
     Umso wichtiger wird der kommunika-          chenden Erfolge in Zukunftsbranchen, bei           Von einer neuen Flexibilität der SPD
tive, diskursive Austausch als ein wichtiges     den neuen Berufen, in den kleinen Betrie-      im Fünfparteiensystem können also durch-
Verbindungsglied zwischen SPD und Ge-            ben – und nicht zu vernachlässigen bei         aus Gefahren für die Gewerkschaften aus-
werkschaften. Denn ob die Beziehungen            Frauen sowie Jugendlichen – andauern.          gehen. Die theoretisch denkbare Option
zwischen SPD und Gewerkschaften besser           Der Einfluss kleiner Spartengewerkschaf-       der Gewerkschaften, die privilegierte Part-
oder schlechter funktionieren, hängt nicht       ten ist zwar bislang noch vergleichsweise      nerschaft mit der SPD gegen eine mit der
unwesentlich davon ab, wie angesichts vor-       gering; es könnte aber sein, dass die von      Linkspartei auszutauschen, dürfte real kein
handener struktureller und politischer Di-       diesen kleinen, homogenen Organisatio-         begehbarer Pfad sein: Hiermit zerfiele nicht
vergenzen die Spitzen „miteinander kön-          nen praktizierte Offensivstrategie Schule      nur ihr Status als Einheitsgewerkschaft; un-
nen“, ob sie zu gemeinsamen Lagedeutun-          macht und damit die großen Gewerkschaf-        gleich erschwert wären auch die Vorausset-
gen, gegebenenfalls sogar Handlungsorien-        ten zusätzlich unter Druck setzt. In diesem    zungen, Veränderungen am Arbeitsmarkt
tierungen gelangen. Die Chancen dafür            Sinne kann auch die abnehmende Veran-          und Verschiebungen in den Beschäftigten-
stehen nicht schlecht, solange es wie bei        kerung der Gewerkschaften bei relevanten       strukturen organisationspolitisch abzubil-
den heutigen Eliten auf Seiten der Gewerk-       Teilen der abhängig Beschäftigten, vor al-     den. Wollen die Gewerkschaften die im
schaften wie auch der SPD noch einen brei-       lem bei den Höherqualifizierten, dazu          Gange befindliche Einbettungskrise nicht
ten Korridor gemeinsamer Überzeugungen           führen, dass ihnen weitere Einflussmög-        verschärfen, dann wären sie gut beraten,
gibt. Doch dies darf nicht darüber hinweg-       lichkeiten versperrt bleiben. Welche Gestal-   sich in ihrer Politik an den Veränderungen
täuschen: Hinter den Spitzen, also auf den       tungsmacht die Gewerkschaften zukünftig        des Arbeitsmarktes zu orientieren, ohne
mittleren Funktionärsrängen, besteht mitt-       haben werden, wird schließlich auch davon      ihre kritische und mobilisierungsfähige
lerweile vielfach ein Nichtverhältnis. Von       abhängen, ob sie mit den Entwicklungen         Unabhängigkeit gegenüber dem politi-
Grund auf belastbare Strukturen sind am          des Arbeitsmarktes auf Augenhöhe blei-         schen System zu gefährden. Durch ihre der-
ehesten noch in industriellen Zentren mit        ben. Gelingt ihnen wieder eine neue Aufge-     zeit beobachtbare Politik der inneren Kon-
sozialdemokratischer Dominanz vorhan-            schlossenheit, dann könnte auch ein Nega-      solidierung scheinen sie auf einem guten
den.                                             tivszenario zur Zukunft von Gewerkschaf-       Weg zu sein, sich gewissermaßen nachho-
     Festzuhalten bleibt aber auch: Selbst       ten und SPD verhindert werden: Denn ob         lend mit den veränderten Wirklichkeiten
nach dem Parlamentseinzug der Linkspar-          in Schwäche vereint oder getrennt – beides     zu versöhnen, um so die Voraussetzungen
tei, die für „old labour“ steht, sind die Be-    wäre keine verlockende Perspektive.            für eine neue Einflusspolitik zu schaffen.

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