Spotlight: Höhepunkte des DGN-Kongresses 2021 - Mitteilungen der DGN
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Mitteilungen der DGN Spotlight: Höhepunkte des Redaktion DGN-Kongresses 2021 Prof. Dr. Gereon Nelles, Schriftführer, nelles@dgn.org (v. i. S. d. P.) Neuromed-Campus Hohenlind, Werthmannstr. 1c, 50935 Köln Prof. Dr. med. Peter Berlit, Generalsekretär, berlit@dgn.org Dr. phil. Bettina Albers, Dr. med. Martina Berthold, presse@dgn.org Auch 2021 gab es am letzten Kongresstag die Online-Sitzung Prof. Dr. Christian Gerloff, Präsident, praesident@dgn.org „Spotlight: Höhepunkte des Kongresses“. Unter dem Vorsitz von David Friedrich-Schmidt, Geschäftsführer, friedrich-schmidt@dgn.org Herrn Prof. Dr. Christian Gerloff, Hamburg, Präsident der Deut- schen Gesellschaft für Neurologie, und von Kongresspräsident Prof. Dr. Mathias Bähr, Göttingen, fassten Expertinnen und Ex- perten die wissenschaftlichen Höhepunkte der jeweiligen Fach- leiden jedoch auch junge, gesunde C OVID-19-Patientinnen und gebiete zusammen. Es hatten sich ca. 6700 Teilnehmende ein- -Patienten in Relation zum Risikoprofil vermehrt Schlaganfälle. gewählt. Ein großes Problem stelle darüber hinaus die während der Pan- demie erschwerte Schlaganfall-Versorgung dar, denn Betroffene mit TIAs und leichteren Schlaganfällen suchten seltener die Klinik Update Schlaganfall – Akutbehandlung und aktuelle auf. Die stationären Schlaganfall-Behandlungen sanken um 12 %, Forschung die Thrombolyseraten um 13 % und Thrombektomien um 12–19 % [2]. Totenscheinanalysen aus England [3] zeigten einen Anstieg der Prof. Dr. Waltraud Pfeilschifter, Lüneburg, gab einen Überblick über häuslichen kardiovaskulären Mortalität um 35 % und um 32 % in die interessantesten Vorträge zum Thema Schlaganfall. Pflegeheimen, wobei Schlaganfälle mit 36 % die häufigste Todes- ursache darstellten. „Das alles macht uns Sorgen und wir müssen Rolle der Thrombolyse in der Thrombektomie-Ära daher dafür werben, dass Betroffene einen Schlaganfall weiterhin nach dem Motto ‚Time is brain‘ als Anlass zur sofortigen Verständi- Die gute Wirksamkeit der endovaskulären Therapie auch bei Pa- gung des Rettungsdienstes erkennen“, betonte Prof. Pfeilschifter. tienten mit schwerem Schlaganfall, die aufgrund von Kontrain- dikationen keine Thrombolyse erhalten können, hatte die Frage aufgeworfen, ob bei schweren Schlaganfällen im Fall der direk- ten Verfügbarkeit der Thrombektomie („Direct-to-center-Patien- ten“) eine vorherige i. v.-Thrombolyse einen zusätzlichen Nutzen hat oder nicht sogar mit größeren Behandlungsrisiken einhergeht. 2021 gab es dazu zwei große Studien aus dem europäischen Raum, die M RC LEAN-NO IV („Direct endovascular treatment/dEVT ver- sus intravenous alteplase followed by endovascular treatment in patients with acute stroke due to a large vessel occlusion – L VO“) und die SWIFT-direct-Studie. Nun wurden die Einzeldaten aller Teil- nehmenden (n > 2000) in einer Metaanalyse ausgewertet [1]. Die Ergebnisse zeigten bei vorgeschalteter Thrombolyse eine höhere Rate erfolgreicher Rekanalisationen (TICI ≥ 2b) und ein vergleich- bares 90-Tages-Outcome (mRS ≤ 2) in beiden Studienarmen. Somit konnten jegliche Sicherheitsbedenken entkräftet werden. „Auch bei Patientinnen und Patienten, die mit einem schweren Schlag- anfall direkt in ein Thrombektomie-Zentrum mit sofortiger Verfüg- barkeit der endovaskulären Therapie aufgenommen werden, soll- te vom bisherigen Standardvorgehen einer vorgeschalteten Lyse nicht abgewichen werden“, betonte Frau Prof. Pfeilschifter. COVID-19 und Schlaganfälle © DGN/Claudius Pflug Nach zwei Jahren Pandemie ist offensichtlich, dass es im Rahmen einer COVID-19-Erkrankung, insbesondere beim Vorliegen klas- sischer Risikofaktoren, zu Schlaganfällen kommen kann – es er- Nervenarzt 2022 · 93:203–220 8 Live. Interaktiv. Digital. Der 94. DGN-Kongress. Prof. Christian Gerloff, https://doi.org/10.1007/s00115-022-01263-9 Präsident der DGN, leitete zusammen mit dem Kongresspräsidenten Prof. © The Author(s), under exclusive licence to Springer Medizin Verlag Mathias Bähr die Sitzung und diskutierte die neuesten Forschungsergeb- GmbH, ein Teil von Springer Nature 2022 nisse mit den Referentinnen und Referenten 203 Der Nervenarzt 2 · 2022
Mitteilungen der DGN gebnisses und der Mortalität. „Diese Befunde sollten zunächst nicht die Therapieentscheidung leiten“, gab Pfeilschifter zu bedenken, „aber sicher sollte eine vorbestehende Gebrechlichkeit in der Ge- sprächsführung mit den Patienten und den Angehörigen im Hin- blick auf die Erwartungen an den Rehabilitationsverlauf themati- siert werden.“ Erhöhte Aufmerksamkeit bei Riesenzellarteriitis mit intrakranieller Beteiligung © DGN/Claudius Pflug Die Riesenzellarteriitis mit intrakranieller Beteiligung ist die häu- figste immunvermittelte Arteriitis des ZNS. Auch unter der Thera- pie kommt es nicht selten zu ungünstigen Verläufen. In einer Stu- die konnte nun ein maligner Phänotyp herausgearbeitet werden, 8 Prof. Waltraud Pfeilschifter, Lüneburg der einen besonders aggressiven bzw. hochaktiven Verlauf auf- weist [9]. Die frühzeitige Erkennung sei wichtig, betonte Pfeilschif- „Es steht uns vermutlich auch wieder ein hartes erstes Jahresquar- ter, um hier besonders konsequent zu behandeln. Als intrakraniel- tal bevor, in dem wir darum kämpfen werden müssen, in den Kli- le vaskuläre Prädilektionsstellen gelten die Arteria vertebralis vor niken die Kapazitäten für die Schlaganfall-Versorgung aufrechtzu- dem Abgang der Arteria inferior posterior cerebelli (PICA) und die erhalten.“ Arteria carotis interna im Siphonbereich. Neurovaskuläre Komplikationen nach COVID-19- Blick in die diagnostische Zukunft Impfungen Das neue, noch experimentelle Bildgebungsverfahren „Magnetic Die DGN hatte früh erkannt, dass seltene, aber voraussichtlich die Particle Imaging“ (MPI) [10] liefert über bisherige Möglichkeiten Impfbereitschaft gefährdende Komplikationen sorgfältig unter- hinausgehende, detaillierte Informationen zur zerebralen Perfusi- sucht werden müssen, um hier übertriebenen Ängsten in der Be- on, was künftig bei der Diagnostik und Therapie von Schlaganfäl- völkerung möglichst entgegenzuwirken. Die gefürchtetste neuro- len und anderen zerebralen Pathologien von großem Nutzen sein vaskuläre Komplikation, die Sinus- oder Hirnvenenthrombose, wird kann. Die Methode der Magnetpartikelbildgebung kann beispiels- verursacht durch eine Vakzin-induzierte thrombotische Throm- weise mit hoher zeitlicher und räumlicher Auflösung Blutungen bozytopenie (VITT) [4, 5]. Es kommt dabei zur Bildung von Anti- bzw. auch den Austritt von Blut in ein Hämatom hinein darstellen. körpern gegen Plättchenfaktor-4. Die Diagnostik ist jedoch nicht Die Ergebnisse lassen hoffen, so Pfeilschifter, dass die experimen- ganz einfach, da zwar die Pathogenese der der Heparin-induzier- telle Phase künftig in die Klinik überführt werden kann, erste Ge- ten Thrombozytopenie ähnelt, aber nicht jede HIT-Diagnostik die- räte seien in Entwicklung. se Störung erkennt, sodass spezifische ELISA-Tests notwendig sind. Ebenfalls vielversprechend sei ein Verfahren namens Schlagan- Eine deutschlandweite Online-Erhebung durch die DGN er- fall-Metabolomics [11], so Pfeilschifter. Biobanking bzw. die sys- gab [6], dass die Inzidenz von Sinus- und Hirnvenenthrombosen tematische Sammlung von Biomarkern bei Schlaganfällen kann gegenüber der Häufigkeit in der Allgemeinbevölkerung (maxi- helfen, Pathomechanismen früher zu erkennen bzw. die Schlagan- mal 1,75:100.000) bei Frauen nach der Gabe eines Vektorimpfstoffs fall-Ursache anhand molekularer Signaturen zuzuordnen. Die Ziele erhöht war (24:100.000 unter 60 Jahren versus 20:100.000 ab der Methode reichen von der Früherkennung über eine Stratifizie- 60 Jahren), jedoch deutlich niedriger im Vergleich zur Inzidenz bei rung der Betroffenen und eine personalisierte Behandlung bis hin einer COVID-19-Infektion (über 100:100.000). „Diese Daten konn- zu neuen Behandlungsansätzen und verbesserter, fokussierterer ten wesentlich dazu beitragen, das Risiko einzelner Impfstoffe für Studienrekrutierung. bestimmte Altersgruppen zu konkretisieren“, schloss Pfeilschifter. Epileptologie Besonderheiten bei einem Schlaganfall im höheren Alter Prof. Dr. Yvonne Weber, Aachen, thematisierte die Kongresshö- Eine Auswertung aus Daten der F IND-AF-Studie [7] zeigte über- hepunkte aus dem Gebiet der Epilepsien, wobei sie zwei Aspek- raschend deutlich, so Pfeilschifter, dass die Lebensqualität und te besonders betonte: Zum einen werde versucht, Forschungser- das psychische Wohlbefinden bei über 75-Jährigen auch ein Jahr gebnisse direkter klinisch umzusetzen, und zum anderen habe es nach einem Schlaganfall deutlich stärker beeinträchtigt sind als bei auffällig viele Beiträge gegeben, die zeigten, wie sinnvoll und rea- Jüngeren. Die Älteren erholten sich langsamer und litten vermehrt listisch eine digitale Unterstützung von Diagnostik und Therapie- an Ängsten sowie Post-Stroke-Depressionen. Eine andere Studie entscheidungen ist. untersuchte den Einfluss einer vorbestehenden Gebrechlichkeit (Frailty-Scores) auf die Therapieergebnisse einer Thrombektomie [8] und zeigte eine signifikante Abhängigkeit des funktionellen Er- 204 Der Nervenarzt 2 · 2022
Epilepsie-Chirurgie extrem wichtige Befunde werden leicht über- sehen. „Ursache ist hier nicht immer nur das menschliche Auge, sondern auch die technische Qualität der Daten – dennoch ist die Folge, dass Betroffene dann nicht adäquat beraten und behandelt werden.“ Obwohl genetische generalisierte Epilepsien klinisch häufig gut abgrenzbar sind, kann dies beispielsweise bei genetisch generali- sierten Epilepsien und Frontallappenepilepsie im Alltag schwierig sein. In diesen Situationen könnten MR-Biomarker hilfreich sein; © DGN/Claudius Pflug neue Wege soll hier das ENIGMA-Projekt („Enhancing NeuroIma- ging Genetics through Meta-Analysis Epilepsy project“) ermögli- chen. Es ist ein Projekt zur optimierten Bildauswertung mittels au- tomatisierter Analyse verschiedener MR-Modalitäten (Struktur, DTI, funktionelles bzw. fMRI, Resting state fMRI) [13]. 8 Prof. Yvonne Weber, Aachen Ein weiteres Problem sind MR-negative Epilepsien – auch in diesen Fällen könnte künftig die Strukturanalyse von FLAIR- und Großer Nutzen durch Epilepsie-Register T1-gewichteten M R-Hochauflösungssequenzen automatisiert er- folgen. Eine Studie zeigte dabei trotz vermeintlicher M R-Negativi- Epilepsie-Register haben grundlegend dazu beigetragen, Pati- tät eine Sensitivität von 83 % für die Nachweisbarkeit vorhandener entinnen und Patienten besser zu behandeln und zu beraten. Ein Läsionen unter spezifischer Nachbearbeitung [14]. Das Problem di- wichtiges Register ist das Epilepsie- und Schwangerschafts-Regis- gitalisierter Auswertungen sei generell eine gewisse Rate falsch po- ter EURAP („European registry of antiepileptic drugs and pregnan- sitiver Befunde durch technische Fehler und Artefakte, sodass die cy“), das über 45 Länder mit mehr als 28.000 Fällen umfasst. Hie- Daten nachbewertet werden müssen, erläuterte Prof. Weber. Ins- raus haben sich bereits wertvolle Erkenntnisse zur Medikation bei gesamt seien die moderne Bildgebung sowie die Nachbearbeitung Epilepsie vor und während einer Schwangerschaft ergeben, so We- technisch sehr weit fortgeschritten, was die operativen Möglichkei- ber. Unter anderem wurden Fragen zur Kontrazeption bzw. Ver- ten deutlich verbessere. „Die automatisierte Auswertung wird künf- meidung von Embryopathien geklärt, wodurch die medikamen- tig eine weitere große Hilfestellung sein, kann jedoch das mensch- töse Einstellung vieler Patientinnen verbessert werden konnte. Ein liche Auge nicht ersetzen.“ zweites, das DESIRE-Register („Development and Epilepsy – Strate- Die epilepsiechirurgischen Optionen sind grundsätzlich sehr gies for Innovative Research to improve diagnosis, prevention and gut, allerdings nur, wenn strukturelle Ursachen bzw. läsionelle treatment in Epilepsy“), mit über 9500 Fällen umfasst insbesonde- Epilepsien vorliegen. Oftmals sind Läsionen jedoch im 3-Tesla- re neuropathologische und epilepsiechirurgische Daten mit einem MRT nicht erkennbar, die erst in der Hochfeld-MR-Untersuchung Follow-up über 25 Jahre. Hier konnte ebenfalls eine verbesserte mit 7-Tesla-cMRT sichtbar waren (Sensitivität ca. 30 %) [15]. Beratung hinsichtlich prächirurgischer Aspekte und des Verlaufs abgeleitet werden. Telemedizin in der Epileptologie Eine digitalisierte Erfassung aller genetischen Epilepsien bzw. Epilepsie-Syndrome ist notwendig, so Weber, um diese besser Auch in der Epileptologie nehmen die Möglichkeiten der Teleme- durch digitale Systeme verarbeiten zu können. In einem speziel- dizin zu. So kann eine „Doc-to-Doc“-Kommunikation bei der Dia- len Projekt zu genetischen Epilepsie-Befunden („Treat Ion“/Epi- gnostik und zur Verbesserung der Versorgungsqualität eingesetzt Reg) werden Phänotypen inklusive Therapien, Verläufen und des werden. Es sind bereits mehrere Netzwerke aktiv, um Expertenwis- Outcomes digitalisiert erfasst. Vorgesehen sei, aus der Datenfülle sen zur Verfügung zu stellen und aus den Zentren herauszutragen. (z. B. Hauptgenfaktoren und Risikofaktoren/Risikogene) Kenntnisse Nachteilig ist noch, dass es sich um lokale Netzwerke handelt, die abzuleiten, die direkt in die klinische Arbeit einfließen sollen. Mit nicht miteinander verknüpft sind. Der zweite Aspekt ist die „Pa dem HPO-Verfahren („human phenotype ontology“) werden Phä- tient-to-Doc“-Kommunikation, auch sie beinhaltet Anfallserken- notypen (Anfallstypen) und Genotypen in Assoziation zur Thera- nung, Diagnosestellung und Therapieentscheidungen. Es gibt ver- pie digital erfasst [12]. Es zeigte sich, dass innerhalb der vielen un- schiedene Epilepsie-Management-Apps (z. B. „helpilapsy“ und „epi übersichtlichen Syndrome eine Systematik darstellbar ist. Auf Basis vista“), jedoch auch diese kommunizieren noch nicht miteinander. dieser Kohortenergebnisse wird auch bei seltenen Syndromen eine bessere Beratung Betroffener möglich. Digitale Anfallsdetektion und Dokumentationshilfen Bildgebung mit automatisierter Auswertung in der Die Notwendigkeit einer apparativen Anfallsdetektion ergibt sich Epileptologie aus der Erkenntnis, dass mittels Anfallskalendern ungefähr 40 % der generalisierten Anfälle und sogar bis zu 70 % der fokalen An- Bei der Auswertung epileptologischer Bildgebung müsse, wie Prof. fälle nicht erfasst werden [16]. „Wir therapieren in solchen Fällen Weber hervorhob, mit einer menschlichen Fehlerrate von 20 % bis also mit einem extremen systematischen Fehler, denn man kann 40 % gerechnet werden; vor allem sehr kleine, aber gerade für die sich auf Anfallskalender überhaupt nicht verlassen“, so Weber. Op- 205 Der Nervenarzt 2 · 2022
Mitteilungen der DGN timal wäre ein permanentes EEG-Monitoring, das Verfahren sei je- doch nicht alltagstauglich aufgrund der Stigmatisierung beim Tra- gen und der nicht ausreichend automatisierten EEG-Auswertung. Dennoch gibt es inzwischen einige kommerziell verfügbare Geräte, die in der Regel als Arm- oder Brustband getragen werden und ver- schiedene Parameter wie Bewegung, elektrodermale Aktivität und Herzfrequenz auswerten. Die Sensitivität für generalisierte tonisch- klonische Anfälle sei mit 90 bis 100 % bei manchen Geräten gut. Nachteilig sei jedoch, dass diese Geräte lediglich tonisch-klonische © DGN/Claudius Pflug Anfälle detektieren und nicht die wesentlich entscheidenderen fo- kalen Anfälle mit Bewusstseinsstörung, betonte Weber. Außerdem können Fehlalarme für die Betroffenen sehr störend sein. Das Projekt RADAR-CNS („remote assessment of disease and relapse – central nervous system“) [17] soll eine Bedarfsanalyse er- stellen, welche tragbare Geräteart Patientinnen und Patienten fa- 8 Prof. Heinz Wiendl, Münster vorisieren bzw. akzeptieren würden; welche Fragen durch solche „Wearables“ überhaupt beantwortet werden sollen bzw. wobei sie auch ein Positionspapier der MSTKG entstanden. Zusammenfas- unterstützen sollen. Geplant sind stationäre und ambulante Studi- send lasse sich sagen, dass die Kernaussage der neuen DGN LL MS en und Testszenarien mit dem Ziel, eine multimodale Anfallsdetek- zur verlaufsmodifizierenden Therapie ist: so viel wie nötig, so we- tion sowie die Integration interaktiver Smartphone-Anwendungen nig wie möglich („Treat-to-target-Strategie“), mit einer sehr star- zu evaluieren. ken Gewichtung der Therapiesicherheit. In einer Pro- und Contra- Beim CDS-System/CDSS („clinical decision support system“) han- Diskussion wurde dieser Strategie das Konzept der „bestmöglichen delt es sich ebenfalls um ein digitales Hilfssystem des Gesundheits- Krankheitskontrolle unter der bestmöglichen Lebensqualität“ („hit wesens als Entscheidungshilfe für ein individualisiertes Erkrankungs- hard/smart and early“) gegenübergestellt (die wesentliche Kenn- management (Diagnostik und Therapie). Betroffene haben dabei die linie der MSTKG-Position). Die Gewichtung der Therapiesicherheit Möglichkeit, Daten einzugeben (z. B. Verträglichkeit von Medika- sowie die Einflussnahme-Möglichkeiten und Präferenzen von Be- menten), und auch die Behandelnden können darauf zugreifen und troffenen seien enorm wichtig, allerdings dürften sie nicht über Einträge vornehmen. Die Verarbeitung erfolgt auf der Basis von Wis- die Möglichkeiten der modernen M S-Therapie, nämlich langfristig sen und Datenbanken (z. B. Medikamenteninteraktionen, Leitlinien, Behinderung zu vermeiden, gestellt werden. Literatur, Expertenmeinungen); ein Algorithmus kann dann automa- Der Vergleich beider Strategien ist auch Gegenstand aktueller tisiert Diagnosen, Hilfestellungen und Therapieempfehlungen aus- Studien, beispielsweise beim Vergleich von Registerdaten aus Dä- geben. Am Uniklinikum Aachen soll im Frühjahr 2022 eine klinische nemark (langsame Eskalation) und Schweden (primär hochaktive Studie im Rahmen des EDITH-Projekts („Epilepsie richtig diagnosti- Therapie) [19]. Hier zeigte sich hinsichtlich der Zunahme des Be- zieren und therapieren“) starten, welche die Leitlinien-Adhärenz bei hinderungsgrads eine klare Überlegenheit der frühen hocheffekti- Verwendung dieses CDSS und ohne CDSS vergleichen soll. ven DMT. „Die Daten sollten auch den Patientinnen und Patienten dargelegt werden“, so Wiendl. Multiple Sklerose und Neuroimmunologie Schubunabhängige Progression „Die Neuroimmunologie ist einer der wesentlichen Innovations- treiber in der Neurologie“ – mit dieser Aussage begann Prof. Dr. Ein sehr wichtiges Forschungsthema ist die Progression der Multip- Heinz Wiendl, Münster, seinen Vortrag im Spotlight-Symposium. len Sklerose, also wann und wie es zur Neurodegeneration kommt. Viel habe sich im vergangenen Jahrzehnt in der M S-Therapie ge- Die klassische Einteilung in schubförmige M S (RRMS), sekundär tan, aber es gebe noch immer offene Forschungsfragen, wie letzt- progrediente MS (SPMS) und primär progrediente MS (PPMS) wird lich auch die aktuelle Debatte um die neue S2k-Leitlinie „Diagnose inzwischen zunehmend verlassen, man spricht vielmehr von „re- und Therapie der MS“ zeige. lapsing“ und „progressiver“ MS. Eine zunehmende neurologische Behinderung stehe einerseits im Zusammenhang mit den Schü- Neue S2k-Leitlinie „Diagnose und Therapie der MS“ ben, zum anderen trete sie auch unabhängig davon auf. Neue Akro- nyme seien daher R AW („relapse associated worsening“) und P IRA Auf dem Kongress gab es ein eigenes Symposium mit Informatio- („progression independent of relapse activity“), erläuterte Wiendl. nen und wissenschaftlichen Diskussionen zu den neu publizierten Das PIRA-Phänomen setzt nach jüngsten Daten schon sehr früh S2k-Leitlinien von AWMF und DGN [18]. Die Empfehlungen sollen im Krankheitsverlauf der MS ein und bei einem relevanten Anteil besonders das Management der verlaufsmodifizierenden MS-Im- von Patientinnen und Patienten. Von daher sollte die M S von Be- muntherapie verbessern (z. B. Therapiebeginn, Eskalation und De- ginn an als potenziell progrediente Erkrankung gesehen werden, eskalation). Es ist vorgesehen, die Leitlinie regelmäßig als „living in unterschiedlicher Ausprägung der Progredienz, betonte Wiendl. guideline“ anzupassen bzw. weiterzuentwickeln, erläuterte Prof. Laut neueren Studien seien über 30 % der Patientinnen und Patien- Wiendl. Die Leitlinie habe viel Diskussion generiert, parallel sei ten von PIRA betroffen. „Das ist eine ziemlich erschütternde Bot- 206 Der Nervenarzt 2 · 2022
schaft, vor allem wenn man bedenkt, wie nachlässig oftmals mit Eomesodermin sei möglicherweise sogar geeignet, im peripheren der Frühtherapie umgegangen wird“, kritisierte Wiendl. Blut zwischen primär und sekundär progredienter M S zu diskrimi- nieren. Neue Immuntherapien und -strategien in der Neurologie Für die Verlaufsbeurteilung und Therapiekontrolle der M S kommt in erster Linie das M RT zum Einsatz. 2021 wurde erstmals „Mit der Neuroimmunologie als Innovationstreiber für Therapien ein internationales Positionspapier zu vereinheitlichten MRT-Stan- kommt eine extrem interessante und reichhaltige Werkzeugbox dards bei M S publiziert [24]. Die Konsensus-Empfehlungen des Eu- auf uns zu; auch für neue Indikationen“, erklärte Prof. Wiendl. Dabei ropäischen Netzwerks MAGNIMS („Magnetic Resonance Imaging in gebe es neue Hoffnung für Patientinnen und Patienten auch über MS“), des C MSC („Consortium of Multiple Sclerosis Centers“) und die M S hinaus, beispielsweise bei N MOSD-Spektrum-Erkrankungen der NAIMS („North American Imaging in MS Cooperative“) beinhal- und Myasthenia gravis [20]. Neue Antikörpertypen wirken teilweise ten technisch vereinfachte und verkürzte M RT-Protokolle. nach anderen Prinzipien als bisher, sie kombinieren Fc-Modifikati- Bei steroidresistenten M S- oder N MOSD-Schüben erfolge an- onen mit neuen Zielantigenen; sie senken Gesamtimmunglobulin, stelle einer Steroideskalation zunehmend häufiger bzw. nieder- richten sich gegen FcRN- bzw. Fc(γ)-Rezeptoren, selektiv gegen IL-6 schwelliger der Einsatz von Immunadsorption oder Plasmapherese. oder Komplementfaktoren. Zurzeit wird nach zellulären Biomarkern und klinischen Prädiktoren Speziell für die M S-Therapie richten sich derzeit große Erwar- für das Therapieansprechen gesucht. Das Therapieansprechen auf tungen auf die oral applizierbaren Inhibitoren der Bruton-Tyrosinki- die Immunadsorption hängt in erster Linie von IgG1-assoziierten nase (BTK-Blocker). Hier gebe es gerade gleichzeitig vier Phase-III- autoimmunen Mechanismen ab; als möglicher negativer Prädiktor Programme (bei RMS sowie PMS) mit verschiedenen BTK-Blockern. wurde die Aktivierung der zellulären zytotoxischen Autoimmunität Die Substanzen wirken nicht nur auf B-Zellen, sondern auch auf bei Non-Respondern identifiziert [25]. Eine andere Studie [26] er- innate Elemente des Immunsystems, so die myeloiden Zellen. Zu- gab, dass es sich bei der Wirkung der Plasmapherese nicht nur um dem besitzen sie eine Gehirngängigkeit [21] – im Gegensatz zu ein Auswaschen von humoralen Faktoren handele, sondern dass T- Antikörpern. Man hoffe, über diesen Weg sowohl die periphere als Helferzellen für besseres Therapieansprechen eine Bedeutung zu auch die Kompartment-Inflammation im ZNS einzudämmen und haben scheinen. damit auch progredienzfördernde Mechanismen zu stoppen, er- klärte Wiendl. Last, but not least: MS und COVID-19 Neues zur Pathogenese: die Meningen als B-Zell- Zum Thema MS und COVID-19 konnten in den letzten zwei Jah- Reservoir ren viele Fragen beantwortet werden. Wie Wiendl betonte, könne eine SARS-CoV-2-Infektion MS-Schübe auslösen – wie viele ande- Privatdozent Dr. Gerd Meyer zu Hörste, Münster, erhielt den Wis- re Infektionen auch, besonders Viruserkrankungen. MS-Betroffene senschaftspreis der DGN 2021 für wegweisende Erkenntnisse zur haben aber per se kein erhöhtes Ansteckungsrisiko oder Risiko für Entstehung autoimmun-entzündlicher Erkrankungen des Nerven- einen schwereren Verlauf. Eine spezielle Situation bestehe jedoch systems. Gezeigt wurde [22], dass das zentrale Nervensystem ein unter bestimmten Immuntherapien, problematisch seien vor al- B-Zell-Reservoir darstellt. Speziell die Dura mater erwies sich un- lem Steroidbehandlungen und CD20-depletierende Therapien, un- erwartet als Ort einer B-Zell-Residenz und möglicherweise einer ter denen es zu schwereren Erkrankungsverläufen kommen könn- B-Zell-Reifung im Rahmen von Homöostase und Neuroinflamma- te. Auch Alter, höhere Behinderung und zusätzliche Risikofaktoren tion. Ähnlich dem Knochenmark beherbergt die gesunde Dura B- (Rauchen, kardiovaskuläres Risikoprofil) gehören zu den Risikofak- Zell-Vorläufer, sodass von hier direkt myeloide Zelltypen expan- toren für einen schwereren Verlauf. dieren können. Es scheint pathophysiologisch sinnvoll, so Wiendl, Die Impfung gegen SARS-CoV-2 gilt für MS-Betroffene als si- dass ortsständige, duraresidente Zellen auch direkt mit neuroin- cher und wirksam, auch unter der Mehrzahl möglicher Immun- flammatorischen Erkrankungen in Zusammenhang stehen – pas- therapien. Eine deutlich verminderte Antikörper-Impfantwort ist send zum Konzept der Kompartmentalisierung der Entzündung. allerdings bei Anti-CD20-Therapien zu erwarten. „Wir motivieren unsere Patientinnen und Patienten zur Corona-Impfung, denn eine Biomarker für die MS-Progression und Kontrolle des schwächere Immunantwort ist trotzdem immer besser als gar kei- Therapieansprechens ne“, betonte Wiendl. Hinzu komme, dass nach neuen Studien zwar eine verminderte humorale, aber durchaus eine zelluläre Immun Für die Therapiekontrolle, Prognose und Diagnostik existierten antwort erwartet werden könne. bislang nur bei wenigen neurologischen Erkrankungen Biomarker oder Biosignaturen. Ein optimaler Biomarker sollte gleichzeitig kli- Bewegungsstörungen nisch hilfreich sein und die Pathogenese und/oder Progression er- klären, so Wiendl. Prof. Dr. Heinz Reichmann, Dresden, widmete sich aktuellen The- Eine Studie [23], die auf dem Kongress einen E-Poster-Preis er- men aus dem Gebiet der Bewegungsstörungen, zu welchen der hielt, suchte nach präklinischen M S-Progressionsmarkern im peri- Kongress mit 29 Hauptvorträgen, mit Beiträgen im Präsidenten- pheren Blut und konnte den Transkriptionsfaktor Eomesodermin symposium, einem Videoforum und ca. 50 Postern viel zu bieten identifizieren, der von bestimmten T-Helferzellen exprimiert wird. hatte. 207 Der Nervenarzt 2 · 2022
Mitteilungen der DGN Behandlung möglich sei (d. h. bei deutlich asymmetrischem Mor- bus Parkinson bzw. einseitigem Tremor); vermutlich sei in Zukunft jedoch auch eine bilaterale Behandlung denkbar. Darüber hinaus werde die Anwendung künftig weiter optimiert werden müssen, dies betreffe neue Indikationen, Patientenauswahl, Erfassung von Langzeiteffekten und Nebenwirkungen (z. B. Halbseitenlähmung, Sprachstörungen, Dyskinesieauslösung). Ein Vorteil des MRgFUS gegenüber der THS sei das geringere Ri- © DGN/Screenshot siko von Blutungen und Infektionen, außerdem entfallen Narkose- risiko und potenzielle Elektrodendislokationen. Auch gebe es nun für geeignete Patientinnen und Patienten eine Alternative, die zu große Angst vor einer offenen Gehirnoperation hätten. 8 Prof. Heinz Reichmann, Dresden „Ich glaube, dass der M RgFUS eine wichtige neue Facette in die Versorgung der Patientinnen und Patienten bringt, der bestehen- MR-gesteuerter fokussierter Ultraschall de spannende Diskurs sollte aber im akademischen Feld bleiben“, merkte Reichmann an. Der MR-gesteuerte fokussierte Ultraschall (MRgFUS) ist eine läsi- Doch gerade der Vergleich mit der tiefen Hirnstimulation sei onelle Technik, mit der Gewebestrukturen ohne Operation gezielt wichtig, denn auch diese entwickle sich immens weiter (bedarfs- ausgeschaltet werden können. Mittels MRT erfolgten die Zielloka- gesteuerte, adaptive Stimulation, lernfähige Algorithmen, A I-Pro- lisation und die Temperaturkontrolle; mit einem sehr starken fo- gramme). kussierten Ultraschall können dann millimetergenau thermische Es gibt erste Übersichten, die mögliche Einsatzgebiete der bis- Läsionen gesetzt werden. Dazu erfolgt eine Gewebeerwärmung her wichtigsten Therapieoptionen des M. Parkinson (Apomorphin, zunächst auf 50 Grad. Dabei wird kontrolliert, ob die Zielsymptome Duodopa, THS) mit dem MRgFUS vergleichen. Die Effekte auf be- zurückgehen, und dann die Temperatur auf 60 Grad erhöht und die stimmte Symptome seien hier teilweise unterschiedlich und ent- Zielstruktur deaktiviert. sprechend seien die Einsatzgebiete zu wählen, betonte Reichmann. Gesicherte Indikationen (Klasse-1-Evidenz) seien der essenzielle So sei beispielsweise im Gegensatz zur THS der fokussierte Ultra- Tremor [27], der tremordominante M. Parkinson [28] und ein hoch- schall auch bei kognitiven Störungen/Demenz sowie bei Sprech- gradig asymmetrischer M. Parkinson [29], erweiterte Indikationen und Schluckstörungen eine Option. (mit Anwendung in Studien) der M. Parkinson mit Wirkungsfluktu- ation und leichten Peak-Dose-Dyskinesien [30] sowie bestimmte Oropharyngeale Dysphagie und Schlucktraining andere Tremores (z. B. Holmes-Tremor, MS-Tremor) [31]. Darüber hinaus kämen perspektivisch Indikationen infrage wie Schmerz, Wenn Parkinson-Erkrankte auf ihre Medikamente nicht gut anspre- Epilepsie, Blut-Hirn-Schranken-Eröffnung, Dystonie, Demenz [32]. chen, ist nicht selten eine Schluckstörung das eigentliche Problem, Die Zielpunktauswahl bei M. Parkinson mit einem beeinträch- begann Reichmann das nächste Thema. Schluckstörungen träten tigenden, einseitigen Tremor betrifft in erster Linie Strukturen des bei vielen Parkinson-Kranken sehr früh auf und würden viel zu sel- Thalamus (Nucleus subthalamicus STN, Nucleus ventralis interme- ten diagnostiziert – nach der Literatur seien jedoch bis zu 80 % der dius VIM). Während bei der tiefen Hirnstimulation (THS) bestimmte Kranken im Verlauf betroffen [34], erinnerte er. Folgen sind Man- Regionen moduliert werden, schaltet der MRgFUS die Zielstruktur gelernährung, reduzierte Lebensqualität und Aspirationspneumo- ganz aus (Subthalamotomie). In einer randomisierten Studie [32] nien. Die Behandlungsmöglichkeiten von Schluckstörungen seien halbierte sich die Symptomlast in der Verumgruppe. Bei Patientin- bislang nicht zufriedenstellend, daher sei die EMST-Methode („ex- nen und Patienten, die unter geringen Levodopa-Dosen schwere spiratory muscle strength training“) von besonderem Interesse. Dyskinesien entwickeln, könne als Zielstruktur wie bei der THS der Das exspiratorische Muskelkrafttraining führte in einer früheren Globus pallidus internus (GPi) auch mit M RgFUS angegangen wer- Studie zur Verbesserung der Schlucksicherheit (Penetration/Aspira- den (direkter antidyskinetischer Effekt). tion-Score) [35]. Nun wurden erstmals die Effekte auf die Schluckef- Eine ganz aktuelle Studie ging der Frage nach, ob bei Tremor- fizienz untersucht (5 × wöchentlich, über vier Wochen häusliches Erkrankten die Läsionierung des VIM oder des Tractus cerebello- Atemtraining mit definierten Übungen mit einem speziellen Gerät) thalamicus entscheidender ist [33]. Dazu wurden die individuellen [36]. Nach vierwöchigem Training sowie nach weiteren zwei Mo- Läsionen von erfolgreich behandelten Patientinnen und Patienten naten zeigte sich eine deutlich verbesserte Schluckeffizienz (FEES- mittels M R-Traktographie lokalisiert und gezeigt, dass Traktusläsio- Befund) gegenüber der Sham-Kontrollgruppe. nen vorherrschend waren. Insgesamt seien bei dem Verfahren des MRgFUS noch viele Fra- Abgrenzung von Bewegungsstörungen und gen offen und die bisherigen Behandlungsserien seien noch klein, funktionellen Störungen fuhr Reichmann fort. Technische Limitationen des MRgFUS umfass- ten zu weit lateral gelegene Zielstrukturen, die teilweise nicht aus- Auch für erfahrene Behandelnde sei es manchmal schwierig, funk- reichend erhitzbar sind. Der größte Nachteil der Methode sei der- tionelle Störungen von einer definierten Bewegungsstörung ab- zeit, dass im Hinblick auf die Patientensicherheit nur eine einseitige zugrenzen; die Diagnose einer funktionellen Bewegungsstörung 208 Der Nervenarzt 2 · 2022
ist oft anspruchsvoll. Für den klinischen Alltag sei eine gezielte, orientierende Objektivierung von Symptomen daher besonders relevant [37, 38], so Reichmann. Auf ein funktionelles bzw. psy- chogenes Parkinson-Syndrom weisen jedoch bestimmte Untersu- chungsbefunde hin, beispielsweise ein Tremor, der durch Ablen- kung sistiert, fehlende Mikrographie, eine Gangstörung mit dicht am Körper gehaltenen Armen (auch beim Rennen), ein verlang- samter Gang ohne Freezing oder ein Rigor mit starkem Gegenhal- © DGN/Screenshot ten ohne Zahnradphänomen. Integrierte Versorgung 8 Prof. Christine von Arnim, Göttingen Die Therapie funktioneller Bewegungsstörungen ist komplex, opti- mal sei ein multidisziplinäres Herangehen, das von Neurologinnen und Neurologen koordiniert werden sollte. Notwendig seien meist Vorgehen deutlich; denn wenn kein Biomarker nachweisbar sei, viele Komponenten wie Psychoedukation, Psychotherapie (kogni- werde verstärkt nach Differenzialdiagnosen gesucht, so von Arnim. tive Verhaltenstherapie), Neurophysiotherapie, Ergotherapie, Lo- „Auch bei MCI (‚mild cognitive impairment‘) hängt inzwischen das gopädie [39–41]. Die interdisziplinäre Langzeitbehandlung erfol- Prozedere davon ab, ob eine biologisch definierte Diagnose vor- ge heutzutage optimalerweise bedürfnisorientiert/individualisiert liegt“, erläuterte von Arnim. und flexibel („Hilfe zur Selbsthilfe“), so Reichmann. Vergleichbare Etablierte Liquormarker wie Beta-Amyloid 40/42 oder Tau-Pro- integrierte Versorgungskonzepte bei Parkinson-Betroffenen finde tein werden zunehmend durch umfangreiche neue Biomarker-Ent- man beispielsweise in den Niederlanden [42]. Auch hier wird zur wicklungen in der Differenzialdiagnostik ergänzt, die künftig zur Patientenführung und -edukation eine große Zahl an Behandeln- Diskriminierung zwischen A D und anderen neurodegenerativen den bzw. Ressourcen benötigt, dies sind Physiotherapie, Neurochi- Erkrankungen oder z. B. für vaskuläre Demenzen oder Parkinson- rurgie, Ernährungsberatung, Logopädie, Parkinson-Nursing, Apo- Demenz zum Einsatz kommen werden. Neben den Liquormarkern theken, Geriatrie, Sozialarbeitende und andere Alltagshilfen. seien bedeutende Fortschritte in der Blutbiomarkerdiagnostik zu verzeichnen. Von besonderer Bedeutung scheine auch das Verhält- Studien zur Neuroprotektion nis verschiedener Blutbiomarker zueinander zu sein; beispielsweise das Gesamt- und das Phospho-Tau [44]. Gerade hier habe sich die Besonders bei Bewegungsstörungen, die mit Proteinfehlfaltung Technik der Multiplex-Assays stark weiterentwickelt und werde in und neurozellulärer Aggregatbildung einhergehen, liegt es nahe, den nächsten Jahren den Weg in die Klinik finden und das Vorge- so Reichmann, Interventionsmöglichkeiten zu untersuchen, die hen weiter verändern, so von Arnim. Neben den Konzentrationen molekularchemisch genau dort angreifen. So soll die Aggregati- von Biomarkern spielen auch die Eigenschaften von Proteinen bzw. on von Tau-Proteinen beispielsweise bei der progressiven supra- Biomarkern eine Rolle – wie beispielsweise Aggregationseigen- nukleären Blickparese bzw. 4R-Tauopathien [43] verhindert wer- schaften bei neurodegenerativen Erkrankungen [45]. den; oder die Weitergabe von α-Synuclein von Zelle zu Zelle. Etliche Ein ganz neuer Marker für neuronale Schäden bei der Alzhei- Studien laufen bereits, wobei neben monoklonalen Antikörpern mer-Krankheit ist Visinin-like-Protein-1 (VILIP-1) [46]. Der Marker auch Antisense-Oligonukleotide zum Einsatz kommen. Angriffs- zeigte bei AD-Patientinnen und -Patienten eine signifikante Erhö- punkte sind dabei Gene wie MAPT („microtubule-associated pro- hung im Liquor. VILIP-1 könnte zunächst zur Stratifizierung der Pa- tein tau“), SNCA (Synuclein), LRRK2 („leucine-rich repeat kinase 2“), tienten in Therapiestudien und als Surrogat-Parameter zur Effekti- SOD1 („superoxide dismutase1“) und HTT (Huntingtin). vitätskontrolle neuroprotektiver Therapien zum Einsatz kommen. „Das Potenzial neuer Biomarker-Entwicklungen zur besseren Altern und demenzielle Erkrankungen Einordnung, Charakterisierung bzw. biologischen Klassifizierung der Erkrankungen halte ich für immens“, so von Arnim. Prof. Dr. Christine von Arnim, Göttingen, stellte die wichtigsten Bei- träge zum Thema Altern und demenzielle Erkrankungen dar. Stellenwert von Tau- und Amyloid-PET in der Bildgebung Diagnostik und Früherkennung Die P ET-Marker für den Amyloid-Nachweis sind inzwischen eta- Die ATN-Klassifikation, die ursprünglich ein Forschungskonstrukt bliert und gut validiert. Die Validierung von vielen wissenschaftlich darstellte, so Prof. von Arnim, findet weltweit wie auch in Deutsch- eingesetzten Tau-Tracern (in Ante-mortem-/Post-mortem-Studien) land zunehmend den Weg in die klinische Praxis. Damit habe sich steht dagegen noch aus. Während in präklinischen und prodroma- das Bild der Alzheimer-Demenz gewandelt – von der rein klini- len Stadien der Alzheimer-Erkrankung die Amyloid-Marker nicht schen Beschreibung zu einer klinisch-biologischen Diagnose, die durch Tau ersetzbar sind, kann das Tau-PET bei manifester A D zum definiert wird durch Amyloid (A), Tau-Protein (T) und Neurodege- Erkenntnisgewinn bei der Differenzialdiagnostik beitragen [47]. neration (N). Die biologische Diagnostik beeinflusst das klinische Das Tau-Protein scheint im Verlauf der Alzheimer-Erkrankung eine 209 Der Nervenarzt 2 · 2022
Mitteilungen der DGN wichtige Rolle zu spielen; der klinische Nutzen des Tau-PETs muss im mittleren Lebensalter zu identifizieren. Eine Studie [49] unter- jedoch noch weiter quantifiziert werden. Gegenüber dem Beta- suchte daher Insomnie-Betroffene mit einfachen Screeningtools Amyloid-Imaging, das sich zur Darstellung des neurodegenerati- (Montreal Cognitive Assessment/MoCA, Pittsburgh sleep quality ven Typs eignet, und dem FDG-PET (mit F-18-Desoxyglukose), das Index/PSQI, insomnia severity Index/iSI und Polysomnographie) die räumliche Verteilung der Neurodegeneration abbildet, hat die und konnte kognitive Defizite nachweisen, die mit der objektiven Tau-PET-Bildgebung den Vorteil, dass sie den Typ der Neurodege- und subjektiven Schlafqualität korrelierten, nicht jedoch mit Angst- neration und die räumliche Verteilung kombiniert darstellen kann. und Depressionssymptomen. Die Lokalisation stimmte dabei gut mit den Braak-Stadien überein. Neues zur frontotemporalen Demenz (Nichts) Neues zur Therapie neurodegenerativer Erkrankungen? Entgegen der bisherigen Lehrmeinung, dass die Verhaltensvariante der frontotemporalen Demenz (behaviorale F TD bzw. bvFTD) nicht Seit ungefähr 20 Jahren scheinen effektive Therapien gegen neu- mit Gedächtnisstörungen einhergehe, zeigte eine Studie [50] bei rodegenerative Erkrankungen wie die Alzheimer-Demenz immer 41 % der Betroffenen im Frühstadium einer bvFTD primär enko- wieder greifbar nahe, doch gingen Studien mit Medikamenten (wie dierungsbezogene, amnestische Gedächtnisstörungen (verbale Beta-Sekretase, Gamma-Sekretase, Tau-Antikörper) negativ aus. und nonverbale Wiedererkennungsleistung). Bei Vorhandensein Besonders wichtig sei dann, so von Arnim, zu klären, weshalb die von Gedächtnisstörungen und Verhaltensstörungen war die funk- Therapien nicht funktionierten. So habe beispielsweise die Beta- tionale Beeinträchtigung stärker. Außerdem war eine Atrophie im Sekretase neben der Förderung der Amyloid-Bildung noch ande- Hippocampus und der Amygdala nachweisbar. re Funktionen, sie spiele nämlich auch bei der Amyloid-Clearance Zusammenfassend wies Frau Prof. von Arnim auf die Wichtigkeit eine Rolle [48]. guter Register und Netzwerke hin, um am Patientenprofil neue Di- Eine neue Ära der Alzheimer-Therapie könnte mit dem Antikör- agnostikmethoden wie Biomarker und auch Therapien in der Brei- per Aducanumab beginnen, wobei auch andere Substanzen mit te zu charakterisieren und zu evaluieren. Hier leiste die Gründung ähnlichem Wirkmechanismus untersucht werden. Der Amyloid-An- des „Deutschen Netzwerks Gedächtnisambulanzen“ einen wichti- tikörper Aducanumab war klinisch vielversprechend und hatte in gen Beitrag. einer Phase-1-Studie im P ET eine eindrucksvolle Amyloid-Reduk- tion gezeigt. Phase 3 wurde direkt angeschlossen mit den paralle- Literatur len Studien EMERGE und ENGAGE. Beide Studien waren nach ei- ner Zwischenanalyse („Futility-Analyse“) gestoppt worden. Später 1. Fischer U, Basel; mündliche Präsentation auf dem Kongress der Europäischen Schlaganfallgesellschaft wurden abschließend alle noch erfassten Daten ausgewertet. Al- 2. Nogueira RG, Abdalkader M, Qureshi MM et al (2021) Global impact of CO- lerdings nur in der EMERGE-Studie ergab sich nach Aufdosierung VID-19 on stroke care. Int J Stroke 16(5):573–584 (Jul) in der Hochdosisgruppe nun doch ein Positiveffekt – sowohl im 3. Wu J, Mamas MA, Mohamed MO et al (2021) Place and causes of acute cardio- vascular mortality during the COVID-19 pandemic. Heart 107(2):113–119 (Jan) Amyloid-PET als auch klinisch. Obwohl Expertinnen und Experten 4. Greinacher A, Thiele T, Warkentinet TE et al (2021) Thrombotic Thrombocyto- eher Zurückhaltung empfohlen hatten, erfolgte aufgrund des ein- penia after ChAdOx1 nCov-19 Vaccination. N Eng J Med 384(22):2092–2101. drucksvollen Biomarker-Effekts im Juni 2021 eine F DA-Zulassung https://doi.org/10.1056/NEJMoa2104840 nach demselben Prinzip wie bei onkologischen Medikamenten, um 5. Schultz NH, Sørvoll ICH, Michelsen AE et al (2021) Thrombosis and Thrombocy- topenia after ChAdOx1 nCoV-19 Vaccination. N Engl J Med 384(22):2124–2130 Erkrankten die therapeutische Chance nicht vorzuenthalten. Es soll (Jun 3) jedoch noch spezifiziert werden, welche Patientinnen und Patien- 6. Schulz JB, Berlit P, Diener HC et al (2021) German Society of Neurology SARS- ten von der Präzisionsmedizin am ehesten profitieren. Die EMA hat CoV-2 Vaccination Study Group. COVID-19 Vaccine-Associated Cerebral Venous Thrombosis in Germany. Ann Neurol 90(4):627–639 (Oct) dagegen Ende 2021 die Zulassung abgelehnt. 7. Sadlonova M, Wasser K, Nagel J et al (2021) Health-related quality of life, anxiety and depression up to 12 months post-stroke: Influence of sex, age, Demenzrisiko und neurokognitive Auffälligkeiten bei stroke severity and atrial fibrillation – A longitudinal subanalysis of the Find-AF RANDOMISED trial. J Psychosom Res 142:110353 Patientinnen und Patienten mit Insomnie 8. Schnieder M, Bähr M, Kirsch M et al (2021) Analysis of Frailty in Geriatric Pati- ents as a Prognostic Factor in Endovascular Treated Patients with Large Vessel Da eine chronische Insomnie einen Risikofaktor für eine Alzhei- Occlusion Strokes. J Clin Med 10(10):2171 mer-Entwicklung im höheren Lebensalter darstellt, wäre es sinn- 9. Beuker C, Wanker MC, Thomas C et al (2021) Characterization of Extracranial Giant Cell Arteritis with Intracranial Involvement and its Rapidly Progressive voll, Betroffene mit erhöhtem neurodegenerativem Risiko bereits Subtype. Ann Neurol 90(1):118–129 10. Ludewig P, Graeser M, Forkert ND et al (2021) Magnetic particle imaging for assessment of cerebral perfusion and ischemia. Wiley Interdiscip Rev Nanomed Alle Kongressinhalte noch bis November 2022 zum Nachhören und Nanobiotechnol. https://doi.org/10.1002/wnan.1757 (Oct 6) Nachsehen! 11. Montaner J, Ramiro L, Simats A, Tiedt S et al (2020) Multilevel omics for the Das gesamte Kongressprogramm, alle Live-Veranstaltungen und discovery of biomarkers and therapeutic targets for stroke. Nat Rev Neurol die über 300 vorproduzierten Webcasts stehen den Kongressbesu- 16(5):247–264 cherinnen und -besuchern noch bis zum November 2022 auf dem 12. Ganesan S, Galer PD, Helbig KL et al (2020) A longitudinal footprint of genetic Kongressportal zur Verfügung. Nutzen Sie dieses Angebot! Eine epilepsies using automated electronic medical record interpretation. Genet Med 22(12):2060–2070 (Dec) Anmeldung ist auch jetzt noch möglich. 13. https://www.nitrc.org/projects/enigma. Zugegriffen: 9. 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Mitteilungen der DGN Ein Jahr DGN-Präsident – Neue Personalia im erste Bilanz und persönlicher DGN-Vorstand und der Ausblick auf 2022 DGN-Geschäftsstelle Prof. Dr. Christian Gerloff bilanziert sein erstes Jahr als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie e. V. und gibt im Vi- Prof. Lars Timmermann, Marburg, ist neuer stellvertretender deointerview am Beispiel der Digitalisierung und Weiterbildung Präsident der DGN Einblicke in die Themen, die er in seinem zweiten Amtsjahr 2022 Seit dem 1. Januar 2022 ist Prof. voranbringen möchte. Das Video finden Sie auf https://www. Lars Timmermann, Marburg, youtube.com/watch?v=XaHp96U1AVo neues Mitglied im Präsidium und stellvertretender Präsident der Deutschen Gesellschaft Weiterbildung und Digitalisierung – beide Themen hängen eng für Neurologie (DGN). Der zusammen und sind für die Zukunftsfähigkeit des Fachs von gro- 49-jährige Direktor der Klinik für ßer Bedeutung. Deshalb hat sich Prof. Gerloff zum Ziel gesetzt, Neurologie des Universitätskli- diese Themen in seiner Präsidentschaft weiterzuentwickeln. „Wir nikums Marburg (UKGM) wurde © DGN/Christian Staaden müssen uns fragen: Warum würde jemand in 10 oder 15 Jahren in der Mitgliederversammlung der DGN am 4. November 2021 ein neurologisches Konsil anfordern?“ Für die Zukunftsfähigkeit in das DGN-Präsidium gewählt. der Neurologie und der zukunftsfähigen Weiterbildung ist aus Ein thematischer Aspekt, den er Sicht des DGN-Präsidenten die Vermittlung der genuinen neuro- verstärkt in die Vorstandsarbeit logischen Skills bedeutsam, wie z. B. elektrophysiologische oder einbringen möchte, ist die 8 Prof. Lars Timmermann, Intensivierung der Netzwerk- neurosonographische Fertigkeiten. Die Herausforderung liegt also Marburg arbeit. darin, genau diese dem Nachwuchs fundiert zu vermitteln. Dafür wurde 2021 eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe ins Leben geru- fen und erste neue Veranstaltungsformate wie die SkillsLabs eta- bliert. David Friedrich-Schmidt, neuer Geschäftsführer der DGN Begleitet werden müssen diese Aktivitäten von einem um- Seit Beginn des Jahres ist fassenden digitalen Konzept – und derzeit wird an einem digi- David Friedrich-Schmidt neuer talen „DGN-Channel“ gearbeitet, der ab November 2022 live ge- Geschäftsführer der DGN. Der hen wird. Betriebswirt war bereits acht Jahre für die D GN tätig, seit 2018 verantwortete er sämtliche operativen Tätigkeiten der Fachgesellschaft. David Friedrich- Schmidt hat sich zum Ziel gesetzt, © DGN/Christian Staaden die DGN durch kontinuierlichen Ausbau der Infrastruktur zu einem unabhängigen Informa- tionsdienstleister auszubauen und so die größte neurologische Fachgesellschaft Europas 8 David Friedrich-Schmidt, auch zu einer der modernsten Berlin medizinischen Fachgesellschaften weltweit zu entwickeln. © peshkov, iStock.com 8 DGN-Präsident Prof. Christian Gerloff gibt im Video einen Ausblick auf das zweite Jahr seiner Amtszeit 212 Der Nervenarzt 2 · 2022
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