DOSSIER ABSEITS DES FLUTLICHTS // - Fußballkultur in Lateinamerika rund um die WM
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LN-Dossier 10 // Mai 2014 Schutzgebühr 2,- Euro DOSSIER ABSEITS DES FLUTLICHTS // Fußballkultur in Lateinamerika rund um die WM
// IMPRESSUM HERAUSGEBER: LATEINAMERIKA NACHRICHTEN Erscheint als Dossier Nr. 10 innerhalb der LN 479 (Mai 2014) sowie als separate Themenbroschüre. Redaktion: Redaktionskollektiv der Lateinamerika Nachrichten V.i.S.d.P. Manuel Burkhardt, Claudia Fix, Tobias Lambert, Martin Ling, Dominik Zimmer // KONTAKT Gneisenaustr. 2a, D – 10961 Berlin Tel: 030 / 694 61 00, Fax: 030 / 692 65 90 www.lateinamerika-nachrichten.de LN-Redaktion: redaktion@LN-Berlin.de Bestellungen und Informationen zum LN-Abo: abo@LN-Berlin.de LATEINAMERIKA NACHRICHTEN Gneisenaustr. 2a, D – 10961 Berlin Tel: 030 / 694 61 00, Fax: 030 / 692 65 90 www.lateinamerika-nachrichten.de redaktion@LN-Berlin.de Titelfoto: Orlando Contreras Lopez, CC BY NC ND 20 Chile, Valparaíso
ABSEITS DES FLUTLICHTS FUSSBALLKULTUR IN LATEINAMERIKA RUND UM DIE WM Foto: Lajolo, CC BY 2.0 Brasilien Garopaba 4 Abseits des Flutlichts // Ein Dossier zur Fuß- 21 Black Power vom Rio Chota // Der sportliche ballkultur in Lateinamerika und gesellschaftliche Aufstieg schwarzer Fuß- ballspieler verläuft in Ecuador rasant 6 Fußball auf südamerikanisch // Der uruguayi- sche Schriftsteller Eduardo Galeano beschreibt 24 „Die Teams waren Stellvertreter der Kartel- die Ursprünge des Fußballs in Südamerika le“ // Interview mit Felipe González, Chefredak- teur der alternativen kolumbianischen Fußball- 8 Lieber Brot als Spiele // Statt Karnevalsstim- zeitschrift El Escorpión mung herrscht in Brasilien vor der Heim-WM große Wut auf die FIFA 27 „Um Jungs streiten wir schon gar nicht!“ // Bei „Fußball für das Leben“ erwerben Jugendli- 13 Zum Sieg gestreikt // Der uruguayische Mara- che soziale Kompetenzen canazo von 1950 war kein Wunder, sondern das Ergebnis von Spielwitz und Solidarität auf und 30 Momente der Versöhnung // Im polarisierten neben dem Platz Honduras wird Fußball politisch instrumentali- siert 16 In der Hand der Barras // Mafiöse Fangruppen beherrschen Argentiniens Fußball 33 Zapatistas vs. Internacionalistas // Aus- schnitt aus dem vierhändigen Kriminalroman 19 Wenn einer einen Condoro baut // Interview Unbequeme Tote von Subcomandante Marcos mit Constanza Silva Lira über die Rolle des und Paco Ignacio Taibo II Fußballs in Chile
ABSEITS DES FLUTLICHTS EIN DOSSIER ZUR FUSSBALLKULTUR IN LATEINAMERIKA 28 Jahre ist es her, dass in Lateinamerika eine weniger der Kult um Stars wie Lionel Messi oder Fußball-Weltmeisterschaft der Männer stattfand. Neymar. Wer sich über die in Brasilien auflaufen- Seit der WM 1986 in Mexiko verfolgt der Welt- den Mannschaften informieren will, kann auf ein fußballverband FIFA eine neue Strategie bei der breites Angebot an Sonderheften zurückgreifen. Auswahl der Austragungsorte, um den Fußball- Neun lateinamerikanische Länder haben sich für kommerz weiter zu globalisieren. Mit den USA die WM 2014 qualifiziert. Allen widmet LN jeweils 1994, Japan und Südkorea 2002 und Südafrika einen Text, der mit dem Thema Fußball zu tun hat. 2010 fanden erstmals Weltmeisterschaften au- Da dieser Sport weit mehr ist als Kommerz und ßerhalb Europas und Lateinamerikas statt. 2014 Ergebnisorientierung, behandeln wir Themen, die kehrt die WM nach Lateinamerika zurück und wird sich überwiegend jenseits des Rummels um To- nach 1950 zum zweiten Mal überhaupt in Brasili- re und Talente abspielen. Fußball ist nicht nur im en ausgerichtet. Grund genug für die Lateinameri- Alltag der meisten lateinamerikanischen Länder ka Nachrichten, das Dossier Abseits des Flutlichts von großer Bedeutung, sondern hat auch soziale herauszugeben. Uns interessieren dabei weniger und politische Facetten. Unsere Themen reichen die sportlichen Chancen einzelner Teams und noch daher von einem Straßenfußballprojekt in Costa Brasilien Tururu Foto: Coletivo Força Tururu 4 LN-Dossier 10
Foto: Miguel Vera (CC BY 2.0) Peru Lima Rica über Fußball in Zeiten des Putschs in Chile den Stränden”, praktiziert wurde, „mit ein paar oder Honduras bis hin zu Fankultur und Gewalt in Steinen, die das Tor markierten“. Dies hat uns zu Argentinien. Der Artikel über Ecuador beleuchtet einer Fotostrecke über die vielfältigen Orte inspi- die stark gewachsene Bedeutung afro-lateiname- riert, an denen auch heute noch in Lateinamerika rikanischer Spieler, während sich ein Interview Fußball gespielt wird – mitten in den Megacities aus Kolumbien mit dem Einfluss der Drogenkar- ebenso wie an verlassenen Orten, die am Ende telle auf den dortigen Fußball auseinandersetzt. der Welt zu liegen scheinen. Ganz an der WM und deren dubiosem Ausrich- Die gesellschaftlichen Proteste in Brasilien, die ter, dem Weltfußballverband FIFA, kommen wir im vergangenen Jahr während des Confederati- allerdings nicht vorbei. Wenn FIFA-Präsident Jo- ons-Cups begannen, stehen nicht im Mittelpunkt seph Blatter etwa behauptet, die WM unter der dieses Dossiers. Das soll nicht heißen, dass diese Militärdiktatur 1978 in Argentinien habe zu einer nicht relevant sind. Im Gegenteil: Mit den negati- „Art Aussöhnung“ zwischen „Bevölkerung und ven sozialen und städtebaulichen Folgen von WM dem politischen System“ geführt, drängt sich ein und Olympischen Spielen in Brasilien haben sich Blick auf die politische Rolle der FIFA förmlich auf. die LN bereits im September 2013 in dem Dos- Diese ist das Thema unseres Artikels über den sier Im Schatten der Spiele: Fußball, Vertreibung Gastgeber Brasilien. und Widerstand in Brasilien eingehend beschäf- Wie Eduardo Galeano in seinem einleitenden li- tigt. Außerdem berichten wir regelmäßig in den terarischen Beitrag anschaulich beschreibt, war aktuellen Ausgaben darüber. Denn Brasilien bleibt Fußball in Lateinamerika schon früh ein Sport für spannend – vor, während und nach der WM. Alle, der „in den Wiesen, auf den Straßen und an // LN LN-Dossier 10 5
FUSSBALL AUF SÜDAMERIKANISCH DER URUGUAYISCHE SCHRIFTSTELLER EDUARDO GALEANO BESCHREIBT DIE URSPRÜNGE DES FUSSBALLS IN SÜDAMERIKA Die Argentine Football Association erlaubte nicht, Kinder der Immigranten im Handumdrehen Spie- dass in den Versammlungen ihrer Funktionäre le mit Bällen, die aus alten Strümpfen gemacht spanisch gesprochen wurde, und die Uruguay As- waren, die sie mit Lumpen oder Altpapier füllten, sociation Football League verbot, dass an Sonn- und mit ein paar Steinen, die das Tor markierten. tagen Spiele ausgetragen wurden, da nach der Dank der Sprache des Fußballs, die sich immer englischen Sitte samstags gespielt wurde. Doch mehr verbreitete, verstanden sich die Arbeiter, schon in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts die vom Lande in die Stadt vertrieben waren, begann der Fußball am Rio de la Plata populärer blendend mit den Arbeitern, die aus Europa ver- und einheimischer zu werden. Dieses importierte trieben worden waren. Das Ball-Esperanto einte Vergnügen, das den Kindern vernünftig die Zeit die einheimischen Armen mit den Tagelöhnern, vertrieb, war dem hochgehängten Blumentopf die das Meer von Vigo, Lissabon, Neapel, Bei- entsprungen, auf dem Boden gelandet und hatte rut oder Bessarabien her überquert hatten und dort schnell Wurzeln geschlagen. davon träumten, Amerikaner zu werden, indem Der Prozess war nicht mehr aufzuhalten. Wie der sie Mauern hochzogen, Ballen schleppten, Brot Tango, so wuchs auch der Fußball von den Vor- buken oder Straßen fegten. Eine schöne Reise, städten aus. Es war ein Sport, für den man kein die der Fußball da hinter sich gebracht hatte: In Geld brauchte und den man mit nichts weiter den englischen Internaten und Universitäten hat- als der puren Lust daran spielen konnte. In den te man ihn zivilisiert, und in Südamerika erfreute Wiesen, auf den Straßen und an den Stränden er Menschen das Herz, die nie eine Schule von organisierten die einheimischen Jungen und die innen gesehen hatten. Brasilien São Paulo Foto: Blog do Milton, CC BY 2.0 6 LN-Dossier 10
Foto: FJTUrban (CC BY-NC-ND 2.0) Argentinien Río Negro Auf den Plätzen von Buenos Aires und Montevi- der aus dem Abknicken des Oberkörpers besteht, deo wurde ein eigener Stil geboren. Eine eigene, dem Schwingen des ganzen Körpers, den fliegen- besondere Art Fußball zu spielen, schaffte sich den Beinen, die von der Capoeira herkamen, dem Raum, während eine besondere, eigene Art zu Kriegstanz der schwarzen Sklaven, und den fröh- tanzen auf den Milonga-Böden kreiert wurde. Die lichen Tänzen aus den Armenvierteln der großen Tänzer zeichneten kunstvolle filigrane Figuren auf Städte. einer einzigen Fußbodenfliese, und die Fußballer So wurde der Fußball schnell zur Leidenschaft der erfanden ihre Sprache in dem winzigen Raum, in Massen und enthüllte seine heimlichen Schönhei- dem der Ball nicht getreten, sondern gehalten, ten, wahrend er sich gleichzeitig als nobler Zeit- besessen wurde, als seien die Füße Hände, die vertreib disqualifizierte. 1915 ließ diese Demokra- das Leder kneteten. Und so entstand an den tisierung des Fußballs die brasilianische Zeitschrift Füßen der ersten virtuosen südamerikanischen Sports aus Rio de Janeiro klagen: „Die, die wir Spieler der toque, die typisch südamerikanische eine Stellung in der Gesellschaft innehaben, sind Art des Dribbling: der Ball, der wie ein Instrument gezwungen, mit einem Arbeiter zu spielen, mit ei- gespielt wird, wie eine Gitarre, wie eine Quelle nem Chauffeur ... Diesen Sport zu betreiben, wird der Musik. langsam zur Qual, zum Opfer, und hört auf, ein Gleichzeitig tropikalisierte sich der Fußball in Rio Vergnügen zu sein.“ de Janeiro und São Paulo. Es waren die Armen, // Eduardo Galeano die ihn bereicherten, während sie ihn enteigne- ten, ihn sich aneigneten. Dieser ausländische Auszug aus dem Buch Der Ball ist rund und Tore lauern Sport wurde in dem Maße brasilianisch, wie er überall von Eduardo Galeano, Seite 43 – 45. aufhörte, das Privileg einiger weniger wohlhaben- Wir danken dem Peter Hammer Verlag für die freundli- der junger Männer zu sein, die ihn nur nachahm- che Abdruckerlaubnis. ten, und es befruchtete ihn die schöpferische En- ergie des Volkes, das ihn für sich entdeckte. Und Vom Autor ist zuletzt erschienen: Kinder der Tage, Peter so wurde der schönste Fußball der Welt geboren, Hammer Verlag, Wuppertal 2013, 416 Seiten, 24 Euro LN-Dossier 10 7
LIEBER BROT ALS SPIELE STATT KARNEVALSSTIMMUNG HERRSCHT IN BRASILIEN VOR DER HEIM-WM GROSSE WUT AUF DIE FIFA 8 LN-Dossier 10
Fußballweltmeisterschaft in Brasilien bedeu- tet vier ungetrübte Wochen Partystimmung, so die einfache Rechnung der Organisatoren und des Weltfußballverband.FIFA. Doch die heftigen Proteste der Bevölkerung gegen Gigantismus und Profitstreben auf ihre Kos- ten zeigen, dass die Brasilianer_innen nicht gewillt sind, die ihnen zugedachte Rolle zu spielen. Von der selbstbehaupteten „politi- schen Neutralität“ der FIFA kann dabei keine Rede sein, wie immer steht sie auf der Seite der Herrschenden und des Geldes. Geplant war das alles anders. Ganz anders. Als Brasilien am 30. Oktober 2007 dazu auserkoren wurde, nach der gefühlten Ewigkeit von 64 Jah- Foto: M.J. Ambriola, CC BY-SA 2.0 ren wieder eine Fußball-Weltmeisterschaft auszu- richten, erwartete die Welt einen kollektiven Freu- dentaumel. Äußerungen wie die des früheren Schalke-Profis Marcelo Bordon, das Land sei „ret- tungslos fußballverrückt“ und man werde „einen Monat lang ein Riesenfest durchfeiern“ nährten die Hoffnungen der Funktionäre der FIFA, dem Weltfußballverband. Eines der ältesten Verspre- chen des Fußballs sollte erneut für ihre alle vier Jahre perfekt inszenierte Illusionskunst instru- mentalisiert werden: Die Alltagssorgen eines gan- zen Landes – und auch die durchaus vorhandenen organisatorischen Bedenken bei der Vergabe – in einem Rausch aus Emotion und Weltvergessen- heit zumindest für eine kurze Zeit ins Abseits zu stellen. Brasilien schien die perfekte Wahl dafür. Was beim Karneval alljährlich klappt, müsste doch auch auf ein Sportturnier übertragbar sein – um diese Gedankengänge des FIFA-Exekutivkomi- tees nachvollziehen zu können, bedurfte es keiner Wikileaks-Enthüllungen. FIFA-Präsident und Chef- missionar Joseph Blatter ließ es sich dann wie schon zuvor in Südafrika 2010 auch nicht nehmen, den Beitrag des Fußballs zur Entwicklung eines Landes in bunten Farben auszumalen. Die WM werde „einen riesigen sozialen und gesellschaftli- chen Einfluss“ auf Brasilien haben, verkündete er auf der Homepage der FIFA. Zu diesem Zeitpunkt ahnte er vermutlich nicht im Entferntesten, wie recht er damit behalten sollte. Brasilien Jericoacoara LN-Dossier 10 9
Blatters in zwei Richtungen interpretierbares Bewegungen mindestens so sehr unterschätzt Statement ist mittlerweile zu einer Wahrheit ge- hatten, wie Brasilien das Team Uruguays vor der worden, die niemand in der FIFA in dieser Form Niederlage im entscheidenden Spiel der letzten für möglich gehalten hätte. Sicher, schon am Heim-Weltmeisterschaft 1950. Tag der WM-Vergabe mischten sich erste kriti- Sport und Sportturniere werden seit der Antike sche Stimmen in den Jubelsturm der offiziellen als völkerverbindender, friedlicher Wettstreit pro- Feiern. Altstar Sócrates, schon zu Zeiten der klamiert. Von seinen Funktionär_innen wird die Militärdiktatur für seine kritischen politischen Notwendigkeit der politischen Neutralität des Ansichten bekannt und geschätzt, prognostizier- Sports gerühmt, durch die er erst seine „positive te polternd, das werde wohl wieder „eine große Wirkung entfalten“ könne, wie der frisch gewähl- Klauerei. Steuergelder werden verschwinden und te Präsident des Internationalen Olympischen ein Großteil der geplanten Kosten wird aus der Komitees (IOC), der Deutsche Thomas Bach, erst Tasche des Volkes fließen“. Auch die MTV-Mode- kürzlich wieder kundtat. Bewerbungen für gro- ratorin und Abgeordnete des Stadtparlamentes ße Sportevents sind jedoch nicht selten für sich von São Paulo, Soninha Francine, kritisierte sehr schon ein Politikum, wie sich besonders bei den zum Ärger Blatters die Entscheidung für ihr Land Fällen beobachten lässt, bei denen die Bevölke- als „verwegen. Unsere Korruption ist ja bekannt.“ rung darüber abstimmen darf (so verhinderten Der FIFA-Boss, von solcherlei Vorwürfen ebenfalls Volksentscheide eine Kandidatur Münchens für nicht gänzlich unberührt, blaffte den Kritiker_innen die Winterspiele 2022). Zudem war die häufige zu diesem Zeitpunkt noch entgegen, er verlange Unterstützung der Sportverbände für den politi- „mehr Respekt gegenüber der FIFA und ihren Mit- schen Status Quo in autoritär geführten oder dik- gliedern“. Sechs Jahre später, als der WM-Testlauf tatorischen Ausrichterstaaten von Olympischen Confederations Cup in Brasilien Station machte, Spielen oder Fußball-Weltmeisterschaften durch hatten sich sowohl die Lage als auch sein Tonfall die Bereitstellung der größten Bühne der Welt für dramatisch verändert. Der Turnier-Gigantismus Selbstdarstellung und Propaganda schon immer des Weltverbands und der eigenen Regierung rief das Gegenteil von unpolitisch. Gemeinsam mit angesichts drängender sozialer Probleme im Land ihrer Missachtung der dortigen oppositionellen massive Proteste der brasilianischen Bevölkerung Bewegungen entlarvt sie die These von der Neu- hervor. Blatter selbst wurde bei der gemeinsa- tralität des Sports als bloße Rhetorik. men Turniereröffnung mit Staatspräsidentin Dilma Die FIFA hat in dieser Beziehung eine besonders Rousseff in Brasilia von einem ganzen Stadion unrühmliche Geschichte. Markantestes Beispiel gnadenlos ausgepfiffen und äußerte daraufhin im ist die skandalöse Weltmeisterschaft 1978 in Juli 2013 gegenüber der Presse spürbar nervös, Argentinien. Drei Jahre vor dem Turnier war die man müsse „überlegen, ob man bei der WM-Ver- Sorge vor unruhigen sozialen Verhältnissen un- gabe falsch gewählt habe“. Dass es gar nichts zu ter der Regierung Isabel Peróns in den Gängen wählen gegeben hatte – Brasilien war der einzige der Zentrale des Weltverbandes greifbar. Nach Bewerber für die Ausrichtung - durfte da gerne un- dem rechten Militärputsch 1976 jedoch bekannte ter den Tisch fallen. Vor allem angesichts des mit ein erleichterter FIFA-Präsident João Havelange: „dubios“ noch freundlich umschriebenen Demo- „Jetzt ist das Land in der Lage, die Weltmeister- kratieverständnisses, das die Kür der WM-Gast- schaft auszurichten!“ Die Welt könne nun „das geberländer seit geraumer Zeit umweht. Zu Tage wahre Argentinien kennenlernen“. Damit gemeint trat allerdings das, was aufmerksame Beobachter war eine Militärdiktatur, die in den folgenden Jah- seit Jahrzehnten bei WM-Turnieren verfolgen kön- ren mehr als 30 000 Oppositionelle verhaften, nen: Die so gerne zur Schau getragene politische foltern und ermorden ließ. Eine Entschuldigung Neutralität der FIFA gilt nur, solange die Investiti- für Havelanges Aussagen gab es nie. Auch nicht onssicherheit nicht in Frage gestellt wird. Blatters von Joseph Blatter, der damals seine Premiere als für seine Verhältnisse extrem undiplomatisches FIFA-Generalsekretär feierte. Im Gegenteil, der Statement gegenüber einem Ausrichter belegt heutige FIFA-Boss war und ist mit seinem frühe- diese These nur zu deutlich. Ebenso wie den ren Chef politisch voll auf einer Linie, wie er erst Eindruck, dass die Mächtigen des Weltverbands kürzlich wieder bekannte: „Ich bin glücklich ge- die Mobilisierungskräfte von Brasiliens sozialen wesen, dass Argentinien gewann. Zwischen der 10 LN-Dossier 10
Foto: Alexandre R. Costa, CC BY-NC-SA 2.0 Brasilien Curiaú Bevölkerung und dem politischen System hat es ganisatoren als in einem Land wie Deutschland, eine Art Aussöhnung gegeben.“ wo man auf verschiedenen Ebenen verhandeln Weltfremder Zynismus à la FIFA, den auch Blat- muss.“ Danach kritisierte er in noch deutlicheren ters heutiger Nachfolger als Generalsekretär Worten die föderalen Strukturen Brasiliens. pflegt. Der heißt Jerôme Valcke und arbeitet Weniger politische Neutralität ist kaum möglich. fleißig daran, blattersche Werte in der nach un- Aus der Sicht eines Weltverbandes, der das Profit- ten offenen Unbeliebtheitsskala zu erreichen. streben längst weit über das – sowohl sportliche Unter anderem wegen eines Statements, das als auch soziale - Fair Play gestellt hat, ist das al- eine erschreckende Kontinuität mit Havelanges lerdings ebenso logisch wie nachvollziehbar. Sta- Aussagen zu Argentinien ´78 erkennen lässt. Auf bilität, eine öffentliche Darstellung ohne zu laute einer öffentlichen Pressekonferenz im März 2013 Störgeräusche und ein sicheres Investitionsklima äußerte er unverblümt: „Ich werde Ihnen etwas für die milliardenschweren FIFA-Sponsoren sind sagen, das verrückt klingen mag. Aber weniger die Rahmenbedingungen, die für einen reibungs- Demokratie ist manchmal besser für die Organi- losen Ablauf der größten Show der Welt mehr als sation des World Cup. Wenn ein starkes Staatso- alles andere nötig sind. Allerdings spricht einiges berhaupt da ist, das Entscheidungen treffen kann, dafür, dass die FIFA ihren Willen diesmal nicht so wie etwa Putin 2018 (Russland ist WM-Ausrichter leicht bekommen wird, obwohl ihre Auflagen wie 2018, Anm. d. Red.), das ist einfacher für uns Or- üblich so exakt vom Ausrichterland erfüllt werden LN-Dossier 10 11
mussten, als sei der Fußballweltverband ein „In- analysierte der frühere Torjäger des FC Barcelona ternationaler Währungsfonds des Sports“. Denn wie folgt: „Die Fifa kommt hierher, baut den Zirkus der Katalog der Unzufriedenheit in der Bevölke- auf, hat keine Auslagen und nimmt alles mit.“ rung näherte sich dadurch der Länge der brasili- Mit dieser Meinung steht er nicht alleine da. anischen Küstenlinie an: Sparmaßnahmen, die Selbst die aktuellen Nationalspieler der brasilia- das öffentliche Gesundheitswesen amputierten, nischen Seleção zeigen Verständnis für die De- während das separate Budget für wenig nach- monstrant_innen auf den Straßen, wenn auch mit haltige Luxusprojekte wie Hotels und Stadien un- deutlich gemäßigterer Wortwahl: „Viele glauben, angetastet blieb. Ein versprochener Ausbau der dass Fußballer nur an Fußball denken. Aber wir öffentlichen Infrastruktur, vor allem des Verkehrs- wissen, was gerade passiert. Wir wissen, dass netzes, der im Korruptionssumpf verschwand. Ei- die Demonstranten Recht haben mit ihren Pro- ne Sicherheitslage, die durch Einsatz öffentlicher testen“, sagt etwa Stürmerstar Hulk von Zenit St. Sicherheitskräfte in Favelas eher verschärft als Petersburg. Probleme wird er deswegen keine verbessert wird – zumindest für diejenigen, die bekommen, denn eine (Selbst-)Zensur wird nicht ohnehin schon unter prekären Verhältnissen zu stattfinden: „Meine Spieler haben alle Freiheit, leiden haben. Die Verzögerungen von Bauarbeiten sich zu den Protesten zu äußern“, erteilte Natio- in den Stadien, die zu Terminnot und in der Folge naltrainer Luis Felipe Scolari bereits politische zu unwürdigen Bedingungen für die Arbeiter_in- Meinungsfreiheit. Diese Linie war in vergange- nen führten, die mehrere Todesopfer forderten. nen Jahren für die Spieler der Seleção nicht im- Und schließlich das, was viele am Härtesten trifft: mer selbstverständlich. Die massenweisen Zwangsumsiedlungen, teils Und so sprechen in Brasilien zwei Monate vor Be- von einem Tag auf den anderen, oft ohne stabile ginn der WM völlig überraschend weniger Men- rechtliche Grundlage, meist einhergehend mit Er- schen von der Form des Nationalteams als vom höhungen der Mietpreise auch für die, die in ihren Sinn und Zweck eines fußballerischen Heimvor- Wohnungen bleiben konnten. Die FIFA hingegen teils, durch den viele ihr eigenes Heim verloren hat sich völlige Steuerfreiheit auf ihre Gewinne haben, und werden politisch aktiv. Eine soziale zusichern lassen. Die Konsequenz: Brot und Ob- Bewegung, wie sie vor einem Jahr fast aus dem dach, Bildung und Gesundheit sind für die meis- Nichts entstand, kann mit Fug und Recht als Alp- ten Brasilianer_innen aktuell deutlich wichtiger als traum der FIFA-Funktionäre bezeichnet werden. eine Sportveranstaltung, für deren explodierende Sie ist nicht greifbar, weil sie keine klaren Füh- Kosten sie aufkommen müssen. rungspersönlichkeiten hat. Sie ist nicht kontrol- Dass man mit diesen Maßnahmen nicht nur lierbar, weil sie sich spontan und dezentral orga- Freund_innen gewinnen wird war dem Weltver- nisiert. Und sie ist noch nicht einmal käuflich, weil band und auch der brasilianischen Regierung sie von zu vielen verschiedenen und komplexen vermutlich früh klar. Überraschend aber war die Aspekten der Benachteiligung gespeist wird, als Wucht, mit der ein ganzes, zu Recht als fußballbe- dass sie einfach zu befrieden wäre. „Não vai ter geistert bekanntes Land begann, sich gegen die Copa“ ist die ultimative Horrorshow für Blatter Organisation FIFA zu solidarisieren. Die Proteste und die Sponsoren des erwünschten „Jogo Boni- nahmen Ausmaße an, die Brasilien seit Jahrzehn- to“ („Schönen Spiels“). Vielleicht ist es ein Glück, ten nicht erlebt hat, zur WM könnten sie wieder dass sich die FIFA lange vom fröhlich-feiernden heftig aufflammen. „Não vai ter Copa“ („Es wird Image Brasiliens blenden ließ und die Sprengkraft keine WM geben“) wurde zu einem der geflügel- seiner sozialen Bewegungen übersah. Dieser wird ten Worte einer vielfältigen Bewegung, die auch bei der WM nun eine einzigartige Möglichkeit ge- Zuspruch von aktiven und ehemaligen Fußballern boten, auf nationale und globale Ungerechtigkei- erfährt. Der bekannteste Kritiker unter ihnen ist ten aufmerksam zu machen, zu denen der organi- der frühere Superstar und heutige Abgeordneten sierte Fußball seinen Teil beiträgt. Allerdings sollte des brasilianischen Parlamentes, Romário de Sou- diese Gelegenheit auch genutzt werden, denn za Faria, der FIFA-Präsident Blatter im März 2014 es könnte für längere Zeit die letzte bleiben. Die als „Dieb und korrupten Hurensohn“ bezeichnete nächsten Weltmeisterschaften sind in Russland und Generalsekretär Valcke als „größten Erpresser und Katar geplant. im Weltsport“. Das Vorgehen des Weltverbandes // Dominik Zimmer 12 LN-Dossier 10
ZUM SIEG GESTREIKT DER URUGUAYISCHE MARACANAZO VON 1950 WAR KEIN WUNDER, SONDERN DAS ERGEBNIS VON SPIELWITZ UND SOLIDARITÄT AUF UND NEBEN DEM PLATZ Wohin man auch sieht: In keiner Vorschau an Interviews, in denen er über sein Tor spricht) auf die kommende WM in Brasilien fehlt die und letzter Überlebender einer bewunderten Geschichte vom nationalen Trauma des nicht Mannschaft. Maracaná 1950 ist für viele nach wie gewonnenen Titels des Gastgeberlandes bei vor ein Wunder, galt die uruguayische Elf damals der letzten Heim-WM 1950. Vergessen wird doch als krasser Außenseiter. Unberechtigt, denn beim Wehklagen über das „Versagen“ des Uruguay war bis dahin neben Argentinien die er- brasilianischen Teams häufig – wie schon folgreichste Mannschaft in Südamerika. Argenti- damals – dass mit Uruguay auch eine zweite nien gewann neunmal die „Copa Suramericana“, Mannschaft auf dem Platz stand. Und für de- Uruguay achtmal, Brasilien nur zweimal. ren Sieg gab es handfeste Gründe. Weniger Schlagzeilen machte damals eine andere Tatsache: Die Spieler, die zumeist aus beschei- Eigentlich war das rechte Eck anvisiert, aber „ich denen Verhältnissen stammten, wurden von ih- traf den Ball schlecht“, wie Juan Alberto Schiaffino ren Klubs schlecht behandelt und bezahlt. 1946 später einräumte. Er versenkte das Leder statt- schlossen sich die Profis deshalb zur gewerk- dessen mit einem satten Schuss im linken Eck. schaftsähnlichen MUTUAL zusammen. Die Klub- Es bedeutete das 1 : 1, den Ausgleich gegen den vereinigung AUF dachte zunächst nicht daran, die haushohen Favoriten Brasilien, im entscheiden- MUTUAL anzuerkennen. Einige Klubbosse rühm- den Spiel um den Weltmeistertitel 1950 im Mara- ten sich, niemals einem Spieler die Hand geschüt- caná-Stadion. Zum „Tor des Jahrhunderts“ wurde telt zu haben. es von vielen uruguayischen Fans verklärt. „Wie Viele Fußballer waren es jedoch satt, wie Leib- Papageien plappern sie immer wieder dieselbe eigene behandelt zu werden. Sie pochten auf Geschichte über 1950 nach“, kritisiert Sebastián Vertragsfreiheit, stießen in den Vereinen aber auf Bednarik Landsleute, die sich „nicht im Gerings- taube Ohren. Am 14. Oktober 1948 rief die MU- ten auskennen.“ Er hat mit Andrés Varela den 75- TUAL daraufhin zum Generalstreik auf. Er sollte minütigen Dokumentarfilm Maracaná zusammen- fast sechs Monate dauern. Die Meisterschaft gestellt - basierend auf dem gleichnamigen Buch musste ausgesetzt werden. Eine aktive Rolle im des Sportjournalisten Atilio Garrido. Mit manchen Arbeitskampf spielte Obdulio Jacinto Varela, MU- Mythen und Legenden, die sich bis heute um TUAL-Vizepräsident. Während des Arbeitskamp- den so genannten Maracanazo, den „Schock von fes musste er wie auch andere seiner kickenden Maracaná“ ranken, räumen die beiden uruguayi- Kollegen wieder auf dem Bau zur Schaufel grei- schen Dokumentarfilmer darin auf. fen, um sich über Wasser zu halten. Die Ausdauer Der Doku-Streifen wurde erstmals auf einer der Streikenden wurde belohnt: Sie rangen den Groß-Leinwand im legendären Centenario-Sta- Clubs einen Mindestlohn und eine fast vollständi- dion in Montevideo aufgeführt, dem Schauplatz ge Vertragsfreiheit ab. der ersten Fußballweltmeisterschaft 1930, die der Bald darauf begann sich die Celeste (die „Himmel- Gastgeber gewann. Sie ist ein Höhepunkt im früh blaue“, wie das Nationalteam Uruguays genannt erfolgsverwöhnten Fußball des kleinen Landes wird“) auf die WM in Brasilien vorzubereiten. (u.a. 1924 und 1928 Goldmedaille bei den Olym- Spielerische Basis war das treffsichere Peña- pischen Spielen). Bei der Aufführung zugegen rol-Team. Im schwarz-gelben Trikot von Peñarol war der 87-jährige Alcides Ghiggia, Schütze des Montevideo war Obdulio die herausragende Fi- Siegtores zum 2 : 1 (er verdient bis heute Geld gur. Doch der schwarze Mittelfeldspieler weiger- LN-Dossier 10 13
te sich, in der Nationalelf zu spielen, solange ihm wir unsere Aufgabe erfüllt“, meinte ein AUF-Dele- keine Arbeitsstelle im öffentlichen Dienst zugesi- gierter. „Erfüllt haben wir unsere Aufgabe, wenn chert würde. Uruguay spielte ohne ihn schlecht, wir Weltmeister werden“, entgegnete Obdulio. verlor Vorbereitungsspiele. Da machte sich der Obdulios Mannschaft traf im entscheidenden Präsident Uruguays, Luis Battle Berres, auf den Spiel auf die haushoch favorisierten Brasilia- Weg zum „Negro Jefe“. „Obdulio, reisen Sie nach ner. Nach den Kantersiegen der Seleção gegen Brasilien!“, bekniete er den bockigen Star: „Wenn Schweden und Spanien schien das Ergebnis fest- Sie zurückkommen, werden Sie Angestellter in zustehen. Vergessen war, dass das Team vorher ‚Los Casinos‘ (staatliche Spielcasinos, Anm. d. keineswegs überragend gespielt hatte. Brasilien Red.) sein.“ Im März 1950 streifte sich Obdulio sei nicht unschlagbar, ahnte Schiaffino. erstmals wieder das himmelblaue Trikot der Ce- Als am 16. Juli im mit 200.000 brasilianischen leste über. Fans überfüllten Maracaná-Stadion das 1:0 für die Nur wenige glaubten an ein erfolgreiches Ab- gefeierten Stars der Heimmannschaft fiel, schien schneiden im Nachbarland. Doch der Streik hatte allerdings alles gelaufen. Doch Obdulio trieb seine unter den Auswahlspielern so etwas wie eine so- Mitspieler nach vorne. Sie bäumten sich auf, zeig- lidarische Gemeinschaft geschmiedet, die sich im ten garra (Kampfgeist): Die uruguayischen Spieler Laufe des Turniers zur schlagkräftigen Mannschaft unterbanden zunächst mit Defensivspiel das ge- entwickelte. Die unbestrittene Führungsfigur war konnte Passspiel der Gastgeber. Deren Torjäger ihr Kapitän Obdulio. Das Selbstvertrauen der Spie- Ademir – er hatte bis dahin neun Tore im Turnier ler war groß, schreibt Buchautor Atilio Garrido. erzielt – brachte keinen Ball im Netz unter. Die Weniger optimistisch waren einige AUF-Funktio- Uruguayer kamen selber ins Spiel, sie wussten näre. Sie gaben keinen Pfifferling auf die eigene um die Achillesferse der Seleção: eine schwache Elf: „Wenn sie uns keine vier Tore machen, haben Verteidigung. Uruguay Colonia del Sacramento Foto: Dan Gamboa Bohórquez (CC BY-NC 2.0) 14 LN-Dossier 10
Foto: andrés dEAN, CC BY-NC-SA 2.0 Uruguay San Gregorio de Polanco Später verbreitete sich die Legende, die uruguayi- männlicher und pfiffiger seien. Das „pfiffiger“ wur- schen Balltreter hätten mit unfairem Foulspiel den de gar zur „viveza criolla“, zur Schlitzohrigkeit, vere- Gegner in die Knie gezwungen. Doch Schiaffino delt. Die anderen opferten sich auf, rackerten sich erinnert sich anders, der Spielbericht bestätigt ihn: ab, „wir vertrauen auf die Improvisation“, hieß es. Tatsächlich pfiff der Schiedsrichter nur sechs Mal Der Triumph im Maracaná hat im kleinen Land am Foul gegen Uruguay, aber elf Mal gegen Brasilien. Rio de la Plata auch zu Selbstüberschätzung und zu Die garra ist von vielen auch als vorsätzliches einem Gefühl der Überheblichkeit gegenüber an- Foulspiel missinterpretiert worden. Dieses wird deren lateinamerikanischen Nationen beigetragen. auch heute noch gelegentlich als „garra charrúa“ Überheblich und wenig großzügig zeigten sich gelobt, womit gleichzeitig die ausgerotteten Ur- nach dem Sieg die AUF-Oberen. Obdulio und Co einwohner, das Volk der Charrúa, diskreditiert mussten in den eigenen Reihen sammeln, um werden. Tausende von Kindern, die im „babyfut- sich ein Festessen leisten zu können: Sandwiches bol“ ihren großen Idolen nacheifern versuchen, und Bier. Die Verbandsbosse hatten keinen Peso wurden und werden noch immer im Training zum hinterlassen, aber sie rechneten sich den Erfolg überharten rowdyhaften Spiel angehalten, vom als eigenen an: Geplant war, den Funktionären in Spielfeldrand von Eltern mit „Mach ihn fertig!“ Montevideo goldene Medaillen zu überreichen - und „Leg ihn um!“ angefeuert. International und den Weltmeistern silberne als „Mitarbeiter hatte Uruguay über Jahrzehnte nicht zu Unrecht des Sieges“. Der Plan verschwand jedoch schnell den Ruf, besonders hart zu spielen. Erst seit dem in der Schublade. Amtsantritt von Óscar Washington Tabárez als Na- Die erfolgreiche Mannschaft hat danach nie wie- tionaltrainer im Jahr 2006 demonstriert Uruguay der in der weltmeisterlichen Aufstellung zusam- wieder seine spielerischen Qualitäten. mengespielt. Aber sie gilt bis heute als Maßstab. Tatsächlich hatte Brasilien 1950 keine Supermann- Uruguays Fußball musste fortan mit einem un- schaft wie diejenige, die eines Tages mit dem geheuerlichen Druck leben. „La historia manda“ Namen Pelé verbunden sein sollte. Die Celeste- („Die Geschichte fordert es“), schwafeln bis auf Spieler gewannen deswegen verdient: „Sie haben den heutigen Tag nicht wenige uruguayische besser als wir gespielt“, erkannte der brasiliani- Sportreporter und meinen den WM-Sieg. Die sche Starstürmer Zizinho neidlos an: „Tatsächlich Messlatte, die die Helden von 1950 gelegt haben, war uns die uruguayische Mannschaft überlegen.“ war dadurch für viele Jahre eher ein Stigma für Dennoch kam ein weiterer Mythos auf: Die Ob- ihre Nachfolger als ein Grund zum Stolz. dulio-Mannen hätten gewonnen, weil sie mutiger, // Karl-Ludolf Hübener LN-Dossier 10 15
IN DER HAND DER BARRAS MAFIÖSE FANGRUPPEN BEHERRSCHEN ARGENTINIENS FUSSBALL Ultras – Fußballfans, für die ihr Verein der können wir so mehr auf andere Aspekte der Si- Hauptlebensinhalt ist – sind mittlerweile cherheit und Organisation achten”, begründete in vielen Ländern Teil der Fußballkultur. In Eduardo Villalba vom Fußball-Sicherheitskomitee Argentinien organisiert sich ein großer Teil diese Maßnahme. Schließlich hatte es im torneo von ihnen in den so genannten barras bra- final, der Rückrunde im ersten Halbjahr 2013, wie- vas (Wilde Horden), die gewalttätig und so der einige Tote gegeben – wie eigentlich immer in einflussreich sind, wie nirgendwo sonst. Sie den letzten Jahrzehnten. kontrollieren Teile des Ticketverkaufs und Dass die Aussperrung von Gästefans durchschla- sind daneben oft im Drogenhandel und in der genden Erfolg haben wird oder auch nur durch- Schutzgelderpressung aktiv. Kein Funktionär gesetzt werden kann, darf bezweifelt werden. In oder Spieler kann sich ihnen offen verwei- Mendoza schafften es tausende Fans von Boca gern. Die Politik stellt sich dem Problem nur Juniors in neutraler Kleidung ins Stadion zu kom- halbherzig oder arbeitet sogar mit den barras men, um sich dort ihrer Obertextilien bis auf das bravas zusammen. Trikot zu entledigen. Es blieb aber friedlich, eben- so wie beim genannten clásico rosarino zwischen No se venden entradas para este encuentro. So- Rosario Central und Newell´s im idyllisch am Rio lo para socios de nuestro Club.“ („Wir verkaufen Paraná gelegenen Stadion des Heimteams. Nach keine Eintrittskarten für dieses Spiel. Nur an Mit- dem Spiel wurde freilich gemeldet, dass Gabri- glieder unseres Vereins.“) Die Presseabteilung el Aguirre, ein 13-Jähriger Fan im schwarz-roten von Rosario Central ist auf Zack. Die Anfrage, ob Newell’s Old Boys-Trikot von in gelb-blauen Cen- ein Ticket für das nach dreijähriger Pause heiß tral-Trikots gewandeten, mindestens siegestrun- ersehnte Stadtderby von Rosario käuflich zu er- kenen Motorradfahrer_innen erschossen wurde. werben sei, wird postwendend mit diesem State- Laut der Organisation Salvemos al Futbol (Retten ment abgebügelt. Auch die Anfrage nach journa- wir den Fußball), einer argentinischen Nichtregie- listischer Akkreditierung bleibt erfolglos. Grund: rungsorganisation, die sich 2006 gegründet hat, Die Akkreditierungsfrist für den Fußballklassiker um aus der Zivilgesellschaft heraus mit friedli- zwischen dem gerade wieder aufgestiegenen chen Mitteln die blutigen Ausschreitungen rund Rosario Central und dem Titelverteidiger Newell‘s um den Fußball zu bekämpfen, war er das 279. Old Boys sei abgelaufen. Pech, aber kein Zufall, Opfer fußballinduzierter Gewalt. Die Liste von denn Karten für Erstligaspiele gibt es in Argentini- Salvemos al Futbol beginnt 1922 und ist am 27. en seit Kurzem nur noch für Heimfans. Die Angst April 2014 bei Stand von 287 Todesopfern ange- vor Ausschreitungen zwischen Fangruppen unter- langt, wobei die Organisation keinen Anspruch schiedlicher Vereine ist zu groß. auf Vollständigkeit reklamiert. Gabriel Aguirre Auswärtsfans in Argentinien sind seit Beginn des war also nicht das letzte Opfer. Alleine seit Be- torneo inicial (Hinrunde) im August 2013 war offizi- ginn der Gästefanaussperrung im vergangenen ell nicht mehr zugelassen. Damit wollen der Fuß- August gab es elf Opfer tödlicher Gewalt. Für ballverband AFA und die argentinische Regierung diese bedarf es oft keines besonderen Anlasses. der weit verbreiteten Gewaltkultur rund um den Es kann reichen zur falschen Zeit am falschen Fußball Einhalt gebieten. „Auf diese Weise müs- Ort das falsche Trikot zu tragen. Selbst in der Zeit sen wir wenige Polizisten einsetzen. Wir müssen ohne Fußball-Lokalderby wurden im Dezember die Auswärtsfans nicht mehr zum Stadion eskor- 2013 in der, durch den Kokaintransithandel in- tieren, was sonst immer der Fall war. Vielleicht zwischen waffenstrotzenden, Stadt Rosario zwei 16 LN-Dossier 10
34 und 39 Jahre alte Anhänger des Erstligisten durch gegnerische Anhänger sondern infolge ei- Newell‘s Old Boys im Auto von einem mit einem nes Tränengaseinsatzes durch die Bereitschafts- T-Shirt von Rosario Central bekleideten Mann polizei zu Tode. In besagtem Jahr entstand im vom Motorrad aus erschossen. Zuvor soll es zu Umfeld des Traditionsclubs Racing Club Buenos einem Streit zwischen dem Autofahrer und dem Aires, dem Lieblingsverein des ehemaligen Präsi- Täter gekommen sein. Allerdings können auch denten Néstor Kirchner, mit La Guardia Imperial, Ergebnisse von Spielen Einfluss auf tödliche die erste barra brava, die bis heute einflussreich Ausschreitungen haben. So ermordeten 1994 ist. Seitdem bauten die „Wilden Horden“ ihre zwei barrabravas von Boca Juniors zwei Kon- Macht aus. Romero, der die Gewaltkultur in sei- trahenten vom Erzrivalen River Plate, nachdem nem Standardwerk Muerte en la Cancha (Tod im der vorangegangene superclásico zwischen den Stadion) beleuchtet hat, beschreibt zweierlei Ar- beiden populärsten Mannschaften Argentiniens ten von Gewalt beim Fußball in Argentinien. Ein- 0:2 ausgegangen war. „Empatamos – Wir haben mal die spektakuläre an Spieltagen, im Stadion, ausgeglichen“ lautete ihr lakonisch-zynischer mit Flaggen, Gangs und Messern. Und dann die Kommentar. Ganz normaler Fußballwahnsinn in zweite Form zwischen den Spielen: Gewalt und Argentinien, wenngleich Mord die Spitze der Ge- Erpressungen, meist gegen Spieler. Aber auch walt darstellt und nicht alltäglich ist. hin und wieder gegen Vereinsfunktionär_innen, Der Begriff barra brava ist neueren Datums und so sie nicht bereit sind, kostenlosem Einlass für geht auf den Publizisten Amilcar Romero zurück, die barras zuzustimmen, ihnen Ticketkontigente der ihn 1958 im Zusammenhang mit dem ge- zum Weiterverkauf zur Verfügung zu stellen und waltsamen Tod des River-Anhängers Alberto Lin- Auswärtsfahrten zu finanzieren. In der Regel ker erstmals benutzte. Der kam allerdings nicht sind die Funktionär_innen aber willig. Ob und Argentinien Resistencia Foto: Torben Ibs LN-Dossier 10 17
wie freiwillig ist dabei schwer auszumachen Anhängerin, ich war Ehefrau eines fanatischen und wohl auch uneinheitlich. „Es gibt drei wich- Racing-Fans und bin Mutter eines fanatischen tige Faktoren beim Fußball: Gewalt, Informatio- Anhängers.“ Das schlägt sich auch in der Politik nen und Geld. Die barras bravas haben Gewalt nieder: 2009 kaufte der staatseigene Sender TV und Informationen. Die Vorstände haben Geld“, Pública dem Fußballverband AFA die TV-Rechte beschrieb Romero gegenüber dem britischen für 110 Millionen Euro ab. Statt Pay-TV gibt es Journalisten Simon Kuper den Zusammenhang. jetzt alles frei empfangbar, oft auf mehreren Ka- Wenn ein Spieler bei Vertragsverhandlungen nälen gleichzeitig – an jedem Spieltag von Frei- zickt, bringen ihn nicht selten die barras auf Vor- tag bis Montag 900 Minuten lang, unterlegt mit standsgeheiß zur Einsicht. Sei es „nur“ mit der politischer Werbung für den Kirchnerismo. Futbol Drohung, pikante Informationen über seinen Le- para todos (Fußball für alle) sorgt auf alle Fälle für benswandel zu veröffentlichen oder mit direkter Pluspunkte bei der Bevölkerung. Gewalt gegen des Spielers Eigentum, ihn selbst Für eine andere Aktion gilt das weniger. Ein Jahr oder seine Familie. vor der Weltmeisterschaft in Südafrika wurden Wer sich der Vettern- und Basenwirtschaft ver- die Hinchadas Unidas Argentinas (Vereinte Fan- weigert, bekommt gewaltige Probleme. Jorge gruppen Argentiniens) gegründet. Die in der HUA Rinaldi, der Ende der 1980er Jahre bei Boca Ju- zusammengeschlossenen barrabravas gaben als niors spielte, machte seine Erfahrung öffentlich. offizielles Ziel aus, genau das zu bekämpfen, was Er hatte einer Einladung zu einem Spieleressen für viele ihrer Mitglieder bis vor kurzem noch ein durch La Doce (der zwölfte Spieler), die mächtigs- einträgliches Geschäft war: die Gewalt in den te barra brava des Vereins, nicht Folge geleistet. Stadien. Da sie von Marcel Mallo, einem regie- „Jedes Mal, wenn ich danach den Rasen betrat, rungsnahen Basispolitiker, angeführt wurden, wurde ich von den barras mit einer Flut von Ver- vermuteten viele Argentinier_innen einen Deal: wünschungen begleitet. Es war als wäre ich einer Unterstützung im Wahlkampf für die Kirchners ge- der meistgehassten Feinde und nicht einer, der gen Freiflüge nach Südafrika. Doch dieser Schuss die Farben des Vereins verteidigt, den sie behaup- ging für die barrabravas nach hinten los: Dort an- ten zu lieben.“ Rinaldi blieb nur der Vereinswech- gelangt, wurde ein Teil von ihnen als karteigeführ- sel als Ausweg. te Gewalttäter direkt im nächsten Flugzeug nach Der Boss von La Doce war lange Zeit Rafael Di Argentinien zurückgeschickt – darunter einer, der Zeo. Er gab Autogramme, verkehrte in den hohen wegen versuchten Mordes auf Bewährung war. Kreisen der Stadt. Der amtierende Bürgermeister Die Regierung selbst stellt eine Zusammenarbeit von Buenos Aires, Mauricio Macri, war von 1995 in diesem Fall und generell jede Art von Deals mit bis 2007 Präsident von Boca Juniors und gelang- der HUA in Abrede. Mallo steht allerdings inzwi- te so zu Bekanntheit, die ihm den Weg zur politi- schen in der zweiten Reihe, die repräsentative schen Karriere ebnete. 2007 wurde di Zeo zu vier Spitze der HUA hat nun eine Frau übernommen, Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, weil er die Anwältin Débora Hamba. 1999 während eines Freundschaftsspiels verant- Die Frau an der Spitze von Salvemos al Futbol wortlich für einen brutalen Angriff auf Fans des füllt ihr Mandat dagegen nicht nur repräsenta- gegnerischen Clubs Chacarita Juniors war. Dank tiv aus. Mónica Nizzardo, die die Organisation seiner guten Beziehungen mangelte es ihm im gegründet hat, forderte die Fans auf, Fälle von Gefängnis jedoch an nichts. Boca-Spieler schenk- Gewalt und Korruption anzuzeigen. So, wie sie ten ihm einen Plasma-Fernseher für seine Zelle, es selbst in ihrer Zeit als Pressesprecherin bei Vereinsrekordtorschütze Martín Palermo besuch- einem Drittligisten einmal getan hat – und ohn- te ihn im Knast. mächtig mit ansehen musste, wie die Polizei Auch Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández nichts unternahm. Danach beschloss sie 2006, de Kirchner steht nicht gerade im Ruf, trennscharf die Organisation zu gründen. Ende 2012 zog sie zwischen barrabravas und gewaltlosen, leiden- sich frustriert zurück. Die Organisation ficht mit schaftlichen Fans zu differenzieren. In der Diskus- Liliana Marta Suárez an der Spitze weiter: In der sion um die Sicherheit rund um den Fußball äu- argentinischen Gemengelage ein Kampf, der je- ßerte sie 2012: „Ich möchte nicht von barrabravas de Anerkennung verdient. sprechen, denn ich bin Tochter einer fanatischen // Martin Ling 18 LN-Dossier 10
WENN EINER EINEN CONDORO BAUT INTERVIEW MIT CONSTANZA SILVA LIRA ÜBER DIE ROLLE DES FUSSBALLS IN CHILE Ein Nationalstadion als Folterstätte, ein Spiel ohne Gegner und ein Torwart, der sich selbst CONSTANZA SILVA LIRA verletzt: Chiles Fußball ist reich an Absonder- ist Lateinamerikanistin und lebt in Berlin. Nach lichkeiten. Ein Gespräch mit der Zeitzeugin dem Putsch in Chile emigrierte sie 1974 mit ihrer Constanza Silva Lira (siehe Kasten) über die Mutter nach Deutschland. 1980 kehrte sie allein Bedeutung des Fußballs in Chile zu Zeiten der nach Chile zurück, um dort 1989 die Schule zu be- Diktatur und generell. enden. Heute arbeitet sie als Referentin des Glo- balen Lernens vor allem an Schulen. Was spielt Fußball in Chile für eine Rolle? Fußball ist wahnsinnig wichtig. Dadurch fallen lei- der alle anderen Sportarten fast komplett unter trotzdem angepfiffen. Und Carlos Caszely hat ein den Tisch. Fußball ist auch die einzige Sportart, Tor geschossen. Er rannte und schoss ein Tor - über die im Fernsehen berichtet wird. Höchstens und dann wurde abgepfiffen. Das war eine ziem- noch ein bisschen Tennis, weil wir einige gute lich absurde Geschichte, denn so hat sich Chile für Tennisspieler haben. Wenn Chile an einem inter- die WM 1974 qualifiziert. Und es war symbolisch nationalen Fußballturnier teilnimmt, dann wird das für die internationale Isolation Chiles während der überall übertragen, alle sprechen darüber. Oder Militärdiktatur. man trifft sich und sieht sich das Spiel zusammen an. Und wenn Chile an der WM teilnimmt, dann Carlos Caszely war einer der Spieler, die als ist das eine wirklich große Sache. Ich kann mich Gegner Pinochets galten. Welche Erinnerun- noch gut an den Tag erinnern, als sich Chile für die gen an ihn haben Sie? WM 1982 qualifizierte, mitten in der Diktatur. Als Ich habe selbst sein Abschiedsspiel 1984 im Na- die Mannschaft das Qualifikationsspiel in Santia- tionalstadion miterlebt. Caszely stand politisch go de Chile gewonnen hatte, kamen wir gerade links, das wussten alle. Seine Mutter wurde nach vom Land zurück. Auf den Straßen rannten lauter dem Putsch verhaftet und er selbst ist von 1973 Menschen, die Fahnen schwenkten und ich dach- bis 1978 nach Spanien emigriert und hat dort ge- te: „Huch, ist Pinochet jetzt gefallen oder was?“ spielt. Wir sind alle zu seinem Abschiedsspiel ins Aber es war nur die WM-Qualifikation. Nationalstadion gegangen, aber eigentlich nicht so sehr, weil wir uns für Fußball interessierten, Stichwort Fußball in der Diktatur – ist es den sondern weil die linken Parteien, die Schüler- und Militärs gelungen, den Fußball für sich zu ver- Jugendorganisationen dazu aufgerufen hatten. einnahmen? Die ganze Schülerbewegung war dort, und hat mit Naja, es war komplizierter. Das Nationalstadion Fahnen und Sprechchören gegen die Diktatur pro- wurde ja nach dem Putsch zu einem Ort, an dem testiert. Das Stadion war voll, es war eine super viele tausend politische Gefangene interniert tolle Stimmung: Unten wurde Fußball gespielt und waren. Von September bis November waren die wir haben gegen die Diktatur geschrien! Das Spiel Gefangenen dort, direkt im Stadion wurde auch wurde ganz klar ein Protest gegen die Regierung. gefoltert. Aber dann stand das WM-Qualifikati- Caszely hat bei seinem Abschied ziemlich viele To- onsspiel zwischen Chile und der Sowjetunion an, re geschossen, aber auch einen Elfmeter versem- dafür musste das Stadion geräumt werden. Die melt, worüber wir viele Witze gemacht haben. Als Sowjetunion ist aber aus Protest gegen die Dik- das Spiel zu Ende war, wartete draußen die Polizei tatur und die Folterungen nicht angetreten. Das auf uns, soweit ich mich erinnern kann, auch mit heißt, Chile hat alleine gespielt, das Spiel wurde Tränengas. Wir sind dann ziemlich schnell wegge- LN-Dossier 10 19
Foto: esfema, CC BY NC ND 2.0 Chile Valparaíso rannt, damit sie uns nicht verhaften, was mir auch weiter zu machen, weil ihre Sicherheit gefährdet geglückt ist. Wir haben solche Momente immer sei. Das Spiel wurde dann abgepfiffen. Aber als genutzt, damit die Medien auf uns aufmerksam man später die Videoaufzeichnungen von dem wurden. Natürlich haben sie in dem Sinne berich- Spiel angesehen hat, konnte man sehen, dass tet, dass „subversive Elemente“ im Stadion Ran- der Feuerwerkskörper den Torwart gar nicht be- dale gemacht hätten. rührt hatte. Irgendwann hat er gebeichtet, dass er selbst eine Rasierklinge dabei hatte und sich Gab es auch Fußball-Skandale in Chile, so wie selbst eine Wunde zugefügt hat, die stark blutete. in anderen Ländern? Das alles war von der Mannschaft so geplant wor- Der größte Skandal betraf den Torwart Roberto den: Wenn sie dabei wären zu verlieren, wollten Rojas, dessen Spitzname „Cóndor“ war. Er hat sie erreichen, dass das Spiel abgebrochen und beim WM-Qualifikationsspiel 1989 gegen Brasi- wiederholt würde. Tatsächlich wurde die chileni- lien im Maracanã einen ziemlich großen Fehler sche Mannschaft für die WM von 1990 und 1994 gemacht. Chile musste gewinnen, lag aber gegen gesperrt. Und seitdem, bis heute noch, sagt man: Ende des Spiels 0:1 zurück. Da fiel der „Cóndor“ „Te mandaste un Condoro“, wenn Du einen Fehler plötzlich zu Boden und blutete. Er behauptete, gemacht hast. Oder „Condorito“, wenn Du Mist dass ihn gerade ein Feuerwerkskörper getroffen gebaut hast. Das ist in die Umgangssprache ein- hätte. Daraufhin hat die chilenische Mannschaft gegangen. sofort aufgehört zu spielen und sich geweigert // Interview: Claudia Fix 20 LN-Dossier 10
BLACK POWER VOM RIO CHOTA DER SPORTLICHE UND GESELLSCHAFTLICHE AUFSTIEG SCHWARZER FUSSBALLSPIELER VERLÄUFT IN ECUADOR RASANT Zu den Anfangszeiten des Fußballs in Ecu- dessen Lage in 2.800 Meter Höhe darstellt, zu adors spielten schwarze Spieler kaum eine Nutze machen. Mit Erfolg: Die Punktausbeute Rolle. Heute hingegen wäre das National- verbesserte sich erheblich, die Beschwerden der team ohne die Afro-Ecuadorianer nicht kon- gegnerischen Teams konnten als Auszeichnung kurrenzfähig. Eine Besonderheit ist auch die verstanden werden. geographische Herkunft der Spieler. Bereits vorher hatte Dusan Draskovic, ein mon- tenegrinischer Trainer-Stratege, der 1988 nach Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fußball in Ecuador gekommen war, um eine langanhaltende Ecuador an die Tür klopfte, dachten nur wenige, Laufbahn mit Nationalteams zu beginnen, einen dass die ruhmreichsten Momente dieses Sports Kampf gegen den tief verwurzelten Regionalis- von Afro-Lateinamerikanern erreicht werden wür- mus eingeleitet. Aus diesem Grund hatte man den. Nicht nur, weil die Schwarzen in Ecuador in jahrzehntelang zwei verschiedene Nationalteams den Anfangsjahren des Fußballs keinen großen für offizielle Spiele zusammenstellen müssen: Ei- Gefallen daran fanden. Auch diejenigen, die ihn nes mit Spielern von der Küste, das hauptsächlich spielten, waren eher Ausländer, die auf der Durch- aus Fußballern von Barcelona und Emelec aus reise an den Küsten des Landes vorbeikamen. Guayaquil bestand. Und eines mit Spielern aus Selbst als die Professionalisierung des ecuado- dem Hochland, in dem vor allem Spieler von El rianischen Fußballs begann, spielten nur wenige Nacional, Deportivo Quito, Aucas und Liga De- Afro-Lateinamerikaner in den Klubs. Erst nach portiva Universitaria in den Spielen in Quito auf- und nach kamen sie dazu, und in einigen Städ- liefen. ten verlief diese Entwicklung sehr langsam. Uli- Ein weiteres Ereignis spielte für die Entwicklung ses de la Cruz, einer der prominentesten Spieler und das Selbstverständnis des ecuadorianischen der ecuadorianischen Fußballgeschichte, erzählt Nationalteams eine entscheidende Rolle, obwohl vom Argwohn ihm gegenüber, als er beim Klub man selbst gar nicht direkt beteiligt war. Am 5. Liga Deportiva Universitaria zu spielen begann, September 1993 gelang dem kolumbianischen weil „zu dieser Zeit ‚die Weißen‘ bei Liga spielen Fußball-Nationalteam eine der spektakulärsten sollten“. Da schrieb man übrigens bereits das Jahr Heldentaten im Weltsport: Unter dem Trainer 1997. Francisco Maturana brachte man dem zweimali- Zu diesem Zeitpunkt befand sich das ecuadoria- gen Weltmeister Argentinien durch ein überwälti- nische Nationalteam in einem Match gegen die gendes 5:0 im Estadio Monumental von Buenos eigenen Vorurteile. Der Fußballverband, geleitet Aires in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft vom unvergessenen Galo Roggiero, hatte den in den USA eine unvergessliche Erniedrigung bei. kolumbianischen Ex-Nationaltrainer Francisco Ma- Namen wie Faustino Asprilla, Freddy Rincón, turana beauftragt, ein „Team für alle“ aufzubauen. Adolfo Valencia und andere brachten schwarze Es wurde eine der bedeutendsten Entscheidun- Lateinamerikaner auf das Parkett des großen Fuß- gen für den Erfolg des ecuadorianischen Fußballs balls, so dass dieses Team zum Mitfavoriten für getroffen: Die Nationalmannschaft sollte sechs ih- den WM-Sieg 1994 aufstieg. rer acht Heimspiele der WM-Qualifikation in Quito Obwohl Namen schwarzer Kicker wie der Brasi- austragen und sich den Wettbewerbsvorteil, den lianer Pelé oder der Portugiese Eusebio bereits LN-Dossier 10 21
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