Störungen des autobiographischen Gedächtnisses bei Alzheimer-Demenz
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Zeitschrift für Gerontopsychologie & -psychiatrie, 20 (1), 2007, 47–52 U. SeidlZ.etGerontopsychol. al.: Störungen psychiatr. des autobiographischen 20 (1) © 2007 byGedächtnisses bei Alzheimer-Demenz V erlag Hans Huber, Hogrefe AG , Bern Beitrag zum Themenschwerpunkt Störungen des autobiographischen Gedächtnisses bei Alzheimer-Demenz Ulrich Seidl, Elke Ahlsdorf und Johannes Schröder Sektion Gerontopsychiatrie, Universitätsklinik Heidelberg Zusammenfassung. Störungen der Gedächtnisfunktionen bilden das Achsensymptom demenzieller Erkrankungen, insbesondere der Alzheimer-Demenz (AD) als ihrer häufigsten Form. Gerade Defizite des autobiographischen Gedächtnisses entstehen schon in den Anfangsstadien der Erkrankung und betreffen primär Erinnerungen an selbst Erfahrenes einschließlich prägender Lebensereignisse, wäh- rend äußere Lebensdaten noch lange abrufbar bleiben. Autobiographische Gedächtnisdefizite wurden nur selten untersucht, vor allem da derartige Studien besondere methodische Anforderungen stellen, die sich aus der Individualität des erinnerten Materials und dem Cha- rakter demenzieller Erkrankungen ergeben. Wir haben deshalb autobiographische Gedächtnisdefizite differenziert nach semantischen und episodischen Qualitäten mit dem «Bielefelder Autobiographischen Gedächtnisinventar» (BAGI) in einer modifizierten Version bei 230 Heimbewohnern (24 kognitiv Gesunde; 28 mit leichter kognitiver Beeinträchtigung; 178 mit manifester AD) untersucht. Eine nachhaltige Beeinträchtigung des autobiographischen Gedächtnisses zeigte sich dabei schon in frühen Phasen der AD. Bereits Bewohner mit leichter kognitiver Beeinträchtigung wiesen ausgeprägte Defizite des episodischen Gedächtnisses auf, die bei mittelgradiger oder schwerer AD fortbestanden. Demgegenüber gingen semantische autobiographische Gedächtnisinhalte graduell verloren, sodass weitreichende Defizite erst bei stark Eingeschränkten entstanden. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge vertieft nicht nur unser Verständnis der Alzheimer- Demenz, sondern erweitert auch das verfügbare diagnostische Instrumentarium. Schlüsselwörter: autobiographisches Gedächtnis, Alzheimer Demenz, Heimbewohner Deficits in Autobiographical Memory in Alzheimer’s Disease Abstract. Memory decline in general and autobiographical memory deficits in particular are the core symptoms of Alzheimer’s disease (AD). The respective deficits can be observed even in the early stages of the disease, and mainly involve personal experiences including important lifetime events, rather than semantic biographical data. To investigate this observation in a large clinical sample and to stan- dardize its examination, the respective deficits were documented on a modified version of the «Bielefeld Autobiographical Memory Inventory» (BAGI) in 230 nursing home residents (24 without cognitive deficits, 28 with mild cognitive impairment and 178 with AD). Even residents with mild cognitive impairment or early AD showed marked deficits of episodic autobiographic memory, which were even more pronounced in moderate and severe dementia. In contrast, semantic memory contents declined gradually with pronounced deficits only in severe dementia. These findings confirm and extend our understanding of autobiographical memory decline in AD and indicate that the respective deficits can be used as an early marker of the disease. Keywords: autobiographical memory, Alzheimer’s disease, dementia, nursing home residents Gedächtnisses werden in der Begegnung mit den Patienten Einleitung schon in den Anfangsstadien der Erkrankung auffällig. Kli- nisch betreffen die Defizite primär Erinnerungen an selbst Autobiographische Gedächtnisinhalte werden allgemein Erfahrenes einschließlich prägender Lebensereignisse, dem episodischen Gedächtnis zugeordnet. Sie zeichnen während äußere Lebensdaten noch lange abrufbar bleiben. sich insbesondere durch eine subjektive zeitliche Zuord- Störungen des autobiographischen Gedächtnisses berühren nung des Erlebten sowie das Gefühl der Zugehörigkeit zur so zentrale Konstituenten der Identität und beeinträchtigen eigenen Person aus und sind eng mit emotionalen Qualitä- Erleben und Empfinden auch subjektiv nachdrücklich. ten verknüpft (Tulving, 1983, 2005; Tulving & Marko- Trotz ihrer zentralen Stellung bei der AD wurde die Be- witsch, 1998). Störungen der Gedächtnisfunktionen bilden einträchtigung des autobiographischen Gedächtnisses mit das Achsensymptom demenzieller Erkrankungen, insbe- zunehmendem Verlust des Wissens um die eigene Person sondere der Alzheimer-Demenz (AD) als häufigster De- bisher nur selten untersucht. Derartige Studien sind jedoch menzform. Gerade die Störungen des autobiographischen nicht nur für das Verständnis der AD, sondern auch für die DOI 10.1024/1011-6877.20.1.47 Z. Gerontopsychol. psychiatr. 20 (1) © 2007 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
48 U. Seidl et al.: Störungen des autobiographischen Gedächtnisses bei Alzheimer-Demenz Modellbildung zu Aufbau und Entwicklung des autobio- beobachtet. Kopelman (1989) und die Arbeitsgruppe um graphischen Gedächtnisses von Bedeutung. Tatsächlich Dorrego (1999), aber auch Hodges (1998) sowie Greene et stellen diese Studien besondere methodische Anforderun- al. (1995) beschrieben sowohl Defizite der semantischen gen, die sich aus der Individualität des erinnerten Materials als auch der episodischen Qualitäten, konnten jedoch die und dem Charakter demenzieller Erkrankungen ergeben. Veränderungen im Krankheitsverlauf in den untersuchten Die Individualität autobiographischer Erinnerungen macht Stichproben nicht näher differenzieren, da Patienten mit ausreichend lange, strukturierte Interviews erforderlich, da leichter kognitiver Beeinträchtigung oder schwerer AD un- eine bloße Abfrage lebensgeschichtlicher Daten auf die se- berücksichtigt blieben. Wir haben deshalb in unseren eige- mantischen Anteile des autobiographischen Gedächtnisses nen Studien Störungen des autobiographischen Gedächt- beschränkt bliebe, ohne die subjektiv entscheidenden – epi- nisses differenziert nach semantischen und episodischen sodischen – Anteile zu berücksichtigen. Qualitäten mit einem einheitlichen Instrument, dem «Bie- In klinisch-neuropsychologischen Studien wurden auto- lefelder Autobiographischen Gedächtnisinventar» (BAGI), biographische Gedächtnisstörungen bisher vor allem im bei Patienten in allen Stadien der AD und bei gesunden Hinblick auf die betroffenen Qualitäten, aber auch im Ver- Probanden untersucht. Das BAGI wurde dabei in einer mo- gleich zu anderen mnestischen Defiziten untersucht. Ko- difizierten Version eingesetzt, die speziell auf die Situation pelman (1989) erhob bei Patienten mit Korsakow- und AD im Pflegeheim und die Erfordernisse Demenzkranker aus- in leichten bis mittleren Stadien sowie gesunden Kontroll- gelegt war. Da Patienten mit AD durch umfangreiche In- personen das autobiographische Gedächtnis und andere terviews rasch überfordert sind, haben wir uns in der vor- neuropsychologische Leistungen. Neben allgemeinen und liegenden Studie auf die Erfassung von Erinnerungen an persönlichen semantischen Informationen wurden einzelne die Schulzeit konzentriert, da mit dieser Beschränkung die lebensgeschichtliche Ereignisse erfragt. Dabei zeigte sich, Explorationsdauer erheblich verkürzt wurde, sodass auch dass die AD-Patienten in allen untersuchten Bereichen schwerer Erkrankte die Untersuchung bewältigen konnten. deutlich beeinträchtigt waren, wobei die Defizite dem Ri- Zudem bot der ausgewählte Lebensabschnitt den Vorteil, botschen Gradienten (Ribot, 1881) folgten und sowohl dass er biographisch scharf definiert und mit besonders sta- beim freien Abruf als auch beim Wiedererkennen zu be- bilen Erinnerungen verknüpft ist. obachten waren. Sowohl Korsakow- als auch AD-Patien- ten konnten Ereignisse nur ungenau zeitlich zuordnen. Der Befund, dass Korsakow- und AD-Patienten beim Wieder- erkennen bessere Leistungen erbrachten als bei freier Re- Methoden produktion wurde als Hinweis auf einen bei beiden Erkran- kungen gestörten Abruf der Gedächtnisinhalte gewertet. In die Untersuchung wurden 230 Heimbewohner einge- Dorrego et al. (1999) untersuchten die Erinnerung an be- schlossen, 195 Frauen und 35 Männer, die im Durchschnitt rühmte Personen und Ereignisse sowie semantische auto- etwa 86 Jahre alten waren und sich in Heimen in Heidel- biographische Gedächtnisinhalte. Es zeigte sich, dass bei berg, Stuttgart, Münster (Westfalen), Köln, Trier und Wei- AD-Patienten bereits in sehr frühen Phasen der Erkrankung mar befanden. Die Untersuchung von Heimbewohnern ge- im Vergleich zu Gesunden das Wissen über öffentliche Per- währleistete aufgrund der jeweils ähnlichen Lebensum- sonen und Ereignisse der Vergangenheit reduziert war. stände eine bessere Vergleichbarkeit der Ergebnisse; die Ausgeprägte Defizite in der Reproduktion semantischen Befragung von Probanden aus verschiedenen Regionen Wissens betrafen entsprechend dem Ribotschen Gradien- zielte auf die Vermeidung regionaler Effekte. 28 Bewohner ten vor allem jüngere Erinnerungen. Auch hier fanden die litten an leichter kognitiver Beeinträchtigung gemäß dem Autoren, dass die Defizite bei freiem Abruf ausgeprägter Konzept des «Age-Associated Cognitive Decline» waren als beim Wiedererkennen. Kazui et al. (2003) be- (AACD; Levy, 1994; Schönknecht et al., 2005), bei 178 fragten in einem halbstrukturierten Interview AD-Patien- bestand eine «wahrscheinliche» AD nach den Kriterien von ten und ihre Bezugspersonen zu äußeren Lebensdaten und McKhann et al. (1984). Zusätzlich wurden 24 gesunde erfassten darüber hinaus andere semantische und episodi- Kontrollpersonen rekrutiert. sche Gedächtnisleistungen. Dabei zeigte sich ein signifi- Die Untersuchungen beinhalteten neben der Erfassung kanter Zusammenhang zwischen Demenzschwere, Störung soziodemografischer Daten eine orientierende internisti- des semantischen autobiographischen Gedächtnisses, aber sche und neurologische Untersuchung. Die neuropsycho- auch den semantischen und episodischen Leistungen; letz- logische Testung war der eingeschränkten Belastbarkeit tere waren unabhängige Prädiktoren für das semantische der Bewohner in fortgeschrittenen Stadien der Demenz an- autobiographische Gedächtnis. Die Autoren folgerten da- gepasst und beinhaltete neben dem «Mini- Mental State» raus, dass semantisches autobiographisches Wissen sowohl (Folstein et al., 1975) auch die Subtests «Wortflüssigkeit» episodische als auch semantische Anteile aufweist und dass und «Wortfindung» aus der CERAD-Testbatterie (Morris sich das semantische aus dem episodischen Gedächtnis ent- et al., 1989). Zudem wurden psychiatrische Begleitsympto- wickelt. me wie Depressivität, Apathie, Erregung oder Verhaltens- Nach den zitierten Studien werden autobiographische auffälligkeiten über das «Neuropsychiatric Inventory» Gedächtnisstörungen schon in den Anfangsphasen der AD (Cummings et al., 1994) in der Pflegeheimversion erfasst Z. Gerontopsychol. psychiatr. 20 (1) © 2007 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
U. Seidl et al.: Störungen des autobiographischen Gedächtnisses bei Alzheimer-Demenz 49 und, als Maß für die globale Beeinträchtigung, die «Global menzkranken entgegen, die mit einer zu komplexen Frage- Deterioration Scale» (Reisberg et al., 1982) erhoben. weise schnell überfordert waren, letzteres diente einer Be- Die Erinnerung an die eigene Lebensgeschichte wurde schleunigung des Ablaufs und war der raschen Erschöpf- mit einer modifizierten Version des BAGI als semistruktu- barkeit dieser Gruppe geschuldet. riertem Interview exploriert. Das BAGI erfasst in seiner Vollversion autobiographisches Wissen zu fünf verschiede- nen Lebensabschnitten, nämlich zur Vorschulzeit, Schul- zeit, weiterführenden Schule bzw. Ausbildung, zu Berufs- Ergebnisse tätigkeit sowie den vorangegangenen fünf Lebensjahren. Erfragt werden sowohl semantische Inhalte, beispielsweise Die zu ihren Erinnerungen an die Schulzeit befragten demen- Namen von Schulkameraden oder Lehrern, als auch episo- ten Altenheimbewohner wurden entsprechend der Erkran- dische autobiographische Erinnerungen. Letztere werden kungsschwere drei verschiedenen Gruppen zugeordnet und über «frei» erinnerte Episoden erfasst; dabei wird ihre Ein- den Bewohnern mit leichter kognitiver Beeinträchtigung so- zigartigkeit beurteilt, also festgestellt, ob es sich um singu- wie den kognitiv Unbeeinträchtigten gegenübergestellt. Da- läre Erlebnisse, regelmäßig wiederkehrende Ereignisse bei zeigte sich, dass die autobiographische Gedächtnisleis- oder Gesamteindrücke aus einem Lebensabschnitt handelt. tung insgesamt mit zunehmender Demenzschwere deutlich So wird etwa der detaillierte Bericht über einen Fahrradun- abnahm, bis hin zu einem fast vollständigen Verlust des Wis- fall in der Kindheit einschließlich seiner Begleitumstände sens um die Schulzeit bei den schwer Betroffenen. Die Be- als singuläre Episode gewertet und die Genauigkeit ent- wohner mit leichter kognitiver Beeinträchtigung unterschei- sprechend dem Detailreichtum gesondert erfasst. Regelmä- den sich dabei kaum von denen mit beginnender AD (Abbil- ßig wiederkehrende Ereignisse, beispielsweise der wö- dung 1). chentliche Gang zur Klavierstunde oder das gelegentliche Bei differenzierter Betrachtung der einzelnen Ge- Fußballspiel, werden geringer bewertet. Am geringsten dächtnisqualitäten (Abbildung 2) wurde ein langsamer zählen allgemeine Angaben zum jeweiligen Lebensab- Verlust des semantischen autobiographischen Wissens in schnitt. Insgesamt werden für das semantische Wissen ei- frühen Phasen der Erkrankung mit signifikanten Unter- nes Lebensabschnittes maximal fünf Punkte vergeben, für schieden zwischen beginnender und mittelgradiger AD frei berichtete Episoden höchstens sechs und für die Detail- sowie einem nochmals stärker ausgeprägten Verlust beim informationen höchstens elf. Übergang von mittelgradiger zu schwerer AD deutlich. Bei der Konzeption unserer Untersuchungen zum auto- Anders verhielt sich das episodische Gedächtnis, bei dem biographischen Gedächtnis bei AD war vor allem die ver- sich bereits leicht kognitiv Beeinträchtigte deutlich von minderte Belastbarkeit der Patienten in fortgeschrittenen Gesunden unterschieden und das nochmals sprunghaft Demenzstadien zu berücksichtigen. Wir haben uns in der beim Übergang von beginnender zu mittelgradiger AD vorliegenden Untersuchung deshalb auf die Abfrage auto- verloren ging. Dieser Unterschied war nicht nur für die biographischen Wissens aus der Schulzeit konzentriert. Zu- frei berichteten Episoden hoch signifikant, sondern zeig- dem haben wir das BAGI, ausgehend von eigenen Vorun- te sich besonders drastisch im Detailreichtum als Maß für tersuchungen mit Demenzkranken, dahin gehend modifi- die Präzision und Lebendigkeit der jeweiligen Erinne- ziert, dass die Fragen und die Struktur des Interviewbogens rung. So waren bereits mittelgradig Demente kaum mehr vereinfacht wurden. Ersteres kam den fortgeschritten De- in der Lage, detailliert über ihre Erlebnisse zu berichten. Abbildung 1. BAGI-Summenscore (Mittelwerte mit Standardabweichun- gen) für das autobiographische Wis- sen über die Schulzeit bei Heimbe- wohnern mit leichter kognitiver Beeinträchtigung und manifester AD sowie gesunden Kontrollpersonen. Kontrollgruppe, Bewohner mit leich- ter kognitiver Beeinträchtigung und beginnender AD unterscheiden sich nicht signifikant; der Verlust des auto- biographischen Wissens erreicht erst bei mittelgradiger und beim Übergang zur schweren AD Signifikanzniveau (***p < .001). Z. Gerontopsychol. psychiatr. 20 (1) © 2007 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
50 U. Seidl et al.: Störungen des autobiographischen Gedächtnisses bei Alzheimer-Demenz Abbildung 2. Differenzierte Darstellung der BAGI-Scores (Mittelwerte mit Standardabweichungen) für das autobiogra- phische Wissen über die Schulzeit bei Heimbewohnern mit leichter kognitiver Beeinträchtigung und manifester AD sowie gesunden Kontrollpersonen. Während das semantische autobiographische Wissen erst beim Übergang von mittelgradiger zu schwerer AD hoch signifikant abnimmt, gehen episodische autobiographische Gedächtnisinhalte bereits bei mittelgra- diger AD hoch signifikant verloren und nehmen beim Übergang zur schweren Demenz nochmals ab (***p < .001). Be- achte: Die maximal erreichbaren Punktzahlen in den einzelnen Domänen sind jeweils unterschiedlich (semantisch: 5, Episoden frei: 6, Episoden Detail: 11). len Temporallappens in diesen Phasen der Erkrankung Diskussion (Übersicht in. Schröder et al., im Druck). Hinsichtlich der Funktion des Hippocampus für autobiographische Ge- Unsere Untersuchungen zeigen, dass das autobiographi- dächtnisleistungen wird eine zeitlich begrenzte Beteiligung sche Gedächtnis schon in frühen Phasen der AD nachhaltig diskutiert, bei der Gedächtnisinhalte im Laufe der Zeit in beeinträchtigt ist. Die Defizite betreffen zunächst den Ab- neocortikale Areale überführt und damit vom Hippocam- ruf episodischer Inhalte, verstärken sich jedoch im weiteren pus unabhängig werden (Teng & Squire, 1999; Squire, Verlauf, um zunehmend auch semantische Inhalte zu erfas- 1992). Diese zeitabhängige Funktion des Hippocampus sen. Schon Patienten mit leichter kognitiver Beeinträchti- wird als «Standardmodell» bezeichnet und korrespondiert gung zeigten ausgeprägte Defizite des episodischen auto- mit dem Verlust deklarativer Gedächtnisinhalte entlang biographischen Gedächtnisses, die bei mittelgradiger oder dem Ribotschen Gradienten bei demenziellen Erkrankun- schwerer AD fortbestanden. Demgegenüber gingen seman- gen, die – wie die AD – primär den Hippocampus betreffen. tische autobiographische Gedächtnisinhalte graduell verlo- Tatsächlich wird bei anderen Demenzformen, etwa den se- ren, sodass weitreichende Defizite erst bei Patienten mit mantischen Demenzen, die den Hippocampus zunächst schwerer AD entstanden. Diese Dissoziation zwischen weit verschonen, eine Umkehr des Ribotschen Gradienten be- reichenden Verlusten episodischer Erinnerungen bei noch schrieben (Piolino et al., 2003). Zudem wird das Standard- lange erhaltenen semantischen autobiographischen Ge- modell durch Studien mit bildgebenden Verfahren gestützt. dächtnisinhalten entspricht einer Semantisierung autobio- Auch die Ergebnisse neuerer Arbeiten zum wohl bekann- graphischer Erinnerungen, wie sie von anderen Autoren, testen amnestischen Patienten, H. M. (Markowitsch, 1985), etwa Eustache und Mitarbeitern (2004), beschrieben wur- sprechen eindeutig für das Standardmodell (O’Kane et al., de. Dieser Befund stellte sich nicht nur testpsychologisch 2004) und gegen die als «multiple trace theory» bekannte dar, sondern wurde auch in der Begegnung mit den AD-Pa- Alternativhypothese, die von einer lebenslangen Bedeu- tienten offenkundig, bei denen die Lebenserinnerungen mit tung des Hippocampus für den Abruf episodischer Erinne- Fortschreiten der Erkrankung auf ein dürres semantisches rungen ausgeht (Nadel & Moscovitch, 1997; Ryan et al., Grundgerüst reduziert erschienen. 2001). Auch der Verlust der emotionalen Tönung autobio- Der sprunghafte Verlust episodischer autobiographi- graphischer Erinnerungen bei der AD korrespondiert mit scher Gedächtnisinhalte in frühen Stadien der AD korres- der zunehmenden Atrophie des Hippocampus, der aus phy- pondiert mit Veränderungen von Substrukturen des media- siologischer Sicht die Integration kontextueller Informatio- Z. Gerontopsychol. psychiatr. 20 (1) © 2007 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
U. Seidl et al.: Störungen des autobiographischen Gedächtnisses bei Alzheimer-Demenz 51 nen gewährleistet (Eustache et al., 2004). Semantisches au- Gedächtnisverlustes bei AD kann schließlich als Umkehr tobiographisches Wissen bleibt nach dem Standardmodell der Gedächtnisentwicklung verstanden werden. Ein ge- länger erhalten, da es unabhängig von der Hippocampus- naueres Verständnis dieser Zusammenhänge bei AD trägt funktion in neocorticalen Arealen gespeichert ist, die erst nicht nur dazu bei, die Erkrankung und ihre Symptome bes- später im Laufe der Demenz betroffen sind. ser zu kennen und die Betroffenen in ihrem Erleben zu be- Die Ergebnisse unserer Studie unterstreichen nicht nur greifen, sondern ist wesentlich für ein vertieftes Wissen die Bedeutung des Hippocampus gerade für die episodi- über die physiologischen Gedächtnisfunktionen. sche Qualität, sondern betonen auch die Differenzierung von semantischem und episodischem autobiographischen Gedächtnis wie sie in Läsions- und Bildgebungsstudien vorgenommen wurde (Übersicht in Levine, 2004). So fand die Gruppe um Levine (Levine et al., 2004) in einer Studie Literatur mit funktioneller Magnetresonanztomographie heraus, dass episodische im Gegensatz zu semantischen autobio- Braak, H. & Braak, E. (1996). Evolution of the neuropathology graphischen Erinnerungen bei gesunden Probanden mit ei- of Alzheimer’s disease. Acta Neurologica Scandinavica Sup- plement, 165, 3–12. ner Aktivität im medialen temporalen Cortex, im posterio- Brand, M. & Markowitsch, H. J. (2003). The neuroanatomy of ren Cingulum und in diencephalen Arealen einhergehen. memory. In T. E. Feinberg & M. J. Farah (Eds.), Behavioural Der Verlust des autobiographischen Gedächtnisses bei neurology and neuropsychology (2nd ed., pp. 431–443). New AD, bei der das Episodische vor dem Semantischen und York: McGraw-Hill. das später Gelernte vor dem früher Erworbenen verloren Cummings, J. L., Mega, M., Gray, K., Rosenberg-Thompson, S., geht, stellt in seinem zeitlichen Ablauf eine Umkehr des Carusi, D. A. & Gornbein, J. (1994). The neuropsychiatric in- phylogenetischen Entwicklungsprozesses dar. Die Ausbil- ventory: Comprehensive assessment of psychopathology in dung des autobiographischen Gedächtnisses in der Kind- dementia. Neurology, 44, 2308–2314. heit wiederum steht in engem Zusammenhang mit der Ent- Dorrego, M. F., Sabe, L., Garcia Cuerva, A., Kuzis, G., Tiberti, wicklung nicht nur der Temporal-, sondern auch der Fron- C., Boller, F. et al. (1999). Remote memory in Alzheimer’s tallappen. Die entsprechenden Substrukturen, die sich auf disease. The Journal of Neuropsychiatry and Clinical Neuro- die Persönlichkeit, das Bewusstsein der eigenen Person und science, 11, 490–497. die Fähigkeit beziehen, sich selbst in Beziehung zu anderen Eustache, F., Piolino, P., Giffard, B., Viader, F., De La Sayette, V., zu setzen, entwickeln sich auf neuronaler Ebene bis weit in Baron, J.C. et al. (2004). «In the course of time»: A PET study of the cerebral substrates of autobiographical amnesia in Alz- die Adoleszenz hinein. Die Ausbildung des Selbstkonzepts heimer’s disease. Brain, 127, 1549–1560. und des autobiographischen Gedächtnisses kann als Perio- Folstein, M. F., Folstein, S. E. & McHugh, P. R. (1975). «Mini- de einer langen Entwicklung der differenzierten Selbst- mental state». A practical method for grading the cognitive und Fremdwahrnehmung begriffen werden. In diesem Dif- state of patients for the clinician. Journal of Psychiatric Re- ferenzierungsprozess spielt die soziale Interaktion eine search, 12, 189–198. Hauptrolle (Trevarthen, 1998). Zweijährige Kinder mögen Greene, J. D., Hodges, J. R. & Baddeley, A. D. (1995). Autobio- zwar über episodische Erinnerungen verfügen, das autobio- graphical memory and executive function in early dementia of graphische Gedächtnis aber setzt die Fähigkeit voraus, sich Alzheimer type. Neuropsychologia, 12, 1647–1670. selbst sprachlich in der jeweiligen Situation zu repräsentie- Hodges, J. (1998). The amnesic prodrome of Alzheimer’s disease. ren und damit interpretieren und verstehen zu können. Der Oxford: Oxford University Press. Übergang vom episodischen zum autobiographischen Ge- Kazui, H., Hashimoto, M., Hirono, N. & Mori, E. (2003). Nature dächtnis vollzieht sich, wenn Kinder lernen, ihren Erinne- of personal semantic memory: Evidence from Alzheimer’s dis- rungen eine bestimmte Erzählstruktur zu geben (Nelson, ease. Neuropsychologia, 41, 981–988. 1996; Nelson & Fivush, 2004). Bei AD verläuft der Prozess Kopelman, M. D. (1989). Remote and autobiographical memory, offenbar in umgekehrter Weise: schon sehr früh geht die temporal context memory and frontal atrophy in Korsakoff and Fähigkeit verloren, die Umwelt interpretierend zu verste- Alzheimer patients. Neuropsychologia, 27, 437–460. hen, was mit einer grundlegenden Unsicherheit einhergeht. Levine, B. (2004). Autobiographical memory and the self in time: Die Fähigkeit, einzelne Episoden zu reproduzieren, bleibt Brain lesion effects, functional neuroanatomy, and lifespan de- velopment. Brain and Cognition, 55, 54–68. zwar zunächst erhalten, ist jedoch mit einem Verblassen Levine, B., Turner, G. R., Tisserand, D., Hevenor, S. J., Graham, und einem «Unpersönlich-Werden» der jeweiligen Erinne- S. J. & McIntosh, A. R. (2004). The functional neuroanatomy rung verbunden, bis nur das semantische Grundgerüst zu- of episodic and semantic autobiographical remembering: A rückbleibt, das schließlich ebenfalls erlöscht. prospective functional MRI study. Journal of Cognitive Neu- Unsere Studien belegen, dass das autobiographische Ge- roscience, 16, 1633–1646. dächtnis bei AD früh und differenziert beeinträchtigt ist. Levy, R. (1994). Aging-associated cognitive decline. Working Das episodische Wissen verschlechtert sich sprunghaft be- Party of the International Psychogeriatric Association in col- reits in frühen und mittleren Phasen, während das seman- laboration with the World Health Organization. International tische Gedächtnis erst in späten Phasen der Erkrankung Psychogeriatrics, 6, 63–68. verloren geht. Der zeitliche Ablauf des autobiographischen Marin, R. S. (1991). Apathy: A neuropsychiatric syndrome. The Z. Gerontopsychol. psychiatr. 20 (1) © 2007 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
52 U. Seidl et al.: Störungen des autobiographischen Gedächtnisses bei Alzheimer-Demenz Journal of Neuropsychiatry and Clinical Neuroscience, 3, Ribot, T. (1881). Les maladies de la mémoire. Paris: Germer-Bail- 243–254. lière. Marin, R. S., Firinciogullari, S. & Biedrzycki, R. C. (1993). The Ryan, L., Nadel, L., Keil, K., Putnam, K., Schnyder, D., Trouard, sources of convergence between measures of apathy and de- T. et al. (2001). Hippocampal complex and retrieval of recent pression. Journal of Affective Disorders, 28, 117–124. and very remote autobiographical memories: Evidence from Markowitsch, H. J. (1985). Der Fall H. M. im Dienste der Wissen- functional magnetic resonance imaging in neurologically in- schaft. Naturwissenschaftliche Rundschau, 38, 410–416. tact people. Hippocampus, 11, 707–714. McKhann, G., Drachman, D., Folstein, M., Katzman, R., Price, Schönknecht, P., Pantel, J., Kruse, A. & Schröder, J. (2005). Pre- D. & Stadlan, E. M. (1984). Clinical diagnosis of Alzheimer’s valence and natural course of aging-associated cognitive de- disease: Report of the NINCDS-ADRDA Work Group under cline in a population-based sample of young-old subjects. the auspices of Department of Health and Human Services American Journal of Psychiatry, 172, 2071–2077. Task Force on Alzheimer’s disease. Neurology, 34, 939–944. Schröder, J., Pantel, J. & Förstl, H. (2004). Demenzielle Erkran- Morris, J. C., Heymann, A., Mohs, R. C., Hughes, J. P., van Belle, kungen – ein Überblick. In A. Kruse & M. Martin (Hrsg.), G., Fillenbaum, G., Mellits, E. D., Clark, C. et al. (1989). The Enzyklopädie der Gerontologie (S. 224–239). Bern: Huber. Consortium to Establish a Registry for Alzheimer’s Disease Schröder, J., Schönknecht, P., Essig, M. & Pantel, J. (im Druck). (CERAD-NP). Part I. Clinical and neuropsychological assess- Die leichte kognitive Beeinträchtigung: Symptomatik, Epide- ment of Alzheimer’s disease. Neurology, 39, 1159–1165. miologie und Verlauf. In H.W. Wahl & H. Mollenkopf (Hrsg.), Nadel, L. & Moscovitch, M. (1997). Memory consolidation, re- Alternsforschung am Beginn des 21. Jahrhunderts. Alterns- trograde amnesia and the hippocampal complex. Current und Lebenslaufkonzeptionen im deutschsprachigen Raum. Opinion in Neurobiology, 7, 217–227. Darmstadt: Steinkopff. Nelson, K. (1996). Language in cognitive development: The Squire, L. R. (1992). Memory and the hippocampus: A synthesis emergence of the mediated mind. Cambridge: Cambridge Uni- from findings with rats, monkeys, and humans. Psychological versity Press. Review, 99, 195–231. Nelson, K. & Fivush, R. (2004). The emergence of autobiograph- Teng, E. & Squire, L. R. (1999). Memory for places learned long ical memory: A social cultural developmental theory. Psycho- ago is intact after hippocampal damage. Nature, 400, 675–677. logical Review, 111, 486–511. Trevarthen, C. (1998). The concept and foundations of infant in- O’Kane, G., Kensinger, E. A. & Corkin, S. (2004). Evidence for tersubjectivity. In S. Braten (Ed.), Intersubjective communica- semantic learning in profound amnesia: An investigation with tion and emotion in early ontogeny (pp. 15–46). Cambridge: patient H. M. Hippocampus, 14, 417–425. Cambridge University Press. Pantel, J., Schröder, J., Schad, L. R., Friedlinger, M., Knopp, M.V., Schmitt, R. et al. (1997). Quantitative magnetic reso- Tulving, E. (1972). Episodic and semantic memory. In E. Tulving & nance imaging and neuropsychological functions in dementia W. Donaldson (Eds.), Organization and memory (pp. 381–403). of the Alzheimer type. Psychological Medicine, 27, 221–229. New York: Academic Press. Pantel, J., Schröder, J., Essig, M., Jauss, M., Schneider, G., Eysen- Tulving, E. (1983). Elements of episodic memory. Oxford: Cla- bach, K. et al. (1998). In vivo quantification of brain volumes rendon Press. in subcortical vascular dementia and Alzheimer’s disease. An Tulving, E. (2005). Episodic memory and autonoesis: Uniquely MRI-based study. Dementia and Geriatric Cognitive Dis- human? In H. Terrace & J. Metcalfe (Eds.), The missing link orders, 9, 309–316. in cognition: Evolution of self-knowing (pp. 3–56). New York: Pantel, J., Kratz, B., Essig, M. & Schröder, J. (2003). Parahippo- Oxford University Press. campal volume deficits in subjects with aging-associated cog- Tulving, E. & Markowitsch, H. J. (1998). Episodic and declarative nitive decline. American Journal of Psychiatry, 160, 379–382. memory: Role of the hippocampus. Hippocampus, 8, 198–204. Pantel, J., Schönknecht, P., Essig, M. & Schröder, J. (2004). Dist- ribution of cerebral atrophy assessed by magnetic resonance imaging reflects patterns of neuropsychological deficits in Alzheimer’s dementia. Neuroscience Letters, 361, 17–20. Prof. Dr. J. Schröder Piolino, P., Desgranges, B., Belliard, S., Matuszewski, V., Lalevee, C., De la Sayette, V. et al. (2003). Autobiographical Sektion Gerontopsychiatrie memory and autonoetic consciousness: Triple dissociation in Voßstr. 4 neurodegenerative diseases. Brain, 126, 2203–2219. D-69115 Heidelberg Reisberg, B., Ferris, S. H., de Leon M. J. & Crook, T. (1982). The Tel. +49 6221 564403 Global Deterioration Scale for assessment of primary degenera- Fax +49 6221 565327 tive dementia. American Journal of Psychiatry, 139, 1136–1139. E-Mail Johannes_Schroeder@med.uni-heidelberg.de Z. Gerontopsychol. psychiatr. 20 (1) © 2007 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
Sie können auch lesen