SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE - LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS - Auflage 2018 - palliative ch
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SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS 1. Auflage 2018
Einleitung.......................................................................................................................................................................................................4 1. Grundlagen......................................................................................................................................................... 6 2. Religiosität und Spiritualität im Kontext von Palliative Care.......................................................................... 8 3. Wahrnehmen, Erkunden und Dokumentieren von spirituellen Aspekten.....................................................11 3.1 Wahrnehmen................................................................................................................................................................................ 11 3.2 Erkunden......................................................................................................................................................................................... 11 3.3 Dokumentieren............................................................................................................................................................................12 4. Gemeinsame Aufgaben und professionsspezifische Rollen...........................................................................14 4.1 Professionelle Grundkompetenzen.................................................................................................................................... 14 4.2 Unterschiedliche Formen von Spiritual Care und professionsspezifische Rollen........................................... 14 4.3 Interprofessionelle Z usammenarbeit.................................................................................................................................15 5. Ethische Aspekte...............................................................................................................................................16 6. Institutionelle Rahmenbedingungen.............................................................................................................. 17 7. Aus-, Weiter- und Fortbildung..........................................................................................................................18 Anhang.......................................................................................................................................................................................................... 19 I. Unterstützende Instrumente......................................................................................................................................................... 19 II. Literatur....................................................................................................................................................................................................21 III. Mitglieder der Taskforce S piritual Care......................................................................................................................................23 IV. Autorenschaft.......................................................................................................................................................................................23 3
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS Einleitung Am Ursprung der Entwicklung von Palliative Care fessionelle Handeln einzubeziehen. Die vorliegen- in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts den Leitlinien benennen die Rahmenbedingungen, steht auch die Berücksichtigung der religiösen Voraussetzungen und Grenzen solchen Handelns und spirituellen Dimension in der Begleitung von und weisen auf Entwicklungsmöglichkeiten und Patientinnen und Patienten und ihren An- und Modelle interprofessioneller Spiritual Care hin. Sie Zugehörigen. In der Folge wurde diese Dimension verstehen sich einerseits als Beitrag zur Qualitäts von der WHO und nationalen Akteuren in ihre sicherung in diesem Bereich, andererseits als An Gesundheits- und Versorgungskonzepte aufgenom- regung und Ermutigung, Spiritual Care noch kon men. Eine Forschungsgruppe der Weltgesundheits sequenter in die Palliative Care in der Schweiz organisation, welche die Rolle von Spiritualität und einzubeziehen. Religiosität für die Lebensqualität untersuchte, empfahl 2006, diese als Teil der medizinischen Ver- sorgung insbesondere bei schwerkranken und Adressaten terminalen Patientinnen und Patienten anzuspre- Die Leitlinien richten sich in erster Linie an Fach chen, da sie deren Lebensqualität massgeblich personen, die in unterschiedlichen Bereichen und beeinflussen (WHOQOL SRPB Group 2006). Die ge- Settings der Palliative Care tätig sind. Darüber nannten Entwicklungen bilden den Hintergrund hinaus sollen sie auch Hinweise bieten für andere und die Grundlage der vorliegenden Leitlinien. Sie Bereiche der Gesundheitsversorgung sowie für verstehen «Spiritual Care» als die interprofessio institutionelle und politische Verantwortungsträger. nelle Aufgabe, die spirituelle Dimension in die Ge- sundheitsversorgung einzubeziehen. Die beteilig- ten Professionen tragen in je spezifischer Weise Eingrenzung zu dieser Aufgabe bei. In der Schweiz ist das Praxis-, Die vorliegenden Leitlinien beschränken sich auf Ausbildungs- und Forschungsfeld «interprofessio den Bereich interprofessioneller Spiritual Care im nelle Spiritual Care in Palliative Care» in vielerlei Kontext von Palliative Care. Sie konzentrieren sich Hinsicht in Entwicklung. Für die w eitere Ausge auf die Aufgaben, welche die im Bereich Palliative staltung bedarf es Leitlinien, die auf dem gegen- Care tätigen Professionen miteinander verbindet. wärtig verfügbaren Wissen aufbauen. Wir erachten es als die Aufgabe der in der Palliative Care tätigen professionellen Fachgruppen, ihre Zu- gänge zu präzisieren und allenfalls weiterführende Ziele Richtlinien für professionsspezifische und speziali- Die vorliegenden Leitlinien sind vom Anliegen in sierte Formen von Spiritual Care auszuarbeiten. Das spiriert, die Integration von Spiritual Care im gilt insbesondere für die spezifisch seelsorglichen schweizerischen Gesundheitswesen und insbeson- Aufgaben in diesem Feld und die institutionelle Ver- dere in der Palliative Care zu fördern. Im Kontext ortung der Profession der Seelsorge im Gesund säkularer Gesundheitsinstitutionen und einer in heitswesen.1 weltanschaulicher und religiöser Hinsicht pluralis tischen Gesellschaft eine solche Integration hohe Anforderungen. Die Bedeutung von religiösen und Inhalte spirituellen Einstellungen für den Umgang mit Die Leitlinien geben Hinweise und Hilfestellungen Krankheitssituationen sowie für Entscheidungen zu den folgenden Aspekten von Spiritual Care: am Lebensende stellt die Palliative Care u.a. vor – Spirituelle Ressourcen und Krisen die Herausforderung, diese Einstellungen in ange- – Wahrnehmung, Erkundung und Dokumentation messener Weise zu erfassen und in das interpro 4
– Grundhaltung und Kompetenzen stellt. Patientinnen und Patienten wird eine ihrer – Interprofessionelle Zusammenarbeit Situation angepasste optimale Lebensqualität und professionsspezifische Rollen bis zum Tode gewährleistet und die nahestehen- – Ethische Standards den Bezugspersonen werden angemessen unter – Institutionelle Rahmenbedingungen stützt. Die Palliative Care beugt Leiden und – Aus-, Fort- und Weiterbildung Komplikationen vor. Sie schliesst medizinische Behandlungen, pflegerische Interventionen so- wie psychologische, soziale und spirituelle Unter- Vorlagen stützung mit ein.» (S. 8) Die vorliegenden Leitlinien wurden auf der Basis – Spiritual Care wird im folgenden Abschnitt näher nationaler und internationaler Vorgaben (BAG, WHO), bestimmt. bereits existierender Leitlinien und Konsens-Doku mente sowie der internationalen Spiritual-Care- Forschung erarbeitet. Terminologie2 – Unter Religion wird in diesen Leitlinien eine Ge- meinschaft verstanden, welche bestimmte Tra ditionen, Rituale, Texte und Glaubensinhalte teilt (Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus, Hinduismus u. a. in jeweils unterschiedlichen konfessionellen und kulturellen Ausprägungen). – Religiosität meint über die institutionelle Reli gionszugehörigkeit hinaus den persönlichen Glauben und die eigene Form, religiös zu leben. – Spiritualität wird verstanden als Verbundenheit einer Person mit dem, was ihr Leben trägt, inspi- riert und integriert, sowie die damit verbunde- nen existenziellen3 Überzeugungen, Werthaltun- gen, Erfahrungen und Praktiken, die religiöser oder nicht-religiöser Art sein können. 4 1 Vgl. dazu die Leitlinien «Seelsorge als spezialisierte Spiritual Care in Palliative – R/S bzw. r/s steht im Dokument im Folgenden Care» (palliative ch 2018). als Kürzel für «Religiosität und Spiritualität» bzw. 2 Wir lehnen uns im Folgenden an die Terminologie an, welche die DGPPN ihren «religiös und spirituell». «Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie» (2017) zugrunde legte. – Basierend auf den Nationalen Leitlinien Palliative 3 Der Begriff «existenziell» ist insofern doppeldeutig, als er sich sowohl auf Care (BAG 2010) verstehen wir unter Palliative Fragen der Existenzsicherung als auch auf «existenzielle Fragen» (Wer bin ich? Care «die Betreuung und die Behandlung von Was gibt meinem Leben Sinn? Wie möchte ich leben und sterben?) beziehen kann. Wir beziehen uns auf die zweite Bedeutung. In den Empfehlungen der Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen DGPPN (2017) wird sie umschrieben mit «(Grenz-)Erfahrungen, die mit und/oder chronisch fortschreitenden Krankhei- Sinn-Krisen einhergehen». ten. Sie wird vorausschauend miteinbezogen, 4 Die European Association for Palliative Care (EAPC) definiert Spiritualität als «die dynamische Dimension menschlichen Lebens, die sich darauf bezieht, wie ihr Schwerpunkt liegt aber in der Zeit, in der die Personen (individuell und in Gemeinschaft) Sinn, Bedeutung und Transzendenz Kuration der Krankheit als nicht mehr möglich erfahren, ausdrücken und/oder suchen, und wie sie in Verbindung stehen mit erachtet wird und kein primäres Ziel mehr dar- der Gegenwart, sich selbst und anderen, der Natur, dem Bedeutsamen und/ oder dem Heiligen» (Nolan et al., 2011). 5
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS 1. Grundlagen In ihrem Verständnis von Spiritual Care orientieren Der institutionelle und interprofessionelle Auftrag sich die vorliegenden Leitlinien an den Nationalen für Spiritual Care ist im Rahmen des Schweizeri- Leitlinien Palliative Care des Bundesamtes für Ge- schen Gesundheitswesens in dreifacher Hinsicht sundheit, die sich ihrerseits auf Vorgaben der WHO begründet: stützen. Die Aufgaben der Spiritual Care werden hier folgendermassen umschrieben: Grundrechtliche Perspektive Wer in einer Schweizer Gesundheitsinstitution «Die spirituelle Begleitung leistet einen Beitrag stationär versorgt wird, geniesst seitens des Rechtes zur Förderung der subjektiven Lebensqualität und einen besonderen Schutz. Aufgrund des besonderen zur Wahrung der Personenwürde angesichts von Abhängigkeitsverhältnisses sind die betreffenden Krankheit, Leiden und Tod. Dazu begleitet sie die Institutionen und die in ihr tätigen Fachpersonen Menschen in ihren existenziellen, spirituellen und nicht zuletzt dazu verpflichtet, zu gewährleisten, religiösen Bedürfnissen auf der Suche nach Lebens- dass das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit sinn, Lebensdeutung und Lebensvergewisserung gewährleistet bleibt (Bundesverfassung Art. 15). Die sowie bei der Krisenbewältigung. Sie tut dies in Ausübung identitätsbestimmender Formen religiös- einer Art, die auf die Biografie und das persönliche spiritueller Praxis muss auch unter den Bedingungen Werte- und Glaubenssystem Bezug nimmt. Dies des klinischen Alltags oder der Krankheit möglich setzt voraus, dass die existenziellen, spirituellen bleiben. Das gilt auch für Patientinnen und Patienten, und religiösen Bedürfnisse der Beteiligten erfasst die keiner Religionsgemeinschaft angehören. werden. Interventionen und der Zugang zu adä quaten Angeboten im Bereich der spirituellen Be- Palliative Perspektive gleitung sind in regelmässigen Abständen im Bei vielen Menschen ist R/S identitätsbildend und interprofessionellen Team zu thematisieren und in Krisen und Grenzsituationen in hohem Masse die Kontinuität der Begleitung ist zu gewähr bedeutsam. Der Einfluss von r/s Einstellungen auf leisten» (BAG 2011:14). die Gesundheit und die Lebensqualität, auf den Spiritual Care ist zu verstehen als der bewusste Ein- Umgang mit Krankheit und auf therapeutische Ent- bezug von r/s Aspekten in eine professionelle Pallia scheidungsprozesse ist empirisch gut belegt. Als tive Care. Dazu gehören neben einer palliativen therapierelevante Faktoren sind r/s Aspekte somit auf Grundhaltung und spezifischem Fachwissen auch professionelle Weise in die Kontakte mit Patienten/ erwerbbare, im Folgenden noch näher zu be Angehörigen einzubeziehen. stimmende Handlungskompetenzen, die sich mit geeigneten Instrumenten und Vorgehensweisen Professionsethische Perspektive verbinden. Spiritual Care bedarf einer bewussten Aufgrund ihrer Berufsethik sind alle Fachpersonen Einübung und einer Implementierung, die an verpflichtet, Patientinnen und Patienten in einer Qualitätsstandards überprüfbar ist. Ein respekt wertschätzenden, der eigenen Grenzen bewussten voller Umgang mit r/s Überzeugungen und Prak Haltung gegenüber ihren weltanschaulichen und tiken erfordert auch einen reflektierten Umgang r/s Hintergründen zu unterstützen. Es gilt, die mit den Grenzen des eigenen Wissens, Verstehens ethischen Prinzipien Autonomie, Fürsorge, Nicht- und Könnens. Die «spirituelle Dimension» mensch- Schaden und Gerechtigkeit sowie Care-ethische lichen Lebens und die mit ihr verbundenen Ein Aspekte angemessen zu berücksichtigen und in diesem stellungen und Erfahrungen entziehen sich in ihrem Sinne zum Wohl der Patienten tätig zu sein. Für alle Kern einer direkten Beeinflussung. beteiligten Professionen gilt dabei: Gesundheitsfach leute müssen «den Glauben – oder Unglauben – ihrer Patienten nicht (...) teilen, um für deren spirituelle 6
Sensibilität offen zu sein» (Bigorio 2008:2). Insofern professionelles Handeln und therapeutische Ent- scheidungen im Bereich Palliative Care auch von per sönlichen Einstellungen beeinflusst werden, ist es für die beteiligten Fachpersonen wichtig, ihre Haltung zu R/S im Allgemeinen und zur R/S der ihnen an vertrauten Personen zu reflektieren und ggf. auch transparent zu machen. 7
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS 2. Religiosität und Spiritualität im Kontext von Palliative Care Religiosität und Spiritualität treten in palliativen stationären Spitalaufenthaltes braucht es oft Unter Kontexten in vielfältigen Formen auf: zum einen als stützung von aussen, damit diese gemeinschaftliche handlungsleitende und identitätsbestimmende Dimension der eigenen R/S aufrechterhalten werden Einstellungen und Überzeugungen; zum anderen kann. Einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen in Gestalt von Erfahrungen, die tröstlich, aber auch in diesem Zusammenhang Angehörige r/s Minder- belastend sein können. Eine professionelle Unter- heiten, die selbst nicht im interprofessionellen Team stützung kann in diesem Zusammenhang in ver vertreten sind. schiedener Hinsicht wichtig sein: um r/s Ressourcen neu oder vertieft zugänglich zu machen; um be- R/S bei Entscheidungen am Lebensende stimmte Praktiken in einer neuen Umgebung voll- einbeziehen ziehen zu können; um r/s Krisen zu lindern u.a.m. In palliativen Situationen stehen Patientinnen und Die folgende Aufzählung konzentriert sich auf Patienten gemeinsam mit ihren An- und Zugehörigen Aspekte, die sich in palliativen Situationen regel- häufig vor schwerwiegenden Entscheidungen, die mässig zeigen. emotional stark belastend sein können. Nicht selten geht es dabei um ein Abwägen zwischen verschie- R/S als lebensbestimmende Dimension denen Gütern (etwa zwischen lebenserhaltenden berücksichtigen Massnahmen und Bewahrung der subjektiven R/S Einstellungen, Überzeugungen und Praktiken Lebensqualität) und um die Klärung von Werthori- sind als etwas zu würdigen, was das Leben von zonten und Einstellungen. Über das Vermitteln zahlreichen Patientinnen und Patienten bestimmt aller medizinisch relevanten Informationen hinaus und ihnen auch in der gegenwärtigen Situation haben die an der Palliative Care beteiligten Fach wichtig ist. Aufgrund der besonderen Vulnerabilität personen die Aufgabe, die betroffenen Personen früh- und der Abhängigkeit in Betreuungsverhältnissen zeitig auf anstehende Entscheidungen vorzubereiten ist seitens der professionellen Begleitpersonen eine und sie in diesen Entscheidungsprozessen zu unter- respektvoll-unterstützende Haltung gegenüber stützen. Insofern R/S bei vielen Patientinnen und r/s Einstellungen, Überzeugungen und Praktiken Patienten identitätsbestimmend und handlungs bedeutsam. Ebenso ist es zu respektieren, wenn leitend sind, sollten sie in diesem Zusammenhang Patientinnen und Patienten keinen B ezug zu R/S durch die professionellen Begleitpersonen aus- haben. drücklich angesprochen und einbezogen werden. Das kann z.B. in Form von offenen Fragen im Rah- Gemeinschaftliche Einbettung wahrnehmen men einer allgemeinen Wertanamnese geschehen Auch wenn R/S in säkular geprägten Gesellschaften (SAMW 2013, 66). tendenziell der Privatsphäre zugeordnet wird, spielen r/s Gemeinschaften nach wie vor eine be- Ressourcen stärken und spirituelle Belastungen deutende Rolle. Sich in Krankheits- und Sterbe validieren situationen gemeinschaftlich eingebettet zu er R/S Einstellungen und Überzeugungen sowie die fahren, bedeutet für viele Patientinnen/Patienten mit ihnen verbundenen Praxisformen und Rituale und Angehörige einen grossen Trost. Viele r/s können im Umgang mit Krankheit und Todesnähe Rituale machen erfahrbar, dass Menschen auch in wichtige Ressourcen darstellen. Nach lebensge- Grenzsituationen begleitet sind und dass eine schichtlichen Umbrüchen, in fremden Umgebungen würdevolle Gestaltung des Lebens bis zum letzten und bei starken psychischen, sozialen und physischen Atemzug möglich ist. Unter den Bedingungen eines Belastungen fällt es allerdings oft schwer, solche 8
Ressourcen zu aktivieren. Hinzu kommt, dass die seelisch-spirituellem Erleben bei Phänomenen wie Konfrontation mit schwerer Krankheit und Tod dazu Nausea und Delir. führen kann, dass bisher tragende Orientierungen einbrechen und r/s Überzeugungen hinterfragt Auf kritische Momente und spirituelle Aspekte werden.5 Zudem ist es, bedingt durch Krankheit und/ von Sterbeverläufen achten oder Hospitalisierung, manchmal nicht mehr Um Menschen auf ihrem individuellen Weg des möglich, gewisse haltgebende Rituale und Praktiken Sterbens auch in spiritueller Hinsicht unterstützen auszuüben. zu können, braucht es nicht zuletzt ein empirisch fundiertes Grundwissen über krankheitstypische Nicht selten berichten r/s Patienten/Patientinnen Sterbeverläufe und spezifische Phänomene. Nach in diesem Zusammenhang von spirituellen Nöten, einer Studie von Scott A Murray gibt es bei termi die sich in Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Leere, nalen Erkrankungen für die psychosoziale und Gefühllosigkeit und existenzieller Verunsicherung spirituelle Unterstützung von Patientinnen und manifestieren. Der Guide des soins palliatifs du Patienten sowie ihren An- und Zugehörigen vier médecin vaudois beschreibt die Extremform einer besonders kritische Momente: die Diagnosemittei- «spirituellen Not» als «eine Krise im Sinne einer lung; die Übergänge zwischen Spital und Zuhause; plötzlichen Veränderung, die unter anderem durch die Mitteilung, dass die Möglichkeiten der kurati- den Zusammenbruch der spirituellen Identität ven Medizin ausgeschöpft sind; die Terminalphase. charakterisiert ist. Sie stellt die Werte und die Trans Wenn diese Phasen sehr schnell aufeinanderfolgen zendenz, wie sie bis dahin erfahren wurden, in und ineinander übergehen oder wenn Betroffene Frage und unterbricht jegliche Suche nach einem und Angehörige in ihrer Wahrnehmung und ihren Lebenssinn. Sie stellt auch den Wert in Frage, den Zielen an unterschiedlichen Punkten stehen (An der Patient seiner eigenen Würde zuschreibt.»6 gehörige wollen Patienten nicht gehen lassen, Spirituelle Krisen als solche wahrzunehmen und setzen ihn unter Druck zu kämpfen etc.), sind die zu validieren, ist allein schon deshalb eine zentrale spirituellen, psychologischen und meist auch Form von Spiritual Care, als mit solchen Krisen oft sozialen Belastungen besonders hoch. Das Leiden eine Angst vor Unverständnis und Pathologisierung zeigt sich dann häufig auch in körperlichen, meist einhergeht. Seitens der beteiligten Fachpersonen schwer zu behandelnden Symptomen. bedarf es einer sorgfältigen Unterscheidung zwischen spirituellen Krisen und pathologischen Phänomen, Spirituelle Erlebnisse und symbolische die einer Behandlung bedürfen (Depression, psycho Kommunikation am Lebensende validieren tisches Erleben, religiöser Wahn etc.). Klinische Erfahrung und empirische Forschung weisen darauf hin, dass Menschen in Todesnähe Spirituelle Dimensionen von Krankheits häufig in innere Erlebniswelten eintauchen und symptomen im palliativen Kontext sich auf symbolische Weise mitteilen.7 Diese Er Spiritualität als integrierender Bestandteil des Men- lebnisse haben oft einen tröstlichen Charakter und schen ist ebenso eine Dimension von Krankheits stellen für die Betroffenen eine Ressource dar. symptomen. Es geht deshalb bei der palliativen Ver- Die erlebten Motive entsprechen jenen, die teilweise sorgung darum, die spirituelle Dimension in der auch symbolisch kommuniziert werden: Sie be Symptomatik und Diagnostik wie auch im therapeu- treffen Vorahnungen, das Herstellen von Ordnung, tischen und begleitenden Prozess angemessen zu berücksichtigen. Dazu gehört beispielsweise das von 5 Im DSM-4 wurde bereits 1994 die Diagnose «religiöses oder spirituelles Cicely Saunders beobachtete Phänomen der spiri- Problem» (V 62.89) eingeführt. tual pain (als Aspekt von total pain), das die Schmerz 6 La spiritualité en soins palliatifs, Guide des soins palliatifs du médecin vaudois, behandlung entscheidend beeinflusst, oder die 5/2008, 5. Wechselwirkungen zwischen körperlichem und 7 Vgl. Peng-Keller 2017a,b. In einer jüngeren Befragung von Hospizpatienten berichteten 88,1 % von visionärem Traum- und Wacherleben, vgl. Kerr 2014. 9
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS Vorbereitungen für eine «Reise», Verbindung mit Verstorbenen und die Gestaltung des Abschieds. Für Angehörige und professionelle Begleiter sind die diesbezüglichen Mitteilungen manchmal schwer verständlich und irritierend. Auch wenn die Abgrenzung zu deliranten Zuständen bisweilen schwerfällt, ist davon auszugehen, dass die betref- fenden Erlebnisse für die Betroffenen selbst in hohem Masse bedeutungsvoll sind und als solche gewürdigt werden sollten. Ein wertschätzend- validierender Umgang kann sich in einer Bestätigung des Ausgedrückten und Wahrgenommenen sowie in einem behutsamen Nachfragen zeigen. Inter pretationen des Erlebten werden dann, wenn sie von den Betroffenen nicht ausdrücklich erwünscht werden, erfahrungsgemäss eher als störend empfun- den. 10
3. Wahrnehmen, Erkunden und Dokumentieren von spirituellen Aspekten Um r/s Überzeugungen und Wünsche aktiv in die 3.2 Erkunden Palliative Care einzubeziehen und Entscheidungen Um spirituelle Bedürfnisse und Ressourcen in sen- treffen zu können, bieten sich für die verantwort sibler Weise erkunden zu können, bedarf es vertrau- lichen Fachpersonen zwei unterschiedliche, sich ensbildender Kommunikationsformen und eines ergänzende Wege an: die achtsame Wahrnehmung sicheren Rahmens. Ein schrittweises Vorgehen, das und der Weg des direkten Ansprechens und Er Patientinnen und Patienten auf diskrete Weise Mög- fragens.8 Beide Formen bedürfen einer offenen und lichkeiten zur Selbstmitteilung eröffnet, dürfte in respektvollen Grundhaltung, der bewussten Ein- der Regel der beste Weg sein. Die Eröffnung eines übung und einer Implementierung in der betreffen- solchen Prozesses kann entweder durch standardi- den Institution/Organisation, wozu auch die Klä- sierte Screeningfragen10 oder – noch niederschwel- rung spezifischer Verantwortlichkeiten gehört. Für liger – durch offene Fragen geschehen, die sich ent- die interprofessionelle Zusammenarbeit ist es ent- weder auf klinische Alltagssituationen beziehen scheidend, sich im Betreuungsteam über passende («Wie fühlen Sie sich heute?» oder «Wo stehen Sie Formen der Wahrnehmung/Erhebung von r/s Be- heute?»), auf die Versorgungsplanung («Was muss dürfnissen und die damit verbundenen Aufgaben ich von Ihnen wissen, damit ich sie gut behandeln und Vorgehensweisen zu verständigen. und begleiten kann?»), auf kritische Ereignisse wie dem Erhalt eines schlechten Befunds («Was ist Ihre 3.1 Wahrnehmen Hoffnung?» oder «Worauf hoffen Sie?») oder auf spirituelle Ressourcen («Gibt es im Moment Dinge, Grundlegend für alle Formen von Spiritual Care ist die Ihrem Leben/Ihrer jetzigen Situation besonderen die Fähigkeit, in allen Formen der Begegnung und Sinn oder Bedeutung geben?»11 – «Würden Sie sich der Kommunikation mit Patientinnen/Patienten im weitesten Sinne des Wortes als gläubigen Men- und ihren Angehörigen auch auf spirituelle Aspekte schen bezeichnen?»; Borasio 2011, 92). Bleiben die zu achten. Dazu gehört auch ein systemischer Blick Antworten vage, kann es weiterführend sein, die auf Beziehungskonstellationen und die (Nicht-)Ein- Sinnfrage ausdrücklich zu stellen: «Was gibt ihnen bettung in r/s Gemeinschaften. Spirituelle Ressour- Kraft?»; «Gibt es etwas, das ihrem Leben einen Sinn cen und Nöte werden nicht selten in indirekter und gibt?» Ergibt sich aus solchen Fragen die Offenheit beiläufiger Form zur Sprache gebracht.9 So können für ein vertieftes Gespräch, so kann für dieses eine z.B. Aussagen wie «Das hat doch alles keinen Sinn!» oder «Ich glaube, ich stehe auf dem Abstellgleis» als 8 Vgl. McSherry/Ross 2002 und 2010 sowie das von Pilgram-Frühauf/Schmid Ausdruck für eine spirituelle Not wahrgenommen 2018 vorgestellte Neumünster Assessment für Spiritual Care im Alter (NASCA) werden, während ein Rosenkranz oder ein Mandala 9 So betont auch Borasio 2011, 95: «Es sind oft beiläufige Andeutungen, Halb auf einem Nachttisch einen Hinweis auf r/s Ressour- sätze oder Traumerzählungen, die über die spirituellen Nöte und Bedürfnisse cen geben kann. Ein Sinn für die Vielschichtigkeit eines Patienten am besten Auskunft geben, und es ist auch keineswegs immer ein und dieselbe Person, an die sich diese Mitteilungen richten. Erst in der sprachlicher und nonverbaler Kommunikation und Gesamtschau ergeben sich mehr oder minder versteckten Hinweise plötzlich deren spiritueller Dimensionen ist auch die Voraus- einen Sinn. Die Wahrnehmung dieser Signale ist Aufgabe aller Mitarbeiter setzung dafür, symbolische Formen der Kommunika- im Palliativteam.» tion zu verstehen. Um die Wahrnehmungskom 10 In palliativen Kontexten bereits verbreitet sind Belastungsthermometer, in denen Patienten auch auf ihre r/s Belastungen angefragt werden. Die derzeit petenz für spirituelle Aspekte zu fördern, bedarf es gebräuchlichen Instrumente zur Einschätzung der «Spiritualität» konzentrieren sowohl einer gezielten Ausbildung als auch spezi- sich auf spezifische religiöse Faktoren (Glaubensverlust, Glaubensgemeinschaft). fischer Wahrnehmungs- und Erinnerungshilfen und Da es viele weitere Formen spiritueller Belastungen wie z.B. Sinnkrisen gibt, sind diese Instrumente weiterzuentwickeln. deren Implementation in den klinischen Alltag. 11 Chochinov 2017, 50 (leicht angepasst). 11
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS Orientierung an bewährten Assessmentinstrumenten 2. Wahrnehmungsinstrumente und Assessment- hilfreich sein (HOPE, SPIR u.a., vgl. Anhang). Zur Ex- verfahren bedürfen einer kontextspezifischen ploration gehört schliesslich wesentlich, Patientinnen Entwicklung und Implementierung. Inwiefern und Patienten auf seelsorgliche Angebote und an- die in den USA entwickelten Instrumente für dere verfügbare Formen spiritueller Unterstützung hiesige Kontexte praktikabel sind, bedarf einer aufmerksam zu machen. ähnlichen Überprüfung, wie sie McSherry und Ross (2010) für das britische Gesundheitswesen Eine Erkundung spiritueller Bedürfnisse kann auch geleistet haben. eingebettet sein in eine Wertanamnese, wie sie u.a. im Rahmen eines Advance Care Planning erhoben 3. Die Fähigkeit, ein spirituelles Assessment in e iner wird. Diese baut auf Fragen auf wie: «Bitte sagen Sie für Patientinnen und Patienten einfühlsamen mir, was für Sie im Leben wichtige Werte sind und Weise durchzuführen, darf nicht einfach voraus- was für Sie in einer Phase des nahenden Todes be- gesetzt werden, sondern bedarf einer sorgfälti- sonders wichtig sein könnte» (SAMW 2013, 66). gen und möglichst interprofessionellen Einübung im Rahmen von Aus- und Weiterbildungsange- Um mit unaufdringlichen Fragen spirituelle Belas- boten. tungen erfassen zu können, bedarf es der Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen Belastungsformen 4. «Da R/S kulturell geprägt ist, sollten die indivi zu unterscheiden und diese so weit als möglich mit duellen Gesundheits- und Krankheitskonzepte in Bezug auf die jeweilige r/s Selbstdeutung anzu- einer kultur- und religionssensiblen Weise erfragt sprechen und zu verstehen. Nach dem Verständnis werden. Dazu gehört die Fähigkeit (…) zum Pers- vieler r/s Traditionen kann das, was aus psycholo pektivenwechsel» (DGPPN 2017). Da kultur- und gischer oder medizinischer Sicht als Belastung sprachgebundene Missverständnisse im Rahmen erscheint, als Teil eines spirituellen Reifeprozesses interkultureller Kommunikation kaum vermie- gedeutet werden. den werden können, bedarf es auch einer Sensi- bilität für die Grenzen des Verstehens und eines Im Hinblick auf ausführlichere und strukturierte respektvollen Umgangs mit Unverständlichem. Formen eines spirituellen Assessments gilt es zu bedenken: «Das Wort kommt von und nicht von ! Es beschreibt etwas, was wir mit Interprofessionelle Spiritual Care erfordert eine jemandem tun, und nicht etwas, was wir ihm/ihr intensive Kommunikation, welche auch die medizi- antun» (NIHME 2008). Inwiefern sich formalisierte nische Dokumentation als wichtiges Mittel ein- Assessmentinstrumente für einen spezifischen schliesst. Kontext eignen, ist im Einzelnen zu überprüfen. Aufgrund der bisher in unterschiedlichen kultu Anforderung an die Dokumentation von R/S: rellen Kontexten gesammelten Erfahrungen sind – sie ist Teil des allen Mitgliedern des Behand- für formelle und informelle Assessments folgende lungsteams zugänglichen Dokumentations Aspekte zu beachten: systems; 1. Das Ansprechen von R/S bedeutet im klinischen – alle beteiligten Berufsgruppen sind aufgefordert, Kontext eine Intervention, die Türen öffnen, aber Beobachtungen und Vereinbarungen zu R/S zu auch verschliessen kann. Die Gestaltung einer dokumentieren, sofern sie für die Behandlung solchen Intervention und des weiteren Prozesses relevant sind; muss vorgängig geklärt werden (z.B. Angebote für weitere Begleitung, um ein Versorgungskonti- – die besonderen und kontextspezifischen profes- nuum gewährleisten zu können). sionellen Rahmenbedingungen bzgl. der Möglich keit und Grenzen seelsorglicher Kommunikation 12
müssen berücksichtigt werden (Stichwort: Seel- sorgegeheimnis); – zentrale Komponenten der Dokumentation sind: a) Wer ist involviert (oder sollte involviert werden)? b) Welche Beobachtungen sind für den inter professionellen Austausch wichtig und sollten in die weitere Planung einbezogen werden? c) Welche für die Planung oder den Krisenfall wichtigen Vereinbarungen wurden getroffen? 13
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS 4. Gemeinsame Aufgaben und professionsspezifische Rollen 4.1 Professionelle Grund 4.2 Unterschiedliche Formen von kompetenzen Spiritual Care und professions Um die spirituelle Dimension in der beschriebenen spezifische Rollen Weise in die Palliative Care einzubeziehen, bedarf Die spirituelle Dimension der Gesundheitsversor- es folgender Grundkompetenzen: gung betrifft alle an Palliative Care beteiligten Fach- personen. In Entsprechung zu ihrem je besonderen – Kognitive Kompetenzen: Wissen bzgl. r/s Traditi- Beitrag zur gemeinsamen Aufgabe, alle therapie- und onen/Gemeinschaften, Praktiken/Rituale und entscheidungsrelevanten Faktoren einzubeziehen Gesundheits- und Krankheitskonzepte. Kennt- und grundlegende Persönlichkeitsrechte in klinischen nisse über Spezifika des Arbeitens mit r/s Men- Kontexten zu gewährleisten, sind je eigene, profes- schen und Einfluss von r/s Faktoren auf Gesund- sionsspezifische Formen von Spiritual Care als Teil- heit und Krankheit, die dazu befähigen, R/S als aspekt oder Kerndimension der eigenen Berufsrolle Ressource und/oder Belastungsfaktor für Patien- zu betrachten. Ausgehend von den professionsspezi- tinnen und Patienten zu erkennen und in die fischen Rollen lassen sich zwei aufeinander aufbau- Behandlungsstrategie einzubinden; Wissen um ende Bereiche interprofessioneller Spiritual Care Ressourcen in der Institution und/oder in der unterschieden: Umgebung. – Zum einen geht es um jene Formen von Spiritual – Kommunikative Kompetenzen: Registrieren von Care, die als Komponente gesundheitsberuflicher Faszination, Irritation, Befremden, Ablehnung; Aufgaben wahrgenommen werden (z.B. Einbe- Vermitteln von Wohlwollen, Respekt, Offenheit, zug der spirituellen Dimension in Pflegehandlun- Toleranz. gen, Diagnosestellung, Therapiediskussionen – Selbstreflexion und Selbstwahrnehmung: Wahr- oder Rundtischgesprächen). nehmung von sich selbst als r/s bzw. weltan- – Zum anderen geht es in spezialisierten Formen schaulich geprägter Mensch; Reflexion über die von Spiritual Care, wie sie insbesondere die Seel- eigene Sozialisation und Ausbildung im Hinblick sorge wahrnimmt, um Vollzüge, die einer be auf R/S; Kompetenz, eigene (r/s) Grenzen zu er- sonderen Ausbildung und eines spezifischen kennen, zu akzeptieren und Hilfe anzunehmen. Auftrags bedürfen. Dazu gehören die oft zeit Zu den Kompetenzen, die für eine professionelle intensive Unterstützung von Patientinnen und Spiritual Care einzufordern und zu vermitteln sind, Patienten mit komplexen r/s Nöten und Be gehört auch die Einsicht um die Grenze von lösungs- dürfnissen, Begleitung in akuten Krisen sowie und kompetenzorientierten Handlungsmodellen. religionsspezifische Praktiken und Rituale. Bei spirituellen Fragestellungen haben die beteilig- Der Spitalseelsorge kommt zudem die Aufgabe zu, ten Fachpersonen selten «Lösungen» anzubieten, die interprofessionelle Verständigung und Zusam- was dem sonstigen Vorgehen in klinischen Kontex- menarbeit im Betreuungsteam im Bereich Spiritual ten zuwiderläuft. Die Kunst, unvoreingenommen Care zu moderieren und die diesbezüglichen An zuzuhören und aufmerksam zu verweilen, gehört gebote innerhalb und ausserhalb der Institution zu deshalb zu den bedeutsamsten «Kompetenzen» vernetzen. für Spiritual Care. 14
4.3 Interprofessionelle Zusammenarbeit Gemäss den bereits zitierten Nationalen Leitlinien Palliative Care sind zum einen «Interventionen und der Zugang zu adäquaten Angeboten im Bereich der spirituellen Begleitung (…) in regelmässigen Ab- ständen im interprofessionellen Team zu thema tisieren». Zum anderen ist «die Kontinuität der Be- gleitung (…) zu gewährleisten». (BAG S. 14) Das lässt sich weiter spezifizieren: – Um konsequent in die Palliative Care einbezogen werden zu können, muss die Frage nach der spirituellen Dimension regulär in interdisziplinäre Rapporte und Fallbesprechungen einbezogen werden. Das betrifft insbesondere auch das Sym- ptommanagement (total pain/spiritual pain; spirituelle Aspekte von Angst- und Erschöpfungs- zuständen etc., vgl. Abschn. 2). Da die Wahrneh- mung und Thematisierung r/s A spekte bislang nicht Teil der gesundheitsberuflichen Ausbildung war, bedarf es neben Weiterbildungsangeboten auch einer vorgängigen Verständigung über die professionsspezifischen Rollen, passende Sprach- formen und institutionelle Abläufe. Aufgrund ihrer moderierenden Rolle kommt der Seelsorge für eine solche Implementierung eine Schlüssel- rolle zu. – Zur Planung von kontinuierlichen Begleitan geboten bedarf es zum einen einer Klärung der unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und zeitlichen Verfügbarkeiten, zum anderen einer grundsätzlichen Transparenz bzgl. der eigenen Überzeugungen. Insbesondere ist zu klären, wer für die diesbezügliche Triage zuständig ist und wer welche Angebote machen kann und soll. – Klärung des Umgangs mit Berufsgeheimnissen (intern und extern). 15
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS 5. Ethische Aspekte Die in der Palliative Care tätigen Fachpersonen sind gepasster Weise transparent zu machen (gegen- durch «ihre Berufsethik verpflichtet, innerhalb des über Patienten, Kollegen und beauftragenden Methodenspektrums ihrer Profession tätig zu sein» Institutionen) (DGPPN 2017). Auf der Grundlage der jeweiligen – Der vertrauliche Umgang mit Personendaten ist Professionsethiken sind die folgenden Aspekte be- zu gewährleisten. sonders zu betonen: Personenzentrierung und Respekt vor weltanschau- licher und kultureller Pluralität Eine r/s-Begleitung hat die besondere Vulnerabilität von palliativen Patientinnen/Patienten und ihrer An- und Zugehörigen zu beachten. Dazu gehört nicht zuletzt ein sensibler Umgang mit kultureller, spiri- tueller, religiöser und weltanschaulicher Diversität. Beispiele sind u.a.: – Gestaltung der Beziehung, welche die Besonder- heit und Integrität jedes Individuums achtet durch: – Unterlassen jeglicher Formen von weltan- schaulicher Indoktrination – Respekt gegenüber anderen/fremden r/s Vorstellungen und Praktiken – Hohe Sensibilität für kulturspezifische und r/s Umgangsformen und Grenzen im Bereich von Sexualität und Körperlichkeit – Beachtung der Vulnerabilität bei Migration und Verlassen oder Wechsel einer Religionsge- meinschaft in einem subkulturellen Kontext – Beachtung möglicher (auch religiöser) Vorbe halte von Patientinnen und Patienten gegenüber der angebotenen psychosozialen und spirituel- len Versorgung – Beachtung der religionsspezifischen Vorgaben bezüglich ritueller Vollzüge. – «Die Akzeptanz von r/s-Überzeugungen bei Pati- enten findet dort ihre Grenzen, wo Selbst- und Fremdgefährdung vorliegen» (DGPPN 2017). – Eigene handlungsleitende Werte und religiöse Einstellungen sind bei Bedarf und in situativ an- 16
6. Institutionelle Rahmenbedingungen Spiritual Care kann nur dann interprofessionell verantwortet werden, wenn dafür seitens der jeweiligen Institution entsprechende Rahmenbe- dingungen geschaffen werden. Dazu gehören die folgenden Instrumente: – Profil, Angebot, Anbieter von Spiritual Care wie auch die damit verbundenen Aufgaben werden in die Versorgungs-Konzepte der Institution einbe- zogen und sind Teil des Qualitätsmanagements. – R/s Aspekte werden in einem Dokumentations- system der Institution erfasst, zu dem alle betei- ligten Professionen Zugang haben. – Seelsorgliche und gesundheitsberufliche Spiritual Care wird als Angebot in den Kommunikations mitteln gegenüber Patientinnen/Patienten und Angehörigen in allgemein verständlicher Form benannt. – Geeignete Räumlichkeiten sowie Infrastruktur für spirituelle und religiöse Vollzüge sind vor- handen. – Die spirituelle Dimension wird in den Foren der interprofessionellen Zusammenarbeit und bei Fallbesprechungen integriert. – Interprofessionelle Austauschgefässe (wie z.B. Intervision und Fallbesprechungen) sowie Weiterbildung und Supervision im Bereich Spiri- tual Care werden unterstützt und gefördert. 17
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS 7. Aus-, Weiter- und Fortbildung Mit Blick auf die im Abschnitt 4 genannten Kom Spiritual Care im Kontext von Palliative Care in petenzen sollen Aus-, Weiter- und Fortbildungsan möglichst ausgewogener Weise vermitteln. gebote zu Spiritual Care sowohl die professions spezifische Bedürfnisse, Voraussetzungen und Formative Bildungsdimension Rollenprofile als auch die interprofessionellen Auf- Die zweite Ebene umfasst insbesondere die per gaben in ausgewogener Weise berücksichtigen. sönliche Aneignung einer professionellen Identität Zur Entwicklung und Verinnerlichung praktischer und eines professionsspezifischen Ethos. Betont Kompetenzen in interprofessioneller Spiritual Care wird in diesem Zusammenhang die Bedeutung von braucht es praxisnahe, auf die Bedürfnisse spezi interprofessionell gestalteten Lernprozessen, in fischer Berufsgruppen abgestimmte und zugleich der sich sowohl die professionsspezifische Rolle als interprofessionelle Angebote sowie den Einbezug auch die Fähigkeit der gegenseitigen Verständi- von erfahrenen Fachpersonen. Es sollen rollenba- gung und Wertschätzung ausprägen kann. Dazu ist sierte Lernprozesse ermöglicht und supervisorisch auch die Ausbildung einer Form der (spirituellen) begleitet werden. Ebenso sollten die entsprechen- Self-Care zu rechnen. den Ausbildungsangebote Räume für Intervision und Austausch in Peer-Groups bieten. Transformative Bildungsdimension Auf der von der Lancet-Kommission besonders be- Voraussetzungen für Ausbildner: tonten dritten Ebene geht es darum, eine selbstkriti – Berufserfahrung in den Bereichen Spiritual und sche, analytische Haltung zu dem bisher Erlernten Palliative Care zu entwickeln, um sich auf wandelbare Bedürfnisse einstellen zu können und angeeignete Praxisformen – Kompetenzen in Erwachsenbildung kreativ weiterzuentwickeln. Für die Ausbildung – reflektierte und respektvolle Haltung zu R/S in in Spiritual Care bedeutet dies im Besonderen, eine ihren vielfältigen Ausdrucksformen kritische Selbstreflexivität hinsichtlich eigener weltanschaulicher Haltungen und Vorstellungen zu – gegebenenfalls spezifische Forschungstätigkeit entwickeln. Um mit Patienten und im interprofes- zu Spiritual Care im Kontext von Palliative Care sionellen Austausch in sensibler Weise über Fragen Als Grundlage zur Entwicklung passender Aus-, persönlicher spiritueller Überzeugungen, Wünsche Weiter- und Fortbildungsangebote für interprofes- und Nöte in Kontakt zu treten, bedarf es neben der sionelle Spiritual Care eignet sich die von einer Reflexion auf den eigenen Umgang mit Krankheit, international zusammengesetzten Lancet-Kommis- Sterben, Tod und Trauer auch einer kritischen Selbst sion erarbeitete Programmschrift Health profes verortung im pluralen und spannungsreichen sionals for a new century (Frenk et al. 2010). Mit Feld von Religiosität, Spiritualität und Säkularität. Blick auf aktuelle Entwicklungen im Gesundheits- Gerade weil es im Bereich von Spiritual Care häufig wesen unterscheidet sie zwischen informativen, angebracht ist, dass sich professionelle Begleiter formativen und transformativen Bildungsdimensio- mit ihren Vor- und Einstellungen zurückzunehmen, nen, die je eigene Lehr- und Lernformen erfordern: ist eine möglichst genaue, reflektive Selbstwahr- nehmung und die Fähigkeit zur Selbstrelativierung Informative Bildungsdimension bedeutsam. Die erste Ebene betrifft das Vermitteln von Wissen und Fähigkeiten, um Expert(inn)en auf ihrem Gebiet auszubilden. Bildungsangebote sollten den derzeitigen Forschungs- und Diskussionsstand zu 18
Anhang I. Unterstützende Instrumente E – Effects on medical care and end-of-life issues | Auswirkungen auf die medizinische Behandlung und Fragen im Zusammenhang mit dem Lebens HOPE ende «Hindert Sie Ihre Krankheit, Ihren Glauben, Ihre H – Hoffnung Religion bzw. Spiritualität auszuüben? Hat sich Eröffnen lässt sich ein Gespräch über r/s Lebens durch Ihre Krankheit Ihre Beziehung zu Gott verän- dimensionen z.B. mit Fragen der folgenden Art: dert? Kann ich etwas für Sie tun, damit Sie Zugang «Wir haben jetzt über die Unterstützung durch zu Ihren inneren Kraftquellen (wieder)finden? Ihr soziales Umfeld gesprochen. Mich interessiert Gibt es aufgrund ihrer Religion/Spiritualität Dinge, ebenso, was Ihnen in Ihrem Inneren Stärke und die Ihnen wichtig sind und wir beachten sollten Kraft gibt. Woraus schöpfen sie Hoffnung, Kraft, Trost (z.B. bezüglich Essen, Umgang mit Blut)? Belastet es und inneren Frieden? Was stützt sie in schwierigen Sie unter Umständen, dass gewisse medizinische Zeiten und gibt Ihnen die Kraft, weiter zu m achen? Massnahmen mit ihren Werte- oder Glaubensüber- Für manche Menschen stellt ihr Glaube, ihre Reli zeugungen in Spannung oder im Konflikt stehen? giosität eine wichtige Kraftquelle im Alltag dar. Gilt Wäre es für Sie hilfreich, wenn ich für Sie ein Ge- das auch für Sie?» spräch mit einem Spitalseelsorgenden oder einem Falls die Antwort «Nein» lautet, kann nachgefragt Vertreter Ihrer Glaubensgemeinschaft vermittle?» werden: «War dies einmal anders? Und welche Falls sich ein baldiges Sterben abzeichnet: «Haben Lebenserfahrungen brachten diese Veränderungen Sie aufgrund Ihrer religiös-spirituellen Überzeu mit sich?» gungen Wünsche hinsichtlich der medizinischen oder pflegerischen Behandlung und seelsorgli- O – Organized religion | Organisierte Religion chen Begleitung in den kommenden Tagen, Wochen «Gehören Sie einer Religions- oder Glaubensgemein und Monaten?» schaft an? Ist diese Mitgliedschaft für Sie wichtig? Quelle: Anandarajah & Hight, 2001, 87 (dt. Übersetzung und Adaption: Welche Aspekte Ihrer Religion erfahren Sie als hilf- Winter-Pfändler 2015) reich? Welche als hinderlich? Sind Sie aktiv enga- giert in Ihrer religiösen Gemeinschaft? Tut I hnen dies gut und auf welche Art und Weise?» P – Personal spirituality/practices | Persönliche Spiritualität und religiös-spirituelle Praxis «Haben Sie religiös-spirituelle Überzeugungen, die unabhängig von Ihrer Religionszugehörigkeit sind? Um welche handelt es sich dabei? Glauben Sie an Gott – und falls ja: welche Beziehung haben Sie zu ihm? Pflegen Sie Ihre religiös-spirituellen Über- zeugungen in Ihrem Alltag durch eine religiöse Praxis (wie z.B. Gebet, Studium Heiliger Schriften, Teilnahme an Ritualen und Gottesdiensten, das Hören von geistlicher Musik, in der Natur sein)?» 19
SPIRITUAL CARE IN PALLIATIVE CARE – LEITLINIEN ZUR INTERPROFESSIONELLEN PRAXIS R – Rolle der Fachperson. Wie soll die Fachperson SPIR mit spirituellen Erwartungen und Problemen des Patienten umgehen? Das Akronym SPIR dient dazu, sich die vier Schritte «Wie soll ich als Ihr Arzt/Seelsorgerin/Pflegende bei der Erfassung spiritueller Bedürfnisse und Res- usw. mit diesen Fragen umgehen? Wer ist Ihr wich- sourcen zu vergegenwärtigen. tigster Gesprächspartner in Bezug auf spirituelle Die folgenden Standardfragen sollen im Verlauf des und Glaubensüberzeugungen? Welche Rolle sollen Gesprächs dem Sprachgebrauch des Patienten an- diese Überzeugungen in der ärztlichen Behand- gepasst werden. Zur Vermeidung von Missverständ- lung spielen? Spirituelle und Glaubensfragen sind nissen sollte herausgefunden werden, ob dem für Krank- und Gesundsein ein wichtiger Bereich. Patienten Begriffe wie «spirituell» oder « religiös» Haben Sie den Eindruck, dass wir über Ihre Überzeu- bekannt sind und wie er sie verwendet. Ähnliches gungen so gesprochen haben, wie Sie es sich wün- gilt für die Kirche/Gemeinschaft/Gemeinde/Gruppe schen? Möchten Sie etwas hinzufügen?» usw., je nachdem, wie der Patient über seine dies Quelle: Frick, Weber, Borasio 2002. bezüglichen Bindungen zu sprechen in der Lage ist. S – Spirituelle und Glaubens-Überzeugungen «Würden Sie sich im weitesten Sinne als gläubigen (religiösen/spirituellen) Menschen betrachten? In wen oder was setzen Sie Ihre Hoffnung? Woraus schöpfen Sie Kraft? Gibt es etwas, das Ihrem Leben einen Sinn verleiht? Welche Glaubensüberzeugun- gen sind für Sie wichtig?» P – Platz und Einfluss, den diese Überzeugungen im Leben des Patienten einnehmen «Sind die Überzeugungen, von denen Sie gespro- chen haben, wichtig für Ihr Leben und für Ihre gegenwärtige Situation? Welchen Einfluss haben sie darauf, wie Sie mit sich selber umgehen und in welchem Mass Sie auf Ihre Gesundheit achten? Wie haben Ihre spirituellen und Glaubens-Über zeugungen Ihr Verhalten während dieser Erkran- kung bestimmt? Welche Rolle spielen Ihre Überzeu- gungen dabei, dass Sie wieder gesund werden?» I – Integration in eine spirituelle, religiöse kirchliche Gemeinschaft/Gruppe «Gehören Sie zu einer religiösen oder spirituellen Gemeinschaft (Gemeinde, Kirche, spirituelle Gruppe)? Bedeutet dies eine Unterstützung für Sie? Inwie- fern? Gibt es eine Person oder Gruppe von Leuten, die Ihnen wirklich viel bedeuten und die wichtig für Sie sind?» 20
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