SWR2 Musikstunde Frau mit Eigenschaften - Das Leben der Ethel Smyth (1-5)

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SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

Frau mit Eigenschaften -
Das Leben der Ethel Smyth (1-5)
Folge 3: Die Herzogenbergs
Mit Katharina Eickhoff

Sendung:    23. Juni 2021 (Erstsendung: 08. März 2017)
Redaktion: Dr. Bettina Winkler
Produktion: SWR 2017

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Um die erste Hauptfigur der heutigen Musikstunde einzuführen, braucht es eigentlich eine
Art Tusch, oder: eine Fanfare – Ethel Smyth jedenfalls ruft in ihren Memoiren beim Auftritt
dieser Frau auch erst mal symbolisch alle Musiker und Beleuchter zusammen, um
klarzumachen, dass hier eine der bedeutenden Gestalten ihres Lebens die Bühne betritt:
Elisabeth von Herzogenberg muss eine beeindruckende Person gewesen sein, eine Frau mit
Charme und Witz, ein musikalisches Ausnahmetalent, eine wunderbare Gastgeberin, der
heimliche Mittelpunkt des Leipziger Künstlerkreises, eine Art Fee – aber, wie bei Feen so
üblich, war Elisabeth von Herzogenberg auch ein komplexes Wesen, in dessen inneren
Räumen es ein paar abgeschlossene Türen gab, die um jeden Preis verschlossen bleiben
mussten. Vielleicht war Ethel der eine Mensch, der zu diesen Zimmern Zutritt hatte – und
dafür ist sie dann letztlich wohl bestraft worden.
Elisabeth   von   Herzogenbergs      Briefwechsel    mit   Brahms   ist   eine   der   schönsten
Brieffreundschaften der Musikgeschichte, die zwei haben sich nicht nur immer wieder in
Leipzig und anderswo getroffen, sondern vor allem bis zu Elisabeths viel zu frühen Tod
hinreissende Zeilen geschrieben. Brahms mit seinem bärbeißigen Charme, der zwar tapsig
tut, aber in Wahrheit in allerfeinsten Nuancen kommuniziert, und Elisabeth, die ihn mit einer
warmherzigen Ironie umschmeichelt, und die mit einer sagenhaften musikalischen Intuition
und Kenntnis über seine Musik schreibt. Wobei sie gar nicht verschweigt, wenn sie mit einer
Passage Probleme hat – im Analysieren von Brahms-Werken jedenfalls trifft sie den Nagel
oft besser auf den Kopf als Brahms’ Lebensfreundin Clara Schumann.
Aber es gibt auch viele – aus guten Gründen nicht herausgegebene – Briefe von Elisabeth
von Herzogenberg an Ethel Smyth aus Ethels Leipziger Studienjahren, und aus denen kann
man lesen, dass das zwischen Elisabeth und der gut zehn Jahre jüngeren Ethel eine
leidenschaftliche, hochkomplizierte Liebesgeschichte war, die beide über Jahre hinweg sehr
glücklich, und dann am Ende ziemlich unglücklich gemacht hat.

Musik 1
CD 736-2880                           T. 6                                                2’14
Ethel Smyth: Quintett E-Dur, Andantino poco Allegretto
Mannheimer Streichquartett
Joachim Griesheimer (Violoncello)

Ethel lernt Elisabeth von Herzogenberg Anfang 1878 kennen, nachdem sie schon
Wunderdinge über Elisabeths Schönheit, ihre Liebenswürdigkeit, ihren Musikverstand gehört
hat. Wunderdinge, die sie dann erst mal nur bestätigen kann: „Es stimmte“, schreibt sie,
„wenn sie zur Türe herein kam, ging die Sonne auf, und Männer wie Frauen verfielen ihrem
Charme.“
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Nach nur ein paar Wochen mit gemeinsamen Konzertbesuchen, Essenseinladungen und
musikalischen Abenden am Klavier hat das so enorm temperierte, immer kontrollierte
Ehepaar Herzogenberg Ethel, das leidenschaftliche Mädchen, den britischen Sturmvogel,
quasi adoptiert. Ethel, die ja am Konservatorium mit ihrem Unterricht bei verknöcherten alten
Herren à la Carl Reinecke so unglücklich gewesen ist, wird ab jetzt vom jungen Heinrich von
Herzogenberg im Kontrapunkt unterrichtet, und sie und Elisabeth sehen sich über Jahre
hinweg fast täglich.
Ungefähr zeitgleich entrollt sich auch die Freundschaft der Herzogenbergs mit Johannes
Brahms, der 1877 zum ersten Mal bei ihnen zu Gast gewesen ist – Brahms und Ethel
verfallen der wunderbaren „Lisl“, wie alle sie nennen, sozusagen parallel, vielleicht mit ein
Grund weshalb sie sich nie so recht ausstehen konnten...
Elisabeth, geborene von Stockhausen, ist in Paris zur Welt gekommen, sie kommt aus
bester, uralt-adliger Familie, ihr Vater war Diplomat in Frankreich und Pianist, er hat
Unterricht bei Frédéric Chopin gehabt, und seine Tochter Elisabeth war dann auch eine
vielbewunderte Pianistin (die einzige, die ihr Klavierspiel ein bisschen steril fand, war
erstaunlicherweise Ethel...)
Wenn die junge Elisabeth mit ihren Eltern und der Schwester in der Wiener Oper auftauchte,
dann starrte ganz Musikwien dieses strahlende Mädchen mit den goldblonden Haaren an, so
erzählt es jedenfalls der Brahms-Freund Max Kalbeck, der dann später auch die
Herzogenberg-Briefe herausgegeben hat.
Elisabeths Mann Heinrich ist auch ein ziemlich exquisites Gewächs:
Er stammt aus einer uralten bretonischen Adelsfamilie, die vor der französischen Revolution
nach Österreich geflohen war, wo die Monarchie ja seinerzeit ganz unbeschadet
weitergewurschtelt hat. Heinrich von Herzogenberg war also aus allerbester Familie, und
schon das war vermutlich mit ein Grund, wieso Johannes Brahms nie so ganz herzinnig mit
ihm warmgeworden ist – Herzogenberg, der reiche Sohn, hat ganz selbstverständlich am
Konservatorium ordentlich Musik studiert, etwas, wofür bei der Familie Brahms eben kein
Geld da gewesen ist, und: Herzogenberg ist ein enorm gelehrter Mensch – das wurde auch
damals schon allgemein eher als Hindernis für inspiriertes Komponieren gesehen. Was
Herzogenberg selber gar nicht bestritten hätte. Er war notorisch bescheiden, irgendwo
schreibt er mal an Brahms, dass er den Musikern oft zu gelehrt, den Gelehrten aber oft zu
musikalisch sei. Und Ethel erzählt gerührt, wie ihr Lehrer, der immerhin jeden Tag mehrere
Stunden komponiert und ein enormes Gesamtwerk hinterlassen hat, irgendwann ganz offen
sagte, er glaube nicht, dass er als Komponist etwas Bedeutendes zu sagen habe. Trotzdem
schicken Heinrich und auch Elisabeth über die Jahre immer wieder unverzagt Heinrichs
Kompositionen an Brahms zur Begutachtung. Und der reagiert, wenn er reagiert, höflich-
liebenswürdig-ausweichend. Was er da sah, klang ihm wohl zu sehr nach Brahms... Heinrich
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von Herzogenberg, der bis zum Exzess Bescheidene, hat sich tatsächlich nie so recht aus
dem Schatten von Brahms heraus getraut – die Begabung dazu hätte er wohl gehabt, das
hört man seinen Stücken an vielen Stellen an. Brahms wiederum hat ihn als Freund sehr
gemocht und als Musikgelehrten geschätzt, aber er hat wohl nicht besonders nett über ihn
als Komponisten gedacht – Von Clara Schumanns Tochter Eugenie gibt es die Briefnotiz:
„Wäre Herzogenberg ein tüchtiger Schuster oder Schneider, es würde Brahms ihn glaube ich
höher schätzen.“
Tatsächlich ist die vorherrschende Eigenschaft in Herzogenbergs Musik eine seltsame
Richtungslosigkeit – ob in kleinen oder großen Besetzungen, immer scheinen da die
Beteiligten etwas angestrengt auf der Suche nach einem echten Thema...

Musik 2
M0321774                                  T. 3                                       4’
Heinrich von Herzogenberg: Violinkonzert A-Dur
Ulf Wallin (Violine)
Deutsche Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern
Leitung: Frank Beermann

Was genau Heinrich von Herzogenberg über die Beziehung zwischen seiner Frau und der
jungen Ethel Smyth gedacht hat, ist nicht überliefert – er und seine Frau scheinen, glaubt
man Ethel, begnadete Unterdenteppichkehrer gewesen zu sein, beide waren Anhänger der
„harmony at all cost“-Fraktion, wie Ethel das umschreibt, Harmonie um jeden Preis, also
dürfte es einfach nicht weiter diskutiert worden sein, dass „Das Kind“, wie Ethel bei ihnen
bald heißt, von da an sozusagen zum Haushalt gehört. Heinrich von Herzogenberg ist
Vorsitzender des Bachvereins in Leipzig, und es ist sein Schönstes, täglich ein paar Fugen
und Kanons zu fabrizieren, die er dann abends zusammen mit Elisabeth auf dem Klavier
exekutiert. Was laut Ethel keine reine Freude war, weil er einen „Anschlag wie ein
Wackerstein“ hatte.
Auch Ethel ist gehalten, jeden Tag Kontrapunkt-Übungen zu schreiben, und das hört man
ihren frühen Kompositionen aus der Leipziger Zeit dann auch an, aber eigensinnig, wie sie
nun mal war, hat sie auch aus diesen Übungen irgendwie etwas ziemlich Ethel-Artiges
gemacht...
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Musik 3
CD 736-2880                  T. 9                                  Unterm Text weg ab 3’30
Ethel Smyth: Quintett E-Dur, Allegro molto
Mannheimer Streichquartett
Joachim Griesheimer (Violoncello)

Am Schlussatz ihres in Leipzig in den Herzogenberg-Jahren entstandenen Quintetts hört
man, dass die Herzogenberg’schen Kontrapunkt-Übungen nicht umsonst gewesen sind...
In der Zwischenzeit nimmt die Liebe zwischen Ethel und Elisabeth Fahrt auf – Ethel, diese
immer an beiden Enden brennende Kerze, hat irgendwann einen nicht ganz ungefährlichen
Zusammenbruch, der Doktor fürchtet einen Herzfehler, und Ethel muss zwei Wochen im Bett
bleiben. In dieser Zeit ist Elisabeth von morgens bis abends bei ihr und spielt
Krankenschwester, sie wäscht Ethel und kämmt ihr die Haare, streichelt und umsorgt sie,
schleppt einen kleinen Gaskocher ins Zimmer und kocht köstliches Essen darauf, liest ihr vor
oder spielt aus Brahms’ Zweiter Sinfonie, - deren Partitur hat Brahms ihr ein paar Tage lang
geliehen, und Elisabeth hat in Nullkommanichts einen Klavierauszug davon gemacht. Nach
dieser Krankheits-Episode wird der Ton zwischen den beiden immer exaltierter: Lisl fährt mit
ihrem Mann in Urlaub, aber in Leipzig wird Ethel weiterhin täglich mit Liebesbeweisen
überschüttet, Schokolade, Bücher, Postkarten, Briefe, die anstandslos als Liebesbriefe
durchgehen. Dann reist Ethel über den Sommer nach England zu ihrer Familie und weint
sich dort vor Sehnsucht die Augen aus, Elisabeth wiederum entfaltet in ihren halb deutsch,
halb in makellosem Englisch verfassten Briefen verliebte Rollenspiele, sie identifiziert Ethel
mit Tamino, der auf der Suche nach Erkenntnis ist, und sieht sich selber als
aufopferungsvolle Pamina, die bei der Erkenntnissuche behilflich ist. Aber am liebsten nennt
sie Ethel ihren „kleinen Euphorion“, in Goethes Faust II ist das der unvorsichtige Sohn von
Faust und Helena, der dann so eine Art Ikarus-Ende nimmt...
Versteht sich, dass das wunderbare Mädchen auch immer öfter in den Briefen an den
Hausgott Brahms erwähnt wird, Elisabeth richtet Grüße aus vom „Kind“, schwärmt von
dessen Kompositionen, oder erzählt, dass „meine kleine Engländerin“ gerade dabei ist, das
Brahms’sche h-moll Capriccio zu kopieren, nachdem man so schön stillvergnügt dran geübt
hatte...

Musik 4
M0429629(AMS)       01-007                         3'09
Johannes Brahms: Nr. 2: Capriccio h-Moll aus: 8 Stücke für Klavier op. 76
Murray Perahia (Klavier)
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Brahms ist spätestens seit 1877 der musikalische Fixstern der Herzogenbergs, damals
haben sie ihn, obwohl er sie noch kaum kannte, eingeladen, während der Gewandhaus-
Proben für seine Erste Sinfonie bei ihnen zu wohnen. Brahms hat versucht, sich um jeden
Preis davor zu drücken, er antwortet erst gar nicht, und schildert den Herzogenbergs sich
dann drastisch als einen in Zeiten von Aufführungen seiner Musik völlig unzumutbaren
Zeitgenossen: „Drei Tage vor dem Konzert fange ich an zu schwitzen und Kamillenthee zu
trinken, nach dem Durchfall – im Gewandhaus Selbstmordversuche usw. Sie sollen sehen,
zu was ein gereizter Komponist im Stande ist!“ Aber im gleichen Atemzug hat er dann doch
um die genaue Adresse der Herzogenbergschen Wohnung gebeten, „für“, wie er schreibt
„alle Fälle“.
Die Fälle traten dann also ein, Brahms hat bei Herzogenbergs logiert, und die haben ihn so
warm aufgenommen, sich als so enorme Liebhaber seiner Musik entpuppt, Elisabeth hat so
fabelhaft gekocht – mit gutem Essen kann man Brahms ja immer einfangen - , dass Brahms
sich nicht weiter gewehrt hat gegen diese ihm ja erst mal ein bisschen aufgedrängte
Freundschaft, und so schreibt er:
„Es war so schön bei Ihnen, ich empfinde es heute noch wie eine angenehme Wärme, und
möchte zuschließen und zuknöpfen, dass sie lange bleibt.“ Zum Dank hat er Herzogenbergs
damals ein paar noch unveröffentlichte Lieder geschickt, die ersten von vielen, vielen
unveröffentlichten Stücken, die dann in den kommenden Jahren nach Leipzig gehen -
allerdings sollen die Lieder nach Durchsicht gleich weiter zu Clara Schumann nach Berlin
geschickt werden. Die Herzogenbergs, die mit Clara befreundet sind, überbringen die Noten
persönlich, aber Elisabeth hat inzwischen schon eine beinah erotische Beziehung zu den
Stücken entwickelt, und an der Art, wie sie das im Brief an Brahms beschreibt, kann man
erahnen, wieso er so viel Spaß an dieser Korrespondenz gehabt hat:

„Lieber Herr Brahms!
Übermorgen ist bekanntlich Ihr Geburtstag, den wir hier mit und bei der lieben Frau
Schumann verleben. Möchten Ihnen die Ohren recht klingen, wenn wir unsre Gläser auf Ihr
Wohl erklingen lassen, und möchte Sie sich’s recht sagen, was das für ein hübscher Tag für
uns ist, der Tag, an dem Sie die Gewogenheit hatten, auf diese Welt zu kommen.
Mit Ihren Liedern feierten wir hier gerührtes Wiedersehen, in Leipzig gewährte mir die
Bekanntschaft fast ebenso viel Pein als Freude, denn solch eine schöne Reihe von Liedern
da haben und nicht ordentlich intim werden können, das ist eigentlich eine Tantalusqual. Hier
hab ich nun einigermaßen nachgeholt und mich mit einigen innig befreundet, so dass sie
bereits mit mir spazieren gehen und allerwege in mir erklingen...“
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Musik 5
M0089546(AMS) 01-007                                                                    2'55
Johannes Brahms: Alte Liebe op. 72 Nr. 1
Bernarda Fink (Mezzosopran)
Roger Vignoles (Klavier)

Elisabeth erzählt ihm anlässlich dieser ersten Musikpost, welche Lieder sie besonders mag,
aber weil sie, wie sie ihm schreibt „eine unglückliche Liebe für Wahrheiten hat“, sagt sie
Brahms auch klipp und klar, welche Stücke ihr gar nicht gefallen und warum.
Und das ist ja schon ziemlich bemerkenswert an Brahms: Wenn er jemandem seine noch
nicht gedruckte Musik zur Begutachtung schickt, will er nicht nur Geschwärme, sondern auch
eine ehrliche Kritik hören. Elisabeth liefert ihm die. Und zwar mit einer so unwiderstehlichen
Mischung aus musikalischem Röntgenblick und sympathetischer Intuition, dass Brahms ihr
von da an immer wieder Kompositionen schickt. Elisabeth von Herzogenberg hat eine
besondere Stellung im Brahms –Kosmos, sie gehört, wie Clara Schumann, zu den ganz
wenigen Frauen, die Brahms verehrt und hoch respektiert hat. Alle anderen „Weibsbilder“,
wie er sie nannte, fand er entweder lästig und langweilig und hat sie unmöglich behandelt,
oder er fand sie lecker, dann hat er sie relativ schamlos angestarrt und unanständige Witze
erzählt.
„Wenn sie hübsch waren, hatte er so eine unangenehme Art, sich im Sessel zurückzulehnen,
die Lippen zu spitzen und seinen Schnurrbart zu streichen, und er starrte sie an, wie ein
gieriger Junge auf ein Marmeladentörtchen starrt.“
Das erzählt Ethel Smyth in ihren Memoiren, und man kann ihr das ruhig glauben, denn sie ist
ja damals in Leipzigs Hardcore-Brahmsianer-Kreisen sozialisiert worden und hat ihn erst mal
bis zur Selbstverleugnung verehrt. Aber als sie Brahms dann vorgestellt wird und bei den
Herzogenbergs öfters Zeit mit ihm verbringt, stellt sie fest, dass sie sein Macho-Gehabe
ziemlich ungenial findet. Zunächst mal fällt ihr auf, dass der große Brahms intellektuell auch
nur mit Wasser kocht: „Auch wenn er nie etwas Dummes sagte, kann ich mich nicht erinnern,
ihn je etwas wirklich Eindrucksvolles sagen gehört zu haben.
Und wenn seine neuesten Äußerungen über Bismarck, Dichtung oder auch Musik ekstatisch
unter seinen Jüngern weitergereicht wurden, kam es mir meist vor wie etwas, das jeder
andere auch gesagt haben könnte...“.
Brahms scheint gespürt zu haben, dass die kleine Engländerin seiner angebeteten Elisabeth
nicht ganz so empfänglich für seinen speziellen Brahms-Charme war. Und ihr naseweiser
Intellekt, ihre geistige Unabhängigkeit, haben schlichtweg nicht seinem Frauenbild
entsprochen. Dass in Sachsen viele ihren Namen nicht aussprechen konnten und statt
Smyth Schmeiss sagten, hat Brahms den wahnsinnig lustigen Witz eingegeben, sie die
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Schmeiss-Fliege zu nennen. Als Elisabeth das unterbindet, nennt er Ethel fortan „die Oboe“
– und das war ja dann schon deutlich netter, wenn man bedenkt, was für ein
wunderherrliches Solo er der Oboe in den langsamen Satz seines Violinkonzerts
hineinkomponiert hat ...Aber die paar Male, die Brahms Ethels Musik begutachtet, laufen
auch nicht besonders konstruktiv ab, es ist ganz klar, dass er sich gar nicht wirklich mit der
Musik beschäftigt, weil sie ja sowieso nur von einer Frau ist. Angefressen von dieser
Geringschätzung kreativer Frauen hat Ethel dann, inzwischen konnte sie ja ganz gut
Deutsch, ein Spottgedicht geschrieben:

Der grosse Brahms hat’s neulich ausgesprochen:
„Ein g’scheidtes Weib, das hat doch keinen Sinn!“
D’rum lasst uns emsig uns’re Dummheit pflegen,
Denn nur auf diesen Punkt ist Werth zu legen
Als Weib und gute Brahmsianerin!

Das fand Brahms nun wiederum rasend komisch und hat es allen, die es hören oder nicht
hören wollten, immer wieder vorgelesen.
Aber, um Ethel und auch Brahms gerecht zu werden, muss man sagen, dass sie sehr wohl
seine guten Seiten wahrgenommen hat.
Dass er sich nicht mit den großen Komponisten vor ihm auf gleicher Höhe sah, fand sie
sympathisch. „Er kannte seinen eigenen Wert – welcher große Schöpfer tut das nicht? –
aber in seinem Herzen war er einer der bescheidensten Männer, die ich je getroffen habe.“
Und als Musiker war Brahms natürlich auch für Ethel ein Wunder:
„Ich erinnere mich am liebsten an Brahms am Klavier, wenn er seine eigenen Kompositionen
spielte und sich dabei manchmal mit einem dumpfen Brummen begleitete, als ob Titanen in
den Eingeweiden der Erde wach würden.
Die Adern an seiner Stirn schwollen an, seine wunderbaren, hellblauen Augen verschleierten
sich, und er schien die Inkarnation dieser gezügelten Kraft, aus der sein ganzes Werk
gemacht ist. Denn sein Spiel war niemals lärmend, und wenn er ein verschüttetes Thema
aus dem musikalischen Geflecht hervorhob, forderte er uns scherzhaft auf, seinen
„Tenordaumen“ zu bewundern...

Musik 6
M0066953                            T. 14                                          4 auf Zeit
Johannes Brahms: Rhapsodie op. 79 Nr.2
Martha Argerich (Klavier)
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...die Brahms Elisabeth von Herzogenberg gewidmet hat.

Das Leben in der und für die Musik in Leipzig geht also mehrere glückliche Jahre seinen
geordneten Gang für die fleißige Studentin Ethel, und dann - fliegt plötzlich alles in die Luft.
Aber lassen wir Ethel selber erzählen, inzwischen sind wir übrigens im zweiten Band ihrer
Erinnerungen angekommen, die sinnigerweise „As time went on“ heißen – also einfach
soviel wie: Einige Zeit später...
„Für fünf Jahre arbeitete ich wie ein Dämon, die Sommer über war ich in Frimhurst, meiner
Heimat in Surrey. Dann, 1882, unwiderstehlich angezogen vom Süden und einer wilden
Sehnsucht, Italien zu sehen, verbrachte ich den Winter in Florenz, wo Lisls Schwester Julia
lebte. Ihre Ehe mit einem gewissen Henry Brewster – einem elf Jahre jüngeren Mann, halb
Amerikaner, halb Engländer, und von Erziehung und Neigung Franzose – basierte auf einer
Theorie, die sich jede weise Frau unter ähnlichen Umständen zu eigen machen würde,
nämlich, dass, falls einer von ihnen sich in jemand anderen verlieben sollte, das weder eine
Tragödie noch ein Trennungsgrund sei.“

Und damit ist endlich die zweite Hauptfigur dieser Stunde aufgetreten, und auch dafür
bräuchte es jetzt eigentlich Trommelwirbel und Tusch.
Gestatten: Henry Brewster - Ethel Smyths große Liebe.
Ethels glücklichste Beziehung ihres Lebens beginnt mit einer Tragödie, und zwar einer, die
sich über Jahre hinzieht:
Ethel kommt über die in Ästhetizismus und Theorie erstarrte Ehe der Brewsters in Florenz
wie ein Sommergewitter im Winter, sie nimmt an ihrem Leben teil wie daheim in Leipzig am
Leben Elisabeths, sie stellt fest, dass Julia eine beeindruckende, aber leicht verblasene und
nie wirklich erreichbare Frau ist, wohingegen Henry, ihr Mann, sich sofort als Ethels
perfektes Gegenüber entpuppt. Im Grunde ist es ein Fall von Gesucht und Gefunden.
Brewster, den Ethel später dann Harry nennt oder meistens einfach H.B., muss ein wirklich
außergewöhnlicher Mann gewesen sein:
Ein freier Geist, ein philosophischer Denker, ein hochbegabter Literat, ein großzügiger
Mensch, liebesfähig und mit Sinn für Humor. Die beiden verstehen sich, als ob sie sich
schon hundert Jahre kennen, und derweil Ethel noch, wie sie das eben gewöhnt ist, für Julia
schwärmt, hat sich Henry schon Knall auf Fall und in diesem Fall tatsächlich unsterblich in
Ethel verliebt. Julia bleibt erst mal ruhig und schickt ihren Gatten zur Großwildjagd nach
Afrika, eine kleine Auszeit zwischen Löwen, denkt Julia, wird ihn schon zur Vernunft bringen.
Und tatsächlich, Ethel reist wieder ab, Henry kommt zurück und erklärt sich für geheilt. Weil
aber Julia die ganze Angelegenheit gründlich durchleuchten will, besteht sie darauf, dass
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Ethel im folgenden Winter wiederkommt. Ethel, die noch jede Menge Besichtigungen
abzuarbeiten hat, kreuzt erneut in Florenz auf – und Brewster ist verliebter denn je.
Und diesmal verliebt sich Ethel auch – zu ihrer eigenen Verwunderung, denn bisher hat sie
ja ihre ganze unausgelebte Leidenschaft auf Frauen fokussiert.
Weil alle drei so schrecklich modern sind, diskutieren sie nun also selbdritt, wie mit der
Situation umzugehen sei, Julia findet, ihr Mann solle seine Verliebtheit ausleben, irgendwann
hätte sich’s dann sicher erledigt, Henry ist natürlich auch sehr am Ausleben interessiert – nur
Ethel macht nicht mit. Sie will keine Ehe zerstören, hat auch Angst vor den eigenen
Gefühlen, also reist sie überstürzt ab, will den Kontakt abbrechen, gesteht alles Elisabeth
von Herzogenberg, deren allerhöchste Alarmiertheit man nur erahnen kann, zwischendurch
reist Brewster zwei Mal nach Leipzig, um auf Ethel einzureden, undsoweiter... Im folgenden
Sommer trifft sich Elisabeth mit ihrer Schwester, und wie das immer so ist: Unter den
Beteuerungen, ganz modern und offen und abgeklärt zu sein, lauert bei Julia die bodenlose
Verzweiflung.
Elisabeth, zwischen allen Stühlen sitzend und aufgehetzt von ihrer Mutter, der Baroness
Stockhausen, die Ethel noch nie leiden konnte, holt zum Befreiungsschlag aus: Sie bricht mit
ihrer heißgeliebten Ethel. „Bevor die Herbstblätter gefallen waren, wurde ich aus Lisls Leben
entfernt, und hatte Harry aus dem meinen entfernt.“

Musik 7
736-2880                             T. 8                                                3’30
Ethel Smyth: Quintett in E, Adagio
Mannheimer Streichquartett
Joachim Griesheimer (Violoncello)

Ethel schafft es tatsächlich mehrere Jahre, Henry Brewster aus dem Weg zu gehen – eine
bitterharte Zeit für den armen Henry, der zur Ablenkung ein Buch nach dem anderen
schreibt, aber auch für Ethel, denn sie ist bei allem Gesellschaftsleben ziemlich einsam in
dieser Zeit.
Immerhin hat sich wegen der Kalamität mit Henry ihr halber Freundeskreis von ihr losgesagt.
Andererseits sind eben das die Jahre, in denen sich in ihrem Komponistenleben
Entscheidendes tut!
Ende der Achtzehnhundertachtziger macht sie sich ernsthaft daran, einflussreichen Leuten
ihre Musik vorzustellen und sich um eine öffentliche Aufführung zu bemühen. Was am
Anfang unglaublich mühsam und desillusionierend ist, wie man sich denken kann, denn sie
ist ja nur eine Frau. Ein paar ihrer Sachen schickt sie an Brahms-Buddy Joseph Joachim, der
ihr zurückschreibt:
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„Verehrte Miss Smyth, trotz eines gewissen Talentes hie und da, so mancher geschickten
Wendung und einer gewissen Leichtigkeit, muss ich offen sagen, dass mir beide Werke als
Fehlschläge erscheinen – unnatürlich, weit hergeholt, überreizt und schlecht klingend.“
Ethel schreibt dazu später giftig:
„Ich fragte mich, ob er dagegen tatsächlich jenen Herrn Soundso für ein großes Talent hielt -
ein junger Mann, von dem man nie gehört hatte bis dahin und später auch nie wieder,
dessen tödlich ödes Opus 1 Joachim vor Kurzem in London aufgeführt hatte und dessen
Mama jene schicken musikalischen Gesellschaften veranstaltete, bei denen das Joachim
Quartett alle zwei Wochen auftrat, für astronomische Honorare...“.
Ethels Begegnungen mit dem Brahms’schen Inner Circle sind also eher entmutigend – aber
dann, 1888, macht sie eine wirklich erfreuliche Bekanntschaft, mit der auch ein neuer Tonfall
in ihre Musik kommt:
Bei einer Leipziger Abendgesellschaft trifft sie Tschaikowsky.
Tschaikowsky hat seine Erinnerung an die Begegnung mit Ethel später einer Bekannten
geschildert: Zuerst, erzählt er, sei da ein großer, Setter-ähnlicher Hund ins Zimmer getrabt,
woraufhin alle wussten, dass jetzt gleich „Miss Ethel“ eintreffen würde. Und so sah
Tschaikowsky dann Ethel: „Eine große Engländerin, nicht hübsch, aber mit einem, wie man
so sagt, „ausdrucksvollen“ Gesicht“. Und auch ihre Einsamkeit hat er gleich gespürt – für
sowas hatte er ja einen siebten Sinn. Tschaikowsky, das kann man sich denken, hat Ethel
nicht angestarrt, als sei sie ein Marmeladentörtchen, er hat sich ernsthaft für ihre Kunst
interessiert und hatte sofort den Eindruck, dass man diese hart arbeitende junge
Komponistin ernst nehmen muss.
Er ist schwer beeindruckt von ihrer Musik, die sie ihm zeigt und vorspielt, nur in Sachen
Brahms kommen sie irgendwie nicht auf einen Nenner: „Aus ihrer Sicht“, so Tschaikowsky,
„war Brahms der Gipfel aller musikalischen Entwicklung, und alles, was vorher war, diente
nur als Vorbereitung für diese Inkarnation musikalischer Schönheit.
Und wieder, wie immer, wenn ich in Kontakt mit rabiaten Brahmsianern kam, quälte mich die
Frage: Irren die sich nun alle? Oder habe nur ich Gott und die Natur so beleidigt, dass ich
einfach niemals mit der Gnade der Erkenntnis gesegnet sein werde?“ – Ethel und
Tschaikowsky verstehen sich blendend, obwohl sie sich die ganze Zeit, die er in Leipzig
verbringt, über Brahms streiten, aber Tschaikowsky ist so charmant, dass Ethel ihm alles
verzeiht. Und dieses Zusammentreffen findet genau im richtigen Moment statt: Für die
Herzogenbergs ist sie persona non grata, und so langsam fällt die heilige Verpflichtung,
neben Bach und Brahms keine Götter zu haben, von ihr ab – Ethel steckt in der schlimmsten
persönlichen Krise ihres Lebens, also warum nicht mal auf jemand anderen hören. Vor
allem, wenn der so viel Inspirierendes zu sagen hat wie Peter Tschaikowsky. Der rät ihr
nämlich, sich für ihre Musik nicht so viel mit anderer Leute Musik und auch nicht mit dem
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trockenen Kontrapunkt, sondern stattdessen mit dem wirklichen Leben zu beschäftigen:
„Was geschieht in einer ganz normalen Unterhaltung?“, fragt er sie zum Beispiel, „Wenn Sie
mit wirklichen, lebendigen Menschen zu tun haben, dann hören Sie auf die unterschiedlichen
Tonfälle in den Stimmen – da haben Sie Ihre Instrumentation.“
Dieser Satz Tschaikowskys verändert Ethels Leben als Komponistin.
Nach dieser Begegnung schreibt Ethel ihr erstes großes Orchesterwerk, die Serenade in D,
die dann doch tatsächlich im Jahr 1890 von August Manns, dem deutschstämmigen
Chefdirigenten des Crystal Palace in London, ins Programm genommen wird. Es ist die erste
öffentliche Aufführung von Ethels Musik in England, und natürlich ist die ganze Familie
komplett aus dem Häuschen und reist aus Surrey zur Aufführung an, am aufgeregtesten ist
der alte Colonel Smyth, ihr Vater, der noch nie in seinem Leben ein Konzert besucht hat.
Bevor er das Haus verlässt, schreibt er schon mal das Telegramm, das er nach dem Konzert
an Ethels Bruder im Ausland abschicken will.
Drauf steht, mit mühsam unterdrücktem Vaterstolz: „Great Success!“

Musik 8
CD 12 – 66551                T. 4   freistehend ab 5’32                               3’45
Ethel Smyth: Serenade in D
BBC Philharmonic
Leitung: Odaline de la Martinez
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