SWR2 Musikstunde Frau mit Eigenschaften - Das Leben der Ethel Smyth (1-5)

Die Seite wird erstellt Kenneth Köhler
 
WEITER LESEN
1

SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

Frau mit Eigenschaften -
Das Leben der Ethel Smyth (1-5)
Folge 1: Der Sturmvogel
Mit Katharina Eickhoff

Sendung:    21. Juni 2021 (Erstsendung: 06. März 2017)
Redaktion: Dr. Bettina Winkler
Produktion: SWR 2017

SWR2 können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.SWR2.de, auf Mobilgeräten in der
SWR2 App.

Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und
Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.

Die neue SWR2 App für Android und iOS

Hören Sie das SWR2 Programm, wann und wo Sie wollen. Jederzeit live oder zeitversetzt, online oder offline. Alle
Sendung stehen sieben Tage lang zum Nachhören bereit. Nutzen Sie die neuen Funktionen der SWR2 App:
abonnieren, offline hören, stöbern, meistgehört, Themenbereiche, Empfehlungen, Entdeckungen …
kostenlos herunterladen: www.swr2.de/app
2

„Doing things by halves is the most boring thing in the world!“
Dinge nur halb zu tun, ist das Langweiligste von der ganzen Welt.
Sprach Ethel Smyth, nahm einen Backstein zur Hand und schmiss damit eine Scheibe ein.

Ja, das hier wird, wenn Sie so wollen, eine feministische Musikstundenwoche. Einerseits.

Einerseits schadet es nämlich tatsächlich nicht, gerade jetzt die Fahne hochzuhalten, wo
Feminismus von manchen wieder ganz offen als nervige political correctness oder
Schlimmeres abgetan wird.
Und wo ein Frauen wie Dreck behandelnder Mann das mächtigste Amt der Welt besetzt –
man sieht Miss Smyth geradezu vor sich, wie sie neulich beim Womens’ March in
Washington vorneweg gestürmt wäre, in ihrer so unglaublich britischen Tweed-Montur mit
immer etwas zu großer Jacke, die Krawatte kampflustig strammgezogen...
Andererseits sind Ethel Smyth, ihre Musik und ihr ganzes buntes Leben eine so großartige
Story, dass es den Feminismus gar nicht braucht, um das erzählen zu wollen – Ethel, wie wir
sie hier jetzt die Woche über mal nennen wollen, spricht für sich.
Das tat sie wirklich, und zwar in gleich mehreren Büchern, in denen sie mit Leidenschaft,
Wortgewalt und Witz ihr Leben erzählt hat, von ihrer sehr britischen Kindheit über ihre
aufregenden Studienjahre in Leipzig, wo sie als wildes Fräulein nicht bloß Brahms verwirrt
hat, ihren atemberaubenden Aufstieg als Komponistin, der ihr so prominente Fans wie
George Bernard Shaw oder Bruno Walter eingetragen hat, bis zu ihrem Kampf für
Frauenrechte, ihren Reisen und Freundschaften und Verliebtheiten – verliebt war sie immer,
meistens in Frauen, mit einer allerdings sehr bedeutenden Ausnahme, und ihre
schwärmerische Begeisterung war Energiequelle und Antrieb für diese ziemlich verrückte
und doch bodenständige, liebenswerte Frau.

Ethels gedruckte Erinnerungen waren Bestseller, genauso erfolgreich wie ihre Musik, und
das will was heißen, immerhin sind ihre Kompositionen von den besten Dirigenten Europas
und der USA in den wichtigsten Konzert- und Opernhäusern aufgeführt worden. Und ihre
Komponistenkollegen haben immer bewundernd darauf hingewiesen, dass man bei ihrer
Musik gar nicht merke, dass eine Frau sie geschrieben habe... Womit wir wieder beim
Feminismus wären, aber den wollen wir ja auch gar nicht ganz loswerden, denn er gehört
klar zu Ethels Geschichte dazu, - nicht zuletzt, weil sie in fortgeschrittenem Alter ja eine Zeit
lang rettungslos verliebt in die Chefsuffragette Emmeline Pankhurst war und 1912 zwei
Monate in Londons Frauengefängnis Holloway einsaß, weil sie irgendeinem hartleibigen
konservativen Politiker die Fensterscheiben zertrümmert hatte...
3

Ethels Kampf für Frauenrechte war zunächst mal einfach ein Kampf für ihre eigenen Rechte :
Schon als kleines Mädchen ist sie zum Leidwesen ihres gestrengen Vaters gegen die
Beschränkungen einer viktorianischen Jugend Sturm gelaufen. Und hatte bald einen
Spitznamen weg, der die ganze Ethel bestens auf den Punkt bringt: The stormy petrel – Der
Sturmvogel....

Musik 1
12-66551                             T. 4                                            etwa 3’
Ethel Smyth: Serenade in D, Finale
BBC Philharmonic
Leitung: Odaline de la Martinez

...mit diesem Stück wird Ethel dann im Jahr 1890 in Londons Crystal Palace ihr offizielles
Debüt als Komponistin haben...

Ethel ist eine von sechs Töchtern des gestrengen britischen Generalmajors der Artillerie
John Hall Smyth, der erst kurz vor Ethels Geburt mit Frau und Kindern wieder nach England
zurückgekommen ist. Vorher hat die Familie in Indien gelebt, und die Eltern, erinnert sich
Ethel, haben sich auch später noch in Hindustani unterhalten, sobald ein delikates Thema
vor den Kindern zu besprechen war.
So ein Hindustani- Thema war zum Beispiel die nicht standesgemäße Großmutter, Mrs
Smyths verfemte Mutter: Bonnemaman, so wurde sie genannt, wenn dann doch mal von ihr
die Rede war, Bonnemaman also hatte sich nach mehreren gescheiterten Ehen in Paris
niedergelassen und dort ein lupenreines Bohème-Leben geführt.
Im Salon der geschiedenen Lebedame hat dereinst Chopin gespielt, und bei der entsetzten
wohlanständigen Verwandtschaft daheim in England gingen wilde Geschichten um, zum
Beispiel, dass sie sich in ihre Wohnung besonders große Schränke habe einbauen lassen,
um ihre vielen Liebhaber zu verstecken.
In jedem Fall ist Ethels geliebte, aber schwierige Mutter in Paris aufgewachsen, Französisch
war die Sprache ihrer Kindheit, und die stumpfe Ödnis der britischen Gesellschaft – Ethel
nennt das die „English humdrumness“ – hat ihr oft schwer zu schaffen gemacht, auch wenn
sie sich nicht offen dagegen aufgelehnt hat. Ihre Mutter, sagt Ethel, habe, wie sie selbst
auch, ein undiszipliniertes Herz gehabt, und sie war „extraordinarily un-English“.
Trotzdem ist Ethels Kindheit eine viktorianisch-britische Kindheit wie aus dem Bilderbuch,
also, dem Bilderbuch einer wohlhabenden Familie, natürlich: Ein großes, efeubewachsenes
Haus im ländlichen Umkreis Londons, ein Kricket-Rasen und ein dazugehöriger Gärtner, und
4

ein in diesen Kreisen und bei dieser Kinderzahl üblicher enormer Verschleiß von
Kindermädchen...
Wenn wir vielleicht mal kurz über die Gartenmauer auf England in Ethels Kindertagen
schauen, sehen wir ein Reich auf dem Höhepunkt seiner kolonialen und sonstigen Macht.
Nach dem Sieg über Napoleon ist Großbritanniens Aufstieg nicht mehr aufzuhalten, aus
allen weiteren Händeln in Europa hält sich das Empire elegant raus und intensiviert
stattdessen den Handel mit seinem riesigen Commonwealth. Und es stellt sich, damals
schon, heraus, dass Wirtschaftsmacht die wahre Macht ist: England unter Queen Victoria hat
überall ein Wörtchen mitzureden, spielt Weltpolizist und gibt auf allen Meeren den Ton an.
Es war tatsächlich so: Britannia ruled the waves – zu Ethels Zeit war „Rule, Britannia“, das
stolze Lied von Thomas Augustine Arne schon die heimliche Nationalhymne, die es bis
heute ist. Und alle Briten glaubten dem Text Wort für Wort.

Musik 2
Gebr.CD                                T. 1                                                  2’36
Thomas Augustine Arne: Rule Britannia
Royal Philharmonic Orchestra
Leitung: Carl Davis
Sony 2436051

Rule Britannia, der unvermeidliche Jubelchor bei der Last Night of the Proms und anderswo,
der jetzt, in Brexit-Zeiten, plötzlich die liebenswürdige Selbstironie verloren hat, die da früher
immer mitschwang - weil es ja doch erschreckend viele Engländer auf einmal wieder ernst
meinen und zurückwollen zu den guten alten Zeiten des Empire und in die „spledid isolation“
– auch hier sieht man Ethel, die Kosmopolitin, schon wieder vor dem geistigen Auge sich
resolut den Hut zurechtzücken und in die pro-Europa-Schlacht ziehen, die sie ja aber
trotzdem einstweilen verloren hätte.
England herrschte also auf allen Meeren, und das Selbstverständnis als Tochter der einzig
wirklich zivilisierten Nation auf Erden liest man schon auch aus Ethels Erinnerungen, wenn
sie dann später in Deutschland amüsiert und ein bisschen naserümpfend die hygienischen
Verhältnisse in Leipzig oder das rustikale Betragen der Sachsen beschreibt.
Dieses Großbritannien, in dem sie aufwächst, ist ein eigenartiges Reich fernab von der
Restwirklichkeit: Die Revolutionen auf dem Festland von 1830 und 1848 sind an England
quasi spurlos vorbeigegangen, keiner verfolgt hier irgendwelche spinnerten Ideen von
Demokratie und Volksherrschaft – Nur so kann es sich Königin Victoria leisten, nach dem
Tod ihres abgöttisch geliebten Albert im Jahr 1861 total in ihrer Rolle als trauernde Witwe
aufzugehen und fast komplett aus dem öffentlichen Leben zu verschwinden. Der Laden läuft
5

auch ohne sie, die britische Gesellschaft bewegt sich ganz von allein in den allseits
akzeptierten Standesschranken, und gerade in der oberen Mittelschicht sind die
Lebenswege auf beruhigende, aber eben auch ziemlich anödende Weise zementiert: In
Ethels Familie gingen die Männer zum Militär oder wurden Geistliche oder Bankdirektoren,
die Frauen waren gehalten, sich ein bisschen zu bilden, nicht zu sehr, das Tanzen und
Klavierspielen zu lernen, und dann den Meistbietenden zu heiraten.
Nur, dass sich bei Ethel schon relativ früh abzeichnet, dass es wohl eher nichts werden wird
mit der allzu holden Weiblichkeit.
Sie hasst Puppen – die, die ihr aufgedrängt werden, erklärt sie kurzerhand zu
Schwerkranken und stopft sie zur ewigen Rekonvaleszenz in irgend einen Schrank - , sie
liebt wilde Spiele und Sport aller Art, sie ist laut bis vorlaut, lässt kein Fettnäpfchen aus, und
ihre Frisur ist grundsätzlich eine Katastrophe.
„Tomboy“ nennt man so ein Mädchen im Englischen, und Ethel ist sozusagen die Inkarnation
des Begriffs. Davon abgesehen ist sie, wie Mozarts Cherubino, in pubertärer Aufwallung
ständig existentiell in irgendwelche Damen verliebt:
„Wilde Leidenschaften für Mädchen und Frauen, die deutlich älter waren als ich, bestimmten
einen großen Teil meines Gefühlslebens“, schreibt sie in „Impressions that remained“, dem
ersten Teil ihrer Memoiren, „und ich pflegte den Liebeswahn zu steigern, indem ich mir
einredete, das Objekt meiner Begierde sei Opfer einer scheußlichen Krankheit, die sie mir
alsbald entreißen würde. In jedem Fall war ich auch durch die noch so offensichtliche
Evidenz einer robusten Gesundheit nicht von meinen Vorstellungen abzubringen.“
Den Eltern ist das himmelhochjauchzend-zutodebetrübte Mädchen oft rechtschaffen peinlich,
Miss Ethel fehlt die Impulskontrolle, und in der Familie ist man froh um jeden Moment, in
dem sie sich einhegen lässt und tut, was höhere Töchter halt so tun, zum Beispiel vor den
Gästen der Abendgesellschaft auftreten und ein bisschen hübsch Klavier spielen und singen.
Das hat sie auch als erwachsene Frau beibehalten – sie singen zu hören, scheint ein
wirkliches Vergnügen gewesen zu sein. Erstrecht, wenn es dann ihre eigenen Lieder waren,
wie dieses hier zum Beispiel:

Musik 3
336-3008                              T. 3                                                 4’04
Ethel Smyth: Chrysilla
Melinda Paulsen (Mezzosopran) und Kammerensemble
Leitung: Johannes Schmeller

„Chrysilla“ aus dem Jahr 1907 – gewidmet hat Ethel dieses zärtliche Stück Henry Brewster,
der großen Liebe ihres Lebens.
6

Die junge Ethel singt also gern, sie hat eine sehr schöne Mezzo-Stimme, und dass sie
hochmusikalisch ist, fällt zwar den nicht sehr musikaffinen Eltern nicht auf, aber dafür einer
ihrer Gouvernanten – die hat in Leipzig gelebt und dort erstaunlicherweise sogar als Frau
Musik studieren dürfen, und sie spielt dem Kind Ethel statt englischen Abzählreimen
Beethoven und Schumann auf dem Klavier vor.
Leipzig – das Zauberwort fällt schon ziemlich früh in Ethels Leben, und zusammen mit der
wunderherrlichen Musik, die sie von der Gouvernante hört, verdichtet sich der Begriff zu der
vagen Vorstellung von einem paradiesischen, klingenden, singenden Ort in der Ferne...
Dann erscheint noch ein entfernter Bekannter der Eltern auf der Bildfläche, Alexander Ewing,
ein prominenter Hymnen-Komponist, der ein echter Musik- und auch sonst Gelehrter ist, und
der sich wohl ein bisschen in das so intensiv fühlende und begeisterungsfähige
siebzehnjährige Mädchen verguckt, derweil er ihr Berlioz- und Wagner-Partituren zeigt, ihr
aus der Musikgeschichte erzählt und die Grundzüge der Harmonielehre beibiegt. Schon bald
hält er Ethel für eine geborene Komponistin, und sagt ihr das auch. Ethels Vater fängt einen
schwärmerischen Brief des Freizeit-Bohemiens ab und macht der Sache ein Ende, aber zu
spät:
Die Tochter ist schon rettungslos mit dem Musikvirus infiziert.
Sie übt Klavier wie verrückt, versucht erste eigene Kompositionen und organisiert sich mit
nimmermüder Energie irgendwelche Anstandsdamen oder älteren Verwandten, die mit ihr
nach London zu den Konzerten im Crystal Palace fahren.

Musik 4
M0114743                                     T. 3                                       1’02
William Sterndale Bennett: Klavierkonzert Nr.4 f-Moll
Malcom Binns (Klavier)
Milton Keynes Chamber Orchestra
Leitung: Hillary Davan Wetton

Der Crystal Palace ist ein riesiges Gebäude aus Glas und Stahl, das um die
Jahrhundertmitte für eine Weltausstellung in London gebaut, dann nochmal abgetragen und
in einem Vorort wieder aufgebaut wurde, wo er seitdem für Veranstaltungen und Monster-
Ausstellungen aller Art genutzt wird. Es gab auch eine zum Haus gehörige Militärkapelle
dort, aber aus der ist dann ganz schnell ein richtiges Sinfonieorchester geworden, dank
eines Deutschen – der aus Ostpreußen stammende Dirigent August Manns hat die Kapelle
gleich nach dem Umzug übernommen und aufgestockt und dann peu à peu aus dem Crystal
Palace das populäre Konzerthaus Londons gemacht. August Manns war über Jahrzehnte die
musikalische Seele des Crystal Palace, und er wird es sein, der dann im Jahr 1890 hier im
7

Crystal   Palace   Ethels   britisches   Debüt      als   Komponistin   dirigieren   wird,    ihre
Orchesterserenade in D-Dur!

Er war aber überhaupt ein Segen für England: Manns hat den Briten die Musik ihrer Zeit
vorgespielt, hat ihnen die großen Werke von Schumann und Schubert vorgestellt, aber er
war auch ein begeisterter Unterstützer der englischen Komponisten, zum Beispiel von
William Sterndale Bennett, dem um die Mitte des 19. Jahrhunderts vermutlich bedeutendsten
Komponisten der Insel – seine Musik hat Ethel auf ihren Konzertausflügen nach London
noch zu hören bekommen, und ihr Ton hat auch auf ihren Stil Einfluss gehabt, kein Wunder,
denn es ist der „Leipzig-Ton“ – Bennetts 4. Klavierkonzert hier zum Beispiel ist in Leipzig
unter der Leitung von Felix Mendelssohn Bartholdy uraufgeführt worden!

Musik 5
M0114743                                    T. 3                                             6’43
William Sterndale Bennett: Klavierkonzert Nr.4 f-Moll
Malcom Binns (Klavier)
Milton Keynes Chamber Orchestra
Leitung: Hillary Davan Wetton

...von Sir William Sterndale Bennett, und siehe da, es gab offenbar englische Komponisten
vor Edward Elgar, nur dass die in Deutschland aus kultureller Arroganz mehr oder weniger
ignoriert wurden und werden,- das ist übrigens die Schuld des 20. Jahrhunderts, denn zu
Lebzeiten, also im mittleren 19., stand zum Beispiel einer wie William Sterndale Bennett bei
seinen deutschen Kollegen ganz hoch im Kurs! Bennett ist nach Leipzig gekommen und hat
bescheiden bei Mendelssohn angeklopft, ob er sein Schüler sein dürfte, und Mendelssohn,
begeistert von Sterndale Bennetts Musik und liebenswürdig wie immer, hat erklärt, er wolle
gar nicht Bennetts Lehrer, sondern sein Freund werden. Auch Robert Schumann war ganz
vernarrt in Sterndale Bennett, die zwei haben in Bennetts Zeit in Leipzig stundenlange
Spaziergänge mit angeschlossenen Kneipensitzungen gemacht, und nach Mendelssohns
Tod hat man Bennett sogar die Leitung des Leipziger Gewandhauses angetragen – er hat
abgelehnt, weil er seine Studenten in England nicht im Stich lassen wollte.
Das große Problem, das die englische Musik zu Ethel Smyths Jugendzeiten hat, ist, wenn
man so will, das Leipzig-Problem: So ziemlich jeder vielversprechende britische Komponist
ist nach Leipzig gegangen, und der romantisch-musikalische Zauber dort war damals, um die
Mitte des 19. Jahrhunderts, so stark, dass der Mendelssohn’sche Klang irgendwie auf alle
abgefärbt hat...das gilt auch für den anderen, deutlich bekannteren Champion bei den
Konzerten im Crystal Palace, für Arthur Sullivan.
8

Arthur Sullivan hat als junger, enorm begabter Kerl ein Studienstipendium für Leipzig
bekommen und dort bei Carl Reinecke studiert. Diesen Carl Reinecke darf dann zwanzig
Jahre nach ihm auch Ethel Smyth noch genießen, und sie fand ihn ganz und gar
ungenießbar – darüber morgen mehr! Arthur Sullivans Komponistenkarriere geht dann
später so richtig raketenhaft ab, als er, Anfang der 70-er Jahre, sein Librettisten-Alter-Ego
William Schwenck Gilbert trifft. Gilbert und Sullivan werden die britischen Operettenkönige,
mit Mega-Erfolgen wie „The Mikado“ oder „The Pirates of Penzance“. Davon abgesehen
kann Sullivan als Komponist so schön salbungsvoll klingen, wie es die Engländer lieben,
davon zeugt seine legendäre Schluchzschnulze „The Lost Chord“. Die wurde von Enrico
Caruso auf der Trauerfeier zum Untergang der Titanic gesungen – ein Ohrwurm, der dann
auch noch die allerhöchsten literarischen Weihen kriegte, weil nämlich James Joyce ihn im
musikalisch durchwobenen „Sirenen“-Kapitel seines „Ulysses“ verewigt hat.
Ein britischer Kritiker schrieb über Sullivans Musik, im Gegensatz zu diesem seltsamen
Italiener namens Verdi verstehe es Sir Arthur, sich mit seiner Musik nicht in den Vordergrund
zu drängen. Sullivans Musik sei „nicht im Weg“, heißt es da, und das war womöglich in
England damals das größte Kompliment, das man als Komponist einfahren konnte...

Musik 6
Gebr. CD                            T. 2                                               4’00
Arthur Sullivan: The Lost chord
Enrico Caruso (Tenor)
Naxos 4217088

Den Starkomponisten Arthur Sullivan hat Ethel dann später, zu Anfang der 1890-er Jahre
kennengelernt, und der Herr in besten Jahren war, das zeigen seine charmanten Briefe an
sie, absolut entzückt von der so lebendigen Miss Smyth. Irgendwie scheint er sich
angesichts ihrer unerschöpflichen Energie auch wieder jung gefühlt zu haben, jedenfalls
schreibt er ihr 1895: „Es war eine schwere Enttäuschung für mich, dass ich Sie letzte Woche
nicht gesehen habe, denn – ich kann nicht erklären, warum, aber ich hatte große Sehnsucht,
Sie wiederzusehen, die Art Sehnsucht, die man danach hat, einen Ort wiederzubesuchen,
wo man als Kind glücklich war. Obwohl ich alt genug bin, um Ihr Vater zu sein, assoziiere ich
Sie in meinem Herzen irgendwie immer mit meinen Kindertagen...“.
Ja, Ethel Smyth war hin- und mitreißend als junge Frau, obwohl sie nie eine Schönheit
gewesen ist – aber die Leidenschaft für alles, womit sie sich beschäftigte, muss ungeheuer
anziehend gewirkt haben. „Ethel Smyth hatte eine flammende Seele“, schreibt zum Beispiel
auch Bruno Walter in seinen Erinnerungen: „Sie brannte ununterbrochen, ob sie
9

komponierte, ob sie schrieb, ob sie als Suffragette agitierte, ob sie in einer Art Kimono ein
Orchester dirigierte, oder ob sie sich unterhielt.“
Bruno Walter war nicht bloß ein Fan von Ethel, sondern vor allem auch von ihrer Musik, er
hat ihr so manche Tür geöffnet – mehr dazu im Lauf der Woche. Und die flammende Miss
Ethel, die auf den Bällen der Umgebung so wild Walzer tanzt, dass sie zur Hälfte des
Abends schon so zerrupft aussieht wie ein Cherokee auf dem Kriegspfad, hat auch bald den
ersten ernsthaften Verehrer aufgegabelt. Ein junger, träumerischer Ire namens Willie, der
begeistert mit ihr Literatur, Philosophie und Musik diskutiert und ihr sogar einen
Verlobungsring kauft. Aber nach ein paar Wochen wird die Verlobung still und leise
fallengelassen, und Ethel verliert den Verlobungsring dann Jahre später beim Spielen mit
ihrem Hund...Willie hieß übrigens mit Nachnamen Wilde und war Oscar Wildes älterer
Bruder – er hat dann als Journalist und Kritiker in London gearbeitet, ein unglücklicher
Mensch und Schwerstalkoholiker, der seinem von ihm sehr beneideten berühmten Bruder
auf der Tasche lag und schlecht über ihn redete.
Den hat sich Ethel also erspart – aber eigentlich waren wir ja noch bei ihren
Konzerterlebnissen in London! Und da hat sie dann eines Tages im Samstagskonzert der St.
James’s Hall ihre musikalische Epiphanie, ein Erlebnis, das sie selbst als wichtigen
Meilenstein in ihrer musikalischen Reise sah: Sie hört zum ersten Mal Musik von Brahms.

Ein Quartett von deutschen Sängern, allesamt persönlich bekannt mit Brahms, singt die
Liebeslieder-Walzer. Und für Ethel beginnt eine neue Zeitrechnung: „An diesem Tag“,
schreibt sie, „sah ich den ganzen Brahms; andere, größere, und, um die Sprache der
Pedanten zu benutzen, „bedeutendere“ Brahms-Werke würden später neue Feuer in mir
entzünden, aber sein Genie ist dort und damals wie ein Blitz über mich gekommen. Ich fuhr
nach Hause mit einer endgültigen Entscheidung im Herzen“...

Musik 6
M0021425 T. 6                                                                          2’35
Johannes Brahms: „Ein kleiner hübscher Vogel“ aus: Liebeslieder-Walzer op. 52
Edith Mathis (Sopran)
Brigitte Fassbaender (Alt)
Peter Schreier (Tenor)
Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton)
Karl Engel, Wolfgang Sawallisch (Klavier)
10

„Go to Leipzig I must“ – das ist die Entscheidung, die Ethel fällt, derweil sie zum ersten Mal
einen Vorgeschmack von den Herrlichkeiten Brahms’scher Musik bekommt. Die Musik,
soviel ist klar, ist ihr Leben, und wer es da zu was bringen will, muss nach Leipzig.
Zu Hause teilt sie ihre Entscheidung den Eltern mit - und damit beginnt eine Schlacht, die
man sich heute in ihrer Vehemenz womöglich gar nicht mehr ausmalen kann. „Ich fürchte“,
schreibt Ethel, „so schnell, wie die Welt sich seitdem verändert hat, kann sich keiner
vorstellen, was diese Entscheidung aus Sicht meines Vaters bedeutete. Wir kannten keine
Künstler, und für ihn stand dieser Begriff schlichtweg für Leute, die herumlaufen und die
Zehn Gebote brechen. Es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, dass das Leben, das ich da
führen wollte, für ihn gleichbedeutend war mit Prostitution.“
Von den moralischen Bedenken mal abgesehen gibt es da aber auch noch ein ganz
praktisches Problem: Die indische Bank, auf der die Smyths einen Großteil ihres Vermögens
liegen hatten, ist in Konkurs gegangen, die großbürgerliche Familie hat ein ernstes
Geldproblem, und es ist glasklar, dass das erste und einzige Ziel für Colonel Smyth jetzt sein
muss, seine vielen Töchter gewinnbringend zu verheiraten.
Und da kommt Sturmschwalbe Ethel daher und faselt von einem Leben als unverheiratete
Musikstudentin in einer deutschen Stadt!
Die Kräche im Hause Smyth müssen von beachtlichem Format gewesen sein. „Ich hisste
nicht nur die rote Kriegsflagge“, so Ethel, „sondern war entschlossen, allen das Leben zu
Hause so unerträglich zu machen, dass sie mich einfach gehen lassen mussten.“
Sie fährt ständig alleine zu Konzerten nach London...“Damals“, schreibt sie, „reiste man als
junges Mädchen nicht allein, Dritte Klasse und Omnibusse waren unerhörte Dinge in unserer
Welt, und ich hatte ja kein Geld – aber ich entwischte über die Felder zum Bahnhof und fuhr
Dritte Klasse nach London.“ – Das Geld dafür hat sie sich beim Postboten geliehen und auf
ihren Vater anschreiben lassen.
„Um Joseph Joachim und seinen Mitstreitern nahe zu sein, stand ich stundenlang in der
Schlange vor der St. James’s Hall, und ah! die Offenbarung, als ich zum ersten mal
Schuberts a-moll-Quartett hörte! Mein ganzes Leben über war seine Musik meinem Herzen
vielleicht näher als jede andere, ein kristallener Strom, der fließt und fließt...“.
So wunderherrlich die Musik in London, so bitter der Kleinkrieg zu Hause in Surrey: Ethel
schaltet auf Totelverweigerung, sie geht nicht mit zur Kirche, singt nicht mehr bei den Dinner-
Partys, geht nicht mehr aus, spricht mit keinem mehr, beginnt einen Hungerstreik.
Der Vater tritt irgendwann vor Wut schier ihre abgeschlossene Türe ein – aber das ist dann
auch schon fast ein Rückzugsgefecht.
Ein paar kunstsinnige Bekannte der Eltern haben für Ethel Partei ergriffen, die Mutter selbst,
die ja in Paris unter Künstlern aufgewachsen ist, ist längst auf ihrer Seite, und als sich die
Möglichkeit auftut, dass Ethel in Leipzig bei einer höchst respektablen Frau Professor in
11

Pension wohnen könnte, gibt der Vater endlich nach. Ethel wird eine bescheidene
monatliche Summe ausgesetzt, und dann, Ende Juli 1877, reist sie, beaufsichtig von ihrem
Schwager, nach Leipzig, oder, wie sie es ausdrückt: „Through the gate named beautiful into
the chosen city“ - Durch das Tor namens Schönheit in die auserwählte Stadt!

Gebr. CD                     T. 3                                                   4’30
Ethel Smyth: Klaviertrio d-Moll, Allegro vivace
Chagall Trio
CDE 84286
Sie können auch lesen