SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE - LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS - Auflage 2018 - palliative ch

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SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE
LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS

                                             1. Auflage 2018
Einleitung.......................................................................................................................................................................................................4

1. Grundlagen......................................................................................................................................................... 6

2. Religiosität und Spiritualität im Kontext von ­Palliative Care.......................................................................... 8

3. Wahrnehmen, Erkunden und Dokumentieren von spirituellen Aspekten.....................................................11
   3.1 Wahrnehmen................................................................................................................................................................................ 11
   3.2 Erkunden......................................................................................................................................................................................... 11
   3.3 Dokumentieren............................................................................................................................................................................12

4. Gemeinsame Aufgaben und professionsspezifische Rollen...........................................................................14
   4.1 Professionelle Grund­kompetenzen.................................................................................................................................... 14
   4.2 Unterschiedliche Formen von Spiritual Care und professionsspezifische Rollen........................................... 14
   4.3 Interprofessionelle Z
                           ­ usammenarbeit.................................................................................................................................15

5. Ethische Aspekte...............................................................................................................................................16

6. Institutionelle Rahmenbedingungen.............................................................................................................. 17

7. Aus-, Weiter- und Fortbildung..........................................................................................................................18

Anhang.......................................................................................................................................................................................................... 19
I. Unterstützende Instrumente......................................................................................................................................................... 19
II. Literatur....................................................................................................................................................................................................21
III. Mitglieder der Taskforce S                ­ piritual Care......................................................................................................................................23
IV. Autorenschaft.......................................................................................................................................................................................23

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SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS

Einleitung
Am Ursprung der Entwicklung von Palliative Care              fessionelle Handeln einzubeziehen. Die vorliegen-
in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts             den Leitlinien benennen die Rahmenbedingungen,
steht auch die Berücksichtigung der religiösen               ­Voraussetzungen und Grenzen solchen Handelns
und spirituellen Dimension in der Begleitung von              und weisen auf Entwicklungsmöglichkeiten und
Patientinnen und Patienten und ihren An- und                  Modelle interprofessioneller Spiritual Care hin. Sie
Zuge­hörigen. In der Folge wurde diese Dimension              verstehen sich einerseits als Beitrag zur Qualitäts­
von der WHO und nationalen Akteuren in ihre                   sicherung in diesem Bereich, andererseits als An­
­Gesundheits- und Versorgungskonzepte aufgenom-               regung und Ermutigung, Spiritual Care noch kon­
 men. Eine Forschungsgruppe der Welt­gesundheits­             sequenter in die Palliative Care in der Schweiz
 or­ganisation, welche die Rolle von Spiritualität und        einzubeziehen.
 ­Religiosität für die Lebensqualität untersuchte,
  empfahl 2006, diese als Teil der medizinischen Ver-
  sorgung insbesondere bei schwerkranken und
                                                             Adressaten
  ­terminalen Patientinnen und Patienten anzuspre-           Die Leitlinien richten sich in erster Linie an Fach­
   chen, da sie deren Lebensqualität massgeblich             personen, die in unterschiedlichen Bereichen und
   beein­flussen (WHOQOL SRPB Group 2006). Die ge-           Settings der Palliative Care tätig sind. Darüber
   nannten Entwicklungen bilden den Hintergrund              ­hinaus sollen sie auch Hinweise bieten für andere
   und die Grundlage der vorliegenden Leitlinien. Sie         Bereiche der Gesundheitsversorgung sowie für
   verstehen «Spiritual Care» als die interprofessio­         ­institutionelle und politische Verantwortungsträger.
   nelle ­Aufgabe, die spirituelle Dimension in die Ge-
   sundheitsversorgung einzubeziehen. Die beteilig-
   ten ­Professionen tragen in je spezifischer Weise
                                                             Eingrenzung
   zu ­dieser Aufgabe bei. In der Schweiz ist das Praxis-,   Die vorliegenden Leitlinien beschränken sich auf
   Ausbildungs- und Forschungsfeld «inter­professio­         den Bereich interprofessioneller Spiritual Care im
   nel­le Spiritual Care in Palliative Care» in vielerlei    Kontext von Palliative Care. Sie konzentrieren sich
   Hin­sicht in Entwicklung. Für die w  ­ eitere Ausge­      auf die Aufgaben, welche die im Bereich Palliative
staltung bedarf es Leitlinien, die auf dem gegen-            Care tätigen Professionen miteinander verbindet.
   wärtig verfügbaren Wissen aufbauen.                       Wir erachten es als die Aufgabe der in der Palliative
                                                             Care tätigen professionellen Fachgruppen, ihre Zu-
                                                             gänge zu präzisieren und allenfalls weiter­führende
Ziele                                                        Richtlinien für professionsspezifische und speziali-
Die vorliegenden Leitlinien sind vom Anliegen in­            sierte Formen von Spiritual Care auszuar­beiten. Das
spiriert, die Integration von Spiritual Care im              gilt insbesondere für die spezifisch seelsorglichen
schweizerischen Gesundheitswesen und insbeson-               Aufgaben in diesem Feld und die insti­tutionelle Ver-
dere in der Palliative Care zu fördern. Im Kontext           ortung der Profession der Seelsorge im Gesund­
­säkularer Gesundheitsinstitutionen und einer in             heits­wesen.1
 weltanschaulicher und religiöser Hinsicht pluralis­
 tischen Gesellschaft eine solche Integration hohe
 Anforderungen. Die Bedeutung von religiösen und
                                                             Inhalte
 spirituellen Einstellungen für den Umgang mit               Die Leitlinien geben Hinweise und Hilfestellungen
 Krankheitssituationen sowie für Entscheidungen              zu den folgenden Aspekten von Spiritual Care:
 am Lebensende stellt die Palliative Care u.a. vor
                                                             – Spirituelle Ressourcen und Krisen
 die Herausforderung, diese Einstellungen in ange-
                                                             – Wahrnehmung, Erkundung und Dokumentation
 messener Weise zu erfassen und in das interpro­

 4
– Grundhaltung und Kompetenzen                               stellt. Patientinnen und Patienten wird eine ihrer
– Interprofessionelle Zusammenarbeit                         Situation angepasste optimale Lebensqualität
  und ­professionsspezifische Rollen                         bis zum Tode gewährleistet und die nahestehen-
– Ethische Standards                                         den Bezugspersonen werden angemessen unter­
– Institutionelle Rahmenbedingungen                          stützt. Die Palliative Care beugt Leiden und
– Aus-, Fort- und Weiterbildung                              ­Komplikationen vor. Sie schliesst medizinische
                                                              Behandlungen, pflegerische Interventionen so-
                                                              wie psychologische, soziale und spirituelle Unter-
Vorlagen                                                      stützung mit ein.» (S. 8)
Die vorliegenden Leitlinien wurden auf der Basis
                                                         – Spiritual Care wird im folgenden Abschnitt näher
nationaler und internationaler Vorgaben (BAG, WHO),
                                                           bestimmt.
bereits existierender Leitlinien und Konsens­-Doku­
mente sowie der internationalen Spiritual-Care-­
Forschung erarbeitet.

Terminologie2
– Unter Religion wird in diesen Leitlinien eine Ge-
  meinschaft verstanden, welche bestimmte Tra­
  ditionen, Rituale, Texte und Glaubensinhalte teilt
  (Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus,
  Hinduismus u. a. in jeweils unterschiedlichen
  konfessionellen und kulturellen Ausprägungen).
– Religiosität meint über die institutionelle Reli­
  gionszugehörigkeit hinaus den persönlichen
  Glauben und die eigene Form, religiös zu leben.
– Spiritualität wird verstanden als Verbundenheit
  einer Person mit dem, was ihr Leben trägt, inspi-
  riert und integriert, sowie die damit verbunde-
  nen existenziellen3 Überzeugungen, Werthaltun-
  gen, Erfahrungen und Praktiken, die religiöser
  oder nicht-religiöser Art sein können. 4
                                                         1 Vgl. dazu die Leitlinien «Seelsorge als spezialisierte Spiritual Care in Palliative
– R/S bzw. r/s steht im Dokument im Folgenden              Care» (palliative ch 2018).
  als Kürzel für «Religiosität und Spiritualität» bzw.   2 Wir lehnen uns im Folgenden an die Terminologie an, welche die DGPPN ihren
  «religiös und spirituell».                               «Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie
                                                           und Psychotherapie» (2017) zugrunde legte.
– Basierend auf den Nationalen Leitlinien Palliative     3 Der Begriff «existenziell» ist insofern doppeldeutig, als er sich sowohl auf
  Care (BAG 2010) verstehen wir unter Palliative           Fragen der Existenzsicherung als auch auf «existenzielle Fragen» (Wer bin ich?

  Care «die Betreuung und die Behandlung von               Was gibt meinem Leben Sinn? Wie möchte ich leben und sterben?) beziehen
                                                           kann. Wir beziehen uns auf die zweite Bedeutung. In den Empfehlungen der
  Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen             DGPPN (2017) wird sie umschrieben mit «(Grenz-)Erfahrungen, die mit
  ­und/­oder chronisch fortschreitenden Krankhei-          Sinn-Krisen einhergehen».

   ten. Sie wird vorausschauend miteinbezogen,           4 Die European Association for Palliative Care (EAPC) definiert Spiritualität als
                                                           «die dynamische Dimension menschlichen Lebens, die sich darauf bezieht, wie
   ihr Schwerpunkt liegt aber in der Zeit, in der die      Personen (individuell und in Gemeinschaft) Sinn, Bedeutung und Transzendenz
   ­Kuration der Krankheit als nicht mehr möglich          erfahren, ausdrücken und/oder suchen, und wie sie in Verbindung stehen mit
   erachtet wird und kein primäres Ziel mehr dar-          der Gegenwart, sich selbst und anderen, der Natur, dem Bedeutsamen und/
                                                           oder dem Heiligen» (Nolan et al., 2011).

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SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS

1. Grundlagen
In ihrem Verständnis von Spiritual Care orientieren      Der institutionelle und interprofessionelle Auftrag
sich die vorliegenden Leitlinien an den Nationalen       für Spiritual Care ist im Rahmen des Schweizeri-
Leitlinien Palliative Care des Bundesamtes für Ge-       schen Gesundheitswesens in dreifacher Hinsicht
sundheit, die sich ihrerseits auf Vorgaben der WHO       begründet:
stützen. Die Aufgaben der Spiritual Care werden
hier folgendermassen umschrieben:                        Grundrechtliche Perspektive
                                                         Wer in einer Schweizer Gesundheitsinstitution
«Die spirituelle Begleitung leistet einen Beitrag
                                                         ­stationär versorgt wird, geniesst seitens des Rechtes
zur Förderung der subjektiven Lebensqualität und
                                                         einen besonderen Schutz. Aufgrund des be­son­de­ren
zur Wahrung der Personenwürde angesichts von
                                                         Abhängigkeitsverhältnisses sind die betreffenden
Krankheit, Leiden und Tod. Dazu begleitet sie die
                                                         Institutionen und die in ihr tätigen Fachpersonen
Menschen in ihren existenziellen, spirituellen und
                                                         nicht zuletzt dazu verpflichtet, zu ­gewährleisten,
religiösen Bedürfnissen auf der Suche nach Lebens-
                                                         dass das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit
sinn, Lebensdeutung und Lebensvergewisserung
                                                         gewährleistet bleibt (Bundes­verfassung Art. 15). Die
sowie bei der Krisenbewältigung. Sie tut dies in
                                                         Ausübung identitätsbestimmender Formen religiös­-
­einer Art, die auf die Biografie und das persönliche
                                                         spiritueller Praxis muss auch unter den Bedingungen
 Werte- und Glaubenssystem Bezug nimmt. Dies
                                                          des klinischen Alltags oder der Krankheit möglich
 setzt voraus, dass die existenziellen, spirituellen
                                                         bleiben. Das gilt auch für Patientinnen und Patienten,
 und religiösen Bedürfnisse der Beteiligten erfasst
                                                         die keiner Religions­gemeinschaft angehören.
 werden. Interventionen und der Zugang zu adä­
 quaten Angeboten im Bereich der spirituellen Be-
                                                         Palliative Perspektive
 gleitung sind in regelmässigen Abständen im
                                                         Bei vielen Menschen ist R/S identitätsbildend und
 ­interprofessionellen Team zu thematisieren und
                                                         in Krisen und Grenzsituationen in hohem Masse
  die Kontinuität der Begleitung ist zu gewähr­
                                                         bedeutsam. Der Einfluss von r/s Einstellungen auf
  leisten» (BAG 2011:14).
                                                         die Gesundheit und die Lebensqualität, auf den
Spiritual Care ist zu verstehen als der bewusste Ein-    Umgang mit Krankheit und auf therapeutische Ent-
bezug von r/s Aspekten in eine professionelle Pallia­    scheidungsprozesse ist empirisch gut belegt. Als
tive Care. Dazu gehören neben einer palliativen          therapierelevante Faktoren sind r/s Aspekte somit auf
Grundhaltung und spezifischem Fachwissen auch            professionelle Weise in die Kontakte mit Patienten/
erwerbbare, im Folgenden noch näher zu be­               Angehörigen einzubeziehen.
stimmende Handlungskompetenzen, die sich mit
­ge­eigneten Instrumenten und Vorgehensweisen            Professionsethische Perspektive
 ­verbinden. Spiritual Care bedarf einer bewussten       Aufgrund ihrer Berufsethik sind alle Fachpersonen
  Einübung und einer Implementierung, die an             verpflichtet, Patientinnen und Patienten in einer
  ­Qualitätsstandards überprüfbar ist. Ein respekt­      wertschätzenden, der eigenen Grenzen bewussten
   voller Umgang mit r/s Überzeugungen und Prak­         Haltung gegenüber ihren weltanschaulichen und
   tiken erfordert auch einen reflektierten Umgang       r/s Hintergründen zu unterstützen. Es gilt, die
   mit den Grenzen des eigenen Wissens, Verstehens       ­ethischen Prinzipien Autonomie, Fürsorge, Nicht-­
   und Könnens. Die «spirituelle Dimension» mensch-       Schaden und Gerechtigkeit sowie Care-ethische
   lichen Lebens und die mit ihr verbundenen Ein­         ­Aspekte angemessen zu berücksichtigen und in diesem
   stellungen und Erfahrungen entziehen sich in i­hrem     ­Sinne zum Wohl der Patienten tätig zu sein. Für alle
   Kern einer direkten Beeinflussung.                       ­beteiligten Professionen gilt dabei: Gesundheits­fach­
                                                              leute müssen «den Glauben – oder Unglauben –
                                                             i­hrer Patienten nicht (...) teilen, um für deren spi­rituelle

 6
Sensibilität offen zu sein» (Bigorio 2008:2). Insofern
professionelles Handeln und therapeu­tische Ent-
scheidungen im Bereich Palliative Care auch von per­
sönlichen Einstellungen beeinflusst werden, ist es
für die beteiligten Fachpersonen wichtig, ihre Haltung
zu R/S im Allgemeinen und zur R/S der ihnen an­
vertrauten Personen zu reflektieren und ggf. auch
transparent zu machen.

                                                         7
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS

2. Religiosität und Spiritualität im Kontext von
   ­Palliative Care
Religiosität und Spiritualität treten in palliativen    stationären Spitalaufenthaltes braucht es oft Unter­
Kontexten in vielfältigen Formen auf: zum einen als     stützung von aussen, damit diese gemeinschaftliche
handlungsleitende und identitätsbestimmende             Dimension der eigenen R/S aufrechterhalten werden
Einstellungen und Überzeugungen; zum anderen            kann. Einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen
in Gestalt von Erfahrungen, die tröstlich, aber auch    in diesem Zusammenhang Angehörige r/s Minder-
belastend sein können. Eine professionelle Unter-       heiten, die selbst nicht im interprofessionellen Team
stützung kann in diesem Zusammenhang in ver­            vertreten sind.
schie­dener Hinsicht wichtig sein: um r/s Ressourcen
neu oder vertieft zugänglich zu machen; um be-          R/S bei Entscheidungen am Lebensende
stimmte Praktiken in einer neuen Umgebung voll-         ­einbeziehen
ziehen zu können; um r/s Krisen zu lindern u.a.m.        In palliativen Situationen stehen Patientinnen und
Die folgende Aufzählung konzentriert sich auf            Patienten gemeinsam mit ihren An- und Zugehörigen
­Aspekte, die sich in palliativen Situationen regel-    häufig vor schwerwiegenden Entscheidungen, die
 mässig zeigen.                                          emotional stark belastend sein können. Nicht selten
                                                        geht es dabei um ein Abwägen zwischen verschie-
R/S als lebensbestimmende Dimension                      denen Gütern (etwa zwischen lebenserhaltenden
­berück­sichtigen                                        Massnahmen und Bewahrung der subjektiven
 R/S Einstellungen, Überzeugungen und Praktiken          ­Lebensqualität) und um die Klärung von Werthori-
 sind als etwas zu würdigen, was das Leben von            zonten und Einstellungen. Über das Vermitteln
 zahlreichen Patientinnen und Patienten bestimmt          ­aller medizinisch relevanten Informationen hinaus
 und ihnen auch in der gegenwärtigen Situation             ­haben die an der Palliative Care beteiligten Fach­
 wichtig ist. Aufgrund der besonderen Vulnerabilität        personen die Aufgabe, die betroffenen Personen früh-
 und der Abhängigkeit in Betreuungsverhältnissen            zeitig auf anstehende Entscheidungen vor­zu­be­rei­ten
 ist seitens der professionellen Begleitpersonen eine       und sie in diesen Entscheidungsprozessen zu unter-
 respektvoll-unterstützende Haltung gegenüber               stützen. Insofern R/S bei vielen Patientinnen und
 r/s Einstellungen, Überzeugungen und Praktiken             Patienten identitätsbestimmend und handlungs­
 bedeutsam. Ebenso ist es zu respektieren, wenn             leitend sind, sollten sie in diesem Zusammenhang
 ­Patientinnen und Patienten keinen B  ­ ezug zu R/S        durch die professionellen Begleitpersonen aus-
  haben.                                                    drücklich angesprochen und einbezogen werden.
                                                            Das kann z.B. in Form von offenen Fragen im Rah-
Gemeinschaftliche Einbettung wahrnehmen                     men einer allgemeinen Wertanamnese geschehen
Auch wenn R/S in säkular geprägten Gesellschaften           (SAMW 2013, 66).
tendenziell der Privatsphäre zugeordnet wird,
­spielen r/s Gemeinschaften nach wie vor eine be-       Ressourcen stärken und spirituelle Belastungen
 deutende Rolle. Sich in Krankheits- und Sterbe­        ­validieren
 situationen gemeinschaftlich eingebettet zu er­         R/S Einstellungen und Überzeugungen sowie die
 fahren, bedeutet für viele Patientinnen/Patienten       mit ihnen verbundenen Praxisformen und Rituale
 und Angehörige einen grossen Trost. Viele r/s           können im Umgang mit Krankheit und Todesnähe
 ­Rituale machen erfahrbar, dass Menschen auch in        wichtige Ressourcen darstellen. Nach lebensge-
  Grenzsituationen begleitet sind und dass eine          schichtlichen Umbrüchen, in fremden Umgebungen
  ­würdevolle Gestaltung des Lebens bis zum letzten      und bei starken psychischen, sozialen und physischen
   Atemzug möglich ist. Unter den Bedingungen eines      Belastungen fällt es allerdings oft schwer, solche

 8
Ressourcen zu aktivieren. Hinzu kommt, dass die              seelisch-spirituellem Erleben bei Phänomenen wie
Konfrontation mit schwerer Krankheit und Tod dazu            Nausea und Delir.
führen kann, dass bisher tragende Orientierungen
einbrechen und r/s Überzeugungen hinterfragt                 Auf kritische Momente und spirituelle Aspekte
werden.5 Zudem ist es, bedingt durch Krankheit und/­         von Sterbeverläufen achten
oder Hospitalisierung, manchmal nicht mehr                   Um Menschen auf ihrem individuellen Weg des
­möglich, gewisse haltgebende Ri­tuale und Praktiken         Sterbens auch in spiritueller Hinsicht unterstützen
auszuüben.                                                   zu können, braucht es nicht zuletzt ein empirisch
                                                             fundiertes Grundwissen über krankheitstypische
Nicht selten berichten r/s Patienten/Patientinnen
                                                             Sterbeverläufe und spezifische Phänomene. Nach
in diesem Zusammenhang von spirituellen Nöten,
                                                             einer Studie von Scott A Murray gibt es bei ter­mi­
die sich in Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Leere,
                                                             nalen Erkrankungen für die psychosoziale und
Gefühllosigkeit und existenzieller Verunsicherung
                                                             ­spirituelle Unterstützung von Patientinnen und
manifestieren. Der Guide des soins palliatifs du
                                                              ­Patienten sowie ihren An- und Zugehörigen vier
­médecin vaudois beschreibt die Extremform einer
                                                               ­besonders kritische Momente: die Diagnosemittei-
 «spirituellen Not» als «eine Krise im Sinne einer
                                                                lung; die Übergänge zwischen Spital und Zuhause;
 plötzlichen Veränderung, die unter anderem durch
                                                                die Mitteilung, dass die Möglichkeiten der kurati-
 den Zusammenbruch der spirituellen Identität
                                                                ven Medizin ausgeschöpft sind; die Terminalphase.
 ­charakterisiert ist. Sie stellt die Werte und die Trans­
                                                                Wenn diese Phasen sehr schnell aufeinanderfolgen
  zendenz, wie sie bis dahin erfahren wurden, in
                                                                und ineinander übergehen oder wenn Betroffene
  ­Frage und unterbricht jegliche Suche nach einem
                                                                und Angehörige in ihrer Wahrnehmung und ihren
   Lebenssinn. Sie stellt auch den Wert in Frage, den
                                                                Zielen an unterschiedlichen Punkten stehen (An­
   der Patient seiner eigenen Würde zuschreibt.»6
                                                                gehörige wollen Patienten nicht gehen lassen,
Spirituelle Krisen als solche wahrzunehmen und                  ­setzen ihn unter Druck zu kämpfen etc.), sind die
zu validieren, ist allein schon deshalb eine zentrale            spirituellen, psychologischen und meist auch
Form von Spiritual Care, als mit solchen Krisen oft              ­so­zialen Belastungen besonders hoch. Das Leiden
eine Angst vor Unverständnis und Pathologisierung                 zeigt sich dann häufig auch in körperlichen, meist
einhergeht. Seitens der beteiligten Fachpersonen                  schwer zu behandelnden Symptomen.
bedarf es einer sorgfältigen Unterscheidung zwischen
spirituellen Krisen und pathologischen Phänomen,             Spirituelle Erlebnisse und symbolische
die einer Behandlung bedürfen (Depres­sion, psycho­          ­Kommunikation am Lebensende validieren
ti­sches Erleben, religiöser Wahn etc.).                      Klinische Erfahrung und empirische Forschung
                                                              ­weisen darauf hin, dass Menschen in Todesnähe
Spirituelle Dimensionen von Krankheits­                        häufig in innere Erlebniswelten eintauchen und
symptomen im palliativen Kontext                               sich auf symbolische Weise mitteilen.7 Diese Er­
Spiritualität als integrierender Bestandteil des Men-          lebnisse haben oft einen tröstlichen Charakter und
schen ist ebenso eine Dimension von Krank­heits­               stellen für die Betroffenen eine Ressource dar.
symptomen. Es geht deshalb bei der palliativen Ver-            Die erlebten Motive entsprechen jenen, die teilweise
sorgung darum, die spirituelle Dimension in der                auch symbolisch kommuniziert werden: Sie be­
Symptomatik und Diagnostik wie auch im therapeu-               treffen Vorahnungen, das Herstellen von Ordnung,
tischen und begleitenden Prozess angemessen zu
berücksichtigen. Dazu gehört beispielsweise das von          5 Im DSM-4 wurde bereits 1994 die Diagnose «religiöses oder spirituelles
Cicely Saunders beobachtete Phänomen der spiri-                ­Problem» (V 62.89) eingeführt.

tual pain (als Aspekt von total pain), das die Schmerz­      6 La spiritualité en soins palliatifs, Guide des soins palliatifs du médecin vaudois,

behandlung entscheidend beeinflusst, oder die                  5/2008, 5.

Wechselwirkungen zwischen körperlichem und                   7 Vgl. Peng-Keller 2017a,b. In einer jüngeren Befragung von Hospizpatienten
                                                               berichteten 88,1 % von visionärem Traum- und Wacherleben, vgl. Kerr 2014.

                                                                                                                                              9
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS

Vorbereitungen für eine «Reise», Verbindung mit
Verstorbenen und die Gestaltung des Abschieds.
Für Angehörige und professionelle Begleiter sind
die diesbezüglichen Mitteilungen manchmal
schwer verständlich und irritierend. Auch wenn
die Abgrenzung zu deliranten Zuständen bisweilen
schwerfällt, ist davon auszugehen, dass die betref-
fenden Erlebnisse für die Betroffenen selbst in
­hohem Masse bedeutungsvoll sind und als solche
 ­gewürdigt werden sollten. Ein wertschätzend-­
  validierender Umgang kann sich in einer Bestätigung
des Ausgedrückten und Wahrgenommenen sowie
in einem behutsamen Nachfragen zeigen. Inter­­
  preta­tionen des Erlebten werden dann, wenn sie von
  den Betroffenen nicht ausdrücklich erwünscht
  werden, erfahrungsgemäss eher als störend empfun-
  den.

 10
3. Wahrnehmen, Erkunden und Dokumentieren von
   spirituellen Aspekten
Um r/s Überzeugungen und Wünsche aktiv in die           3.2 Erkunden
Palliative Care einzubeziehen und Entscheidungen
                                                        Um spirituelle Bedürfnisse und Ressourcen in sen-
treffen zu können, bieten sich für die verantwort­
                                                        sibler Weise erkunden zu können, bedarf es vertrau-
lichen Fachpersonen zwei unterschiedliche, sich
                                                        ensbildender Kommunikationsformen und eines
­ergänzende Wege an: die achtsame Wahrnehmung
                                                        sicheren Rahmens. Ein schrittweises Vorgehen, das
 und der Weg des direkten Ansprechens und Er­
                                                        Patientinnen und Patienten auf diskrete Weise Mög-
 fragens.8 Beide Formen bedürfen einer offenen und
                                                        lichkeiten zur Selbstmitteilung eröffnet, dürfte in
respektvollen Grundhaltung, der bewussten Ein-
                                                        der Regel der beste Weg sein. Die Eröffnung eines
übung und einer Implementierung in der betreffen-
                                                        solchen Prozesses kann entweder durch standardi-
den Institution/Organisation, wozu auch die Klä-
                                                        sierte Screeningfragen10 oder – noch niederschwel-
rung spezifischer Verantwortlichkeiten gehört. Für
                                                        liger – durch offene Fragen geschehen, die sich ent-
 die interprofessionelle Zusammenarbeit ist es ent-
                                                        weder auf klinische Alltagssituationen beziehen
 scheidend, sich im Betreuungsteam über passende
                                                        («Wie fühlen Sie sich heute?» oder «Wo stehen Sie
 Formen der Wahrnehmung/Erhebung von r/s Be-
                                                        heute?»), auf die Versorgungsplanung («Was muss
 dürfnissen und die damit verbundenen Aufgaben
                                                        ich von Ihnen wissen, damit ich sie gut behandeln
 und Vorgehensweisen zu verständigen.
                                                        und begleiten kann?»), auf kritische Ereignisse wie
                                                        dem Erhalt eines schlechten Befunds («Was ist Ihre
3.1 Wahrnehmen                                          Hoffnung?» oder «Worauf hoffen Sie?») oder auf
                                                        spirituelle Ressourcen («Gibt es im Moment Dinge,
Grundlegend für alle Formen von Spiritual Care ist
                                                        die Ihrem Leben/Ihrer jetzigen Situation besonderen
die Fähigkeit, in allen Formen der Begegnung und
                                                        Sinn oder Bedeutung geben?»11 – «Würden Sie sich
der Kommunikation mit Patientinnen/Patienten
                                                        im weitesten Sinne des Wortes als gläubigen Men-
und ihren Angehörigen auch auf spirituelle Aspekte
                                                        schen bezeichnen?»; Borasio 2011, 92). Bleiben die
zu achten. Dazu gehört auch ein systemischer Blick
                                                        Antworten vage, kann es weiterführend sein, die
auf Beziehungskonstellationen und die (Nicht-)Ein-
                                                        Sinnfrage ausdrücklich zu stellen: «Was gibt ihnen
bettung in r/s Gemeinschaften. Spirituelle Ressour-
                                                        Kraft?»; «Gibt es etwas, das ihrem Leben einen Sinn
cen und Nöte werden nicht selten in indirekter und
                                                        gibt?» Ergibt sich aus solchen Fragen die Offenheit
beiläufiger Form zur Sprache gebracht.9 So können
                                                        für ein vertieftes Gespräch, so kann für dieses eine
z.B. Aussagen wie «Das hat doch alles keinen Sinn!»
oder «Ich glaube, ich stehe auf dem Abstellgleis» als
                                                        8 Vgl. McSherry/Ross 2002 und 2010 sowie das von Pilgram-Frühauf/Schmid
Ausdruck für eine spirituelle Not wahrgenommen            2018 vorgestellte Neumünster Assessment für Spiritual Care im Alter (NASCA)
werden, während ein Rosenkranz oder ein Mandala
                                                        9 So betont auch Borasio 2011, 95: «Es sind oft beiläufige Andeutungen, Halb­
auf einem Nachttisch einen Hinweis auf r/s Ressour-       sätze oder Traumerzählungen, die über die spirituellen Nöte und Bedürfnisse
cen geben kann. Ein Sinn für die Vielschichtigkeit        eines Patienten am besten Auskunft geben, und es ist auch keineswegs immer
                                                          ein und dieselbe Person, an die sich diese Mitteilungen richten. Erst in der
sprachlicher und nonverbaler Kommunikation und            Gesamtschau ergeben sich mehr oder minder versteckten Hinweise plötzlich
deren spiritueller Dimensionen ist auch die Voraus-       einen Sinn. Die Wahrnehmung dieser Signale ist Aufgabe aller Mitarbeiter

setzung dafür, symbolische Formen der Kommunika-          im Palliativteam.»

tion zu verstehen. Um die Wahrnehmungskom­              10 In palliativen Kontexten bereits verbreitet sind Belastungsthermometer, in
                                                           denen Patienten auch auf ihre r/s Belastungen angefragt werden. Die derzeit
petenz für spirituelle Aspekte zu fördern, bedarf es       gebräuchlichen Instrumente zur Einschätzung der «Spiritualität» konzentrieren
sowohl ­einer gezielten Ausbildung als auch spezi-         sich auf spezifische religiöse Faktoren (Glaubensverlust, Glaubensgemeinschaft).

fischer Wahrnehmungs- und Erinnerungshilfen und            Da es viele weitere Formen spiritueller Belastungen wie z.B. Sinnkrisen gibt, sind
                                                           diese Instrumente weiterzuentwickeln.
deren Implementation in den klinischen Alltag.
                                                        11 Chochinov 2017, 50 (leicht angepasst).

                                                                                                                                         11
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS

Orientierung an bewährten Assessmentinstrumenten         2. Wahrnehmungsinstrumente und Assessment-
hilfreich sein (HOPE, SPIR u.a., vgl. Anhang). Zur Ex-      verfahren bedürfen einer kontextspezifischen
ploration gehört schliesslich wesentlich, Patientinnen      Entwicklung und Implementierung. Inwiefern
und Patienten auf seelsorgliche Angebote und an-            die in den USA entwickelten Instrumente für
dere verfügbare Formen spiritueller Unterstützung           hiesige Kontexte praktikabel sind, bedarf einer
aufmerksam zu machen.                                       ähnlichen Überprüfung, wie sie McSherry und
                                                            Ross (2010) für das britische Gesundheitswesen
Eine Erkundung spiritueller Bedürfnisse kann auch
                                                            geleistet haben.
eingebettet sein in eine Wertanamnese, wie sie u.a.
im Rahmen eines Advance Care Planning erhoben            3. Die Fähigkeit, ein spirituelles Assessment in e­ iner
wird. Diese baut auf Fragen auf wie: «Bitte sagen Sie       für Patientinnen und Patienten einfühl­samen
mir, was für Sie im Leben wichtige Werte sind und           Weise durchzuführen, darf nicht einfach voraus-
was für Sie in einer Phase des nahenden Todes be-           gesetzt werden, sondern bedarf einer sorgfälti-
sonders wichtig sein könnte» (SAMW 2013, 66).               gen und möglichst interprofessionellen Einübung
                                                            im Rahmen von Aus- und Weiterbildungsange-
Um mit unaufdringlichen Fragen spirituelle Belas-
                                                            boten.
tungen erfassen zu können, bedarf es der Fähigkeit,
zwischen unterschiedlichen Belastungsformen              4. «Da R/S kulturell geprägt ist, sollten die indivi­
zu unterscheiden und diese so weit als möglich mit          duel­len Gesundheits- und Krankheitskonzepte in
Bezug auf die jeweilige r/s Selbstdeutung anzu-             einer kultur- und religionssensiblen Weise erfragt
sprechen und zu verstehen. Nach dem Verständnis             werden. Dazu gehört die Fähigkeit (…) zum Pers-
vieler r/s Traditionen kann das, was aus psycholo­          pektivenwechsel» (DGPPN 2017). Da kultur- und
gischer oder medizinischer Sicht als Belastung              sprachgebundene Missverständnisse im Rahmen
­erscheint, als Teil eines spirituellen Reifeprozesses      interkultureller Kommunikation kaum vermie-
 gedeutet werden.                                           den werden können, bedarf es auch einer Sensi-
                                                            bilität für die Grenzen des Verstehens und eines
Im Hinblick auf ausführlichere und strukturierte
                                                            respektvollen Umgangs mit Unverständlichem.
Formen eines spirituellen Assessments gilt es zu
bedenken: «Das Wort  kommt von
 und nicht von ! Es beschreibt etwas, was wir mit
                                                         Interprofessionelle Spiritual Care erfordert eine
­jemandem tun, und nicht etwas, was wir ihm/ihr
                                                         ­intensive Kommunikation, welche auch die medizi-
 ­antun» (NIHME 2008). Inwiefern sich formalisierte
                                                          nische Dokumentation als wichtiges Mittel ein-
  Assessmentinstrumente für einen spezifischen
                                                          schliesst.
  Kontext eignen, ist im Einzelnen zu überprüfen.
  Aufgrund der bisher in unterschiedlichen kultu­        Anforderung an die Dokumentation von R/S:
  rellen Kontexten gesammelten Erfahrungen sind
                                                         – sie ist Teil des allen Mitgliedern des Behand-
  für formelle und informelle Assessments folgende
                                                           lungsteams zugänglichen Dokumentations­
  Aspekte zu beachten:
                                                           systems;
1. Das Ansprechen von R/S bedeutet im klinischen
                                                         – alle beteiligten Berufsgruppen sind aufgefordert,
   Kontext eine Intervention, die Türen öffnen, aber
                                                           Beobachtungen und Vereinbarungen zu R/S zu
   auch verschliessen kann. Die Gestaltung einer
                                                           dokumentieren, sofern sie für die Behandlung
   solchen Intervention und des weiteren Prozesses
                                                           relevant sind;
   muss vorgängig geklärt werden (z.B. Angebote
   für weitere Begleitung, um ein Versorgungskonti-      – die besonderen und kontextspezifischen profes-
   nuum gewährleisten zu können).                          sionellen Rahmenbedingungen bzgl. der Möglich­
                                                           keit und Grenzen seelsorglicher Kommunikation

 12
müssen berücksichtigt werden (Stichwort: Seel-
  sorgegeheimnis);
– zentrale Komponenten der Dokumentation sind:
  a) Wer ist involviert (oder sollte involviert werden)?
  b) Welche Beobachtungen sind für den inter­
     professionellen Austausch wichtig und sollten
     in die weitere Planung einbezogen werden?
  c) Welche für die Planung oder den Krisenfall
     wichtigen Vereinbarungen wurden getroffen?

                                                           13
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS

4. Gemeinsame Aufgaben und professionsspezifische
   Rollen
4.1 Professionelle Grund­                              4.2 Unterschiedliche Formen von
    kompetenzen                                            Spiritual Care und professions­
Um die spirituelle Dimension in der beschriebenen
                                                           spezifische Rollen
Weise in die Palliative Care einzubeziehen, bedarf     Die spirituelle Dimension der Gesundheitsversor-
es folgender Grundkompetenzen:                         gung betrifft alle an Palliative Care beteiligten Fach-
                                                       personen. In Entsprechung zu ihrem je besonderen
– Kognitive Kompetenzen: Wissen bzgl. r/s Traditi-
                                                       Beitrag zur gemeinsamen Aufgabe, alle therapie- und
  onen/Gemeinschaften, Praktiken/Rituale und
                                                       entscheidungsrelevanten Faktoren einzubeziehen
  Gesundheits- und Krankheitskonzepte. Kennt-
                                                       und grundlegende Persönlichkeitsrechte in klinischen
  nisse über Spezifika des Arbeitens mit r/s Men-
                                                       Kontexten zu gewährleisten, sind je eigene, profes-
  schen und Einfluss von r/s Faktoren auf Gesund-
                                                       sionsspezifische Formen von Spiritual Care als Teil-
  heit und Krankheit, die dazu befähigen, R/S als
                                                       aspekt oder Kerndimension der eigenen Berufsrolle
  Ressource und/oder Belastungsfaktor für Patien-
                                                       zu betrachten. Ausgehend von den professionsspezi-
  tinnen und Patienten zu erkennen und in die
                                                       fischen Rollen lassen sich zwei aufeinander aufbau-
  ­Behandlungsstrategie einzubinden; Wissen um
                                                       ende Bereiche interprofessioneller Spiritual Care
   Ressourcen in der Institution und/oder in der
                                                       unterschieden:
   Umgebung.
                                                       – Zum einen geht es um jene Formen von Spiritual
– Kommunikative Kompetenzen: Registrieren von
                                                         Care, die als Komponente gesundheitsberuflicher
  Faszination, Irritation, Befremden, Ablehnung;
                                                         Aufgaben wahrgenommen werden (z.B. Einbe-
  Vermitteln von Wohlwollen, Respekt, Offenheit,
                                                         zug der spirituellen Dimension in Pflegehandlun-
  Toleranz.
                                                         gen, Diagnosestellung, Therapiediskussionen
– Selbstreflexion und Selbstwahrnehmung: Wahr-           oder Rundtischgesprächen).
  nehmung von sich selbst als r/s bzw. weltan-
                                                       – Zum anderen geht es in spezialisierten Formen
  schaulich geprägter Mensch; Reflexion über die
                                                         von Spiritual Care, wie sie insbesondere die Seel-
  eigene Sozialisation und Ausbildung im Hinblick
                                                         sorge wahrnimmt, um Vollzüge, die einer be­
  auf R/S; Kompetenz, eigene (r/s) Grenzen zu er-
                                                         sonderen Ausbildung und eines spezifischen
  kennen, zu akzeptieren und Hilfe anzunehmen.
                                                         Auftrags bedürfen. Dazu gehören die oft zeit­
Zu den Kompetenzen, die für eine professionelle          intensive Unterstützung von Patientinnen und
Spiritual Care einzufordern und zu vermitteln sind,      ­Patienten mit komplexen r/s Nöten und Be­
gehört auch die Einsicht um die Grenze von lösungs-       dürfnissen, Begleitung in akuten Krisen sowie
und kompetenzorientierten Handlungsmodellen.              reli­gionsspezifische Praktiken und Rituale.
Bei spirituellen Fragestellungen haben die beteilig-
                                                       Der Spitalseelsorge kommt zudem die Aufgabe zu,
ten Fachpersonen selten «Lösungen» anzubieten,
                                                       die interprofessionelle Verständigung und Zusam-
was dem sonstigen Vorgehen in klinischen Kontex-
                                                       menarbeit im Betreuungsteam im Bereich Spiritual
ten zuwiderläuft. Die Kunst, unvoreingenommen
                                                       Care zu moderieren und die diesbezüglichen An­
zuzuhören und aufmerksam zu verweilen, gehört
                                                       gebote innerhalb und ausserhalb der Institution zu
deshalb zu den bedeutsamsten «Kompetenzen»
                                                       vernetzen.
für Spiritual Care.

 14
4.3 Interprofessionelle
    ­Zusammenarbeit
Gemäss den bereits zitierten Nationalen Leitlinien
Palliative Care sind zum einen «Interventionen und
der Zugang zu adäquaten Angeboten im Bereich
der spirituellen Begleitung (…) in regelmässigen Ab-
ständen im interprofessionellen Team zu thema­
tisieren». Zum anderen ist «die Kontinuität der Be-
gleitung (…) zu gewährleisten». (BAG S. 14) Das lässt
sich weiter spezifizieren:
– Um konsequent in die Palliative Care einbezogen
  werden zu können, muss die Frage nach der
  ­spirituellen Dimension regulär in interdiszipli­näre
   Rapporte und Fallbesprechungen einbe­zogen
   werden. Das betrifft insbesondere auch das Sym-
   ptommanagement (total pain/spiritual pain;
   spirituelle Aspekte von Angst- und Erschöpfungs-
   zuständen etc., vgl. Abschn. 2). Da die Wahrneh-
   mung und Thematisierung r/s A    ­ spekte bislang
   nicht Teil der gesundheitsberuflichen Ausbildung
  war, bedarf es neben Weiterbildungsangeboten
  auch einer vorgängigen Verständigung über die
   professionsspezifischen Rollen, passende Sprach-
   formen und institutionelle Abläufe. Aufgrund
   ihrer moderierenden Rolle kommt der Seelsorge
   für eine solche Implementierung eine Schlüssel-
   rolle zu.
– Zur Planung von kontinuierlichen Begleitan­
  geboten bedarf es zum einen einer Klärung der
  ­unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und
   zeitlichen Verfügbarkeiten, zum anderen einer
   grundsätzlichen Transparenz bzgl. der eigenen
   Überzeugungen. Insbesondere ist zu klären,
   wer für die diesbezügliche Triage zuständig ist
   und wer welche Angebote machen kann und
   soll.
– Klärung des Umgangs mit Berufsgeheimnissen
  (intern und extern).

                                                          15
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS

5. Ethische Aspekte
Die in der Palliative Care tätigen Fachpersonen sind      gepasster Weise transparent zu machen (gegen-
durch «ihre Berufsethik verpflichtet, innerhalb des       über Patienten, Kollegen und beauftragenden
Methodenspektrums ihrer Profession tätig zu sein»         Institutionen)
(DGPPN 2017). Auf der Grundlage der jeweiligen
                                                        – Der vertrauliche Umgang mit Personendaten ist
Professionsethiken sind die folgenden Aspekte be-
                                                          zu gewährleisten.
sonders zu betonen:
Personenzentrierung und Respekt vor weltanschau-
licher und kultureller Pluralität
Eine r/s-Begleitung hat die besondere Vulnerabilität
von palliativen Patientinnen/Patienten und ihrer
An- und Zugehörigen zu beachten. Dazu gehört nicht
zuletzt ein sensibler Umgang mit kultureller, spiri-
tueller, religiöser und weltanschaulicher Diversität.
Beispiele sind u.a.:
– Gestaltung der Beziehung, welche die Besonder-
  heit und Integrität jedes Individuums achtet
  durch:
      – Unterlassen jeglicher Formen von weltan-
        schaulicher Indoktrination
      – Respekt gegenüber anderen/fremden r/s
        ­Vorstellungen und Praktiken
      – Hohe Sensibilität für kulturspezifische und
        r/s Umgangsformen und Grenzen im Bereich
        von Sexualität und Körperlichkeit
– Beachtung der Vulnerabilität bei Migration
  und Verlassen oder Wechsel einer Religionsge-
  meinschaft in einem subkulturellen Kontext
– Beachtung möglicher (auch religiöser) Vorbe­
  halte von Patientinnen und Patienten gegenüber
  der angebotenen psychosozialen und spirituel-
  len Versorgung
– Beachtung der religionsspezifischen Vorgaben
  bezüglich ritueller Vollzüge.
– «Die Akzeptanz von r/s-Überzeugungen bei Pati-
  enten findet dort ihre Grenzen, wo Selbst- und
  Fremdgefährdung vorliegen» (DGPPN 2017).
– Eigene handlungsleitende Werte und religiöse
  Einstellungen sind bei Bedarf und in situativ an-

 16
6. Institutionelle Rahmenbedingungen
Spiritual Care kann nur dann interprofessionell
­verantwortet werden, wenn dafür seitens der
 ­jeweiligen Institution entsprechende Rahmenbe-
  dingungen geschaffen werden. Dazu gehören
  die folgenden Instrumente:
– Profil, Angebot, Anbieter von Spiri­tual Care wie
  auch die damit verbundenen Aufgaben werden in
  die Versorgungs-Konzepte der Institution einbe-
  zogen und sind Teil des Qualitätsmanagements.
– R/s Aspekte werden in einem Dokumentations-
  system der Institution erfasst, zu dem alle betei-
  ligten Professionen Zugang haben.
– Seelsorgliche und gesundheitsberufliche Spiri­tual
  Care wird als Angebot in den Kommunika­tions­
  mitteln gegenüber Patientinnen/Patienten und
  Angehörigen in allgemein verständlicher Form
  benannt.
– Geeignete Räumlichkeiten sowie Infrastruktur
  für spirituelle und religiöse Vollzüge sind vor-
  handen.
– Die spirituelle Dimension wird in den Foren der
  interprofessionellen Zusammenarbeit und bei
  Fallbesprechungen integriert.
– Interprofessionelle Austauschgefässe (wie z.B.
  Intervision und Fallbesprechungen) sowie
  Weiter­bildung und Supervision im Bereich Spiri-
  tual Care werden unterstützt und gefördert.

                                                       17
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS

7. Aus-, Weiter- und Fortbildung
Mit Blick auf die im Abschnitt 4 genannten Kom­        Spiritual Care im Kontext von Palliative Care in
petenzen sollen Aus-, Weiter- und Fortbildungsan­      möglichst ausgewogener Weise vermitteln.
ge­bote zu Spiritual Care sowohl die professions­
spezifische Bedürfnisse, Voraussetzungen und           Formative Bildungsdimension
Rollenprofile als auch die interprofessionellen Auf-   Die zweite Ebene umfasst insbesondere die per­
gaben in ausgewogener Weise berücksichtigen.           sönliche Aneignung einer professionellen Identität
Zur Entwicklung und Verinnerlichung praktischer        und eines professionsspezifischen Ethos. Betont
Kompetenzen in interprofessioneller Spiritual Care     wird in diesem Zusammenhang die Bedeutung von
braucht es praxisnahe, auf die Bedürfnisse spezi­      interprofessionell gestalteten Lernprozessen, in
fischer Berufsgruppen abgestimmte und zugleich         der sich sowohl die professionsspezifische Rolle als
interprofessionelle Angebote sowie den Einbezug        auch die Fähigkeit der gegenseitigen Verständi-
von erfahrenen Fachpersonen. Es sollen rollenba-       gung und Wertschätzung ausprägen kann. Dazu ist
sierte Lernprozesse ermöglicht und supervisorisch      auch die Ausbildung einer Form der (spirituellen)
be­gleitet werden. Ebenso sollten die entsprechen-     Self-Care zu rechnen.
den Ausbildungsangebote Räume für Intervision
und Austausch in Peer-Groups bieten.                   Transformative Bildungsdimension
                                                       Auf der von der Lancet-Kommission besonders be-
Voraussetzungen für Ausbildner:
                                                       tonten dritten Ebene geht es darum, eine selbstkriti­
– Berufserfahrung in den Bereichen Spiritual und       sche, analytische Haltung zu dem bisher Erlernten
  Palliative Care                                      zu entwickeln, um sich auf wandelbare Bedürfnisse
                                                       einstellen zu können und angeeignete Praxisformen
– Kompetenzen in Erwachsenbildung
                                                       kreativ weiterzuentwickeln. Für die Ausbildung
– reflektierte und respektvolle Haltung zu R/S in      in Spiritual Care bedeutet dies im Besonderen, eine
  ihren vielfältigen Ausdrucksformen                   kritische Selbstreflexivität hinsichtlich eigener
                                                       welt­anschaulicher Haltungen und Vorstellungen zu
– gegebenenfalls spezifische Forschungstätigkeit
                                                       entwickeln. Um mit Patienten und im interprofes-
  zu Spiritual Care im Kontext von Palliative Care
                                                       sionellen Austausch in sensibler Weise über Fragen
Als Grundlage zur Entwicklung passender Aus-,          persönlicher spiritueller Überzeugungen, Wünsche
Weiter- und Fortbildungsangebote für interprofes-      und Nöte in Kontakt zu treten, bedarf es neben der
sionelle Spiritual Care eignet sich die von einer      Reflexion auf den eigenen Umgang mit Krankheit,
­international zusammengesetzten Lancet-Kommis-        Sterben, Tod und Trauer auch einer kritischen Selbst­
 sion erarbeitete Programmschrift Health profes­       verortung im pluralen und spannungsreichen
 sionals for a new century (Frenk et al. 2010). Mit    Feld von Religiosität, Spiritualität und Säkularität.
 Blick auf aktuelle Entwicklungen im Gesundheits-      Gerade weil es im Bereich von Spiritual Care häufig
 wesen unterscheidet sie zwischen informativen,        angebracht ist, dass sich profes­sionelle Begleiter
 forma­tiven und transformativen Bildungsdimensio-     mit ihren Vor- und Einstellungen zurückzunehmen,
 nen, die je eigene Lehr- und Lernformen erfordern:    ist eine möglichst genaue, reflektive Selbstwahr-
                                                       nehmung und die Fähigkeit zur Selbstrelativierung
Informative Bildungsdimension                          bedeutsam.
Die erste Ebene betrifft das Vermitteln von Wissen
und Fähigkeiten, um Expert(inn)en auf ihrem
­Gebiet auszubilden. Bildungsangebote sollten den
 derzeitigen Forschungs- und Diskussionsstand zu

 18
Anhang
I.   Unterstützende Instrumente                            E – Effects on medical care and end-of-life issues |
                                                           Auswirkungen auf die medizinische Behandlung
                                                           und Fragen im Zusammenhang mit dem Lebens­
 HOPE
                                                           ende
                                                           «Hindert Sie Ihre Krankheit, Ihren Glauben, Ihre
H – Hoffnung
                                                           ­Religion bzw. Spiritualität auszuüben? Hat sich
Eröffnen lässt sich ein Gespräch über r/s Lebens­
                                                            durch Ihre Krankheit Ihre Beziehung zu Gott verän-
dimensionen z.B. mit Fragen der folgenden Art:
                                                            dert? Kann ich etwas für Sie tun, damit Sie Zugang
«Wir haben jetzt über die Unterstützung durch
                                                            zu Ihren inneren Kraftquellen (wieder)finden?
Ihr soziales Umfeld gesprochen. Mich interessiert
                                                            Gibt es aufgrund ihrer Religion/Spiritualität Dinge,
ebenso, was Ihnen in Ihrem Inneren Stärke und
                                                            die Ihnen wichtig sind und wir beachten sollten
Kraft gibt. Woraus schöpfen sie Hoffnung, Kraft, Trost
                                                            (z.B. bezüglich Essen, Umgang mit Blut)? Belastet es
und inneren Frieden? Was stützt sie in schwierigen
                                                            Sie unter Umständen, dass gewisse medizinische
Zeiten und gibt Ihnen die Kraft, weiter zu m ­ achen?
                                                            Massnahmen mit ihren Werte- oder Glaubensüber-
Für manche Menschen stellt ihr Glaube, ihre Re­li­
                                                            zeugungen in Spannung oder im Konflikt stehen?
gio­si­tät eine wichtige Kraftquelle im Alltag dar. Gilt
                                                            Wäre es für Sie hilfreich, wenn ich für Sie ein Ge-
das auch für Sie?»
                                                            spräch mit einem Spitalseelsorgenden oder einem
Falls die Antwort «Nein» lautet, kann nachgefragt           Vertreter Ihrer Glaubensgemeinschaft vermittle?»
werden: «War dies einmal anders? Und welche
                                                           Falls sich ein baldiges Sterben abzeichnet: «Haben
­Lebenserfahrungen brachten diese Veränderungen
                                                           Sie aufgrund Ihrer religiös-spirituellen Überzeu­
 mit sich?»
                                                           gungen Wünsche hinsichtlich der medizinischen
                                                           oder pflegerischen Behandlung und seelsorgli-
O – Organized religion | Organisierte Religion
                                                           chen Begleitung in den kommenden Tagen, Wochen
«Gehören Sie einer Religions- oder Glaubens­gemein­
                                                           und Monaten?»
schaft an? Ist diese Mitgliedschaft für Sie wichtig?
                                                           Quelle: Anandarajah & Hight, 2001, 87 (dt. Übersetzung und Adaption:
Welche Aspekte Ihrer Religion erfahren Sie als hilf-       ­Winter-Pfändler 2015)
reich? Welche als hinderlich? Sind Sie aktiv enga-
giert in Ihrer religiösen Gemeinschaft? Tut I­ hnen
dies gut und auf welche Art und Weise?»

P – Personal spirituality/practices | Persönliche
­Spiritualität und religiös-spirituelle Praxis
 «Haben Sie religiös-spirituelle Überzeugungen, die
 unabhängig von Ihrer Religionszugehörigkeit sind?
 Um welche handelt es sich dabei? Glauben Sie
 an Gott – und falls ja: welche Beziehung haben Sie
 zu ihm? Pflegen Sie Ihre religiös-spirituellen Über-
 zeugungen in Ihrem Alltag durch eine religiöse
 ­Praxis (wie z.B. Gebet, Studium Heiliger Schriften,
  Teil­nahme an Ritualen und Gottesdiensten, das
  ­Hören von geistlicher Musik, in der Natur sein)?»

                                                                                                                                  19
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS

                                                         R – Rolle der Fachperson. Wie soll die Fachperson
  SPIR
                                                         mit spirituellen Erwartungen und Problemen des
                                                         Patienten umgehen?
Das Akronym SPIR dient dazu, sich die vier Schritte
                                                         «Wie soll ich als Ihr Arzt/Seelsorgerin/Pflegende
bei der Erfassung spiritueller Bedürfnisse und Res-
                                                         usw. mit diesen Fragen umgehen? Wer ist Ihr wich-
sourcen zu vergegenwärtigen.
                                                         tigster Gesprächspartner in Bezug auf spirituelle
Die folgenden Standardfragen sollen im Verlauf des       und Glaubensüberzeugungen? Welche Rolle sollen
Gesprächs dem Sprachgebrauch des Patienten an-           diese Überzeugungen in der ärztlichen Behand-
gepasst werden. Zur Vermeidung von Missverständ-         lung spielen? Spirituelle und Glaubensfragen sind
nissen sollte herausgefunden werden, ob dem              für Krank- und Gesundsein ein wichtiger Bereich.
­Patienten Begriffe wie «spirituell» oder «­ religiös»   Haben Sie den Eindruck, dass wir über Ihre Überzeu-
 bekannt sind und wie er sie verwendet. Ähnliches        gungen so gesprochen haben, wie Sie es sich wün-
 gilt für die Kirche/Gemeinschaft/Gemeinde/Gruppe        schen? Möchten Sie etwas hinzufügen?»
usw., je nachdem, wie der Patient über seine dies­       Quelle: Frick, Weber, Borasio 2002.
bezüglichen Bindungen zu sprechen in der Lage ist.

S – Spirituelle und Glaubens-Überzeugungen
«Würden Sie sich im weitesten Sinne als gläubigen
(religiösen/spirituellen) Menschen betrachten?
In wen oder was setzen Sie Ihre Hoffnung? Woraus
schöpfen Sie Kraft? Gibt es etwas, das Ihrem Leben
einen Sinn verleiht? Welche Glaubensüberzeugun-
gen sind für Sie wichtig?»

P – Platz und Einfluss, den diese Überzeugungen
im Leben des Patienten einnehmen
«Sind die Überzeugungen, von denen Sie gespro-
chen haben, wichtig für Ihr Leben und für Ihre
gegen­wärtige Situation? Welchen Einfluss haben
sie darauf, wie Sie mit sich selber umgehen und
in welchem Mass Sie auf Ihre Gesundheit achten?
Wie haben Ihre spirituellen und Glaubens-Über­
zeugungen Ihr Verhalten während dieser Erkran-
kung bestimmt? Welche Rolle spielen Ihre Überzeu-
gungen dabei, dass Sie wieder gesund werden?»

I – Integration in eine spirituelle, religiöse
­kirch­liche Gemeinschaft/Gruppe
 «Gehören Sie zu einer religiösen oder spirituellen
 Gemeinschaft (Gemeinde, Kirche, spirituelle Gruppe)?
 Bedeutet dies eine Unterstützung für Sie? Inwie-
 fern? Gibt es eine Person oder Gruppe von Leuten,
 die Ihnen wirklich viel bedeuten und die wichtig
 für Sie sind?»

 20
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strukturiertes klinisches Interview zur Erhebung
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http://www.psychosomatik.mri.tum.de/downloads

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