Stéphane Denève Leonidas Kavakos & - NDR
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Stéphane Denève & Leonidas Kavakos Donnerstag, 03.06.21 — 18.30 Uhr & 21 Uhr Sonntag, 06.06.21 — 10.30 Uhr & 13 Uhr Elbphilharmonie Hamburg, Großer Saal
STÉPHANE DENÈVE Dirigent LEONIDAS K AVAKOS Violine NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER Das Konzert am 06.06.21 um 10.30 Uhr ist live zu hören auf NDR Kultur. Der Audiomitschnitt bleibt danach online abrufbar.
G A B R I E L FAU R É (1 8 4 5 – 192 4) Pelléas et Mélisande Suite für Orchester op. 80 Entstehung: 1898; 1901 | Uraufführung: London, 21. Juni 1898 (komplette Schauspielmusik); Paris, 3. Februar 1901 (Suite) / Dauer: ca. 16 Min. I. Prélude. Quasi Adagio II. La Fileuse (Die Spinnerin). Andantino quasi Allegretto III. Sicilienne. Allegretto molto moderato IV. La Mort de Mélisande (Mélisandes Tod). Molto Adagio F E L I X M E N D E L S S O H N B A R T H O L DY (1 8 0 9 – 1 8 47) Konzert für Violine und Orchester e-Moll op. 64 Entstehung: 1838–44 | Uraufführung: Leipzig, 18. März 1845 | Dauer: ca. 30 Min. I. Allegro molto appassionato II. Andante III. Allegretto non troppo – Allegro molto vivace H EC T O R B E R L I OZ (1 8 0 3 – 1 8 69) Le Carnaval romain Ouvertüre op. 9 Entstehung: 1838; 1844 | Uraufführung: Paris, 3. Februar 1844 / Dauer: ca. 10 Min Allegro assai con fuoco – Andante sostenuto – Tempo I. Allegro vivace Keine Pause
GABRIEL FAURÉ Pelléas et Mélisande op. 80 Kunst der Andeutung Wenn Worte ihren eigentlichen Zweck der direkten Kommunikation verlieren und nur noch als Andeu- tungen und Hinweise auf einen dahinter liegenden Sinn gelten, dann hat man es wahlweise mit einem vertrackten Rätsel, einem anstrengenden Gesprächs- partner – oder aber mit der Kunst des sogenannten „Symbolismus“ zu tun. Von Frankreich ausgehend, wurde diese Ästhetik des Indirekten am Ende des 19. Jahrhunderts bald zu einer überregionalen, alle Gabriel Fauré (um 1920) Künste erfassenden Strömung. Malern wie Paul Gau- gin oder Arnold Böcklin reichte es bald nicht mehr Die Schauspielmu- aus, die Welt naturalistisch abzubilden, vielmehr sahen sie in ihr ein Symbol für tiefere Schichten der sik ist das einzige Wirklichkeit. Schriftsteller wie Stéphane Mallarmé Genre, das meinen und Maurice Maeterlinck schrieben Gedichte und ganze Theaterstücke voller vager Metaphern und geringen Möglich- Doppeldeutigkeiten. Und Komponisten? Die widme- keiten annähernd ten sich mit der Musik ohnehin schon jener am wenigsten gegenständlichen Kunstform. Daher hatte entspricht! ihr Metier zur Symbolismus-Bewegung auch nichts Gabriel Fauré im Jahr 1893 Wesentliches beizutragen, ja, die „Materialisierung“ gegenüber seinem Lehrer der Töne durch ein Instrument stehe sogar jedem Camille Saint-Saëns Zauber des Unkonkreten entgegen, wie zumindest Mallarmé meinte: „In dieser Kunst, in der alles zu Musik im eigentlichen Wortsinn gerät, wäre der Klang selbst eines melancholischen Instrumentes wie der Violine wegen seiner Überflüssigkeit schädlich“, schrieb er etwa mit Blick auf Maeterlincks Drama „Pelléas et Mélisande“, jenes Paradestück des Symbo- lismus’ – was Komponisten keineswegs davon abhielt, sich genau von dieser Vorlage für unsterbli- che Musik inspirieren zu lassen. Denn schien nicht die Tonkunst geradezu prädestiniert, Gehalte und 4
GABRIEL FAURÉ Pelléas et Mélisande op. 80 Stimmungen symbolistischer Literatur aufzunehmen DIE HANDLUNG und weiter zu denken? „Pelléas et Mélisande“ ist das symbolistische Hauptwerk des Der französische Komponist Claude Debussy hat mit belgischen Schriftstellers seiner Oper „Pelléas et Mélisande“ jedenfalls dafür Maurice Maeterlinck. Das 1892 gesorgt, dass nicht wenige Theaterfreunde den Text entstandene Theaterstück spielt zu einer nicht näher Maeterlincks kaum noch lesen können, ohne seine genannten Zeit in einem zauberhaft nebulösen, verträumten Klänge im Ohr zu sagenhaften Reich. Dort leben haben. Und fast hätte Debussy sogar noch die Musik in einem alten Schloss die Halbbrüder Pelléas und zur ersten Aufführung des Schauspiels in England Golaud. Letzterer trifft eines zusammengestellt. Denn auch die berühmte Schau- Tages beim Jagen im Wald auf spielerin Mrs. Patrick Campbell konnte sich die Lon- die schöne und rätselhafte Mélisande. Niemand weiß, wo doner Premiere des Maeterlinck’schen Dramas in der sie herkommt und wer sie ist. von ihr beauftragten Übersetzung einfach nicht ohne Golaud führt sie als seine Frau Musik zwischen den Szenen und Akten vorstellen. auf das Schloss. Dort aller- dings beginnt sich Mélisande Debussy allerdings – von dem höheren Wert seiner zunehmend unwohl zu fühlen. Oper, an der er zur gleichen Zeit arbeitete, überzeugt – Sie verbringt viel Zeit an lehnte ab. Und so geriet der Auftrag spontan an Gab- ihrem Spinnrad und wirft ein Auge auf Pelléas, der sich riel Fauré. Der Franzose hatte bei seinem Besuch in ebenfalls in sie verliebt. London einen guten Eindruck auf Campbell hinter- Golauds Eifersucht wird lassen: „Holprig las ich Herrn Fauré jene Stellen des immer stärker, doch seine Warnungen werden von Stückes vor, die meiner Ansicht nach am meisten Pelléas ignoriert. Als Golaud nach Musik verlangten. Wie wohlwollend der liebe die beiden dabei erwischt, wie Fauré zuhörte, und wie demütig er sagte, er würde sie sich am Brunnen gerade ihre Liebe gestehen, tötet er sein Bestes geben!“ Und er tat es: Trotz lähmender seinen Halbbruder. Mélisande anderer beruflicher Pflichten gelang es Fauré mit bringt noch ein Kind von Hilfe seines Schülers Charles Koechlin, seine Schau- Golaud zur Welt, bevor auch sie stirbt. spielmusik rechtzeitig zur Premiere im Juni 1898 im Londoner „Prince of Wales Theatre“ zu vollenden. „Die geschmeidige und ein wenig vage Musik Faurés passte hervorragend zur Dichtung Maeterlincks“, konstatierte Koechlin nach der mit großer Begeiste- rung aufgenommenen Aufführung. Und so blieben die Zwischenaktmusiken des Franzosen auch nach dieser Premiere in den Theatern präsent, wo sie die vielen Umbaupausen des Stücks überbrücken 5
GABRIEL FAURÉ Pelléas et Mélisande op. 80 konnten. Daneben hat sich die von Fauré 1901 veröf- fentlichte Orchestersuite aber auch einen Platz im Konzertsaal erobert. Sie beginnt mit dem tiefsinni- gen Prélude, das – wie das zarte, fragile Wesen der Mélisande – gleichsam aus der träumerischen Stille zu kommen scheint, im 2. Thema (Flöte, Fagott und Cello) aber bereits auch das tragische Schicksal der Protagonistin vorwegnimmt. Golaud, der sich bei der Szene mit Georgette Leblanc als Jagd verirrt hat und am Brunnen auf Mélisande trifft, Mélisande und René Maupré als hat seinen musikalischen Auftritt mit einem Hornsig- Pelléas in einer Aufführung des nal. Indem Fauré nach dessen musikalischem Dramas von Maeterlinck in der Klosterruine Saint-Wandrille, „Zusammentreffen“ mit Mélisande das zweite, schick- Normandie (um 1910) salsträchtige Thema wiederholt, verweist er einmal mehr wahrhaft symbolistisch auf die folgenschweren, unguten Entwicklungen des Dramas. Es schließen Bestimmte Szenen sich die „Fileuse“, ein bezauberndes „Spinnerlied ohne Worte“, und die berühmte „Sicilienne“, die werden von der Fauré einer früheren Schauspielmusik entnahm, an. fernen, wunderba- Letztere sollte im Schauspiel zu jener Szene erklin- gen, in der sich Pelléas und Mélisande ihre Liebe ren und wertvollen gestehen. Beide Stücke verleihen der – bei Debussy Musik Gabriel Fau- vorwiegend geheimnisvoll, ungreifbar und komplex geschilderten – Mélisande durchaus heitere, ver- rés vervollständigt, traute, menschliche Züge. Das düstere Ende der bekräftigt, verlän- Handlung lassen diese Miniaturen dennoch nicht vergessen. Es kommt im letzten Satz „La Mort de gert oder vorweg- Mélisande“ in Form eines einzigen, zuerst in den tie- genommen. fen Holzbläsern im Trauermarsch-Rhythmus vorge- stellten Motivs zum Ausdruck. Nachdem diese Die Sängerin und Schauspiele- rin – und Partnerin Maurice Tonfolge bereits in „La Fileuse“ angeklungen war, Maeterlincks – Georgette offenbart sie hier mithin ihre schicksalhafte Bedeu- Leblanc über die Musik zu tung. Manchmal kann Musik eben doch das andeu- „Pelléas et Mélisande“ ten, was selbst symbolische Worte an Hintersinn nicht auszudrücken vermögen … Julius Heile 6
FELIX M ENDELSSOHN BARTHOLDY Violinkonzert e-Moll op. 64 Legendärer Anfang Am 10. November 1845 konnte man in Dresden einer MENDELSSOHNS VIOLIN- KONZERT BEIM NDR EO wahren musikalischen Sensation beiwohnen: Der 14-jährige Joseph Joachim spielte dort das nur wenige Eigentlich hätte Mendels- Monate zuvor veröffentlichte Violinkonzert von Felix sohns Violinkonzert in der Mendelssohn Bartholdy in atemberaubender Perfek- aktuellen Spielzeit schon im tion und Reife. Kenner der Musikgeschichte könnten Festkonzert zum 75-jährigen Geburtstag des NDR Elbphil- nun vermuten, auch dieses Violinkonzert sei eigens harmonie Orchesters am für den bald berühmtesten Geiger des 19. Jahrhun- 1. November erklingen sollen. derts komponiert worden, steht sein Name doch in Der Corona-Lockdown ver- hinderte diese geschichts- engem Zusammenhang mit den beiden anderen trächtige Aufführung, die an bedeutenden deutschen Violinkonzerten dieser Epo- eine legendäre Aufnahme aus che. Während jedoch Max Bruch und Johannes den ersten Tagen des Orches- ter erinnern sollte: Wenige Brahms ihre Werke tatsächlich direkt für (und mit!) Monate vor seinen Grün- Joachim schrieben, ist das Mendelssohn-Konzert nur dungskonzerten spielte das indirekt auch ein „Joachim-Konzert“: Das junge Wun- noch im Aufbau begriffene „Sinfonieorchester des Nord- derkind begründete mit dessen Aufführung zwar westdeutschen Rundfunks“ – wie so viele Geigerinnen und Geiger in Wettbewer- das während der Nazi-Zeit als ben und Konzerten nach ihm – seine Karriere, war in „entartet“ verunglimpfte Mendelssohn-Konzert mit Dresden aber für seinen Lehrer Ferdinand David, den dem weltberühmten jüdischen Leipziger Konzertmeister, eingesprungen, der das Geiger Yehudi Menuhin ein. Konzert im März zur Uraufführung gebracht hatte. Dieser war im Juli 1945 auf seiner Tour durch ehemalige Konzentrationslager auch „Ich möchte Dir wohl auch ein Violin-Concert machen nach Bergen-Belsen gekom- für nächsten Winter; eins in e-Moll steckt mir im men und arbeitete quasi „auf der Durchreise“ mit dem Kopfe, dessen Anfang mir keine Ruhe läßt“, hatte ersten Chefdirigenten Hans Mendelssohn schon am 30. Juli 1838 an seinen Freund Schmidt-Isserstedt und seinen David geschrieben. Doch erst im Sommer 1844 setzte Musikern in Hamburg zusam- men. Menuhin war der erste er in Bad Soden im Taunus den Schlussstrich unter Jude, der nach dem Krieg das Werk. Die lange Arbeit an seinem letzten Instru- wieder in Deutschland auftrat mentalkonzert hatte sich gelohnt: Die Leipziger Urauf- – ein Zeichen gegen Hass und Vorurteile, dem sich das neue führung mit David unter der Leitung von Niels Hamburger Orchester gerne Wilhelm Gade wurde in Abwesenheit Mendelssohns anschloss. ein großer Erfolg, der bis heute nicht abgerissen ist. 7
FELIX M ENDELSSOHN BARTHOLDY Violinkonzert e-Moll op. 64 Eine „glückliche Vereinigung von geadelter Virtuosität und poetischer Bedeutsamkeit des Inhalts“ nannte der einst viel gelesene Musikwissenschaftler Arnold Schering dieses Violinkonzert einmal und erklärte damit auch dessen Beliebtheit unter Interpreten, Pub- likum und Rezensenten gleichermaßen. Jener Anfang, der schon Mendelssohn „keine Ruhe“ Felix Mendelssohn Bartholdy, ließ, ist geradezu legendär und zu einer Inkarnation Gemälde von Eduard Magnus geigerischen Ausdrucks geworden. Ohne die sonst (1845/46) übliche Orchestereinleitung setzt der 1. Satz des Kon- zerts mit dem sehnsüchtigen, leidenschaftlichen und doch noblen Violinthema ein, das erst später im vol- Leicht ist die Auf- len Tutti erklingt. Diesem Hauptthema gesellt sich wenig später ein versonnenes Seitenthema in den gabe freilich nicht; Holzbläsern hinzu, zu dem die Violine mit ihrem brillant willst Du’s gehaltenen tiefen g einen reizvollen Klangakzent setzt. Originell hat Mendelssohn auch das Ende der haben, und wie sogenannten „Durchführung“ gestaltet, in der die fängt unsereins das entscheidenden Motive weiterentwickelt und verar- beitet werden: Nach stillem Abgesang der Violine an? Das ganze erste folgt hier die virtuose Solokadenz, die – an dieser Solo soll aus dem Schaltstelle platziert – so zum integralen Bestandteil der Sonatenform wird. Mit Akkordbrechungen des hohen E bestehen. Solisten wirkt sie noch bis in die Reprise des Orches- Brief von Mendelssohn an ters hinein, die jetzt den ersten Teil des Satzes rekapi- Ferdinand David (1839). Das tuliert – eine spannende, neue Verknüpfung dieser für den Beginn seines Violin- konzerts hier angekündigte obligatorischen Konzert-Bestandteile! hohe E erscheint in der Endversion des 1. Satzes Vom letzten Akkord des 1. Satzes bleibt ein einsamer übrigens erst auf dem Höhe- punkt des Mittelteils. Ton des Fagotts übrig, der den direkten Anschluss zum 2. Satz herstellt – eine von Mendelssohn schon in früheren Instrumentalkonzerten erprobte Eigenart. Die Violine trägt in diesem Intermezzo eine jener schlicht zu Herzen gehenden Melodien vor, für die der Komponist selbst, wenn auch in anderem Zusam- menhang, die passende Bezeichnung bereithielt: In 8
HECTOR BERLIOZ Le Carnaval romain op. 9 einem solchen „Lied ohne Worte“ könne man, so GESCHMACKSFRAGE Mendelssohn einmal in „symbolistischer“ Vorausah- nung, ohnehin viel Konkreteres aussprechen als es Die Melodik des Hauptthemas ist für den Geschmack unserer ein Text vermöge … Zwischen den stark kontrastie- Zeit vielleicht ein bisschen renden Sätzen 2 und 3 vermittelt sodann ein rhetori- weichlich; der Septimensprung scher Vorspann der Violine, der an das Thema des des Anfangs verlangt vom Geiger äußerste Diskretion und 1. Satzes anknüpft. Es folgt ein für Mendelssohn seit Behutsamkeit, wenn er nicht ins seiner „Sommernachtstraum-Musik“ typisch „elfen- „Schmalzige“ verfallen will. haftes“ Finale von sprühendem Spielwitz und effekt- Der Mendelssohn-Biograf Eric voller Leichtfüßigkeit. Werner über den 2. Satz des Violinkonzerts (1980) Julius Heile „Schneller! Schneller!“ „Schon wogt es in Schwärmen zum Tanze der Nacht, MENDELSSOHN IN ROM ganz Rom ist zu Lärmen und Jubel entfacht. Das Leid ist versunken, die Sorge entschwebt, wenn Karneval Warum beschreiben, was unbeschreiblich ist? Diese trunken das Zepter erhebt.“ – So singt im Finale des göttlichen Feste, die an Pracht 1. Aktes von Hector Berlioz’ Oper „Benvenuto Cellini“ und Glanz und Lebendigkeit die Volksmenge, die sich auf der Piazza Colonna in Alles übertreffen, was sich die Einbildungskraft hervorbringt… Rom versammelt hat, um tanzend dem lustigen Kar- O könnte ich Euch nur eine nevalstreiben beizuwohnen. Dazu erklingt ein Salta- Viertelstunde von dieser Luft im rello, also ein italienischer Springtanz, der – im Briefe mitschicken oder mit- teilen, wie das Leben ordentlich richtigen Tempo ausgeführt – den Chor vor eine gar fliegt, und jeder Augenblick nicht so leichte Aufgabe stellt. Vielleicht geschah es ja seine eigene unvergessliche also nur aus Rücksicht auf die Sänger, dass François- Freude bringt!… Wer denkt jetzt an Schreiben und an Noten? Ich Antoine Habeneck, der Dirigent der Pariser Urauffüh- muss hinaus. rung von „Benvenuto Cellini“ im Jahr 1838, nie das lebhafte Zeitmaß treffen wollte? Berlioz allerdings Felix Mendelssohn Bartholdy aus Rom zur Zeit des Karne- war damit ganz und gar nicht einverstanden: vals (1831) „Schneller! Schneller! Nun machen Sie doch mal Dampf!“, schrie er Habeneck bei den Proben an … 9
HECTOR BERLIOZ Le Carnaval romain op. 9 Sechs Jahre später hatte Berlioz genau diesen Salta- rello zum Hauptthema seiner Konzertouvertüre „Le Carnaval romain“ umgearbeitet und konnte deren Uraufführung im Februar 1844 diesmal selbst dirigie- ren. Zu seinem Pech mussten die Proben ohne Bläser stattfinden, die sich verständlicherweise große Sor- gen um das Gelingen der Aufführung machten. Voller Schadenfreude hatte sich deshalb auch Habeneck im Berlioz dirigiert ein Konzert mit Publikum eingefunden – und konnte doch nicht tri- Kontrabässen, Pauken, Blech- umphieren: „Es passierte nicht ein einziger Fehler“, bläsern und Kanone, Karikatur berichtet Berlioz in seinen Erinnerungen. „Ich ließ von Grandville (1845) das Allegro so rasend schnell spielen, wie man in Trastevere [einem Arbeiterviertel Roms] tanzt; das REVOLUZZER DER MUSIK Publikum schrie ‚da capo’; und als ich ins Foyer zurückkam, wo der etwas enttäuscht wirkende Habe- Hector Berlioz ging als echter neck stand, warf ich ihm im Vorübergehen die vier Exzentriker in die Musikge- Worte zu: ‚So macht man das!’ Worauf er wohlweis- schichte ein. Sein Hauptwerk, die „Symphonie fantastique“, lich nichts erwiderte.“ gestaltete er als autobiografi- sche Schilderung eines Ob wir dieser von Berlioz Jahre später aufgeschriebe- unglücklich verliebten Künst- lers im Opiumrausch. In nen Anekdote in allen Details glauben dürfen, sei seinen bissigen Schriften dahingestellt. Tatsache ist jedoch, dass die Konzert- nahm er kein Blatt vor den ouvertüre ein weitaus größerer Erfolg wurde als die Mund. Und dass die Verwirkli- chung des „instrumentalen beim Publikum durchgefallene Oper um den florenti- Dramas“, das Erkenntnisse nischen Bildhauer, aus der sie hervorging. Dennoch der Opernmusik auf die blieb sie hinsichtlich des Sujets (Karneval in Rom) Sinfonik übertragen sollte, das große künstlerische Ziel sowie der darin wiederverwendeten Melodien natür- dieses Mannes mit der gesun- lich eng mit der Oper verknüpft, weshalb man sie seit den Portion Theatralik war, der Londoner Aufführung von „Benvenuto Cellini“ überrascht auch nicht. Beson- ders revolutionär gab sich (1853) manchmal auch als Ouvertüre zum 2. Akt spielt. Berlioz auf dem Gebiet der Alles, was Berlioz’ Orchestermusik ausmacht, finden Orchestersprache, die er in wir auch hier: virtuose Instrumentation, bizarre einer berühmten Instrumen- tationslehre fixierte. Sein Effekte, visionäre, individuelle, oft „unruhige“ und feurig-virtuoser, von krassen verblüffende Tonsprache. Kontrasten und neuartigen Effekten geprägter Stil faszi- niert bis heute. Die erste Überraschung kommt gleich zu Beginn der Ouvertüre: Auf den gleichsam die Tür aufstoßenden 10
HECTOR BERLIOZ Le Carnaval romain op. 9 Beginn mit seinen vielversprechenden Trompetensig- BERLIOZ IN ROM nalen folgt vorerst nicht der erwartete Karnevalstau- mel. Stattdessen ist der erste Teil einer breit Die Freude, die sie an den „Belustigungen“ des Karnevals ausgesungenen Englischhornmelodie vorbehalten, hatten, war mir unbegreiflich. die dem Liebesduett Cellini/Teresa aus dem 1. Akt der In Rom spricht man von den Oper entstammt. In die dritte Wiederholung dieser „fetten Tagen“, und fett sind sie in der Tat, d. h. voller Überfluss Melodie, die als schwärmerisches Duett zwischen an groben Beleidigungen, an Violinen und Celli gestaltet ist, mischt sich dann Freudenmädchen, an trunkenen jedoch bereits das bunte Treiben des Karnevals in Polizeispitzeln, an unanständi- gen Masken, an abgehetzten Form „klingelnder“ Schlagzeug- und Bläserakzente Pferden, an Dummköpfen, die ein. Bald entfaltet sich im vollen Orchester durch das lachen, an Trotteln, die bewun- in den ersten Takten der Ouvertüre angekündigte Sal- dern, an Müßiggängern, die sich langweilen. tarello-Thema eine lebendige, vielfach vom Tsching- derassabum aus Triangel, Schellenkranz und Becken Hector Berlioz in seinen geprägte Karnevalsstimmung. Im Fagott setzt später Erinnerungen an den römi- schen Karneval, den er 1831 noch einmal das Liebes-Thema ein, das nun vom gleichzeitig mit Mendelssohn schweren Blech imitiert und ad absurdum geführt erlebte (vgl. S. 9) wird, bevor sich ein turbulentes Finale auslässt. Bis kurz vor Schluss scheint die Musik – vor allem in ihrer abstrusen Harmonik – zum Teil völlig aus der Ordnung geraten zu sein. So wie das eben ist, „wenn Karneval trunken das Zepter erhebt“. Julius Heile 11
DIRIGENT Stéphane Denève Stéphane Denève ist Music Director des Brussels Phil- harmonic und St. Louis Symphony Orchestra, Erster Gastdirigent des Philadelphia Orchestra und Direktor des Centre for Future Orchestral Repertoire. Zuvor wirkte er als Chef des Radio-Sinfonieorchesters Stutt- gart des SWR und des Royal Scottish National Orches- tra. Der international für die herausragende Qualität seiner Aufführungen und Programme geschätzte Diri- gent tritt regelmäßig in den großen Konzertsälen der H Ö H E P U N K T E 2 0 2 0/2 0 21 Welt und mit den bedeutendsten Orchestern auf, darun- ter das Royal Concertgebouw Orchestra, Orchestra Sin- • (Livestream- und Radio-) fonica dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia, Konzerte mit dem Brussels Cleveland, San Francisco Symphony, Los Angeles und Philharmonic, St. Louis Symphony und Netherlands New York Philharmonic Orchestra sowie die Wiener Radio Philharmonic Orches- Symphoniker, das Deutsche Symphonie-Orchester Ber- tra sowie mit dem Sympho- lin oder Orchestre National de France. Mit besonderer nieorchester des Bayerischen Rundfunks und Vorliebe widmet er sich dem Repertoire seiner französi- den Wiener Symphonikern schen Heimat sowie der Musik des 21. Jahrhunderts. Als • Festkonzert zur Verleihung begnadeter Kommunikator und Musikvermittler hat er der Nobelpreise mit dem Royal Stockholm Philharmo- sich auch der Inspiration der nächsten Generation von nic Orchestra Musikern und Hörern verschrieben. So hat er mehrfach etwa für die Programme des Tanglewood Music Center, der Colburn School und der Music Academy of the West sowie mit der New World Symphony oder dem Euro- pean Union Youth Orchestra gearbeitet. Im Bereich der Oper hat Denève Produktionen am Royal Opera House, an der Mailänder Scala, der Deutschen Oper Berlin, der Opéra National de Paris, am Gran Teatro de Liceu oder beim Glyndebourne Festival geleitet. Für seine Aufnah- men der Werke von Poulenc, Debussy, Ravel, Roussel, Franck und Honegger hat er u. a. dreimal den Diapason d’Or erhalten. Seine jüngsten Veröffentlichungen sind eine Live-Aufnahme von Honeggers „Jeanne d’arc“ und zwei CDs mit Werken von Guillaume Connesson. 12
VIOLINE Leonidas Kavakos Leonidas Kavakos ist in der aktuellen Spielzeit Artist in Residence des NDR Elbphilharmonie Orchesters. Er hat sich als Violinist und Künstler von einzigartiger Qualität auf höchstem technischen Niveau und her- ausragender Musikalität etabliert. Regelmäßig gastiert er in den großen Konzerthäusern und arbeitet weltweit mit erstklassigen Orchestern zusammen, darunter das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, die Berliner und Wiener Philharmoniker, das Gewand- hausorchester Leipzig oder das Orchestre Philharmo- H Ö H E P U N K T E 2 0 2 0/2 0 21 nique de Radio France, unter so renommierten Dirigenten wie Valery Gergiev, Christian Thielemann • Saisoneröffnung mit Prokof- jews Violinkonzert Nr. 2 im und Sir Simon Rattle. Darüber hinaus tritt er bei den Rahmen der Residenz beim großen internationalen Festivals auf, so etwa beim NDR Elbphilharmonie Tanglewood Festival, den BBC Proms oder dem Verbier Orchester • Veröffentlichung des kom- Festival. Kavakos ist Exklusiv-Künstler bei Sony Classi- pletten Beethoven-Violin- cal. Für seine jüngste Veröffentlichung spielte er Beet- sonaten-Zyklus mit Pianist hovens Violinkonzert in der Doppelrolle als Solist und Enrico Pace (aus dem Salz- burger Mozarteum 2013) auf Dirigent mit dem Symphonieorchester des BR ein Arte Concert sowie Beethovens Septett mit Mitgliedern des Orches- • Streaming- und Radiokon- ters. Ebenfalls zum Beethoven-Jahr brachte er eine zerte u. a. mit den Münchner Philharmonikern, dem Neuauflage der kompletten Violinsonaten Beethovens Rotterdam Philharmonic heraus, die er mit Enrico Pace aufgenommen hat. Orchestra und dem Orches- In den letzten Jahren hat sich Kavakos auch ein starkes tre Philharmonique de Radio France Profil als Dirigent aufgebaut. So dirigierte er etwa das • Kuratierung von jährlichen London Symphony, New York Philharmonic und Meisterklassen für Violine Dallas Symphony Orchestra, das Gürzenich-Orchester und Kammermusik, die Musiker*innen aus der Köln, Budapest Festival Orchestra, Chamber Orchestra ganzen Welt anzieht und of Europe, Orchestra dell’Accademia Nazionale di Kavakos‘ großes Verantwor- Santa Cecilia, die Wiener Symphoniker oder das tungsbewusstsein für die Weitergabe von musikali- Danish National Symphony Orchestra. Kavakos spielt schem Wissen und musikali- die Stradivarius „Willemotte“ von 1734 und besitzt scher Tradition ausdrückt moderne Violinen aus der Werkstatt von F. Leonhard, S. P. Greiner, E. Haahti und D. Bagué. 13
Foto: Paul Schirnhofer | NDR ” Für mich ist Musik das Leben selbst! “ C A R OL IN W ID M A NN HÖREN SIE DIE KONZERTE DES NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTERS AUF NDR KULTUR Hören und genießen Die NDR Kultur App – jetzt kostenlos herunterladen unter ndr.de/ndrkulturapp 14
IMPRESSUM Herausgegeben vom NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK Programmdirektion Hörfunk Orchester, Chor und Konzerte Rothenbaumchaussee 132 20149 Hamburg Leitung: Achim Dobschall NDR ELBPHILHARMONIE ORCHESTER Management: Sonja Epping Redaktion des Programmheftes Julius Heile Die Einführungstexte von Julius Heile sind Originalbeiträge für den NDR. Fotos Manuel Cohen / akg-images (S. 4) akg-images (S. 6, 8, 10) Geneviève Caron (S. 12) Marco Borggreve (S. 13) Druck: Eurodruck in der Printarena Das verwendete Papier ist FSC-zertifiziert und chlorfrei gebleicht. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des NDR gestattet. 15
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