Thomas Bertram - Verlag Die Werkstatt

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ERNST KUZORRA
     DER GRÖSSTE ALLER SCHALKER
                             Thomas Bertram
Alle Zitate in diesem Buch sind in
ihrer Originalfassung wiedergegeben.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-7307-0572-8

1. Auflage 2021
Copyright © 2021 Verlag Die Werkstatt GmbH
Siekerwall 21, 33602 Bielefeld
www.werkstatt-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten
Satz und Gestaltung: Die Werkstatt Medien-Produktion GmbH, Göttingen
Druck und Bindung: CPI, Leck

ISBN 978-3-7307-0404-2
Inhaltsverzeichnis

PROLOG: DER MANN MIT DER ZIGARRE  . . . . . . . . . . . . . 7

VORWORT: DER GRÖSSTE ALLER SCHALKER  . . . . . . . . .  11

1. DER STOFF, AUS DEM LEGENDEN SIND  . . . . . . . . . . .  20

2. ORTSTERMIN: BLUMENSTRASSE 34  . . . . . . . . . . . . .  64

3. GO WEST, YOUNG MAN!  . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  78

4. EIN KONFIRMAND SCHIESST TORE  . . . . . . . . . . . . .  94

5. KICKENDE KUMPEL  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132

6. SIEGE UND NIEDERLAGEN  . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

7. DIE GOLDENEN JAHRE  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

8. FAMILIENBANDE  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

9. BRAUNE SCHATTEN  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

10. GÖTTERDÄMMERUNG  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

11. DER LANGE ABSCHIED  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333

EPILOG: ABENDLICHT  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386

ANHANG:  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388

QUELLEN UND LITERATUR  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 405

DER AUTOR  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413
PROLOG : DER MANN
MIT DER ZIGARRE

Ein Bier und einen Kurzen trinken
und dabei eine Zigarre rauchen.
Willi Kuzorra, Bruder von Ernst

Ernst Kuzorra habe ich persönlich nie kennengelernt. Er war Jahrgang
1905, ich bin 49 Jahre später geboren, fast auf den Tag genau vier Jahre,
nachdem Kuzorra am 12. November 1950 sein Abschiedsspiel für den FC
Schalke 04 absolviert hatte. Aber ich bin Kuzorra oft begegnet – aus der
Ferne. Natürlich hat er mich nie gesehen, diesen Knirps, mitten zwischen
Tausenden von Schalke-Fans, die alle mindestens einen Kopf größer waren
als ich, in der Mehrzahl Hüte trugen und blau-weiße Fahnen schwenkten.
   Ich weiß aber noch genau, wann ich ihn das erste Mal zu Gesicht
bekam. Es war der 27. November 1965, ein Samstag. An das Datum erin-
nere ich mich deshalb, weil mein Vater seine Eintrittskarte aufbewahrte –
ich selbst kam damals einfach so ins Stadion – und weil damals sämtliche
Spiele der Bundesliga samstags um 15 Uhr 30 angepfiffen wurden. Um 18
Uhr 15 zeigte die ARD-Sportschau Ausschnitte von drei Partien. Dann war
der Fußballtag vorbei.
   Wenn ich heute an die Samstage meiner Kindheit denke, fallen mir aller-
dings weder Schalke noch die Sportschau ein. Stattdessen steigt mir der
Geruch von Graupensuppe mit Hackfleischklößchen in die Nase. „Sams-
tach is Eintopftach!“, pflegte meine Mutter zu sagen, wenn ich mal wieder
lustlos in dem Durcheinander auf meinem Teller herumstocherte. „Haste
kein Hunger? Wat anderet gibt et nich!“ Ich sagte nichts und dachte sehn-
süchtig an eine Riesenschüssel voll dampfender Spaghetti mit Tomaten-
soße.

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Doch an diesem Novembersamstag ist alles anders. Zwar rühre ich wie
stets missmutig in den gräulichen Graupen herum, aber viel Zeit zum Trö-
deln bleibt mir heute nicht.
   Wenige Tage zuvor hat meine Mutter mich mit einem blau-weißen
Stück Stoff, das mit Reißzwecken an einem abgesägten Besenstil
befestigt ist, überrascht. Und mein Vater hat versprochen: Samstag
gehen wir „auf Schalke“.
   Ich beeile mich also ausnahmsweise, würge schnell ein paar Löffel hin-
unter, und schon bin ich weg vom Tisch, ziehe Schuhe und Anorak an und
stürze mit der Fahne in der Hand durchs Treppenhaus nach unten auf die
Straße, wo mein Vater bereits wartet.
   Es ist halb drei. Und es regnet in Strömen. In einer Stunde ist Anstoß.
Bis zur Straßenbahnhaltestelle sind es keine hundert Meter. Wir wohnen
in Bulmke, in der Oskarstraße, gegenüber vom „Werk“. Das Werk ist der
Schalker Verein, nicht der Fußballklub, sondern ein gigantisches Stahl-
werk, dessen flackernde Hochofenfeuer Nacht für Nacht den Himmel
über Gelsenkirchen erleuchten.
   Kurz hinter der Grenzstraße steigen wir aus der Bahn und gehen das letzte
Stück zu Fuß, mein Vater und ich mit meiner blau-weißen Fahne. Am Schalker
Markt angekommen, haben sich uns bereits zahllose „Schlachtenbummler“
angeschlossen, die alle nur ein Ziel haben: die Glückauf-Kampfbahn, jenen
magischen Ort, an dem der FC Schalke 04 seine Heimspiele austrägt und
den ich bislang nur vom Hörensagen kenne.
   Doch erst einmal heißt es geduldig warten. Denn vor der Glückauf-
Kampfbahn kommt die Glück-auf-Schranke, dort, wo die Gleise der „Con-
sol“-Werksbahn die Kurt-Schumacher-Straße kreuzen. Und diese Schranke
ist, wenn man Pech hat, geschlossen, denn noch rollen die Kohlenzüge
nahezu unaufhörlich in Richtung der Verladehäfen am Rhein-Herne-Kanal.
   Mit dem letzten vorbeiratternden Waggon öffnet sich endlich die
Schranke. Ein vielstimmiges Brausen erfüllt die Luft, das langsam anschwillt,
als wir uns dem Stadion nähern. Es herrscht ein unentwegtes Drängen und
Schieben, untermalt von Geschrei und „Schalke“-Rufen.
   Eine lange Reihe gelber Straßenbahnen markiert den Endpunkt unseres
Fußmarsches. Zur Linken erstreckt sich ein von Bäumen gesäumter Vor-
platz mit dem Eingangsportal, das an den Portikus eines antiken Tem-

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pels erinnert. Zunächst müssen wir durch die Drehkreuze zwischen den
„Säulen“, die als Kassenhäuschen fungieren. Ein Stehplatz kostet 2,90
Mark, mich lässt man drei Tage nach meinem elften Geburtstag umsonst
ins Stadion.
    Bis zum Anpfiff bleibt noch etwas Zeit. Also bekomme ich eine Brat-
wurst, mein Vater gönnt sich ein Bier im Pappbecher. Wir erklimmen die
Erdwälle, die als Stehplatzränge dienen. Oben angekommen, erhasche ich
zum ersten Mal einen Blick auf das grüne Rechteck, das viel kleiner ist,
als ich es mir vorgestellt habe. Etwa 20 Meter Luftlinie sind es bis zum
Spielfeldrand schräg unter mir, wo auf der Aschenbahn gerade Kolonnen
von Rollstuhlfahrern ihre Plätze einnehmen, flankiert von Johanniter-Unfall-
helfern, deren rot-weiß-graue Uniformen nicht so recht zum Blau-Weiß aller
anderen passen wollen. Ich recke pausenlos den Hals, um nur ja nichts zu
verpassen.
   Vor der Haupttribüne wird plötzlich etwas aufgebaut, das wie eine elek-
tronische Orgel auf einer Art Bollerwagen aussieht, und tatsächlich wehen
kurz darauf die ersten Musikfetzen zur Gegengeraden herüber – Unter-
haltung in der Steinzeit der Bundesliga. Dazwischen plärren Werbesprüche
örtlicher Geschäfte aus den Lautsprechern.
   „Da isser“, raunt jemand neben mir und deutet mit dem ausgestreckten
Arm in Richtung Haupttribüne. Hälse recken sich, Hände beginnen zu klat-
schen, ich stelle mich auf die Zehenspitzen, klatsche ebenfalls, bin aber
zu klein, um zu erkennen, um wen die ganze Aufregung sich dreht. „Da is
wer?“, frage ich meine Nachbarn, den Kopf nach links und rechts wendend.
„Na, wer wohl – der Kuzorra!“
    Kuzorra. Den Namen kennt in Gelsenkirchen jedes Kind, genannt wird
er meist in einem Atemzug mit dem von Fritz Szepan. Ernst und Fritz,
das Schwägerpaar aus Ostpreußen, Begründer des „Schalker Kreisels“,
Gewinner von sechs deutschen Fußballmeisterschaften, Legenden schon
zu Lebzeiten.
    Eingekeilt zwischen riesigen Erwachsenen, sehe ich Kuzorra natürlich
nicht. Fast nicht. Denn hinten auf der Tribüne, dort, wo gerade der meiste
Trubel herrscht, erblicke ich einen Hut, eine Zigarre und einen Mantel. Der
Hut nickt, die Zigarre qualmt, Hände klopfen auf den Mantel, die Ränge
applaudieren und die Orgel dudelt. Der Fußballkönig hält Hof.

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Den Hut, den Mantel und die Zigarre sehe ich in den folgenden Jahren
noch oft. Dem Mann aber komme ich nie näher als eine Spielfeldbreite.
   Ernst Kuzorra ist ständiger Gast auf der Tribüne der alten Glückauf-
Kampfbahn und später auch im Parkstadion, diesem zugigen Rund, das so
gar nichts mehr hat von der Herrlichkeit der alten Schalker Spielstätte. Für
Kuzorra ist das Parkstadion das Symbol einer Zeit, die nicht mehr die seine
ist: Mit der räumlichen Entfernung von den Wurzeln des einstigen Bergarbei-
terklubs im Gelsenkirchener Stadtteil Schalke wächst auch die Distanz zur
goldenen sportlichen Vergangenheit des Klubs.
   An das Einlaufen der Spieler Minuten später habe ich keine Erinnerung
mehr, ebenso wenig an den Spielverlauf. Gegner und Ergebnis hat mein Vater
später auf der Eintrittskarte notiert, den Rest kann man im Internet recher-
chieren: 14. Bundesligaspieltag, der Tabellenfünfzehnte Schalke gewinnt 1:0
gegen den Tabellenachten Hannover 96, das Tor erzielt Günter Herrmann in
der 44. Minute. Die Partie der in diesen Jahren permanent abstiegsbedrohten
Königsblauen lockt an diesem verregneten Samstagnachmittag magere
15.000 Zuschauer in die Glückauf-Kampfbahn. Ein durchschnittliches Bun-
desligaspiel und ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür schickt.
Meiner Faszination für das Geschehen um mich herum tut all dies keinen
Abbruch. Schließlich ist es mein „erstes Mal“. Und wenn ich heute die kleine
grüne Eintrittskarte in die Hand nehme, dann habe ich wieder das Raunen
von den Rängen in den Ohren und sehe gegenüber auf der Tribüne den Mann
mit der Zigarre.
   Als ich an der Hand meines Vaters die Stufen der Gegengeraden hoch-
und an der anderen Seite wieder hinunterstapfe, knacken unter meinen
Füßen Fetzen von Plastikbechern, beinahe rutsche ich aus auf einer der
matschigen Pommesschalen, die zusammen mit unzähligen zerknüllten
Bratwurstpappen den Boden bedecken. Die Luft riecht nach Bier, Schweiß
und Urin. Und als wir hinter dem Eingangsbereich am Schalker Vereinslokal
vorbeikommen, gesellt sich ein anderer Duft hinzu – der einer Zigarre.

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V O R W O R T: D E R G R Ö S S T E
ALLER SCHALKER

Einen Fußballer wie Ernst Kuzorra
gibt es nur alle hundert Jahre.
Ernst Poertgen

Für den früheren Bundestrainer Helmut Schön, der ihm mit dem Dresdner SC
1940 beim 1:0-Sieg der Schalker im Endspiel um die Deutsche Fußballmeister-
schaft gegenüberstand, war er „der größte Fußballer seiner Zeit“, „auf eine Stufe
zu stellen mit Stars wie Fritz Walter, Franz Beckenbauer, Uwe Seeler, Günter
Netzer oder Wolfgang Overath“. Für die Fans der Königsblauen hat er mit zuneh-
mender Dauer der Erfolglosigkeit in der Gegenwart ohnehin längst Heldenstatus
erlangt. Bereits zu Lebzeiten zur Legende verklärt, verkörpert bis heute kein
anderer Spieler des Traditionsklubs den „Mythos vom Schalker Markt“ so perfekt
wie Ernst Kuzorra. Er war Spielmacher und Seele der gefeierten Schalker Meis-
termannschaft, die zwischen 1934 und 1942 sechs Deutsche Meisterschaften und
einen deutschen Pokal gewann, die mit Ausnahme des Jahres der Verbandssperre
1931 seit 1927 auf die Ruhrbezirksmeisterschaft, seit 1929 auf die Westdeutsche
Meisterschaft und seit 1934 auf die westfälische Gaumeisterschaft abonniert war.
Keine Vereinsmannschaft hat den deutschen Fußball zwischen den Weltkriegen bis
in die 1940er-Jahre hinein stärker dominiert als der FC Gelsenkirchen-Schalke 04,
wie sich der Verein in Anerkennung der Unterstützung seitens der Stadt Gelsen-
kirchen für den Bau der Kampfbahn Glückauf seit 1928 offiziell nannte. Und
keiner personifiziert noch heute das längst ins Reich der Mythen und Legenden
entrückte Schalke jener goldenen Jahre, als ein in seinen Anfängen als „Proleten-
und Polackenverein“ geschmähter Provinzklub aus dem tiefsten Kohlenpott zum
Inbegriff deutscher Fußballkultur wurde, besser als der Bergarbeitersohn aus der
gleichnamigen Gemeinde in der Emscherzone. Dass sein Name zumeist in einem

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Atemzug mit dem seines kongenialen Sturmpartners Fritz Szepan genannt wird,
schmälert die beherrschende Rolle Kuzorras für die Geschichte und den Mythos
des bis heute erfolgreichsten Fußballvereins aus dem Ruhrgebiet keineswegs.

                                      

Weil Kuzorra solch eine überragende Bedeutung für den FC Schalke 04 hatte,
drängt sich die Frage auf, welche Entwicklung der Verein ohne ihn genommen
hätte. Ebenso gut könnte man umgekehrt darüber spekulieren, ob Kuzorra
ohne „sein“ Schalke die Ausnahmeerscheinung im deutschen Fußball geworden
wäre, die etwa Helmut Schön in ihm sah. Weitere Fragen ergeben sich beinahe
zwangsläufig: Wie stark prägten die Spielweise und die Persönlichkeit Kuzorras
den Verein? Wie stark formte die Schalker Spielkultur den jungen Ernst
Kuzorra? Und: Welchen Einfluss hatte das schwerindustriell geprägte proletari-
sche Milieu des „Industriedorfes“ Schalke auf die Entwicklung des talentierten
Nachwuchsspielers mit Wurzeln im ländlichen Masuren?

Anfänge im mythischen Dunkel

Für Ernst Kuzorras Debüt in der Schalker Ligamannschaft wird in der Literatur
durchweg der 22. April 1923 genannt. An diesem Tag bestritt der TuS Schalke
77 ein Freundschaftsspiel gegen die Sportfreunde 07 Essen, das die Schalker 4:1
gewannen. In der Lokalpresse fand diese Partie keine Erwähnung, was einer-
seits merkwürdig anmutet, weil etwa die Gelsenkirchener Zeitung in knappen
Artikeln regelmäßig über ausgetragene Partien berichtete oder zumindest die
Spielergebnisse vermeldete, andererseits aber nicht weiter verwundert, weil die
Fußballberichterstattung damals noch in den Kinderschuhen steckte.
   In der Gelsenkirchener Presse erstmals nachweisbar ist ein Einsatz von
Kuzorra in der Ligamannschaft für den 6. Januar 1924. An diesem Tag, einem
Sonntag, absolvierten die Schalker ihr erstes Spiel unter dem neuen Vereins-
namen „FC Schalke 04“. Auf dem Platz an der Grenzstraße trafen sie auf den BV
12 Gelsenkirchen. In der Montagsausgabe des Westdeutschen Sport-Extra-Blattes,
der Sportbeilage der Gelsenkirchener Zeitung, wies der Klub am 7. Januar in einer
Anzeige auf die Umbenennung hin: „,Fußballklub Schalke 04 e.V.‘ heißt fortan die
Spielabteilung des Turn- und Sportvereins Schalke 1877, vorbehaltlich der Geneh-

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migung des Verbandes“. Dieselbe Ausgabe unterrichtete ihre Leser auf der Titel-
seite auch über das Ergebnis einer Begegnung „B.V. 12 Gelsenkirchen – Sportklub
Beeck 04 Schalcke 1:4“. Offenbar herrschte in der Redaktion noch Verwirrung
über den Namenswechsel. Im Innenteil folgte dann der Spielbericht, diesmal kor-
rekt überschrieben mit „B.V. 12 Gelsenkirchen – F.C. Schalke 04 (vorm. 77) 1:4“.
    Die Partie gegen den Lokalrivalen war die fünfte Rückrundenpartie der ersten
„langen“ zweijährigen Saison 1922/24 in der Emscher-Kreisliga, und die „neuen“
Schalker gewannen 4:1. In dem für die damalige Zeit recht langen Artikel wurde,
was seinerzeit äußerst selten vorkam und ein Indiz für herausragende Leistungen
war, nur ein Spieler namentlich erwähnt: „Wieder zieht F.C. vor das feindliche
Tor, wo ein blendend eingeleiteter Angriff von Kuzorra im letzten Moment durch
Linksaußen abseits gestellt wird.“ Dem 18-Jährigen gelangen in der Partie zwei
Treffer, die beiden anderen gingen auf das Konto von Heinrich Seppelfricke.
    Diese erste namentliche Erwähnung Kuzorras als Mitglied der ersten Mann-
schaft bedeutet aber nicht, dass dies auch sein erster Einsatz in der Schalker
Ligaelf war. Denn offenbar spielte er schon länger in der ersten Mannschaft,
worauf zwei Artikel aus der Gelsenkirchener Allgemeinen Sportzeitung vom
selben Frühjahr schließen lassen. So berichtete das Blatt am 31. März 1924 aus-
führlich über eine Auswärtspartie der Schalker gegen Jugend Düren, welche die
Schalker nur knapp mit 3:2 (1:2) für sich entschieden, denn „Schalke erlaubte
sich Schnitzer, wie man es nicht gewohnt ist“. Über Kuzorra heißt es, er „war
gegen früher auch nicht der alte, das entschuldigt aber seine lange Krankheit,
ebenso die alte Verletzung vom letzten Meisterschaftsspiel“. Immerhin erzielte
„Kuzora durch schönen Prachtschuß“ den Ausgleich.
    Als die Schalker am 18. Mai 1924 im letzten Spiel der „zweiten Halbserie“ der
Saison 1922/24 gegen Wattenscheid 09 über ein 1:1 nicht hinauskamen, befand
die Gelsenkirchener Allgemeine Sportzeitung: „Der Sturm zeigte keine saubere
Arbeit. […] Kuzora immer noch zu langsam.“ Wohl aufgrund der Verletzung
und Krankheit, welche das Blatt in seinem Spielbericht vom 31. März erwähnte.
Offenbar war Kuzorra da für die erste Mannschaft längst unverzichtbar, und das
nicht nur, wenn es gegen den ärgsten Lokalrivalen STV Horst-Emscher ging:
„Im Schalker Sturm vermißte man den Halblinken, trotzdem ist eine leichte
Überlegenheit nicht zu verkennen“ (TuS, 3.11.1924).
    Den „Halblinken“ hatte Turnen und Sport bereits zwei Jahre zuvor in der
Ausgabe vom 18. April 1922 in einem Spielbericht über eine Begegnung zwi-

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schen „Schalke 77 1 B“ und der 1. Mannschaft des TV Ückendorf erwähnt. Das
Spiel fand am Karfreitag, den 14. April, statt, und die Schalker Liga-Reserve
gewann 5:1: „Fünf Tore waren der Erfolg der Anstrengungen der blau-weißen
Stürmer, die beiden ersten waren Prachtleistungen des Halblinken, der zu den
schönsten Hoffnungen berechtigt.“ Und wer konnte damit anders gemeint sein
als der 16-Jährige aus der Schalker Blumenstraße?
    Erstmals namentlich erwähnt wurde Kuzorra von derselben Zeitung andert-
halb Jahre später, als Turnen und Sport in der Ausgabe vom 10. September 1923
über eine Partie der Schalker Reserve gegen die Reserve von Union Gelsen-
kirchen im benachbarten Rotthausen berichtete. Gespielt wurde um einen von
einem örtlichen Geschäftsmann gestifteten Pokal, und die Schalker gewannen
3:0: „[…] aufgeregtes Spiel auf beiden Seiten. Wer wird Sieger? Der Bann, der
die Zuschauer in Spannung hielt, wird gebrochen, als der kleine Halblinke
Kozora unhaltbar einsendet. Ein Prachtschuß.“
    Der 17-Jährige gehörte zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht zum
festen Kader der Liga-Elf, mit der er am 22. April 1923 gegen die Sportfreunde
Essen aufgelaufen war, sondern erspielte sich über regelmäßige Einsätze in der
Reserve allmählich einen Stammplatz in der ersten Mannschaft.
    Ob Kuzorras Einsatz in der Partie gegen die Essener am 22. April 1923
aber tatsächlich sein Ligadebüt war oder ob er seinen Einstand in der „Ersten“
schon eine Woche zuvor, am 15. April, gegen Germania Bochum gab, wo, wie
das Fachblatt Fußball und Leichtathletik in seiner Ausgabe vom 24. April 1923
berichtete, Schalke 77 „jüngere Kräfte“ ausprobierte, „die sich auch teilweise
bewährten“ (deren Namen das Blatt seinen Lesern aber verschwieg), oder ob er
erst ein knappes Jahr später beim 4:1 gegen den BV 12 Gelsenkirchen erstmals
mit der Liga-Elf auflief, dürfte allerdings aufgrund der mageren Quellenbasis
auch weiterhin ebenso im mythischen Dunkel bleiben wie die Anfänge des Ver-
eins, dem er zeitlebens symbiotisch verbunden blieb.1

Die spielbestimmenden Mannschaften im deutschen Fußball kamen zu
Beginn des 20. Jahrhunderts nicht aus dem Ruhrgebiet: Der VfB Leipzig, die
SpVgg Fürth und der 1. FC Nürnberg spielten die Deutsche Meisterschaft
mehr oder weniger unter sich aus. Noch war das Revier Fußballdiaspora, der

1 Wesentliche Informationen zu Kuzorras Anfängen in Schalke stammen aus mehreren Gesprächen mit
dem Schalke-Statistiker Thomas Görge im November 2017.

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Fußball ein Zeitvertreib von Real- und Oberschülern aus bürgerlichen Eltern-
häusern.
   Erst allmählich begeisterten sich nach der Jahrhundertwende auch kleine
kaufmännische und technische Angestellte und Kaufleute für den vielfach noch
als „Fußlümmelei“ verunglimpften neuen Sport aus England. Sie strebten auf
diesem Wege nach gesellschaftlicher Anerkennung und Akzeptanz in Kreisen
des Bürgertums. Dass ausgerechnet die wilhelminischen Militärs dem Fußball
in Deutschland dann zum Durchbruch als proletarischem Massensport ver-
halfen, mutet angesichts der Tatsache, dass der zivile Spielbetrieb im Ersten
Weltkrieg weitgehend zum Erliegen kam, paradox an.

„Ein Zeichen der Wegwerfung“

Der Hass auf den Fußball aus England nahm im Deutschen Kaiserreich teils gro-
teske Formen an. Die Kirchen beider Konfessionen fürchteten um die Sonntags-
ruhe, die wilhelminische Obrigkeit beanstandete die Sittenwidrigkeit der Sport-
kleidung, und beide fürchteten, dass ein Fußballspieltag unweigerlich in einer
Sauftour durch die Kneipen der Umgebung enden würde. Andere Kritiker sahen
mit dem Fußball mehr oder weniger den Untergang des Abendlandes herauf-
ziehen. So zog der Philosoph und Turnführer Karl Christian Planck in seiner
kultur- und zivilisationskritischen Kampfschrift Fußlümmelei – Über Stauchball-
spiel und englische Krankheit sämtliche Verachtungs- und Empörungsregister
und versuchte, dem Fußballspiel pseudowissenschaftlich den Garaus zu machen:

      „Was bedeutet aber der Fußtritt in aller Welt? Doch wohl, dass der
       Gegenstand, die Person nicht wert ist, dass man auch nur die Hand um
       ihretwillen rührte. Er ist ein Zeichen der Wegwerfung, der Geringschät-
       zung, ja schon, auf die bloße Form hin gesehen, häßlich. Das Einsinken
       des Standbeins, die Wölbung des Schnitzbuckels, das tierische Vorstre-
       cken des Kinns erniedrigt den Menschen zum Affen.“

Vor diesem Hintergrund war es nicht verwunderlich, dass zahlreiche deutsche
Schulbehörden das Fußballspielen verboten, in Bayern etwa blieb es an Schulen
bis 1913 untersagt.

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Eine Erklärung bietet die im Militär schon früh verbreitete Erkenntnis, dass der
Konkurrenz- und Wettkampfgedanke des Fußballs sich bestens für Zwecke der
Wehrertüchtigung und zur Steigerung der Kampfkraft instrumentalisieren ließ.
Auf diese Weise kamen hinter den Fronten des Krieges Hunderttausende ein-
gezogene Arbeiter erstmals in Kontakt mit dem runden Leder. Und nachdem
die Angestellten schon seit den 1890er-Jahren in den Genuss des arbeitsfreien
Sonntags gekommen waren, bescherte der 1918 reichsweit eingeführte Acht-
stundentag erstmals auch der Arbeiterschaft ein nennenswertes Mehr an Frei-
zeit, die nun auch für sportliche Aktivitäten genutzt werden konnte.
    Dem standen allerdings in den zumeist jeglicher soziokultureller Infra-
struktur entbehrenden industriellen Agglomerationen an Ruhr und Emscher,
abgesehen von den organisatorischen Bemühungen der politischen Lager
und der Kirchen, keine adäquaten Freizeitangebote gegenüber. Was Preußens
„Wilder Westen“ stattdessen reichlich bot, waren Freiflächen zwischen Sied-
lungshäusern und autofreie Straßen, auf denen bewegungshungrige Jugend-
liche nach Feierabend dem stupiden Fabrikdrill entfliehen konnten.
    Somit erwiesen sich die unter dem Primat der Industrie wild wuchernden
Revierstädte bei aller städtebaulichen Unzulänglichkeit letztlich als ein ideales
Fußballbiotop. Hier fand im Schatten von Fördertürmen, Fabrikschloten und
Hochöfen, zwischen Werkssiedlungen, Versorgungsleitungen, Bahnstrecken
und Brachflächen jeder, der die Lust verspürte und ein Talent dafür hatte, gegen
einen Ball zu treten, günstige Voraussetzungen vor, um den neuen Sport aus-
zuüben. Für die bislang meist unter dem Dach von Turnvereinen existierenden
Fußballabteilungen an Rhein und Ruhr, die sich nach der von der „Deutschen
Turnerschaft“ (DT) am 1. September 1923 beschlossenen „reinlichen Scheidung
von Turnern und Sportlern“ gezwungenermaßen als eigenständige Vereine kons-
tituierten, bildeten diese Jugendlichen ein schier unerschöpfliches Reservoir.
    Und einer dieser fußballverrückten Halbwüchsigen war der kleine Ernst
Kuzorra aus der Blumenstraße in der Gemeinde Schalke, der sich Jahrzehnte
später noch gut an seine frühe Fußballbesessenheit erinnerte: Als Kind konnte
ich keinen Stein und keine Blechdose auf der Straße liegen lassen. Jeden Tag, so
Gott will, gab es nur Fußball, Fußball.2 Was sein Bruder Willi Jahre später bestä-

2 Editorischer Hinweis: Um sie von anderen Zitaten abzuheben und sich ständig wiederholende Formulie-
rungen wie „erinnerte sich Kuzorra“, „meinte Kuzorra“ u.ä. zu vermeiden, erscheinen sämtliche Kuzorra-
Zitate hier und in den nachfolgenden Kapiteln in Kursivschrift ohne Anführungen.

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tigte: „Er konnte keine Blechdose liegen sehen“ und sei bei jedem etwas tiefer
hängenden Ast hochgesprungen: „Dann hat der Ernst Kopfbälle geübt!“

                                     

Vom größten aller Schalker zu erzählen heißt auch von dem Verein zu erzählen,
der zeitlebens Kuzorras fußballerische Heimat war und dem er bis zu seinem
Tod untrennbar verbunden blieb. Es hat in der Geschichte des Fußballs viele
symbiotische Beziehungen zwischen einem Spieler und einem Verein gegeben.
Man denke an Lionel Messi und den FC Barcelona oder an Uwe Seeler und
den Hamburger SV. Jüngstes Beispiel für solche unerschütterliche Vereinstreue
ist die Liaison von Francesco Totti mit der AS Rom, die im Mai 2017 nach
28 Jahren endete. Doch wohl niemals war eine solche Beziehung inniger und
dauerhafter als die zwischen Ernst Kuzorra und dem FC Schalke 04.
   Die vorliegende Biografie zeichnet somit nicht nur das Leben des Schalker
Ausnahmespielers nach, sondern erzählt zugleich die Geschichte von Schalke,
genauer gesagt, zweier Schalkes: des Vereins und des Ortsteils, die beide eben-
falls symbiotisch miteinander verbunden waren. Ohne die Erfolge der Schalker
Fußballer wäre die seinerzeit noch selbstständige Gemeinde Schalke wohl im
Zuge der Zusammenfassung mit dem Stadtkreis Gelsenkirchen, mit Heßler,
Braubauerschaft, Bulmke-Hüllen und Ückendorf im Jahr 1903 sang- und
klanglos in der Anonymität der neuen, 140.000 Einwohner zählenden Groß-
stadt Gelsenkirchen untergegangen. Der Aufstieg des FC Schalke 04 hingegen
sorgte dafür, dass der Name Schalke in den 1920er- und 1930er-Jahren über die
Region hinaus zu einem Begriff wurde – und zum Synonym für eine neue, auf-
regende Fußballkultur. Deren Protagonisten schickten sich damals an, den süd-
deutschen Vereinen die Vorherrschaft im deutschen Fußball streitig zu machen.
   Und der Ortsteil Schalke bot ideale Bedingungen zur Verwirklichung sol-
cher Träume, hatten die prosperierenden Betriebe der Schwerindustrie und des
Bergbaus doch ein vitales Interesse daran, die seinerzeit übliche wilde Fluk-
tuation teils ganzer Belegschaften zu unterbinden. Weshalb sie bereit waren,
die Gründung von Vereinen nach Kräften zu unterstützen, von denen sie sich
erhofften, dass sie ihre Mitglieder zu mehr Sesshaftigkeit animieren würden.
Die Integration am Arbeitsplatz sollte Hand in Hand gehen mit der sozialen
Integration über gemeinsame Aktivitäten in einem frühindustriellen Umfeld,
in dem Arbeit, Wohnen und Freizeit noch eine Einheit bildeten. Und welche

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Vereine wären dazu besser geeignet gewesen als solche, in denen eine Sportart
betrieben wurde, deren Durchbruch zum Massenspektakel nach dem Ersten
Weltkrieg auch in Deutschland nicht mehr aufzuhalten war.
   Der Fußball faszinierte und elektrisierte die proletarischen Massen, weil
er den Träumen der Arbeiter von Aufstieg und Erfolg und ihren Sehnsüchten
nach Anerkennung und sozialer Teilhabe erstmals eine breite Projektionsfläche
bot. Und als der „Malocherklub“ Schalke 04 mit seinem Kapitän Ernst Kuzorra
in den 1920er- und 1930er-Jahren zahlreichen Widerständen zum Trotz zur
beherrschenden Kraft im deutschen Fußball aufstieg, empfanden Hundert-
tausende von Arbeitern an Rhein und Ruhr dies auch als einen Triumph ihrer
Region, der Kuzorra und „seine“ Schalker endlich jenes Selbstwertgefühl und
jenen Stolz vermittelten, die sie in ihrer eigenen, oftmals von Demütigungen
und Niederlagen, von Unterdrückung und Entbehrung geprägten industriellen
Existenz nicht fanden.

                                       

Kuzorra und Schalke, Schalke und Kuzorra – um diese beiden Pole kreisen
die nachfolgenden Kapitel. Sie gehen den wechselseitigen Einflüssen auf den
Grund, indem sie danach fragen, inwieweit der Erfolg des einen die Ausnahme-
stellung des anderen bedingte und umgekehrt. Um jedoch nicht der Entstehung
einer neuen Legende Vorschub zu leisten, wonach der Erfolg der Schalker bei-
nahe ausschließlich dem Ausnahmetalent Kuzorras zu verdanken sei, gilt es
nach weiteren Faktoren zu suchen, die diesen Erfolg ermöglichten oder zumin-
dest begünstigten. Allen Ausnahmekönnern zum Trotz war und ist Fußball ein
Mannschaftssport, in dem zwar einzelne Spieler Akzente setzen und heraus-
ragende Akteure durchaus Spiele entscheiden, ihre Teams prägen und zum
oftmals irrationalen Mittelpunkt von Publikumsinteresse und Fanverehrung
werden, in dem aber letztendlich immer die ganze Mannschaft gewinnt, in dem
der Erfolg letztendlich immer ein mannschaftlicher ist, ganz gleich, wer die
Tore erzielt. Das wusste bei aller spielerischen Dominanz auch Ernst Kuzorra:
Die Mannschaft war wichtig, nicht der Schütze. Daher ist die eingangs angestellte
kontrafaktische Überlegung, ob der FC Schalke 04 seine Triumphe auch ohne
Kuzorra errungen hätte oder ob Kuzorra mit einer anderen Mannschaft ebenso
erfolgreich gewesen wäre und sie zu ebensolchen Höhen geführt hätte, letzt-
endlich insoweit müßig, als der Erfolg eines Teams immer, damals wie heute,

                                       18
von zahlreichen – personellen und strukturellen – Faktoren abhängt. Auch ein
herausragender Einzelspieler wie Kuzorra brauchte ein entsprechendes Umfeld
und Rahmenbedingungen, um sein Talent und seine besonderen Qualitäten zu
entfalten und zu dem zu werden, der er für zahlreiche Fußballexperten und für
die Fans der Königsblauen sowieso bis in alle Ewigkeit bleiben wird: der größte
aller Schalker.

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1 . D E R S T O F F, A U S D E M
LEGENDEN SIND

O Ernst Kuzorra,
ich hab’ dich spielen geseh’n.
Und deine Technik,
die war wunderschön!
Gesungen zur Melodie des Schlagers
„Oh, Donna Clara“

„Da hab’ ich ihn einfach reingewichst!“

Der 24. Juni 1934 ist ein schwüler, drückend-heißer Frühsommertag mit Tem-
peraturen um die 25 Grad. Dunkle Gewitterwolken hängen über der Reichs-
hauptstadt Berlin. Im alten Poststadion an der Lehrter Straße in Moabit fiebern
an diesem Sonntagnachmittag 45.000 Zuschauer dem Anpfiff des Endspiels um
die Deutsche Fußballmeisterschaft zwischen dem 1. FC Nürnberg und dem FC
Schalke 04 entgegen. Unter ihnen sind auch etwa 3.000 Schalker Schlachten-
bummler aus dem gesamten Ruhrgebiet, von denen einige in Ermangelung des
Geldes für eine Zugfahrkarte die gesamte Strecke mit dem Fahrrad zurückge-
legt haben.
   Zum ersten Mal seit sieben Jahren wird der deutsche Fußballmeister wieder
in Berlin ermittelt, entsprechend groß ist der Andrang, auch wenn es – für die
Berliner enttäuschend – keine einheimische Mannschaft ins Finale geschafft hat.
Der Meister der Gauliga Berlin-Brandenburg, der Berliner FC Viktoria 1889, ist
im Halbfinale mit 1:2 am fünfmaligen Deutschen Meister Nürnberg geschei-
tert. Für den „Club“ ist es die sechste Finalteilnahme, die Schalker stehen nach

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der überraschenden Vorjahresschlappe gegen Fortuna Düsseldorf zum zweiten
Mal im Endspiel um die „Deutsche“.
   Die Nürnberger Mannschaft befindet ich im Umbruch und tritt bis auf den
41-jährigen Luitpold Popp mit einer „Jungen Garde“ an, im kicker-Buch End-
spielfieber heißt es, dass sich „das Aussehen der Elf gründlich gewandelt“ habe.
Schalke hingegen bietet mit Hans Mellage, Ferdinand Zajons, Valentin Przy-
bylsky, Fritz Szepan, Ernst Kuzorra, Emil Rothardt und Hermann Nattkämper
sieben Spieler auf, die seit 1932 in sämtlichen Endrundenpartien um die Deut-
sche Meisterschaft auf dem Platz standen. Und die wollen es diesmal wissen,
nachdem sie im Vorjahr den fast schon sicher geglaubten ersten nationalen
Titel leichtfertig verspielt haben. Damals kassierten sie in der kompletten End-
runde nur ein Gegentor, im Achtelfinale beim 4:1 auf heimischem Platz gegen
die Berliner Viktoria 1889. Dann hatten wir in Köln gegen Fortuna Düsseldorf
aber keine Chance, wir verloren 0:3.
   Die Schalker sind diesmal direkt mit der Bahn nach Berlin gereist, statt wie
im letzten Jahr unmittelbar vor dem Finale noch für ein paar Tage in ein „Trai-
ningslager“ zu fahren. Damals hatte man die Spieler im Vorfeld des Endspiels
aus dem gewohnten Alltagstrott genommen und an den Halterner Stausee im
nördlichen Ruhrgebiet verfrachtet, wo sie stundenlang in der Sonne lagen, sich
langweilten, abends nicht einschlafen konnten und irgendwann von Fußball die
Nase voll hatten. Am Finaltag waren dann alle zwar braungebrannt, aber unaus-
geschlafen, matt und unkonzentriert und unterlagen folgerichtig hellwachen
Düsseldorfern. „Das sonst so quicklebendige Spiel der Schalker Mannschaft
machte einen merkwürdig verkrampften Eindruck, man hatte den Eindruck, als
ob fast alle Spieler Blei in den Knochen hätten“, erinnerte die Gelsenkirchener
Allgemeine Zeitung ihre Leser neun Jahre später aus Anlass des bevorstehenden
neunten deutschen Finales mit Schalker Beteiligung in ebenso vielen Jahren.
   Ein Jahr nach der unverhofften Schlappe gegen die Düsseldorfer Fortunen
wissen die Schalker es besser und nehmen Quartier im Hotel „Russischer Hof “
nahe dem Bahnhof Friedrichstraße, wo die Mannschaft sich abschottet, um sich
ganz auf das bis dato wichtigste Spiel der Vereinsgeschichte zu konzentrieren.
„Seit sechs Jahren kämpfen wir nun um die Deutsche, machten viermal den
Westdeutschen und sind bis auf 1933 immer vor dem Endspiel rausgeflogen“,
äußerte Schalkes Vorsitzender Fritz „Papa“ Unkel vor der Abreise gegenüber
Vertretern der heimischen Presse, um optimistisch hinzuzusetzen:

                                       21
„Ich vertraue mit ganz Gelsenkirchen auf unsere Mannschaft – und
        es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn’s danebenginge. […] Ja, wir
        fahren mit der festen Überzeugung nach Berlin, dass es zum Deutschen
        Meister reicht. Ein bisschen noch den Daumen halten – vielleicht geht’s
        dann noch besser.“

Als die Schalker im Finale nach starkem Auftakt den Faden verlieren, sieht es
zunächst nicht so aus, als würde Daumendrücken helfen. Als ob wir Blei an den
Füßen gehabt hätten, so haben wir gespielt. Weder beim Fritz [Szepan] noch bei
mir oder den anderen lief es, der Kreisel rollte nicht. Während die Nürnberger vor
allem durch ihren 25-jährigen halbrechten Angreifer Max Eiberger, der erst vor
einem Jahr vom TSV Schwaben Augsburg zum Club gestoßen ist, immer wieder
für Gefahr im Schalker Strafraum sorgen. Die erste Halbzeit ist ein einziges
großes Zittern – auf dem Rasen, auf den Rängen und bei allen Schalkern, die
irgendwo an den Rundfunkgeräten hängen. Meist nicht allein, denn noch steht in
den wenigsten deutschen Privathaushalten einer jener „Volksempfänger“, die im
August 1933 auf der Berliner Funkausstellung erstmals vorgestellt worden sind.
Die erste Halbzeit endet torlos. Nach dem Wiederanpfiff brauchen die Nürn-
berger genau neun Minuten, um durch ihren Mittelstürmer Georg Friedel 1:0 in
Führung zu gehen. „Nürnberg hat sich freigemacht, wiedergefunden, zieht eine
wunderschöne Kombination auf, die von einem Stürmer zum anderen läuft und
die Schalker Hintermannschaft in Verwirrung bringt“, heißt es später im Fach-
blatt Fußball. Nun entfaltet sich „unter Gewitterwolkenkulissen ein Kampf mit
grandioser Steigerung in den letzten Minuten“ (Endspielfieber), während es aus
der Nürnberger Kurve tönt: „He-ha-ho, Schalke ist k.o.!“ Die Nürnberger ziehen
sich jetzt zurück. Kuzorra winkt Szepan aus der Vorstopperposition nach vorne,
Mittelstürmer Nattkämper geht zurück. Die Schalker Angriffe werden immer
drängender, die Nürnberger schlagen den Ball einfach nur noch weg, egal wohin.
„Jetzt wird es unerhört aufregend. Von Minute zu Minute wird es aufgepeitschter.
Gleicht Schalke aus? Nürnberg ist ja gänzlich aus dem Leim“, wundert sich der
Fußball. Während die Nürnberger weiter versuchen, die knappe Führung über
die Zeit zu schaukeln, gelingt den Schalkern das schier Unmögliche. Von Trainer
Hans „Bumbas“ Schmidt von der Seitenlinie angefeuert und auf dem Platz ange-
trieben von Kuzorra, entfachen die Schalker einen wahren Angriffswirbel. In der
78. Minute setzt „Ala“ Urban mit einem Lattenkracher das erste Ausrufezeichen

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in dem wütenden Schalker Sturmlauf. Dennoch: Als die Nürnberger noch drei
Minuten vor Schluß mit 1:0 führten, da hätte keiner eine Mark auf unseren Sieg
gewettet, ich auch nicht. Zwei Minuten vor dem Abpfiff ist es dann Szepan, der
nach einer von Kuzorra erzwungenen Ecke, die Linksaußen Rothardt mit Effet
in den Strafraum befördert, höher steigt als sein Bewacher Popp und das Leder
mit dem Kopf an dem herausragenden Köhl im Tor der „Clubberer“ vorbei im
rechten Eck versenkt. „Ein Kreischen, Jubeln und Brüllen – unbeschreiblich,
Schalke hat ausgeglichen!!!“, berichtet der Fußball. Eine Verlängerung scheint
unausweichlich. Aber auf ein solches Vabanque-Spiel wollen sich die Schalker
nicht einlassen. Wir schnürten die Nürnberger ein, wir wollten den Sieg. Noch
einmal will sich Kuzorra den Titel nicht vor der Nase wegschnappen lassen. Bis
zum Umfallen haben wir gekämpft. Und als Valentin 60 Sekunden vor Schluss an
den Ball kommt, auf Kalwitzki passt, der von rechts quer zu dem sich frei lau-
fenden Kuzorra flankt, passiert, was heute fester Bestandteil der königsblauen
Folklore ist:

        Ich war eigentlich schon vollkommen platt. Ich war platt, geschafft, aber
        Fritz [Szepan] hatte eben den Ausgleich geschossen. Und die schreien
        alle: Schalke! Schalke Schalke! Da warren et noch 120, 180 Sekunden zu
        spielen, der Ala [Urban] hatte auch noch einen vor die Latte gewemst.
        Der Schiri guckte schon so, als würde er gleich abpfeifen. Und dann kricht
        der Kalli [Kalwitzki] die Pille. Der überrennt den Abwehrspieler von die
        Nürnberger, watt weiß ich, wie der hieß … ja, und dann flankt er zu mir.
        Ich krich den Ball auffen Schlappen, stopp’ den Ball, lass’ zwei Mann ins
        Leere laufen … Ja, und dann … als ich nich’ wusste, wohin mit dem Ball …
        da hab’ ich ihn einfach reingewichst!

Im Spielbericht der Gelsenkirchener Allgemeinen Zeitung vom 25. Juni 1934 liest
sich das so:

       „Kalwitzki rechtfertigt nun seinen guten Ruf: mit der besten Leistung
        des Tages legt er das Leder Ernst Kuzorra vor, der allein weiterdribbelt
        und schließlich nur noch dem Hüter gegenübersteht. Mit einem Bom-
        benschuß schließt er die Aktion ab, und placiert landet der Treffer, der
        den Schalkern die Deutsche Fußballmeisterschaft bringt.“

                                       23
Der Legende nach, die Kuzorra selbst zeitlebens mit zahlreichen Varianten
vom Geschehen in der Schlussminute im Berliner Poststadion nach Kräften
befeuerte, brach der seit Monaten unter einem „Leistenbruch“ leidende Tor-
schütze Sekunden nach dem Torschuss ohnmächtig zusammen. Daß der Ball
zum Siegtor im Netz landete, habe ich erst später von meinen Kameraden gehört.
Diese Version verbreitete unmittelbar nach dem Finale bereits die Gelsenkir-
chener Allgemeine Zeitung in ihrem Spielbericht, und sie ist seitdem in der
Literatur immer wieder aufs Neue kolportiert worden. Wahrer ist sie dadurch
jedoch nicht geworden. Denn schaut man sich den „Videobeweis“ an, jene 13
flimmerigen Filmsekunden vom dramatischen Schlussmoment des Endspiels,
so sieht man, dass Kuzorra zum einen nach dem Zuspiel von Kalwitzki keine
Sekunde zögert oder überlegt, was er mit dem Ball anfangen soll, und zum
anderen nach seinem Siegtreffer trotz des angeblichen Leistenbruchs jubelnd
Luftsprünge vollführt.3 Seiner Behauptung, er habe nicht gewusst, „wohin mit
dem Ball“, und ihn deshalb „einfach reingewichst“, hat der Torschütze später
übrigens selbst widersprochen: Wir hatten uns schon auf eine Verlängerung ein-
gerichtet, da bekam ich von Kalli Kalwitzki den Ball. Ich verschaffte mir mit ein
paar schnellen Schritten freie Schußbahn – und dann habe ich nur gedacht: Hau
drauf! Es ist auch kaum vorstellbar, dass ein „Knipser“ wie Kuzorra im Moment
der Torchance groß überlegt haben sollte: „Wohin mit dem Ball?“ Bei dem
„Leistenbruch“ handelte es sich womöglich „nur“ um eine Leistenverletzung,
die der 28-Jährige sich in den Spielen der Endrunde zugezogen hatte, die aber
offenbar eine Operation erforderte.
     Kuzorra selbst sprach später ebenfalls von einem „Leistenbruch“, der ihn
die Teilnahme an der Weltmeisterschaft 1934 gekostet habe. Während des Italien-
Kursus in Duisburg-Wedau stellte Dr. Gebhardt nach gründlicher Untersuchung
einen Leistenbruch fest. Daß da an eine Teilnahme an den Weltmeisterschaften
nicht mehr zu denken war, bedurfte keiner weiteren Frage. Reichstrainer Dr. Otto
Nerz riet ihm jedenfalls zu einer Operation, die der Schalker Stürmer dann aber
aufschob. Wenn ich das gemacht hätte, wäre ich für die Spiele um die Deutsche
ausgefallen. Und Schalke war mir wichtiger als die Weltmeisterschaft. Eine beson-
dere Kompresse werde ich mir anlegen lassen, es wird auf die Zähne gebissen und
dann muß es klappen – und es wird auch! Erst nach dem Gewinn der ersten

3   https://www.youtube.com/watch?v=_GesogZQFME, zuletzt aufgerufen am 16. November 2017.

                                               24
Deutschen Meisterschaft ließ er sich in der Sportheilstätte Hohenlychen im
Sauerland von dem Spezialisten Dr. Gebhardt operieren.

Mit letzter Kraft …

Dass der Torschütze Ernst Kuzorra im Moment des Siegtreffers in der Schluss-
minute des Finales von Berlin erschöpft zusammengebrochen sei, gehört zu
den unausrottbaren Legenden, die sich um den Aufstieg des FC Schalke 04 in
den 1930er-Jahren ranken.
    Am Anfang der Legendenbildung steht der Spielbericht der Gelsenkirchener
Allgemeinen Zeitung vom 26. Juni 1934, in dem es hieß, „[…] daß unmittelbar
nach dem siegreichen Treffer Kuzorras zwei Spieler zusammensanken: Ernst
Kuzorra, der Torschütze selbst, und sein Namensvetter Kalwitzki, der ihm die
Flanke hereingab. […] Es bemühen sich Leute so nebenher um diese Spieler,
aber es dauert eine Weile, bis sie wieder zu sich gekommen sind“ („Deutscher
Meister durch 10 Minuten“, Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung, 26.6.1934).
Noch heißt es aber lediglich, dass die Spieler „zusammensanken“, weil sie nach
der körperlichen und nervlichen Anspannung des dramatischen Finales mit
ihren Kräften am Ende waren.
    Der Sportjournalist Theodor Krein spann in seinem erstmals 1948 unter
dem Titel Die blau-weißen Fußballknappen erschienenen Buch Die Königs-
blauen das Garn dann weiter: „[…] da ist Kuzorra am Ball, ein Nürnberger
rennt ihm entgegen, der Schalker kommt vorbei, schießt und bricht zusammen.
Im Fallen sieht er, wie das Leder den Weg ins Tor nimmt. In letzter Minute ist
der Siegtreffer gefallen!“ (S. 86) Unter einem Foto, das den nach dem Schluss-
pfiff tatsächlich am Boden liegenden Kuzorra zeigt, heißt es: „Und hier sehen
wir ihn in restloser Erschöpfung zusammengebrochen auf der Kampfstätte
liegen.“ Aber schließlich hatte Kuzorra vor dem Spiel versprochen: Ich werde
kämpfen, bis ich umfalle.
    Hans Holz geht in seinem Kuzorra-Erinnerungsbuch Der blau-weiße Kreisel
noch einen Schritt weiter: „Unmittelbar vor dem Schlusspfiff hatte Kuzorra das
Siegtor geschossen – danach war er ohnmächtig zusammengebrochen. […] die
Szene nach seinem Siegtreffer [bemerkte] er, bewusstlos, schon gar nicht mehr“
(S. 10 f.).

                                     25
Der Historiker Siegfried Gehrmann beruft sich auf das 1936 erschienene
Buch vom Deutschen Fußballmeister, wenn er feststellt: „Nach dieser mit letzter
Anstrengung erzwungenen Energieleistung [dem 2:1-Siegtreffer] brach der
Schalker ohnmächtig zusammen“ (Gehrmann, „Fußballidole“).
    Dass Kuzorra nach dem Torschuss ohnmächtig wurde, ist inzwischen
fester Bestandteil der Legende und findet sich so auch in Georg Röwekamps
Geschichte des FC Schalke 04 Der Mythos lebt: „Und dann erläuft sich Kuzorra,
trotz Schmerzen, in der 90. Minute eine Steilvorlage, schießt mit letzter Kraft
und bricht ohnmächtig zusammen“ (S. 91). Kuzorra selbst formulierte es später
so: In der letzten Minute habe ich eine Steilvorlage erwischt und voll getroffen.
Der Ball saß. Keine Rede von Ohnmacht und Zusammenbruch.
    Aus einem leicht angeschlagenen Spieler, der wegen einer Verletzung in
der Leistengegend bandagiert auflief und in den Schlusssekunden eines kräf-
tezehrenden Spiels mit einer entschlossenen Aktion eine Entscheidung in der
regulären Spielzeit erzwingt, ist im Laufe der Jahrzehnte ein mythischer Held
geworden, der schier übermenschliche Kräfte entwickelt, sich für seine Mit-
streiter aufopfert und im Moment des Sieges der Realität entrückt ist.

Wie sehr die Mannschaft auf Kuzorra angewiesen war, hatten die Gruppen-
spiele der Endrunde zur Deutschen Meisterschaft 1933/34 gezeigt, als die
Schalker viermal ohne ihren Kapitän antreten mussten. Im März 1934 hatte
sich Kuzorra in einem belanglosen Freundschaftsspiel gegen den STV Werne
bei einem unglücklichen Fall einen Sehnenriss zwischen Schlüsselbein und
Schulterknochen zugezogen.
    In der ersten Partie auswärts gegen Werder Bremen sorgte dann „Bulle“
Nattkämper mit fünf Toren quasi im Alleingang für den Schalker 5:2-Sieg.
Gegen den zweiten norddeutschen Gegner TV Eimsbüttel in der Dortmunder
Kampfbahn Rote Erde schossen die Schalker nach einem 1:1 zur Pause erst
in der zweiten Halbzeit einen klaren 4:1-Sieg gegen einen Gegner heraus, der
„durch den Kreisel müde und matt gehetzt“ (Koch)4 worden war. Als jedoch
nach zwei unerwarteten Niederlagen gegen den VfL Benrath (0:1) und im
Rückspiel gegen Eimsbüttel (2:3) plötzlich die Halbfinalteilnahme in Gefahr
geriet, kehrte Kuzorra mit geschienter Schulter in die Mannschaft zurück. Ich

4 Autorennamen in Klammern verweisen auf die vollständigen bibliografischen Angaben im Quellen-
und Literaturverzeichnis.

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konnte die Jungens doch nich’ im Stich lassen. Im Rückspiel gegen Bremen in der
Glückauf-Kampfbahn gab es einen glatten 3:0-Sieg, und im letzten Gruppen-
spiel wurde der VfL Benrath in Duisburg 2:0 bezwungen. Im Halbfinale setzten
sich die Schalker souverän mit 5:2 gegen den SV Waldhof 07 durch, der in Otto
Siffling über einen der besten Mittelstürmer seiner Zeit verfügte, weil Szepan
den gerade von der Weltmeisterschaft in Italien zurückgekehrten 31-fachen
Nationalspieler so genau deckte, dass der ohne Wirkung blieb.
   Kuzorras Sehnenriss an der Schulter war ausgeheilt, die Leistenverlet-
zung natürlich nicht. Zur Finalpartie in Berlin trat er ohne Wissen der ihn
behandelnden Ärzte an. Der kolportierte körperliche Zusammenbruch in der
90. Minute des Endspiels passt so immerhin perfekt in das Bild eines Kapitäns,
der sich für seine Mannschaft um des gemeinsamen Zieles willen aufopfert. Wir
waren eben eine echte Mannschaft, deren größte Stärke die Kameradschaft war.
Die Gelsenkirchener Allgemeine Zeitung kam in ihrem Bericht über das Finale zu
einem ähnlichen Schluss: „Festzustellen ist, daß diese beiden [Kuzorra und sein
Flankengeber Kalwitzki] nicht einem harten Spiel, einer robusten Abwehr zum
Opfer gefallen sind, dafür war auch in diesem gigantischen Kampf kein Raum;
festzustellen ist, daß beide ihre letzte Kraft an den Sieg hingegeben haben.“
   Dass Kuzorra nach seinem Siegtreffer nicht auf dem Platz in Ohnmacht fiel,
ist die prosaische Wahrheit. Aber dass er hätte in Ohnmacht fallen können, ja,
als Mannschaftskapitän geradezu in Ohnmacht fallen musste, um seiner Rolle
als Schlüsselspieler, die er schon damals innehatte, gerecht zu werden und die
erste Deutsche Meisterschaft der „Knappen“ durch sein „Leiden“ zu veredeln,
ist konstitutiv für die Legende von der Aufopferung des Individuums für die
Gemeinschaft. Es war die Bedingung dafür, dass Kuzorras Versionen seines
Siegtreffers in späteren Jahrzehnten niemals in Zweifel gezogen wurden. Für
die historische Wahrheit gab es schlichtweg keine Verwendung mehr, und nie-
mand interessierte sich später dafür, wie es „wirklich“ gewesen war.
   Unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Kuzorra’schen Legende schimmert
in der Wertung der Gelsenkirchener Allgemeinen Zeitung bereits die von den
neuen braunen Machthabern propagierte Idee der „Volksgemeinschaft“ durch,
und das martialische Gerede von „Kampf “ und „Sieg“, wiewohl in der Sportbe-
richterstattung der Zeit durchaus gängig, mochte im Kontext des seit mehr als
einem Jahr wütenden nationalsozialistischen Terrors bei manchem Beobachter
bereits düstere Vorahnungen wecken.

                                       27
Mehr als 1000 Tore

So legendär Kuzorras Treffer zum 2:1-Sieg im Finale von 1934 bis heute ist, so
legendär ist seine Torausbeute insgesamt. In der damaligen taktischen W-Staf-
felung des Sturms mit drei vollwertigen Stürmern und zwei versetzt agie-
renden „Halbstürmern“ dahinter war Kuzorra „offiziell“ auf der Position des
linken Halbstürmers gesetzt. Im Grunde war er ein Sturmtank mit untrügli-
chem Torinstinkt, schuss- und kopfballstark, aggressiv, athletisch und robust
im Zweikampf. Ich spielte auch gerne Mittelstürmer, weil es da Tore zu ernten gab,
war aber ebenso leidenschaftlich Halbstürmer, weil mir das Spiel mit dem Ball
immer Freude bereitete. „Er konnte auf engstem Raum dribbeln und hatte einen
Mordsbums“, urteilte Herbert Burdenski, linker Läufer in den Schalker Meister-
mannschaften 1940 und 1942, über das Spiel seines Kapitäns. Wie viele Tore
Kuzorra im Lauf seiner Karriere erzielte? Darüber haben wir damals noch nicht
Buch geführt, aber mehr als 1000 waren es ganz bestimmt. Und das mit einer
Mannschaft, der es „nicht vornehmlich darum ging, Tore zu schießen, sondern
[…] das Publikum zu unterhalten“ (Grüne). Wir haben immer gesagt, der Ball
muss laufen. Wenn wir auf den Platz kamen, dann gab es keine Pause. Den Ball
durch die eigenen Reihen „kreiseln“ zu lassen, bis sich in der gegnerischen
Abwehr eine Lücke auftat, und dabei den Gegner schwindelig zu kombinieren,
ihn buchstäblich ins „Kreiseln“ zu bringen, das war die Essenz des legendären
„Schalker Kreisels“. Dessen Grundlagen waren in den 1920er-Jahren von den
Brüdern Hans und Fred Ballmann gelegt worden, die das kunstvolle Flachpass-
und Kombinationsspiel aus England an den Schalker Markt gebracht hatten.
   In den vier Spielen der Meisterschaftsendrunde 1934, die Kuzorra bestritt
(in den übrigen vier Partien musste er wegen des Sehnenrisses pausieren),
erzielte er drei Treffer, darunter einen der wichtigsten seiner Karriere, den zum
2:1-Endstand im Finale. Insgesamt hatte Kuzorra damit seit dem Schalker Gau-
ligaaufstieg 1926 in 89 Spielen in der 1. Ruhrbezirksklasse bis 1934 137 Tore
erzielt, dazu kamen 57 Treffer in 59 Endrundenspielen zur Ruhrbezirks-, West-
deutschen und Deutschen Meisterschaft.
   Am Ende seiner aktiven Laufbahn 1949 werden es in 475 Pflichtspielen für
Schalke 443 Tore gewesen sein, was einer Trefferquote von 0,93 entspricht. Dazu
kamen noch 376 nachweisbare Tore in 592 Freundschaftsspielen zwischen 1923
und dem 31. Dezember 1947, bis 1949 dürfte sich die Zahl auf etwa 600 erhöht

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haben.5 Kuzorra lag mit der Vermutung hinsichtlich seiner Treffsicherheit also
keineswegs daneben.
     Zum Vergleich: Klaus Fischer wird es Jahrzehnte später in 343 Pflichtspielen
für Schalke „nur“ auf 223 Tore bringen (0,65). Fast so gut wie Kuzorra waren
seinerzeit nur Adolf „Ala“ Urban (151 Spiele, 121 Tore, 0,80) und Ernst Kal-
witzki (245 Spiele, 195 Tore, 0,79). Besser als alle zusammen ist, was die Tor-
quote betrifft, bis heute Ernst Poertgen, der „kaltblütige Anstreicher“. In 101
Spielen für Königsblau erzielte er sagenhafte 104 Tore, was eine Quote von
1,03 ergab. Nimmt man jedoch nur die Gauligaspiele, ist einer allerdings noch
besser: Georg Gawliczek. Der brauchte gerade mal vier Partien in der Spielzeit
1944/45, um 16 Tore zu erzielen. Die Quote von 4,0 dürfte Ewigkeitswert haben,
ist in der Schalker „Torgeschichte“ jedoch nur eine Fußnote.
     Kuzorras Sturmpartner Fritz Szepan brachte es mit 234 Toren in 342 Pflicht-
spielen „nur“ auf eine Quote von 0,68. Ein Rekord für die Ewigkeit dürften
Kuzorras zehn „Buden“ beim 24:0 in einem Spiel gegen Langendreer 04/07
zugunsten der Winterhilfe am 26. November 1933 sein. Am Vortag hatten die
Schalker in einem ersten Winterhilfsspiel bereits den SSV Remscheid 07 mit
14:0 abgefertigt. „In 180 Minuten 38 Tore!“, jubelte Turnen und Sport, die Sport-
beilage der Gelsenkirchener Allgemeinen Zeitung, anderntags – auch das dürfte
ein Rekord für die Ewigkeit sein. „Bombensieg der Schalker Knappen“ musste
der Remscheider Anzeiger dann auch neidlos anerkennen. Der Bochumer
Anzeiger formulierte kriegerischer: „Trommelfeuer – Schalker Stürmer kennen
kein Erbarmen“. Im Spielbericht fand Kuzorra besondere Erwähnung, der „als
Sturmführer seine Leute glänzend dirigierte und auch an dem Torreigen den
größten Anteil hatte. Er erzielte nicht weniger als zehn Treffer.“ Während die
National-Zeitung lapidar vermerkte: „[Kuzorra] schoß mit 10 Treffern den Vogel
ab.“ In Kuzorras Erzählungen am Stammtisch im Schalker Vereinslokal und in
den Berichten einiger Chronisten waren es gelegentlich zwölf oder noch mehr
Tore. Auch in diesem Fall siegte am Ende wohl die Legende über die Wahrheit.
Und sollten es tatsächlich „nur“ zehn gewesen sein, konnte der Schütze immer
noch behaupten: Es wären mit Sicherheit noch mehr geworden, wenn ich mich
in der letzten Viertelstunde nicht freiwillig nach rückwärts orientiert hätte. Auch
Kuzorras Hintersinn war legendär.

5   Diese Informationen verdanke ich Thomas Görge. Gespräch am 30. November 2017.

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