SPD und Gewerkschaften: Vom Wandel einer privilegierten Partnerschaft
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
SPD und Gewerkschaften: Vom Wandel einer privilegierten Partnerschaft Wolfgang Schroeder Das über Jahrzehnte hinweg lose, aber beständige Bündnis zwischen SPD und Gewerkschaften war für die politischen Kräfteverhält- nisse und die politisch-kulturellen Allianzen in der Bundesrepublik stilbildend – trotz immer auch vorhandener Konflikte zwischen den beiden ungleichen Partnern. Sind also die Spannungen, die es seit einigen Jahren im Verhältnis von SPD und Gewerkschaften ganz offensichtlich gibt, nichts anderes als eine vorübergehende Beziehungskrise? Oder zeigen sich hier Symptome eines unumkehrbaren Entfremdungsprozesses? Und was wären die Folgen für die SPD, die Gewerkschaften wie auch für das politische System in Deutsch- land? Markt – weniger Staat“ und die strategi- SPD schädlich für deren Mehrheitsfähig- 1 Einleitung sche Flexibilität sozialdemokratischer Par- teien auf dem Weg zur Regierungsüber- nahme bzw. in Regierungspositionen lie- keit sei. Denn das gesellschaftliche Image der Gewerkschaften sei so schlecht und die Mobilisierungsfähigkeiten der Gewerk- ßen sich nur durch die Emanzipation von schaften seien so schwach, dass die SPD von Auffallend an den jüngeren Kontroversen den Ansprüchen und Interessen der Ge- deren Unterstützung sowieso keinen Nut- seit der „Agenda 2010“ ist, dass sowohl Ge- werkschaften durchsetzen. Dieser These zen habe. Während diese beiden Gruppen werkschaften als auch Sozialdemokratie von einer zunehmenden (und zunehmend die Kosten eines Endes der konstruktiven aus einer Position der Schwäche agieren. notwendigen) Distanzierung steht die Ein- Beziehungen zwischen SPD und Gewerk- Beide haben ihre eigenen, jedoch nicht schätzung gegenüber, dass es im Verhältnis schaften für gering erachten, rechnet die unähnlichen Bestands- und Akzeptanz- zwischen Gewerkschaften und Sozialde- Mehrheit mit einer modifizierten Konti- probleme – und werfen sie sich zugleich mokratie immer schon wechselhafte Pha- nuität, die beiden weiterhin Vorteile ver- gegenseitig vor. Auch wenn es die SPD 2005 sen gab: ein Spannungsbogen, der von schaffen könnte. geschafft hat, wieder an der Regierung be- größerer Übereinstimmung bis hin zu an- In diesem Beitrag wird die These ver- teiligt zu sein, sind ihre Nöte offensichtlich: gespannten, ja konfliktreichen Beziehungs- treten, dass die seit einigen Jahren offen- hohe Mitglieder- und Wählerverluste, ge- mustern reicht. Deshalb könne man keines- sichtlichen Spannungen zwischen SPD und rade im Milieu gewerkschaftlich organi- falls von einer linearen Erosionsentwick- Gewerkschaften nicht nur den Konjunktu- sierter Arbeitnehmer, und eine trotz Pro- lung sprechen (Armingeon 1988, S. 130). ren der jeweiligen politischen Prioritäten grammdebatte und neuem Grundsatzpro- Einmütigkeit habe sich – so Schneider und programmatischen Ziele geschuldet gramm nicht abgeschlossene Identitätssu- (1994) – ohnehin nie gezeigt, und eine in- sind, wenngleich auch dies eine wichtige che, die sich nach der Etablierung eines haltliche oder strategische Alternative zur Rolle spielt. Vielmehr gibt es eine tiefer rei- Fünfparteiensystems auf Länderebene so- Zusammenarbeit sei – unter der Perspekti- chende Kluft, die sich aus den sozialstruk- gar noch verschärft hat. Aber auch die Ge- ve machtpolitischer Durchsetzungsfähig- turellen Verschiebungen zwischen der ge- werkschaften haben an Stärke eingebüßt. keit – letztlich nicht in Sicht. sellschaftlichen, der gewerkschaftlichen so- Sie sind politisch in der Defensive. In der James Piazza (2001) kommt hinsicht- wie der sozialdemokratischen Mitglieder- Tarifpolitik versuchen sie, unter schwieri- lich des Verhältnisses zwischen Gewerk- struktur ergibt. Während sich die SPD von gen Rahmenbedingungen die Verteilungs- schaften und sozialdemokratischen Par- ihrer Arbeiterherkunft gelöst hat und der position der Arbeitnehmer zu sichern und teien in einer internationalen Vergleichs- Anteil der anderen sozialen Gruppen nahe- Arbeitsplätze zu halten. Hinzu kommen studie zu dem Ergebnis, dass vor allem die zu ständig gestiegen ist, blieb bei den Ge- Mitgliederrückgänge, die Alterung der Globalisierung die Sozialdemokratie zu ei- werkschaften ein ähnliches Wachstum von Mitgliedschaft und eine bis heute nicht ge- nem eher sozialliberalen Politikstil ge- sozialen Milieus und Gruppen jenseits der lungene Adaption des wirtschaftlichen zwungen habe. Die klassische Beziehung gewerblichen Arbeiterschaft bislang aus. Strukturwandels hin zu einer modernen von Gewerkschaften und sozialdemokrati- Doch anders als in den vorgenannten Ein- Wissens- und Dienstleistungsökonomie schen Parteien werde dadurch komplett innerhalb der gewerkschaftlichen Mit- „entbunden“ (de-linked). Stephen S. Silvia gliedschaft. (1992) geht demgegenüber schlichtweg Im wissenschaftlichen und politischen von einer Abnutzung des Verhältnisses aus, Wolfgang Schroeder, Prof. Dr., Universität Diskurs sind namhafte Stimmen zu hören, die durch die neue de-ideologisierte und Kassel, Lehrstuhl „Politisches System der die die Distanzierung der Sozialdemokratie rational-karriereorientierte Generation in Bundesrepublik Deutschland/Staatlichkeit (in ganz Europa) von den Gewerkschaften der SPD vorangetrieben werde. im Wandel“. Arbeitsschwerpunkte: Arbeits- als eine Bedingung für die erfolgreiche So sind Gewerkschaftsskeptiker in der beziehungen, Verbände, Parteien und Sozial- Transformation der Sozialdemokratie se- SPD fest davon überzeugt, dass schon die staatspolitik. hen. Die sozialdemokratische Formel „mehr unterstellte Nähe der Gewerkschaften zur e-mail: wolfgang.schroeder@uni-kassel.de © WSI Mitteilungen 2002-2008 WSI Mitteilungen 5/2008 231 Diese Datei und ihr Inhalt sind urheberrechtlich geschützt. Nachdruck und Verwertung (gewerbliche Verviel- fältigung, Aufnahme in elektronische Datenbanken, Veröffentlichung online oder offline) sind nicht gestattet.
schätzungen werden die Folgen dieser Drift dies scheiterte und die Spannungen zunah- tung zu. Denn es gibt vielfältige inhaltliche kritisch gesehen: Nach Lage der Dinge men, kam es Anfang der 1980er Jahre sogar und personelle Verbindungslinien zwi- kann sich der definitive Bruch einer lose zu ersten Demonstrationen der Gewerk- schen Gewerkschaften und Sozialdemo- verkoppelten Bezugnahme zwischen Ge- schaften gegen die Sparpolitik einer SPD- kratie, sodass sich empirisch die These von werkschaften und Sozialdemokratie für geführten Regierung. einem bevorstehenden Bruch zwischen bei- beide Seiten negativ auswirken: Für die So- Die vierte Phase, die durch die Opposi- den nicht begründen lässt. Das bedeutet im zialdemokratie hinsichtlich ihrer Mobili- tionsrolle der SPD zwischen 1982 und 1998 Umkehrschluss allerdings nicht, vorhande- sierungs- und Mehrheitsfähigkeit; für die gekennzeichnet war, führte einerseits zu ei- ne Probleme verharmlosen zu können. Im Gewerkschaften hinsichtlich einer realisti- ner neuen Annäherung, was sich auch Folgenden werden die nach wie vor beste- schen Gestaltungspolitik, die in vielen Be- deutlich im Berliner Programm von 1989 henden Verbindungslinien zwischen SPD reichen einer staatlich flankierten Ressour- niederschlug; andererseits gelang es nicht, und Gewerkschaften wie auch vorhandene cenpolitik bedarf. neue inhaltliche, strategische Verabredun- Risse genauer betrachtet, um anschließend gen zu treffen. In der Zeit des deutschen Ei- auszutarieren, was die neue Konstellation nigungsprozesses kam es zu deutlichen von zwei Parteien mit sozialdemokrati- 2 Phasen und Probleme Spannungen, weil die Gewerkschaften die Einigungspolitik der Kohl-Regierung durch eigene organisationspolitische Aktivitäten schen Wurzeln im deutschen Bundestag für die Zukunftsperspektiven von SPD und Gewerkschaften sowie ihr Verhältnis zu- einer Beziehung unterstützten, während große Teile der So- einander bedeuten kann. zialdemokratie noch Skepsis und Vorbe- Zeichnet man die historischen Entwick- halte gegenüber der schnellen Einheit heg- lungslinien des SPD-Gewerkschaftsver- hältnisses nach, so lassen sich für Deutsch- land fünf Phasen unterscheiden, wobei die ten. Im Laufe der 1990er Jahre verbesserten sich die Beziehungen wieder. Die fünfte Phase umfasst die Zeit so- 3 Die Ist-Situation wesentlichen Unterschiede sich daraus er- zialdemokratischer Regierungsbeteiligung geben, ob die SPD an der Regierung betei- (seit 1998), wobei infolge des Umbaus 3.1 DIE DGB-GEWERKSCHAFTEN ligt ist und ob es um einen Zuwachs oder des Wohlfahrtsstaates und divergierender einen Abbau sozialstaatlicher Leistungen Prioritäten nahezu dauerhaft Spannungen Die deutschen Gewerkschaften erlebten in geht. bestanden, die weder durch das „Bündnis der sogenannten Phase der fordistischen Phase 1 beschreibt die grundsätzliche für Arbeit“ (1998–2003) noch durch ein Massenproduktion, also etwa zwischen Neuordnung und Klärung der Beziehun- neues, deutlich verbessertes Betriebsverfas- 1955 und 1985, ihr „goldenes Zeitalter“ als gen zwischen Gewerkschaften und Par- sungsgesetz (2001) nachhaltig abgebaut selbstbewusster und öffentlich anerkannter teien, die von der Gründung parteipoli- werden konnten. Im Gegenteil: Latente Akteur. Seither versuchen sie sich organisa- tisch unabhängiger Einheitsgewerkschaf- Konflikte führten ab 2003 infolge der Agen- torisch und konzeptionell auf die Heraus- ten 1945 bis Mitte der 1960er Jahre reichte. da 2010 zu einem starken Entfremdungs- forderungen des postindustriellen Kapita- In dieser Zeit war die SPD in der Opposi- prozess, dessen Folgen eine kleine Gruppe lismus einzustellen. Sie agieren politisch in tion, und beide Organisationen erlebten von Gewerkschaftsfunktionären dazu nutz- drei Dimensionen: Erstens sind sie in das ihre ersten grundlegenden programmati- te, eine links-traditionalistische Alternative politische System partiell eingebunden schen und organisatorischen Transforma- zur SPD zu gründen. Hiermit wollten sie (Konsultations- und Einflussmöglichkei- tionsprozesse. gewissermaßen die Lücke, die aus ihrer ten) und besitzen zugleich besondere Zu- In der zweiten Phase, die zwischen 1966 Sicht „new labour“ aufgerissen hatte, durch gangsgarantien durch das Mitbestim- und 1974 verortet werden kann, machte die eine neue „old labour“-Alternative beset- mungs- und Betriebsverfassungsrecht so- SPD ihre ersten Erfahrungen als Regie- zen. Mit der großen Koalition hat sich das wie ihre besondere Stellung bei den Sozial- rungspartei. Die Gewerkschaften wurden Verhältnis zwar wieder entspannt, was al- versicherungen. Zweitens agieren sie als als politischer Mitgestalter gewonnen (z. B. lerdings bislang weder zu neuer Selbstsi- Interessengruppen, die die Anliegen der in der Konzertierten Aktion 1967–1977), cherheit noch zu neuen Kooperationsper- Beschäftigten gegenüber der Regierung was für beide Akteure in Zeiten sozialstaat- spektiven geführt hat. und den Parteien vertreten. Drittens han- licher Expansion Nutzen stiftete (z. B. die Auch wenn die tiefer liegenden Proble- deln sie bisweilen partiell auch wie eine so- Rechte und Stellung der Gewerkschaften me in der Beziehung zwischen SPD und ziale Bewegung, wenn sie sich mit anderen im Betriebsverfassungsgesetz 1972; ihre Gewerkschaften primär durch sozialstruk- Gruppen für gesamtgesellschaftliche Ziele Unterstützung der SPD-Politik bei den turell geprägte Interessen und Politikop- engagieren. Ostverträgen) und keine existenziellen Be- tionen geprägt sind und somit eine objek- Unabhängig davon, ob die Gewerk- lastungsproben mit sich brachte. tive Kluft darstellen, so kann als verblei- schaften als korporatistischer Akteur, als In der anschließenden dritten Phase bendes Bindeglied die Bedeutung wechsel- Interessengruppe oder als soziale Bewe- fand man sich in einer „Kooperationskrise“ seitiger Kommunikation nicht hoch genug gung auftreten, hängt ihr Einfluss in diesen wieder. Die Politik sah sich durch das Ende bewertet werden. Zugespitzt könnte man jeweiligen Arenen und Rollen davon ab, ob des Wirtschaftsbooms neuen Herausforde- formulieren: Ein intensiver Austausch sie eine hohe Mitgliederzahl hinter sich rungen gegenüber, die sie unter anderem kann einen Teil der Diskrepanz heilen. Da- bzw. ein nachhaltiges Vetopotenzial haben. durch eine stärkere Einbindung der Ge- bei kommt den jeweiligen Eliten der Partei- Die hohe und repräsentative Mitglieder- werkschaften zu lösen versuchte. Nachdem und Gewerkschaftspolitik große Bedeu- zahl ist wichtig, um die finanziellen Res- 232 WSI Mitteilungen 5/2008
sourcen – vom Personal bis hin zu den 3.2 DIE SPD wenn es nicht mehr gelingt, diese Gruppe Streikkassen – zu sichern. Darüber hinaus zu integrieren, so hat dies auch erhebliche sind sie neben einer passiven Folgebereit- VERÄNDERUNGEN IM Konsequenzen für das Profil und Image der schaft der Mehrheit ihrer Mitglieder auf die WÄHLERPOTENZIAL SPD im Parteienwettbewerb. Diese These aktive Mitarbeit eines relevanten Mitglie- gewinnt mit der Existenz einer zweiten deranteils angewiesen. Das sie auf Letzteres Mit dem Godesberger Programm von 1959 sozialdemokratischen Partei im Parlament, nicht mehr selbstverständlich vertrauen wandelte sich die SPD auch programma- die in weit stärkerem Maße im Bereich der können, zeigt sich unter anderem in der tisch von einer Klassen- zu einer Volks- Umverteilungs- und Sozialstaatspolitik ega- Krise des Ehrenamtes. Die Gegenwartsdiag- partei. Damit trug sie nicht nur dem so- litäre Positionen vertritt, noch größere Be- nose ist eindeutig: Ein drastischer Mitglie- zialstrukturellen Wandel auf dem Wähler- deutung. Zugleich ist aber auch offensicht- derrückgang gefährdet die politische markt Rechnung. Schaut man sich die lich, dass in einer derart differenzierten, Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften. Daten zu Gruppenbindung und Wahlver- sozial und kulturell gespaltenen Arbeitneh- Nachdem in den 1950er Jahren noch vom halten an, so lassen sich daraus vor allem mergesellschaft eine schlichte Re-Orientie- „Wunder der Organisation“ (Pirker 1960) zwei Ergebnisse festhalten: Erstens, die so- rung auf das klassische Arbeiterpotenzial gesprochen wurde und ein Nettoorganisa- zialstrukturelle Basis der Sozialdemokratie für die Mehrheitsfähigkeit der SPD falsch tionsgrad (nur erwerbstätige Mitglieder) bilden nach wie vor die Arbeitnehmer- wäre, zumal dann, wenn sich daraus eine von 36 % und ein Bruttoorganisationsgrad wähler; zweitens, wählen von ihnen grup- nachhaltige Schwächung in anderen Wäh- von etwa 40 % erreicht wurde, stand bereits penbezogen betrachtet die gewerkschaft- lersegmenten ergeben würde. Tatsächlich in den 1960er Jahren die Frage auf der Ta- lich organisierten Arbeiter am häufigsten haben in den letzten Jahrzehnten bedeutsa- gesordnung, wie es den Gewerkschaften ge- SPD (Wessels 2000). me Verschiebungen zwischen den Wähler- lingen könnte, ihre Mitgliederstruktur mit Während das SPD-Wahlergebnis bei segmenten stattgefunden, die auch von den dem wirtschaftlich-gesellschaftlichen Wan- der Bundestagswahl 2005 unter dem Ar- Gewerkschaften nicht ignoriert werden del zu synchronisieren (Müller-Jentsch/ beiterwähleranteil lag, entschieden sich Ge- können. Das Reservoir aus unorganisierten Ittermann 2000, S. 91). In den 1970er Jah- werkschaftsmitglieder zu 12,8 % und ge- Arbeitern und Gewerkschaftsmitgliedern ren gelang es den Gewerkschaften zwar werkschaftlich organisierte Arbeiter sogar (Arbeiter wie Nicht-Arbeiter), aus dem die trotz einer bereits damals einsetzenden zu 17,9 % öfter an den Wahlurnen für die SPD noch in den 1950er und 1960er Jahren Verschiebung zwischen und innerhalb der SPD. Ein klarer Trend, der nach oben oder schöpfen konnte, hat sich beträchtlich re- Branchen, das Organisationsniveau auszu- unten zeigt, lässt sich aus diesen Daten im duziert. Der Anteil dieser Gruppen an der dehnen, indem sie das gewerbliche Arbei- zeitlichen Verlauf allerdings nicht erken- SPD-Wählerschaft ist zwischen 1953 und terpotenzial verstärkt integrierten. Zu- nen. Etwas anders sieht es bei der Frage heute von über 60 % auf deutlich unter gleich wurden Nicht-Erwerbstätige wie hinsichtlich der Neigung zur SPD aus, also 30 % gesunken (ebd.). Dagegen hat die Be- Rentner und Arbeitslose als Mitglieder auf- der Parteisympathie (ARD/Infratest dimap deutung der Angestellten auf allen Ebenen genommen. Deren Anteil in den DGB-Ge- Wahlbefragung 2005). zugenommen. Sie sind es auch, die eher werkschaften liegt heute bei knapp über Gerade bei den treuesten Stamm- wählen gehen, die am ehesten durch die Bil- 30 %. Angesichts eines sich ändernden Ar- wählern ist hinsichtlich der Parteisympa- der von der „neuen Mitte“ angezogen wur- beitsmarktes war diese Mitgliederpolitik thie ein signifikanter Rückgang festzustel- den und zugleich auch am ehesten bereit defensiv, denn die Anpassung an die verän- len: In einem Zeitraum von 15 Jahren hat sind, die „Seiten zu wechseln“. derte Arbeitsmarktdynamik wurde damit sich die Neigung gewerkschaftlich organi- verfehlt. Während sich die Beschäftigung sierter Arbeiter zur SPD halbiert. Beson- ENTWICKLUNG DER im produzierenden Gewerbe drastisch re- ders brisant fielen die Wahlverluste der SPD-MITGLIEDSCHAFT duzierte (von ca. 56 % im Jahr 1965 auf et- SPD bei der Bundestagswahl 2002 im Ver- wa 25,4 % im Jahr 2007), hat sie sich im gleich zur 1998er Wahl aus. Dieser Trend Für die SPD ist die Stimmenmaximierung Dienstleistungsbereich mehr als verdoppelt setzte sich bei der Bundestagswahl 2005 auf dem Wählermarkt das dominante Ziel. und ist auf ca. 72,4 % angestiegen. Zwar ist fort, bei der die SPD unter den Arbeitern Zugleich wird die eigene Partei und deren auch in den DGB-Gewerkschaften der An- um 5 Prozentpunkte auf 37 % abrutschte, Mitgliederentwicklung als wichtig erach- gestelltenanteil gewachsen, gleichwohl ver- aber auch die CDU verlor 7 Prozentpunk- tet, denn im Gegensatz zur CDU war die lief dieses Wachstum nicht synchron zum te (30 %). Gewinner war die Linkspartei, SPD schon unmittelbar nach dem Krieg realen Anstieg der Angestellten unter den die sich um 7 Prozentpunkte auf 12 % ver- eine ausgeprägte Mitgliederpartei, die mit Beschäftigten. Die gewerkschaftliche Mit- besserte. Bei den gewerkschaftlich organi- über 700.000 Mitgliedern bereits 1946 über gliederstruktur bildet also nicht mehr die sierten Arbeitern sah es ähnlich aus: eine profunde Massenbasis verfügte. Die Sozialstruktur des Arbeitsmarktes und der Während SPD (von 54 % auf 51 %) und niedrigste Mitgliederzahl verzeichnete die Gesellschaft ab. Angesichts des gewerk- CDU (von 26 % auf 21 %) deutliche Ein- SPD bislang im Jahr 1954: Sie rutschte nach schaftlichen Selbstverständnisses, mitten in bußen hinnehmen mussten, stieg der An- dem katastrophalen Bundestagswahlergeb- der Gesellschaft die Interessen der Mehr- teil der gewerkschaftlich organisierten Ar- nis des Jahres 1953 auf 585.479 Mitglieder heit aller Beschäftigten zu vertreten, wird beiterwähler bei der Linkspartei (von 4 % ab. Ihren Mitgliederhöchststand erreich- dieser Sachverhalt zu einem zentralen auf 14 %) deutlich an (ebd.). te sie 1976 mit einer Gesamtzahl von Problem. Der Akzeptanzverlust bei den Arbei- 1.022.191. Zwischen 1967 und 1976 wuchs tern kann nicht nur unter quantitativen die Mitgliederzahl um etwa 300.000 an. Gesichtspunkten diskutiert werden. Denn Seither gab es mit Ausnahme des Eini- WSI Mitteilungen 5/2008 233
gungsjahres 1990 keinen Mitgliederzu- Tabelle 1: Anteile der Arbeiter, Angestellten und Beamten in Gesell- wachs mehr. Zwischen 1976 und 2007 schaft, SPD und DGB – in % – ist die Mitgliederzahl der SPD um etwa 1950 1970 1980 1990 2000 2004* 47 % (= 476.968) gesunken (Niedermeyer Arbeiter Gesellschaft 48,8 47,4 42,3 37,4 33,4 29,9 2007). SPD 45,0 34,5 27,4 26,0 19,3 12,1 Während die Sozialdemokratie den so- DGB 83,2 75,8 68,2 66,6 60,2 52,8 zialstrukturellen Wandel der Bundesrepu- Angestellte Gesellschaft 16,5 29,6 37,2 43,3 48,5 51,2 SPD 17,0 20,6 23,4 26,6 27,8 23,9 blik in ihrer Mitgliederstruktur näherungs- DGB 10,5 14,7 21,0 23,3 28,6 30,8 weise nachvollziehen konnte, sind die Ge- Beamte Gesellschaft 4,1 5,5 8,4 8,5 6,8 6,6 werkschaften bislang nicht in der Lage ge- SPD 5,0 9,9 9,4 10,8 10,7 9,1 wesen, diese Entwicklung in der eigenen DGB 6,3 9,5 10,8 10,1 7,2 7,5 Mitgliedschaft abzubilden (Tabelle 1). Letz- Andere** Gesellschaft 30,6 17,5 12,1 10,8 11,3 12,3 teres zeigt sich besonders zugespitzt im Ver- SPD 33,0 35,0 39,8 36,6 42,2 54,9 hältnis zwischen Arbeitern und Angestell- DGB 0,0 0,0 0,0 0,0 4,0 8,9 * Werte der SPD von 2006. ten. Zwar ist auch in den DGB-Gewerk- ** Hausfrauen, Studenten, Pensionäre, Selbstständige, Sonstige. schaften der Angestelltenanteil gewachsen, Quelle: SPD-Parteivorstand, Berlin 2006; DGB Homepage; bpb Datenreport, Bonn 2006. aber nicht parallel zum realen Anstieg der Angestellten unter den Beschäftigten. Ei- Personalunion wird von beiden Seiten für prägungen bei den einzelnen DGB-Ge- nem Arbeiteranteil von 53 % in den Ge- wichtig gehalten. Dabei werden seitens der werkschaften wie auch für einzelne histori- werkschaften stehen weniger als 15 % in Gewerkschaften auch durchaus aktiv eige- sche Phasen festzustellen sind. der SPD gegenüber. ne Konzepte öffentlich kommuniziert und beworben. Entscheidend ist jedoch, dass ei- 4 ne grundsätzliche Opposition zur SPD und eine Absage an deren Regierungsfähigkeit nicht angestrebt werden, solange erkenn- 5 Verbindungslinien zwischen Optionen im Verhältnis bar ist, dass es sich um eine Politik handelt, SPD und Gewerkschaften zwischen SPD und die im Rahmen bestehender Möglichkeiten Gewerkschaften gewerkschaftliche Interessen berücksich- Es gibt zwei wesentliche Dimensionen, die tigt. sich im Verhältnis zwischen Gewerkschaf- Vor dem Hintergrund der skizzierten sozi- ten und SPD verändert haben: Erstens hat alstrukturellen Veränderungen in der Wäh- (3) Autonome Gewerkschaftspolitik: Diese sich die sozialstrukturelle Basis von Ge- ler- und Mitgliederstruktur von SPD und Option geht davon aus, dass die beiden werkschaften und Sozialdemokratie in den Gewerkschaften werden nun einige syste- großen Parteien – sowohl als „große Koali- letzten Jahren auseinander entwickelt. Und matische Überlegungen angestellt. Das Ver- tion“ in der Regierung wie auch getrennt in zweitens haben sich die jeweiligen Arenen, hältnis zwischen Gewerkschaften und SPD Regierung und Opposition – auf der in- in denen die beiden Akteure agieren (Par- kann unter den Bedingungen sozialdemo- haltlichen Ebene gewissermaßen einen lamentarismus und Tarifautonomie) deut- kratischer Regierungsbeteiligung drei un- monolithischen Block bilden. Angesichts lich gewandelt. Schnittmengen sind schwie- terschiedliche Formen annehmen: unvereinbarer Interessen und Strategien riger herzustellen. Beides müssen aber kei- sowie sich derart „neoliberal“ verhaltender ne Gründe für einen grundlegenden politi- (1) Anpassung bzw. Unterordnung der Ge- sozialdemokratischer Parteien gehen die schen Entfremdungsprozess sein. Denn die werkschaften: Diese Option besagt, dass die Gewerkschaften ihren eigenen Weg bzw. realen Interessenunterschiede können Gewerkschaften auf die Bildung eigener of- versuchen mittels gesellschaftlicher Mobi- durch übereinstimmende Deutungen der fensiver Akzente verzichten. Dies heißt lisierung von der SPD aufgekündigte Posi- Situationen, Handlungsinstrumente, durch nicht automatisch, dass sie sich unkritisch tionen erneut parteipolitisch zu verankern. Strategien des (Aus)Tauschs und der Betei- verhalten. Sie kritisieren die Regierungspo- Deshalb konzentrieren sich die Gewerk- ligung zumindest relativiert werden. Von litik in einzelnen Punkten und praktizieren schaften in diesem Modell auf eine Mobili- besonderer Bedeutung ist in diesem Zu- zugleich auch einen situativen Lobbyis- sierung der Gesellschaft und der Mitglieder sammenhang eine flexible Kooperation der mus. Sie versuchen jedoch nicht, für ihre durch Demonstrationen bis hin zur Grün- jeweiligen Eliten auf der Basis gemeinsa- besonderen Interessen zu mobilisieren, was dung bzw. Unterstützung einer „Linkspar- mer Leitbilder. Und tatsächlich gibt es viel- die Regierungsstabilität gefährden könnte. tei“, um ihre Interessen auch jenseits der fältige inhaltliche und programmatische Diese Variante der Unterordnung kann sich SPD artikulieren bzw. parteipolitisch ver- Gemeinsamkeiten (Schabedoth 2008), die in der Bandbreite vom aktiven Transmissi- ankern zu können. nicht alleine mit einer ähnlichen Herkunft onsriemen in die Gesellschaft bis hin zum und einer gemeinsamen Verantwortung in stillschweigenden Mitspieler bewegen. Bei diesen Optionen handelt sich selbstver- der Gegenwart zu tun haben. ständlich um Idealtypen. In der Realität ist (2) Konfliktpartnerschaft: Die Gewerk- das Verhältnis der Gewerkschaften zur SPD 5.1 PROGRAMMATIK schaften pendeln zwischen Kooperation zwischen diesen Idealtypen angesiedelt, und Konflikt. Einmischung und aktive Be- mit einer leichten Tendenz zur Konflikt- Die Struktur der Einheitsgewerkschaft ver- teiligung der Gewerkschaften bis hin zur partnerschaft, wobei unterschiedliche Aus- bietet eine direkte Option zugunsten der 234 WSI Mitteilungen 5/2008
SPD im Wahlkampf. Gleichwohl besteht änderungen an der „Agenda 2010“ und dazu beitragen, die gewerkschaftlichen Po- auf der Ebene der Grundwerte, der Ziele flankiert durch das neue Hamburger SPD- sitionen einander anzunähern. Auch die und Instrumente eine traditionell enge Be- Grundsatzprogramm (2007), die SPD-Po- jahrzehntelange Gepflogenheit, führende ziehung, die wir durchaus als privilegierte litik auch emotional wieder in die Nähe ge- Gewerkschafter als Minister in Regierun- Partnerschaft bezeichnen können. Im Ge- werkschaftlicher Befindlichkeiten rücken, gen unter SPD-Führung einzubinden (das gensatz zur CDU/CSU spricht die SPD den ohne damit die neue sozialdemokratische Amt des Arbeitsministers) ist eine Form Gewerkschaften in ihren Programmen eine Politik aufzugeben. der Kontaktpolitik. Eine Zäsur bezüglich herausragende Rolle als positiver Faktor dieser Tradition gab es erstmals 2002 – bis gesellschaftlicher Integration und Gestal- 5.2 PERSONELLE VERFLECHTUNGEN heute. tung zu, was im Godesberger (1959), im Inwieweit die gewerkschaftlich organi- Berliner (1989) aber auch im Hamburger Gerade angesichts einer auseinanderfallen- sierten Bundestagsabgeordneten ein Ga- Programm (2007) deutlich herausgestellt den sozialstrukturellen Basis sind die SPD- rant für einen intensiven Austausch zwi- wird. Besonders verbindend ist bisher der und Gewerkschaftseliten besonders gefor- schen SPD und Gewerkschaften sind, ist weitgehende Konsens zwischen SPD und dert, inhaltliche Schnittmengen und ge- schwierig zu beantworten. Denn aus der DGB über die Leistungen und die Leis- meinsame Projekte zu definieren. Gute Sicht der Parlamentarier kann die Mit- tungsfähigkeit des deutschen Modells von Voraussetzungen dafür sind allemal vor- gliedschaft in einer Gewerkschaft sowohl Sozialstaat und industriellen Beziehungen, handen, schon allein aufgrund persönli- normative als auch instrumentelle Gründe vor allem die Anerkennung von Tarifauto- cher und personeller Verflechtungen. Ge- haben. Weder das eine noch das andere sagt nomie und Mitbestimmung als fester Be- werkschafter wählen mehrheitlich SPD; ein allerdings etwas über die Bereitschaft und standteil der SPD-Regierungspolitik. Alles, Teil von ihnen unterstützt sie nach wie vor Fähigkeit aus, gewerkschaftliche Interessen was diesen Konsens erschüttert oder auf- aktiv. Und SPD-Mitglieder sind auch Ge- im politischen Raum zu vertreten. Gleich- zukündigen scheint, wird umso sensibler werkschafter: Etwa ein Drittel aller SPD- wohl hat der hohe Anteil von Gewerk- wahrgenommen, so z. B. das „Schröder- Mitglieder ist gewerkschaftlich organisiert. schaftsmitgliedern bei sozialdemokrati- Blair-Papier 1999“ sowie eine sozialdemo- Quantitativ betrachtet kommt die Majo- schen Bundestagsabgeordneten seitens der kratische Regierungspolitik, die auf Priva- rität der sozialdemokratischen Gewerk- Unternehmerverbände immer wieder zu tisierung, Eigeninitiative und eine Reduk- schaftsmitglieder aus den Verbänden des dem Vorwurf geführt, es handele sich bei tion des Staates im Sinne einer neu akzen- öffentlichen Dienstes. So liegt etwa der der SPD-Bundstagsfraktion um eine „Ge- tuierten Aktivierungsstrategie setzte, nicht ver.di- und der GEW-Anteil unter den ge- werkschafts-Fraktion“ (Schmollinger 1973, zuletzt auch durch die „Rente ab 67“. werkschaftlich organisierten Sozialdemo- S. 229). Tatsächlich aber spielen die ge- Die Agenda 2010 wird seitens der kraten deutlich über ihrem DGB-Anteil, werkschaftlich organisierten Bundestags- Mehrheit der Gewerkschafter als eine an- während die IG Metall in der SPD deutlich abgeordneten weder als Adressat entspre- gebotsorientierte Politik, aber auch als eine unterrepräsentiert ist. Doppelmitglied- chender Zielgruppenarbeit eine wirklich ideologische Entkopplung von den ge- schaften, also SPD-Parlamentarier und Ge- wichtige Rolle noch sind Entscheidungen meinsamen Wurzeln verstanden, womit werkschaftsmitglied zu sein, führen – ge- bekannt, bei denen diese Bundestagsabge- zudem die soziale Symmetrie gefährdet stützt durch klare Rollendefinitionen – ordneten im Konfliktfall und als Block In- werde. Während die Gewerkschaften in nicht zu tief gehenden Konflikten. Im Ge- teressen der Gewerkschaften gegen die Op- ihren Diskursen mit der Sozialdemokratie genteil: Gewerkschaften benötigen einen tionen der Fraktions- und Parteispitze ver- die Bedeutung der Verteilungsgerechtigkeit Zugang zum politischen System. Ebenso folgt hätten. herausstellen, besteht die Mehrheit der kann es für eine sozialdemokratische Partei Und ohnehin: Seit 1990 ist bei allen SPD-Führung darauf, dass dieses Gerech- in Regierung und Parlament, die Konflikte Bundestagsfraktionen mit Ausnahme der tigkeitskonzept relativiert werden müsse mit der Arbeitnehmerschaft und ihren Ge- PDS ein deutlicher Rückgang hinsichtlich und Teilhabe-, Chancen- wie auch Genera- werkschaften nicht bewusst in Kauf neh- des gewerkschaftlichen Organisationsgra- tionengerechtigkeit ebenfalls eine wichtige men will, hilfreich sein, eine Rückbindung des feststellbar. Die jüngere Generation der Rolle spielen sollten. Vor diesem Hinter- an die gewerkschaftliche Funktionselite zu Abgeordneten setzt viel seltener als ihre grund wuchs bei einigen Funktionären der haben. Die Voraussetzungen dafür sind Vorgänger auf das Prinzip überlappender Gewerkschaften die Bereitschaft, sich nicht nach wie vor gegeben: Mit Ausnahme des Mitgliedschaften. Mit der Bundestagswahl nur von der sozialdemokratischen Regie- ver.di Vorsitzenden, der das Parteibuch der 1990 sank der gewerkschaftliche Organisa- rungspraxis zu distanzieren, sondern auch Grünen besitzt, sind alle DGB-Vorsitzen- tionsgrad in der SPD-Fraktion von über eine eigene Partei links von der SPD aufzu- den zugleich auch SPD-Mitglieder. 90 % auf rund 74 %, der der CDU/CSU- bauen. Auch wenn deren Zustandekom- Mit dem 1968 unter Willy Brandt ge- Fraktion von fast 20 % auf 7,5 %. Diese men letztlich von einer Vielzahl von Zufäl- gründeten Gewerkschaftsrat besteht auch Entwicklung hielt auch bei der Bundes- len getragen war, bleibt festzuhalten, dass ein Gremium des regelmäßigen Austauschs tagswahl 2005 an: Der Anteil der gewerk- die handelnden Akteure das „window of zwischen Partei- und Gewerkschaftsspit- schaftlich organisierten Parlamentarier in opportunity“ nutzten, um eine kommuni- zen, das insbesondere in Phasen des Kon- der SPD-Fraktion ging weiter auf mittler- kative Plattform zu schaffen, die eng an den flikts den Charakter einer Clearingstelle weile rund 59 % zurück. Bei der CDU/CSU programmatischen Positionen der beiden annehmen kann. Und da alle Gewerk- liegt er gegenwärtig bei unter 1 %. Aber großen Gewerkschaften IG Metall und schaftsvorsitzenden mit sozialdemokrati- nicht nur die Gewerkschaftsmitgliedschaft ver.di orientiert ist. Erst der SPD-Vorsit- schem Parteibuch an diesen Gesprächen der Parlamentarier ist rückläufig. Auch die zende Beck konnte, unterstützt durch Ver- teilnehmen, kann diese Einrichtung auch emotionale Bindung zu den Gewerkschaf- WSI Mitteilungen 5/2008 235
ten lockert sich. Vor allem bei den jüngeren ziehungen zwischen Gewerkschaften und Für die SPD bedeutet die dauerhafte Abgeordneten gibt es aufgrund fehlender Sozialdemokratie immer noch intensiver Parlamentarisierung der Linkspartei, dass Erfahrungen, anderer Herkunft und Sozia- und umfangreicher als zu jeder anderen sie diese als zusätzliche Option in ihre lisation ein Maß an Entfremdung gegen- Partei. So haben im Jahre 2005 etwa 47 % Machtpolitik einbeziehen muss, um die ei- über den Gewerkschaften wie nie zuvor in der Gewerkschaftsmitglieder SPD gewählt, gene Regierungsfähigkeit in einem Fünf- der Geschichte des bundesdeutschen Parla- 24 % die CDU und 13 % die Linkspar- oder Sechsparteiensystem zu ermöglichen. mentarismus. tei (ARD/Infratest dimap Wahlbefragung Dies heißt jedoch keinesfalls, dass sie damit 2005). Auf zwei wesentlichen Ebenen – strukturell nach links rücken müsste; ihr Mitglieder- und Wählerebene – gibt es viel- könnte – machtpolitisch gesehen – auch be- 6 Fazit und Ausblick fältige Überschneidungen, wenn auch mit abnehmender Tendenz. Die deutlichen Mitglieder- und Wählerverluste der SPD reits der hinzugewonnene Flexibilitätsspiel- raum genügen. Das heißt: Wenn es den Ge- werkschaften nicht gelingen würde, sich in sind Folge ihrer Verluste in ihrem Kern- der Dienstleistungs- und Wissensökonomie Die Beziehungen zwischen SPD und Ge- milieu, bei den Arbeitnehmern, ohne dass (und damit in wichtigen gesellschaftlichen werkschaften haben sich deutlich verän- sie im gleichen Umfang andere Gruppen Zentren bzw. Mitglieder- und Wähler- dert. Sie sind programmatisch und perso- gewinnen oder stärker an sich binden schichten) stärker zu verankern, dann nell weniger eng, komplizierter und emo- konnten. Aber während hinsichtlich der müsste auch die SPD auf gewerkschaftliche tional schwächer geworden. Die Distanz, Wahlentscheidung noch keine dramatische Interessen zunehmend weniger Rücksicht die sich hier zeigt, erklärt sich nicht allein Erosion oder gar Entkopplung zwischen nehmen. Die SPD könnte sich dann in so- aus zyklisch-konjunkturellen Schwankun- SPD und gewerkschaftlich organisierter zialstaatlichen Fragen problemloser mittig gen, wie sie immer schon bestanden haben, Wählerschaft festzustellen ist, hat sich das oder sogar in Richtung liberaler Positionen insbesondere in Abhängigkeit davon, ob inhaltliche Verhältnis geändert. Die SPD zu bewegen. Zugleich würde die SPD infolge sich die SPD in der Opposition oder in wählen, ist bei dieser Wählerschicht zuneh- einer solchen Konstellation in nahezu jeder Regierungsverantwortung befand. Hinzu mend weniger ein Zeichen von emotionaler, Situation, die mittelfristig absehbar ist, eine kommen offensichtliche Prozesse ideologi- organischer Zuneigung, sondern eher Aus- entscheidende Rolle für die Mehrheitsver- scher Entkopplung, insbesondere während druck instrumenteller, rationaler Präferenz. hältnisse im Parlament spielen, wenn sie der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder. Die Gewerkschaften haben ihren Ein- klug und flexibel agiert. Und in den Ge- Die Hauptursache aber ist, dass die Mit- fluss im politischen System bislang ihrer werkschaften könnte als Reaktion auf die glieds- bzw. Wählerschaften von Gewerk- Fähigkeit zuzuschreiben, einen wesentli- flexible Pendelpolitik der SPD sogar die Be- schaften und SPD hinsichtlich ihrer sozial- chen Teil der Arbeitnehmerschaft reprä- wegung in Richtung Linkspartei einen stär- strukturellen Zusammensetzung deutlich sentieren zu können. Gefährdet werden keren Schub erhalten, den es in pointierter auseinanderdriften. könnte dies, wenn die bis heute unzurei- Form zurzeit nicht gibt. Umso wichtiger wird der kommunika- chenden Erfolge in Zukunftsbranchen, bei Von einer neuen Flexibilität der SPD tive, diskursive Austausch als ein wichtiges den neuen Berufen, in den kleinen Betrie- im Fünfparteiensystem können also durch- Verbindungsglied zwischen SPD und Ge- ben – und nicht zu vernachlässigen bei aus Gefahren für die Gewerkschaften aus- werkschaften. Denn ob die Beziehungen Frauen sowie Jugendlichen – andauern. gehen. Die theoretisch denkbare Option zwischen SPD und Gewerkschaften besser Der Einfluss kleiner Spartengewerkschaf- der Gewerkschaften, die privilegierte Part- oder schlechter funktionieren, hängt nicht ten ist zwar bislang noch vergleichsweise nerschaft mit der SPD gegen eine mit der unwesentlich davon ab, wie angesichts vor- gering; es könnte aber sein, dass die von Linkspartei auszutauschen, dürfte real kein handener struktureller und politischer Di- diesen kleinen, homogenen Organisatio- begehbarer Pfad sein: Hiermit zerfiele nicht vergenzen die Spitzen „miteinander kön- nen praktizierte Offensivstrategie Schule nur ihr Status als Einheitsgewerkschaft; un- nen“, ob sie zu gemeinsamen Lagedeutun- macht und damit die großen Gewerkschaf- gleich erschwert wären auch die Vorausset- gen, gegebenenfalls sogar Handlungsorien- ten zusätzlich unter Druck setzt. In diesem zungen, Veränderungen am Arbeitsmarkt tierungen gelangen. Die Chancen dafür Sinne kann auch die abnehmende Veran- und Verschiebungen in den Beschäftigten- stehen nicht schlecht, solange es wie bei kerung der Gewerkschaften bei relevanten strukturen organisationspolitisch abzubil- den heutigen Eliten auf Seiten der Gewerk- Teilen der abhängig Beschäftigten, vor al- den. Wollen die Gewerkschaften die im schaften wie auch der SPD noch einen brei- lem bei den Höherqualifizierten, dazu Gange befindliche Einbettungskrise nicht ten Korridor gemeinsamer Überzeugungen führen, dass ihnen weitere Einflussmög- verschärfen, dann wären sie gut beraten, gibt. Doch dies darf nicht darüber hinweg- lichkeiten versperrt bleiben. Welche Gestal- sich in ihrer Politik an den Veränderungen täuschen: Hinter den Spitzen, also auf den tungsmacht die Gewerkschaften zukünftig des Arbeitsmarktes zu orientieren, ohne mittleren Funktionärsrängen, besteht mitt- haben werden, wird schließlich auch davon ihre kritische und mobilisierungsfähige lerweile vielfach ein Nichtverhältnis. Von abhängen, ob sie mit den Entwicklungen Unabhängigkeit gegenüber dem politi- Grund auf belastbare Strukturen sind am des Arbeitsmarktes auf Augenhöhe blei- schen System zu gefährden. Durch ihre der- ehesten noch in industriellen Zentren mit ben. Gelingt ihnen wieder eine neue Aufge- zeit beobachtbare Politik der inneren Kon- sozialdemokratischer Dominanz vorhan- schlossenheit, dann könnte auch ein Nega- solidierung scheinen sie auf einem guten den. tivszenario zur Zukunft von Gewerkschaf- Weg zu sein, sich gewissermaßen nachho- Festzuhalten bleibt aber auch: Selbst ten und SPD verhindert werden: Denn ob lend mit den veränderten Wirklichkeiten nach dem Parlamentseinzug der Linkspar- in Schwäche vereint oder getrennt – beides zu versöhnen, um so die Voraussetzungen tei, die für „old labour“ steht, sind die Be- wäre keine verlockende Perspektive. für eine neue Einflusspolitik zu schaffen. 236 WSI Mitteilungen 5/2008
LITERATUR Armingeon, K. (1988): Die Entwicklung der westdeutschen Gewerkschaf- Schneider, M. (1994): Darstellung zur Geschichte des Bündnisses von ten 1950–1985, Frankfurt a. M./New York SPD und Gewerkschaften, in: Langkau, J./Matthöfer, H./Schneider, M. Müller-Jentsch, W./Ittermann, P. (2000): Industrielle Beziehungen. Da- (Hrsg.): SPD und Gewerkschaften – Zur Geschichte eines Bündnisses ten, Zeitreihen, Trends 1950–1999, Frankfurt a. M. (Band 1), Bonn, S. 12–74 Piazza, J. (2001): De-linking Labor. Labor Unions and Social Democratic Silvia, S. J. (1992): The Forward Retreat – Labor and Social Democracy in Parties under Globalization. in: Party Politics 4, S.413–435 Germany 1982–1992, in: International Journal of Political Economy 4, Pirker, T. (1960): Die blinde Macht. Die Gewerkschaftsbewegung in S. 36–52 Westdeutschland 1945–1955, 2 Bde., München Wessels, B. (2000): Gruppenbindungen und Wahlverhalten – 50 Jahre Niedermeyer, O. (2007): Parteimitgliedschaften im Jahre 2006, in: Zeit- Wahlen in der Bundesrepublik, in: Klein, M./Jagodzinski, W./Mochmann, schrift für Parlamentsfragen (ZParl) 2, S. 368–375 E./Ohr, D. (Hrsg.): 50 Jahre empirische Wahlforschung in Deutschland, Roth, D. (2003): Das rot-grüne Projekt an der Wahlurne, in: Egle, C./ Wiesbaden, S. 129–158 Ostheim, T./Zohlnhöfer, R. (Hrsg.): Das rot-grüne Projekt, Opladen, Wessels, B. (2007): Organisierte Interessen und Rot-Grün – Temporäre S. 29–52 Beziehungsschwäche oder zunehmende Entkopplung zwischen Verbän- Schabedoth, H. J. (2008): Blick auf die Grundsatzprogramme der Volks- den und Parteien?, in: Egle, C./Zohlnhöfer, R. (Hrsg.): Ende des rot-grü- parteien – Eine gewerkschaftliche Position, in: WSI-Mitteilungen 2, nen Projektes. Eine Bilanz der Regierung Schröder 2002–2005, Wiesba- S. 107–113 den, S. 151–167 Schmollinger, H. W. (1973): Gewerkschafter in der SPD – Eine Fallstudie, in: Jürgen, D./Ebbighausen R. (Hrsg.): Parteiensystem in der Legitima- tionskrise, Opladen, S.229–274 WSI Mitteilungen 5/2008 237
Sie können auch lesen