DOSSIER ABSEITS DES FLUTLICHTS // - Fußballkultur in Lateinamerika rund um die WM

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LN-Dossier 10 // Mai 2014

Schutzgebühr 2,- Euro

DOSSIER
ABSEITS DES FLUTLICHTS //
Fußballkultur in Lateinamerika
rund um die WM
// IMPRESSUM
HERAUSGEBER: LATEINAMERIKA NACHRICHTEN

Erscheint als Dossier Nr. 10 innerhalb der LN 479 (Mai 2014) sowie als separate Themenbroschüre.
Redaktion: Redaktionskollektiv der Lateinamerika Nachrichten
V.i.S.d.P. Manuel Burkhardt, Claudia Fix, Tobias Lambert, Martin Ling, Dominik Zimmer
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   Titelfoto: Orlando Contreras Lopez, CC BY NC ND 20
   Chile, Valparaíso
ABSEITS DES FLUTLICHTS
FUSSBALLKULTUR IN LATEINAMERIKA RUND UM DIE WM

                                                                                                  Foto: Lajolo, CC BY 2.0
       Brasilien Garopaba

4    Abseits des Flutlichts // Ein Dossier zur Fuß-   21   Black Power vom Rio Chota // Der sportliche
     ballkultur in Lateinamerika                           und gesellschaftliche Aufstieg schwarzer Fuß-
                                                           ballspieler verläuft in Ecuador rasant
6    Fußball auf südamerikanisch // Der uruguayi-
     sche Schriftsteller Eduardo Galeano beschreibt   24   „Die Teams waren Stellvertreter der Kartel-
     die Ursprünge des Fußballs in Südamerika              le“ // Interview mit Felipe González, Chefredak-
                                                           teur der alternativen kolumbianischen Fußball-
8    Lieber Brot als Spiele // Statt Karnevalsstim-
                                                           zeitschrift El Escorpión
     mung herrscht in Brasilien vor der Heim-WM
     große Wut auf die FIFA                           27   „Um Jungs streiten wir schon gar nicht!“ //
                                                           Bei „Fußball für das Leben“ erwerben Jugendli-
13   Zum Sieg gestreikt // Der uruguayische Mara-
                                                           che soziale Kompetenzen
     canazo von 1950 war kein Wunder, sondern das
     Ergebnis von Spielwitz und Solidarität auf und   30   Momente der Versöhnung // Im polarisierten
     neben dem Platz                                       Honduras wird Fußball politisch instrumentali-
                                                           siert
16   In der Hand der Barras // Mafiöse Fangruppen
     beherrschen Argentiniens Fußball                 33   Zapatistas vs. Internacionalistas // Aus-
                                                           schnitt aus dem vierhändigen Kriminalroman
19   Wenn einer einen Condoro baut // Interview
                                                           Unbequeme Tote von Subcomandante Marcos
     mit Constanza Silva Lira über die Rolle des
                                                           und Paco Ignacio Taibo II
     Fußballs in Chile
ABSEITS DES FLUTLICHTS
EIN DOSSIER ZUR FUSSBALLKULTUR IN LATEINAMERIKA

      28 Jahre ist es her, dass in Lateinamerika eine      weniger der Kult um Stars wie Lionel Messi oder
      Fußball-Weltmeisterschaft der Männer stattfand.      Neymar. Wer sich über die in Brasilien auflaufen-
      Seit der WM 1986 in Mexiko verfolgt der Welt-        den Mannschaften informieren will, kann auf ein
      fußballverband FIFA eine neue Strategie bei der      breites Angebot an Sonderheften zurückgreifen.
      Auswahl der Austragungsorte, um den Fußball-         Neun lateinamerikanische Länder haben sich für
      kommerz weiter zu globalisieren. Mit den USA         die WM 2014 qualifiziert. Allen widmet LN jeweils
      1994, Japan und Südkorea 2002 und Südafrika          einen Text, der mit dem Thema Fußball zu tun hat.
      2010 fanden erstmals Weltmeisterschaften au-         Da dieser Sport weit mehr ist als Kommerz und
      ßerhalb Europas und Lateinamerikas statt. 2014       Ergebnisorientierung, behandeln wir Themen, die
      kehrt die WM nach Lateinamerika zurück und wird      sich überwiegend jenseits des Rummels um To-
      nach 1950 zum zweiten Mal überhaupt in Brasili-      re und Talente abspielen. Fußball ist nicht nur im
      en ausgerichtet. Grund genug für die Lateinameri-    Alltag der meisten lateinamerikanischen Länder
      ka Nachrichten, das Dossier Abseits des Flutlichts   von großer Bedeutung, sondern hat auch soziale
      herauszugeben. Uns interessieren dabei weniger       und politische Facetten. Unsere Themen reichen
      die sportlichen Chancen einzelner Teams und noch     daher von einem Straßenfußballprojekt in Costa

        Brasilien Tururu

                                                                                                                Foto: Coletivo Força Tururu

4   LN-Dossier 10
Foto: Miguel Vera (CC BY 2.0)
  Peru Lima

Rica über Fußball in Zeiten des Putschs in Chile        den Stränden”, praktiziert wurde, „mit ein paar
oder Honduras bis hin zu Fankultur und Gewalt in        Steinen, die das Tor markierten“. Dies hat uns zu
Argentinien. Der Artikel über Ecuador beleuchtet        einer Fotostrecke über die vielfältigen Orte inspi-
die stark gewachsene Bedeutung afro-lateiname-          riert, an denen auch heute noch in Lateinamerika
rikanischer Spieler, während sich ein Interview         Fußball gespielt wird – mitten in den Megacities
aus Kolumbien mit dem Einfluss der Drogenkar-            ebenso wie an verlassenen Orten, die am Ende
telle auf den dortigen Fußball auseinandersetzt.        der Welt zu liegen scheinen.
Ganz an der WM und deren dubiosem Ausrich-              Die gesellschaftlichen Proteste in Brasilien, die
ter, dem Weltfußballverband FIFA, kommen wir            im vergangenen Jahr während des Confederati-
allerdings nicht vorbei. Wenn FIFA-Präsident Jo-        ons-Cups begannen, stehen nicht im Mittelpunkt
seph Blatter etwa behauptet, die WM unter der           dieses Dossiers. Das soll nicht heißen, dass diese
Militärdiktatur 1978 in Argentinien habe zu einer       nicht relevant sind. Im Gegenteil: Mit den negati-
„Art Aussöhnung“ zwischen „Bevölkerung und              ven sozialen und städtebaulichen Folgen von WM
dem politischen System“ geführt, drängt sich ein        und Olympischen Spielen in Brasilien haben sich
Blick auf die politische Rolle der FIFA förmlich auf.   die LN bereits im September 2013 in dem Dos-
Diese ist das Thema unseres Artikels über den           sier Im Schatten der Spiele: Fußball, Vertreibung
Gastgeber Brasilien.                                    und Widerstand in Brasilien eingehend beschäf-
Wie Eduardo Galeano in seinem einleitenden li-          tigt. Außerdem berichten wir regelmäßig in den
terarischen Beitrag anschaulich beschreibt, war         aktuellen Ausgaben darüber. Denn Brasilien bleibt
Fußball in Lateinamerika schon früh ein Sport für       spannend – vor, während und nach der WM.
Alle, der „in den Wiesen, auf den Straßen und an                                                     // LN

                                                                                                LN-Dossier 10                                   5
FUSSBALL AUF SÜDAMERIKANISCH
DER URUGUAYISCHE SCHRIFTSTELLER EDUARDO GALEANO BESCHREIBT DIE URSPRÜNGE
DES FUSSBALLS IN SÜDAMERIKA

      Die Argentine Football Association erlaubte nicht,   Kinder der Immigranten im Handumdrehen Spie-
      dass in den Versammlungen ihrer Funktionäre          le mit Bällen, die aus alten Strümpfen gemacht
      spanisch gesprochen wurde, und die Uruguay As-       waren, die sie mit Lumpen oder Altpapier füllten,
      sociation Football League verbot, dass an Sonn-      und mit ein paar Steinen, die das Tor markierten.
      tagen Spiele ausgetragen wurden, da nach der         Dank der Sprache des Fußballs, die sich immer
      englischen Sitte samstags gespielt wurde. Doch       mehr verbreitete, verstanden sich die Arbeiter,
      schon in den ersten Jahren dieses Jahrhunderts       die vom Lande in die Stadt vertrieben waren,
      begann der Fußball am Rio de la Plata populärer      blendend mit den Arbeitern, die aus Europa ver-
      und einheimischer zu werden. Dieses importierte      trieben worden waren. Das Ball-Esperanto einte
      Vergnügen, das den Kindern vernünftig die Zeit       die einheimischen Armen mit den Tagelöhnern,
      vertrieb, war dem hochgehängten Blumentopf           die das Meer von Vigo, Lissabon, Neapel, Bei-
      entsprungen, auf dem Boden gelandet und hatte        rut oder Bessarabien her überquert hatten und
      dort schnell Wurzeln geschlagen.                     davon träumten, Amerikaner zu werden, indem
      Der Prozess war nicht mehr aufzuhalten. Wie der      sie Mauern hochzogen, Ballen schleppten, Brot
      Tango, so wuchs auch der Fußball von den Vor-        buken oder Straßen fegten. Eine schöne Reise,
      städten aus. Es war ein Sport, für den man kein      die der Fußball da hinter sich gebracht hatte: In
      Geld brauchte und den man mit nichts weiter          den englischen Internaten und Universitäten hat-
      als der puren Lust daran spielen konnte. In den      te man ihn zivilisiert, und in Südamerika erfreute
      Wiesen, auf den Straßen und an den Stränden          er Menschen das Herz, die nie eine Schule von
      organisierten die einheimischen Jungen und die       innen gesehen hatten.

        Brasilien São Paulo

                                                                                                                Foto: Blog do Milton, CC BY 2.0

6   LN-Dossier 10
Foto: FJTUrban (CC BY-NC-ND 2.0)
  Argentinien Río Negro

Auf den Plätzen von Buenos Aires und Montevi-          der aus dem Abknicken des Oberkörpers besteht,
deo wurde ein eigener Stil geboren. Eine eigene,       dem Schwingen des ganzen Körpers, den fliegen-
besondere Art Fußball zu spielen, schaffte sich        den Beinen, die von der Capoeira herkamen, dem
Raum, während eine besondere, eigene Art zu            Kriegstanz der schwarzen Sklaven, und den fröh-
tanzen auf den Milonga-Böden kreiert wurde. Die        lichen Tänzen aus den Armenvierteln der großen
Tänzer zeichneten kunstvolle filigrane Figuren auf      Städte.
einer einzigen Fußbodenfliese, und die Fußballer        So wurde der Fußball schnell zur Leidenschaft der
erfanden ihre Sprache in dem winzigen Raum, in         Massen und enthüllte seine heimlichen Schönhei-
dem der Ball nicht getreten, sondern gehalten,         ten, wahrend er sich gleichzeitig als nobler Zeit-
besessen wurde, als seien die Füße Hände, die          vertreib disqualifizierte. 1915 ließ diese Demokra-
das Leder kneteten. Und so entstand an den             tisierung des Fußballs die brasilianische Zeitschrift
Füßen der ersten virtuosen südamerikanischen           Sports aus Rio de Janeiro klagen: „Die, die wir
Spieler der toque, die typisch südamerikanische        eine Stellung in der Gesellschaft innehaben, sind
Art des Dribbling: der Ball, der wie ein Instrument    gezwungen, mit einem Arbeiter zu spielen, mit ei-
gespielt wird, wie eine Gitarre, wie eine Quelle       nem Chauffeur ... Diesen Sport zu betreiben, wird
der Musik.                                             langsam zur Qual, zum Opfer, und hört auf, ein
Gleichzeitig tropikalisierte sich der Fußball in Rio   Vergnügen zu sein.“
de Janeiro und São Paulo. Es waren die Armen,                                       // Eduardo Galeano
die ihn bereicherten, während sie ihn enteigne-
ten, ihn sich aneigneten. Dieser ausländische          Auszug aus dem Buch Der Ball ist rund und Tore lauern
Sport wurde in dem Maße brasilianisch, wie er          überall von Eduardo Galeano, Seite 43 – 45.
aufhörte, das Privileg einiger weniger wohlhaben-      Wir danken dem Peter Hammer Verlag für die freundli-
der junger Männer zu sein, die ihn nur nachahm-        che Abdruckerlaubnis.
ten, und es befruchtete ihn die schöpferische En-
ergie des Volkes, das ihn für sich entdeckte. Und      Vom Autor ist zuletzt erschienen: Kinder der Tage, Peter
so wurde der schönste Fußball der Welt geboren,        Hammer Verlag, Wuppertal 2013, 416 Seiten, 24 Euro

                                                                                                     LN-Dossier 10                                      7
LIEBER BROT ALS SPIELE
      STATT KARNEVALSSTIMMUNG HERRSCHT IN BRASILIEN VOR DER HEIM-WM GROSSE WUT
      AUF DIE FIFA

8   LN-Dossier 10
Fußballweltmeisterschaft in Brasilien bedeu-
                                    tet vier ungetrübte Wochen Partystimmung,
                                    so die einfache Rechnung der Organisatoren
                                    und des Weltfußballverband.FIFA. Doch die
                                    heftigen Proteste der Bevölkerung gegen
                                    Gigantismus und Profitstreben auf ihre Kos-
                                    ten zeigen, dass die Brasilianer_innen nicht
                                    gewillt sind, die ihnen zugedachte Rolle zu
                                    spielen. Von der selbstbehaupteten „politi-
                                    schen Neutralität“ der FIFA kann dabei keine
                                    Rede sein, wie immer steht sie auf der Seite
                                    der Herrschenden und des Geldes.

                                    Geplant war das alles anders. Ganz anders. Als
                                    Brasilien am 30. Oktober 2007 dazu auserkoren
                                    wurde, nach der gefühlten Ewigkeit von 64 Jah-
Foto: M.J. Ambriola, CC BY-SA 2.0

                                    ren wieder eine Fußball-Weltmeisterschaft auszu-
                                    richten, erwartete die Welt einen kollektiven Freu-
                                    dentaumel. Äußerungen wie die des früheren
                                    Schalke-Profis Marcelo Bordon, das Land sei „ret-
                                    tungslos fußballverrückt“ und man werde „einen
                                    Monat lang ein Riesenfest durchfeiern“ nährten
                                    die Hoffnungen der Funktionäre der FIFA, dem
                                    Weltfußballverband. Eines der ältesten Verspre-
                                    chen des Fußballs sollte erneut für ihre alle vier
                                    Jahre perfekt inszenierte Illusionskunst instru-
                                    mentalisiert werden: Die Alltagssorgen eines gan-
                                    zen Landes – und auch die durchaus vorhandenen
                                    organisatorischen Bedenken bei der Vergabe – in
                                    einem Rausch aus Emotion und Weltvergessen-
                                    heit zumindest für eine kurze Zeit ins Abseits zu
                                    stellen. Brasilien schien die perfekte Wahl dafür.
                                    Was beim Karneval alljährlich klappt, müsste doch
                                    auch auf ein Sportturnier übertragbar sein – um
                                    diese Gedankengänge des FIFA-Exekutivkomi-
                                    tees nachvollziehen zu können, bedurfte es keiner
                                    Wikileaks-Enthüllungen. FIFA-Präsident und Chef-
                                    missionar Joseph Blatter ließ es sich dann wie
                                    schon zuvor in Südafrika 2010 auch nicht nehmen,
                                    den Beitrag des Fußballs zur Entwicklung eines
                                    Landes in bunten Farben auszumalen. Die WM
                                    werde „einen riesigen sozialen und gesellschaftli-
                                    chen Einfluss“ auf Brasilien haben, verkündete er
                                    auf der Homepage der FIFA. Zu diesem Zeitpunkt
                                    ahnte er vermutlich nicht im Entferntesten, wie
                                    recht er damit behalten sollte.

                                       Brasilien
                                    Jericoacoara

                                                                            LN-Dossier 10   9
Blatters in zwei Richtungen interpretierbares           Bewegungen mindestens so sehr unterschätzt
      Statement ist mittlerweile zu einer Wahrheit ge-        hatten, wie Brasilien das Team Uruguays vor der
      worden, die niemand in der FIFA in dieser Form          Niederlage im entscheidenden Spiel der letzten
      für möglich gehalten hätte. Sicher, schon am            Heim-Weltmeisterschaft 1950.
      Tag der WM-Vergabe mischten sich erste kriti-           Sport und Sportturniere werden seit der Antike
      sche Stimmen in den Jubelsturm der offiziellen           als völkerverbindender, friedlicher Wettstreit pro-
      Feiern. Altstar Sócrates, schon zu Zeiten der           klamiert. Von seinen Funktionär_innen wird die
      Militärdiktatur für seine kritischen politischen        Notwendigkeit der politischen Neutralität des
      Ansichten bekannt und geschätzt, prognostizier-         Sports gerühmt, durch die er erst seine „positive
      te polternd, das werde wohl wieder „eine große          Wirkung entfalten“ könne, wie der frisch gewähl-
      Klauerei. Steuergelder werden verschwinden und          te Präsident des Internationalen Olympischen
      ein Großteil der geplanten Kosten wird aus der          Komitees (IOC), der Deutsche Thomas Bach, erst
      Tasche des Volkes fließen“. Auch die MTV-Mode-           kürzlich wieder kundtat. Bewerbungen für gro-
      ratorin und Abgeordnete des Stadtparlamentes            ße Sportevents sind jedoch nicht selten für sich
      von São Paulo, Soninha Francine, kritisierte sehr       schon ein Politikum, wie sich besonders bei den
      zum Ärger Blatters die Entscheidung für ihr Land        Fällen beobachten lässt, bei denen die Bevölke-
      als „verwegen. Unsere Korruption ist ja bekannt.“       rung darüber abstimmen darf (so verhinderten
      Der FIFA-Boss, von solcherlei Vorwürfen ebenfalls       Volksentscheide eine Kandidatur Münchens für
      nicht gänzlich unberührt, blaffte den Kritiker_innen    die Winterspiele 2022). Zudem war die häufige
      zu diesem Zeitpunkt noch entgegen, er verlange          Unterstützung der Sportverbände für den politi-
      „mehr Respekt gegenüber der FIFA und ihren Mit-         schen Status Quo in autoritär geführten oder dik-
      gliedern“. Sechs Jahre später, als der WM-Testlauf      tatorischen Ausrichterstaaten von Olympischen
      Confederations Cup in Brasilien Station machte,         Spielen oder Fußball-Weltmeisterschaften durch
      hatten sich sowohl die Lage als auch sein Tonfall       die Bereitstellung der größten Bühne der Welt für
      dramatisch verändert. Der Turnier-Gigantismus           Selbstdarstellung und Propaganda schon immer
      des Weltverbands und der eigenen Regierung rief         das Gegenteil von unpolitisch. Gemeinsam mit
      angesichts drängender sozialer Probleme im Land         ihrer Missachtung der dortigen oppositionellen
      massive Proteste der brasilianischen Bevölkerung        Bewegungen entlarvt sie die These von der Neu-
      hervor. Blatter selbst wurde bei der gemeinsa-          tralität des Sports als bloße Rhetorik.
      men Turniereröffnung mit Staatspräsidentin Dilma        Die FIFA hat in dieser Beziehung eine besonders
      Rousseff in Brasilia von einem ganzen Stadion           unrühmliche Geschichte. Markantestes Beispiel
      gnadenlos ausgepfiffen und äußerte daraufhin im          ist die skandalöse Weltmeisterschaft 1978 in
      Juli 2013 gegenüber der Presse spürbar nervös,          Argentinien. Drei Jahre vor dem Turnier war die
      man müsse „überlegen, ob man bei der WM-Ver-            Sorge vor unruhigen sozialen Verhältnissen un-
      gabe falsch gewählt habe“. Dass es gar nichts zu        ter der Regierung Isabel Peróns in den Gängen
      wählen gegeben hatte – Brasilien war der einzige        der Zentrale des Weltverbandes greifbar. Nach
      Bewerber für die Ausrichtung - durfte da gerne un-      dem rechten Militärputsch 1976 jedoch bekannte
      ter den Tisch fallen. Vor allem angesichts des mit      ein erleichterter FIFA-Präsident João Havelange:
      „dubios“ noch freundlich umschriebenen Demo-            „Jetzt ist das Land in der Lage, die Weltmeister-
      kratieverständnisses, das die Kür der WM-Gast-          schaft auszurichten!“ Die Welt könne nun „das
      geberländer seit geraumer Zeit umweht. Zu Tage          wahre Argentinien kennenlernen“. Damit gemeint
      trat allerdings das, was aufmerksame Beobachter         war eine Militärdiktatur, die in den folgenden Jah-
      seit Jahrzehnten bei WM-Turnieren verfolgen kön-        ren mehr als 30 000 Oppositionelle verhaften,
      nen: Die so gerne zur Schau getragene politische        foltern und ermorden ließ. Eine Entschuldigung
      Neutralität der FIFA gilt nur, solange die Investiti-   für Havelanges Aussagen gab es nie. Auch nicht
      onssicherheit nicht in Frage gestellt wird. Blatters    von Joseph Blatter, der damals seine Premiere als
      für seine Verhältnisse extrem undiplomatisches          FIFA-Generalsekretär feierte. Im Gegenteil, der
      Statement gegenüber einem Ausrichter belegt             heutige FIFA-Boss war und ist mit seinem frühe-
      diese These nur zu deutlich. Ebenso wie den             ren Chef politisch voll auf einer Linie, wie er erst
      Eindruck, dass die Mächtigen des Weltverbands           kürzlich wieder bekannte: „Ich bin glücklich ge-
      die Mobilisierungskräfte von Brasiliens sozialen        wesen, dass Argentinien gewann. Zwischen der

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Foto: Alexandre R. Costa, CC BY-NC-SA 2.0
  Brasilien Curiaú

Bevölkerung und dem politischen System hat es        ganisatoren als in einem Land wie Deutschland,
eine Art Aussöhnung gegeben.“                        wo man auf verschiedenen Ebenen verhandeln
Weltfremder Zynismus à la FIFA, den auch Blat-       muss.“ Danach kritisierte er in noch deutlicheren
ters heutiger Nachfolger als Generalsekretär         Worten die föderalen Strukturen Brasiliens.
pflegt. Der heißt Jerôme Valcke und arbeitet          Weniger politische Neutralität ist kaum möglich.
fleißig daran, blattersche Werte in der nach un-      Aus der Sicht eines Weltverbandes, der das Profit-
ten offenen Unbeliebtheitsskala zu erreichen.        streben längst weit über das – sowohl sportliche
Unter anderem wegen eines Statements, das            als auch soziale - Fair Play gestellt hat, ist das al-
eine erschreckende Kontinuität mit Havelanges        lerdings ebenso logisch wie nachvollziehbar. Sta-
Aussagen zu Argentinien ´78 erkennen lässt. Auf      bilität, eine öffentliche Darstellung ohne zu laute
einer öffentlichen Pressekonferenz im März 2013      Störgeräusche und ein sicheres Investitionsklima
äußerte er unverblümt: „Ich werde Ihnen etwas        für die milliardenschweren FIFA-Sponsoren sind
sagen, das verrückt klingen mag. Aber weniger        die Rahmenbedingungen, die für einen reibungs-
Demokratie ist manchmal besser für die Organi-       losen Ablauf der größten Show der Welt mehr als
sation des World Cup. Wenn ein starkes Staatso-      alles andere nötig sind. Allerdings spricht einiges
berhaupt da ist, das Entscheidungen treffen kann,    dafür, dass die FIFA ihren Willen diesmal nicht so
wie etwa Putin 2018 (Russland ist WM-Ausrichter      leicht bekommen wird, obwohl ihre Auflagen wie
2018, Anm. d. Red.), das ist einfacher für uns Or-   üblich so exakt vom Ausrichterland erfüllt werden

                                                                                              LN-Dossier 10                         11
mussten, als sei der Fußballweltverband ein „In-       analysierte der frühere Torjäger des FC Barcelona
      ternationaler Währungsfonds des Sports“. Denn          wie folgt: „Die Fifa kommt hierher, baut den Zirkus
      der Katalog der Unzufriedenheit in der Bevölke-        auf, hat keine Auslagen und nimmt alles mit.“
      rung näherte sich dadurch der Länge der brasili-       Mit dieser Meinung steht er nicht alleine da.
      anischen Küstenlinie an: Sparmaßnahmen, die            Selbst die aktuellen Nationalspieler der brasilia-
      das öffentliche Gesundheitswesen amputierten,          nischen Seleção zeigen Verständnis für die De-
      während das separate Budget für wenig nach-            monstrant_innen auf den Straßen, wenn auch mit
      haltige Luxusprojekte wie Hotels und Stadien un-       deutlich gemäßigterer Wortwahl: „Viele glauben,
      angetastet blieb. Ein versprochener Ausbau der         dass Fußballer nur an Fußball denken. Aber wir
      öffentlichen Infrastruktur, vor allem des Verkehrs-    wissen, was gerade passiert. Wir wissen, dass
      netzes, der im Korruptionssumpf verschwand. Ei-        die Demonstranten Recht haben mit ihren Pro-
      ne Sicherheitslage, die durch Einsatz öffentlicher     testen“, sagt etwa Stürmerstar Hulk von Zenit St.
      Sicherheitskräfte in Favelas eher verschärft als       Petersburg. Probleme wird er deswegen keine
      verbessert wird – zumindest für diejenigen, die        bekommen, denn eine (Selbst-)Zensur wird nicht
      ohnehin schon unter prekären Verhältnissen zu          stattfinden: „Meine Spieler haben alle Freiheit,
      leiden haben. Die Verzögerungen von Bauarbeiten        sich zu den Protesten zu äußern“, erteilte Natio-
      in den Stadien, die zu Terminnot und in der Folge      naltrainer Luis Felipe Scolari bereits politische
      zu unwürdigen Bedingungen für die Arbeiter_in-         Meinungsfreiheit. Diese Linie war in vergange-
      nen führten, die mehrere Todesopfer forderten.         nen Jahren für die Spieler der Seleção nicht im-
      Und schließlich das, was viele am Härtesten trifft:    mer selbstverständlich.
      Die massenweisen Zwangsumsiedlungen, teils             Und so sprechen in Brasilien zwei Monate vor Be-
      von einem Tag auf den anderen, oft ohne stabile        ginn der WM völlig überraschend weniger Men-
      rechtliche Grundlage, meist einhergehend mit Er-       schen von der Form des Nationalteams als vom
      höhungen der Mietpreise auch für die, die in ihren     Sinn und Zweck eines fußballerischen Heimvor-
      Wohnungen bleiben konnten. Die FIFA hingegen           teils, durch den viele ihr eigenes Heim verloren
      hat sich völlige Steuerfreiheit auf ihre Gewinne       haben, und werden politisch aktiv. Eine soziale
      zusichern lassen. Die Konsequenz: Brot und Ob-         Bewegung, wie sie vor einem Jahr fast aus dem
      dach, Bildung und Gesundheit sind für die meis-        Nichts entstand, kann mit Fug und Recht als Alp-
      ten Brasilianer_innen aktuell deutlich wichtiger als   traum der FIFA-Funktionäre bezeichnet werden.
      eine Sportveranstaltung, für deren explodierende       Sie ist nicht greifbar, weil sie keine klaren Füh-
      Kosten sie aufkommen müssen.                           rungspersönlichkeiten hat. Sie ist nicht kontrol-
      Dass man mit diesen Maßnahmen nicht nur                lierbar, weil sie sich spontan und dezentral orga-
      Freund_innen gewinnen wird war dem Weltver-            nisiert. Und sie ist noch nicht einmal käuflich, weil
      band und auch der brasilianischen Regierung            sie von zu vielen verschiedenen und komplexen
      vermutlich früh klar. Überraschend aber war die        Aspekten der Benachteiligung gespeist wird, als
      Wucht, mit der ein ganzes, zu Recht als fußballbe-     dass sie einfach zu befrieden wäre. „Não vai ter
      geistert bekanntes Land begann, sich gegen die         Copa“ ist die ultimative Horrorshow für Blatter
      Organisation FIFA zu solidarisieren. Die Proteste      und die Sponsoren des erwünschten „Jogo Boni-
      nahmen Ausmaße an, die Brasilien seit Jahrzehn-        to“ („Schönen Spiels“). Vielleicht ist es ein Glück,
      ten nicht erlebt hat, zur WM könnten sie wieder        dass sich die FIFA lange vom fröhlich-feiernden
      heftig aufflammen. „Não vai ter Copa“ („Es wird         Image Brasiliens blenden ließ und die Sprengkraft
      keine WM geben“) wurde zu einem der geflügel-           seiner sozialen Bewegungen übersah. Dieser wird
      ten Worte einer vielfältigen Bewegung, die auch        bei der WM nun eine einzigartige Möglichkeit ge-
      Zuspruch von aktiven und ehemaligen Fußballern         boten, auf nationale und globale Ungerechtigkei-
      erfährt. Der bekannteste Kritiker unter ihnen ist      ten aufmerksam zu machen, zu denen der organi-
      der frühere Superstar und heutige Abgeordneten         sierte Fußball seinen Teil beiträgt. Allerdings sollte
      des brasilianischen Parlamentes, Romário de Sou-       diese Gelegenheit auch genutzt werden, denn
      za Faria, der FIFA-Präsident Blatter im März 2014      es könnte für längere Zeit die letzte bleiben. Die
      als „Dieb und korrupten Hurensohn“ bezeichnete         nächsten Weltmeisterschaften sind in Russland
      und Generalsekretär Valcke als „größten Erpresser      und Katar geplant.
      im Weltsport“. Das Vorgehen des Weltverbandes                                         // Dominik Zimmer

12   LN-Dossier 10
ZUM SIEG GESTREIKT
DER URUGUAYISCHE MARACANAZO VON 1950 WAR KEIN WUNDER, SONDERN DAS
ERGEBNIS VON SPIELWITZ UND SOLIDARITÄT AUF UND NEBEN DEM PLATZ

    Wohin man auch sieht: In keiner Vorschau              an Interviews, in denen er über sein Tor spricht)
    auf die kommende WM in Brasilien fehlt die            und letzter Überlebender einer bewunderten
    Geschichte vom nationalen Trauma des nicht            Mannschaft. Maracaná 1950 ist für viele nach wie
    gewonnenen Titels des Gastgeberlandes bei             vor ein Wunder, galt die uruguayische Elf damals
    der letzten Heim-WM 1950. Vergessen wird              doch als krasser Außenseiter. Unberechtigt, denn
    beim Wehklagen über das „Versagen“ des                Uruguay war bis dahin neben Argentinien die er-
    brasilianischen Teams häufig – wie schon               folgreichste Mannschaft in Südamerika. Argenti-
    damals – dass mit Uruguay auch eine zweite            nien gewann neunmal die „Copa Suramericana“,
    Mannschaft auf dem Platz stand. Und für de-           Uruguay achtmal, Brasilien nur zweimal.
    ren Sieg gab es handfeste Gründe.                     Weniger Schlagzeilen machte damals eine andere
                                                          Tatsache: Die Spieler, die zumeist aus beschei-
    Eigentlich war das rechte Eck anvisiert, aber „ich    denen Verhältnissen stammten, wurden von ih-
    traf den Ball schlecht“, wie Juan Alberto Schiaffino   ren Klubs schlecht behandelt und bezahlt. 1946
    später einräumte. Er versenkte das Leder statt-       schlossen sich die Profis deshalb zur gewerk-
    dessen mit einem satten Schuss im linken Eck.         schaftsähnlichen MUTUAL zusammen. Die Klub-
    Es bedeutete das 1 : 1, den Ausgleich gegen den       vereinigung AUF dachte zunächst nicht daran, die
    haushohen Favoriten Brasilien, im entscheiden-        MUTUAL anzuerkennen. Einige Klubbosse rühm-
    den Spiel um den Weltmeistertitel 1950 im Mara-       ten sich, niemals einem Spieler die Hand geschüt-
    caná-Stadion. Zum „Tor des Jahrhunderts“ wurde        telt zu haben.
    es von vielen uruguayischen Fans verklärt. „Wie       Viele Fußballer waren es jedoch satt, wie Leib-
    Papageien plappern sie immer wieder dieselbe          eigene behandelt zu werden. Sie pochten auf
    Geschichte über 1950 nach“, kritisiert Sebastián      Vertragsfreiheit, stießen in den Vereinen aber auf
    Bednarik Landsleute, die sich „nicht im Gerings-      taube Ohren. Am 14. Oktober 1948 rief die MU-
    ten auskennen.“ Er hat mit Andrés Varela den 75-      TUAL daraufhin zum Generalstreik auf. Er sollte
    minütigen Dokumentarfilm Maracaná zusammen-            fast sechs Monate dauern. Die Meisterschaft
    gestellt - basierend auf dem gleichnamigen Buch       musste ausgesetzt werden. Eine aktive Rolle im
    des Sportjournalisten Atilio Garrido. Mit manchen     Arbeitskampf spielte Obdulio Jacinto Varela, MU-
    Mythen und Legenden, die sich bis heute um            TUAL-Vizepräsident. Während des Arbeitskamp-
    den so genannten Maracanazo, den „Schock von          fes musste er wie auch andere seiner kickenden
    Maracaná“ ranken, räumen die beiden uruguayi-         Kollegen wieder auf dem Bau zur Schaufel grei-
    schen Dokumentarfilmer darin auf.                      fen, um sich über Wasser zu halten. Die Ausdauer
    Der Doku-Streifen wurde erstmals auf einer            der Streikenden wurde belohnt: Sie rangen den
    Groß-Leinwand im legendären Centenario-Sta-           Clubs einen Mindestlohn und eine fast vollständi-
    dion in Montevideo aufgeführt, dem Schauplatz         ge Vertragsfreiheit ab.
    der ersten Fußballweltmeisterschaft 1930, die der     Bald darauf begann sich die Celeste (die „Himmel-
    Gastgeber gewann. Sie ist ein Höhepunkt im früh       blaue“, wie das Nationalteam Uruguays genannt
    erfolgsverwöhnten Fußball des kleinen Landes          wird“) auf die WM in Brasilien vorzubereiten.
    (u.a. 1924 und 1928 Goldmedaille bei den Olym-        Spielerische Basis war das treffsichere Peña-
    pischen Spielen). Bei der Aufführung zugegen          rol-Team. Im schwarz-gelben Trikot von Peñarol
    war der 87-jährige Alcides Ghiggia, Schütze des       Montevideo war Obdulio die herausragende Fi-
    Siegtores zum 2 : 1 (er verdient bis heute Geld       gur. Doch der schwarze Mittelfeldspieler weiger-

                                                                                                LN-Dossier 10   13
te sich, in der Nationalelf zu spielen, solange ihm   wir unsere Aufgabe erfüllt“, meinte ein AUF-Dele-
      keine Arbeitsstelle im öffentlichen Dienst zugesi-    gierter. „Erfüllt haben wir unsere Aufgabe, wenn
      chert würde. Uruguay spielte ohne ihn schlecht,       wir Weltmeister werden“, entgegnete Obdulio.
      verlor Vorbereitungsspiele. Da machte sich der        Obdulios Mannschaft traf im entscheidenden
      Präsident Uruguays, Luis Battle Berres, auf den       Spiel auf die haushoch favorisierten Brasilia-
      Weg zum „Negro Jefe“. „Obdulio, reisen Sie nach       ner. Nach den Kantersiegen der Seleção gegen
      Brasilien!“, bekniete er den bockigen Star: „Wenn     Schweden und Spanien schien das Ergebnis fest-
      Sie zurückkommen, werden Sie Angestellter in          zustehen. Vergessen war, dass das Team vorher
      ‚Los Casinos‘ (staatliche Spielcasinos, Anm. d.       keineswegs überragend gespielt hatte. Brasilien
      Red.) sein.“ Im März 1950 streifte sich Obdulio       sei nicht unschlagbar, ahnte Schiaffino.
      erstmals wieder das himmelblaue Trikot der Ce-        Als am 16. Juli im mit 200.000 brasilianischen
      leste über.                                           Fans überfüllten Maracaná-Stadion das 1:0 für die
      Nur wenige glaubten an ein erfolgreiches Ab-          gefeierten Stars der Heimmannschaft fiel, schien
      schneiden im Nachbarland. Doch der Streik hatte       allerdings alles gelaufen. Doch Obdulio trieb seine
      unter den Auswahlspielern so etwas wie eine so-       Mitspieler nach vorne. Sie bäumten sich auf, zeig-
      lidarische Gemeinschaft geschmiedet, die sich im      ten garra (Kampfgeist): Die uruguayischen Spieler
      Laufe des Turniers zur schlagkräftigen Mannschaft     unterbanden zunächst mit Defensivspiel das ge-
      entwickelte. Die unbestrittene Führungsfigur war       konnte Passspiel der Gastgeber. Deren Torjäger
      ihr Kapitän Obdulio. Das Selbstvertrauen der Spie-    Ademir – er hatte bis dahin neun Tore im Turnier
      ler war groß, schreibt Buchautor Atilio Garrido.      erzielt – brachte keinen Ball im Netz unter. Die
      Weniger optimistisch waren einige AUF-Funktio-        Uruguayer kamen selber ins Spiel, sie wussten
      näre. Sie gaben keinen Pfifferling auf die eigene      um die Achillesferse der Seleção: eine schwache
      Elf: „Wenn sie uns keine vier Tore machen, haben      Verteidigung.

        Uruguay Colonia del Sacramento

                                                                                                                  Foto: Dan Gamboa Bohórquez (CC BY-NC 2.0)

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Foto: andrés dEAN, CC BY-NC-SA 2.0
  Uruguay San Gregorio de Polanco

Später verbreitete sich die Legende, die uruguayi-      männlicher und pfiffiger seien. Das „pfiffiger“ wur-
schen Balltreter hätten mit unfairem Foulspiel den      de gar zur „viveza criolla“, zur Schlitzohrigkeit, vere-
Gegner in die Knie gezwungen. Doch Schiaffino            delt. Die anderen opferten sich auf, rackerten sich
erinnert sich anders, der Spielbericht bestätigt ihn:   ab, „wir vertrauen auf die Improvisation“, hieß es.
Tatsächlich pfiff der Schiedsrichter nur sechs Mal       Der Triumph im Maracaná hat im kleinen Land am
Foul gegen Uruguay, aber elf Mal gegen Brasilien.       Rio de la Plata auch zu Selbstüberschätzung und zu
Die garra ist von vielen auch als vorsätzliches         einem Gefühl der Überheblichkeit gegenüber an-
Foulspiel missinterpretiert worden. Dieses wird         deren lateinamerikanischen Nationen beigetragen.
auch heute noch gelegentlich als „garra charrúa“        Überheblich und wenig großzügig zeigten sich
gelobt, womit gleichzeitig die ausgerotteten Ur-        nach dem Sieg die AUF-Oberen. Obdulio und Co
einwohner, das Volk der Charrúa, diskreditiert          mussten in den eigenen Reihen sammeln, um
werden. Tausende von Kindern, die im „babyfut-          sich ein Festessen leisten zu können: Sandwiches
bol“ ihren großen Idolen nacheifern versuchen,          und Bier. Die Verbandsbosse hatten keinen Peso
wurden und werden noch immer im Training zum            hinterlassen, aber sie rechneten sich den Erfolg
überharten rowdyhaften Spiel angehalten, vom            als eigenen an: Geplant war, den Funktionären in
Spielfeldrand von Eltern mit „Mach ihn fertig!“         Montevideo goldene Medaillen zu überreichen -
und „Leg ihn um!“ angefeuert. International             und den Weltmeistern silberne als „Mitarbeiter
hatte Uruguay über Jahrzehnte nicht zu Unrecht          des Sieges“. Der Plan verschwand jedoch schnell
den Ruf, besonders hart zu spielen. Erst seit dem       in der Schublade.
Amtsantritt von Óscar Washington Tabárez als Na-        Die erfolgreiche Mannschaft hat danach nie wie-
tionaltrainer im Jahr 2006 demonstriert Uruguay         der in der weltmeisterlichen Aufstellung zusam-
wieder seine spielerischen Qualitäten.                  mengespielt. Aber sie gilt bis heute als Maßstab.
Tatsächlich hatte Brasilien 1950 keine Supermann-       Uruguays Fußball musste fortan mit einem un-
schaft wie diejenige, die eines Tages mit dem           geheuerlichen Druck leben. „La historia manda“
Namen Pelé verbunden sein sollte. Die Celeste-          („Die Geschichte fordert es“), schwafeln bis auf
Spieler gewannen deswegen verdient: „Sie haben          den heutigen Tag nicht wenige uruguayische
besser als wir gespielt“, erkannte der brasiliani-      Sportreporter und meinen den WM-Sieg. Die
sche Starstürmer Zizinho neidlos an: „Tatsächlich       Messlatte, die die Helden von 1950 gelegt haben,
war uns die uruguayische Mannschaft überlegen.“         war dadurch für viele Jahre eher ein Stigma für
Dennoch kam ein weiterer Mythos auf: Die Ob-            ihre Nachfolger als ein Grund zum Stolz.
dulio-Mannen hätten gewonnen, weil sie mutiger,                                     // Karl-Ludolf Hübener

                                                                                                   LN-Dossier 10   15
IN DER HAND DER BARRAS
MAFIÖSE FANGRUPPEN BEHERRSCHEN ARGENTINIENS FUSSBALL

      Ultras – Fußballfans, für die ihr Verein der           können wir so mehr auf andere Aspekte der Si-
      Hauptlebensinhalt ist – sind mittlerweile              cherheit und Organisation achten”, begründete
      in vielen Ländern Teil der Fußballkultur. In           Eduardo Villalba vom Fußball-Sicherheitskomitee
      Argentinien organisiert sich ein großer Teil           diese Maßnahme. Schließlich hatte es im torneo
      von ihnen in den so genannten barras bra-              final, der Rückrunde im ersten Halbjahr 2013, wie-
      vas (Wilde Horden), die gewalttätig und so             der einige Tote gegeben – wie eigentlich immer in
      einflussreich sind, wie nirgendwo sonst. Sie            den letzten Jahrzehnten.
      kontrollieren Teile des Ticketverkaufs und             Dass die Aussperrung von Gästefans durchschla-
      sind daneben oft im Drogenhandel und in der            genden Erfolg haben wird oder auch nur durch-
      Schutzgelderpressung aktiv. Kein Funktionär            gesetzt werden kann, darf bezweifelt werden. In
      oder Spieler kann sich ihnen offen verwei-             Mendoza schafften es tausende Fans von Boca
      gern. Die Politik stellt sich dem Problem nur          Juniors in neutraler Kleidung ins Stadion zu kom-
      halbherzig oder arbeitet sogar mit den barras          men, um sich dort ihrer Obertextilien bis auf das
      bravas zusammen.                                       Trikot zu entledigen. Es blieb aber friedlich, eben-
                                                             so wie beim genannten clásico rosarino zwischen
      No se venden entradas para este encuentro. So-         Rosario Central und Newell´s im idyllisch am Rio
      lo para socios de nuestro Club.“ („Wir verkaufen       Paraná gelegenen Stadion des Heimteams. Nach
      keine Eintrittskarten für dieses Spiel. Nur an Mit-    dem Spiel wurde freilich gemeldet, dass Gabri-
      glieder unseres Vereins.“) Die Presseabteilung         el Aguirre, ein 13-Jähriger Fan im schwarz-roten
      von Rosario Central ist auf Zack. Die Anfrage, ob      Newell’s Old Boys-Trikot von in gelb-blauen Cen-
      ein Ticket für das nach dreijähriger Pause heiß        tral-Trikots gewandeten, mindestens siegestrun-
      ersehnte Stadtderby von Rosario käuflich zu er-         kenen Motorradfahrer_innen erschossen wurde.
      werben sei, wird postwendend mit diesem State-         Laut der Organisation Salvemos al Futbol (Retten
      ment abgebügelt. Auch die Anfrage nach journa-         wir den Fußball), einer argentinischen Nichtregie-
      listischer Akkreditierung bleibt erfolglos. Grund:     rungsorganisation, die sich 2006 gegründet hat,
      Die Akkreditierungsfrist für den Fußballklassiker      um aus der Zivilgesellschaft heraus mit friedli-
      zwischen dem gerade wieder aufgestiegenen              chen Mitteln die blutigen Ausschreitungen rund
      Rosario Central und dem Titelverteidiger Newell‘s      um den Fußball zu bekämpfen, war er das 279.
      Old Boys sei abgelaufen. Pech, aber kein Zufall,       Opfer fußballinduzierter Gewalt. Die Liste von
      denn Karten für Erstligaspiele gibt es in Argentini-   Salvemos al Futbol beginnt 1922 und ist am 27.
      en seit Kurzem nur noch für Heimfans. Die Angst        April 2014 bei Stand von 287 Todesopfern ange-
      vor Ausschreitungen zwischen Fangruppen unter-         langt, wobei die Organisation keinen Anspruch
      schiedlicher Vereine ist zu groß.                      auf Vollständigkeit reklamiert. Gabriel Aguirre
      Auswärtsfans in Argentinien sind seit Beginn des       war also nicht das letzte Opfer. Alleine seit Be-
      torneo inicial (Hinrunde) im August 2013 war offizi-    ginn der Gästefanaussperrung im vergangenen
      ell nicht mehr zugelassen. Damit wollen der Fuß-       August gab es elf Opfer tödlicher Gewalt. Für
      ballverband AFA und die argentinische Regierung        diese bedarf es oft keines besonderen Anlasses.
      der weit verbreiteten Gewaltkultur rund um den         Es kann reichen zur falschen Zeit am falschen
      Fußball Einhalt gebieten. „Auf diese Weise müs-        Ort das falsche Trikot zu tragen. Selbst in der Zeit
      sen wir wenige Polizisten einsetzen. Wir müssen        ohne Fußball-Lokalderby wurden im Dezember
      die Auswärtsfans nicht mehr zum Stadion eskor-         2013 in der, durch den Kokaintransithandel in-
      tieren, was sonst immer der Fall war. Vielleicht       zwischen waffenstrotzenden, Stadt Rosario zwei

16   LN-Dossier 10
34 und 39 Jahre alte Anhänger des Erstligisten    durch gegnerische Anhänger sondern infolge ei-
Newell‘s Old Boys im Auto von einem mit einem     nes Tränengaseinsatzes durch die Bereitschafts-
T-Shirt von Rosario Central bekleideten Mann      polizei zu Tode. In besagtem Jahr entstand im
vom Motorrad aus erschossen. Zuvor soll es zu     Umfeld des Traditionsclubs Racing Club Buenos
einem Streit zwischen dem Autofahrer und dem      Aires, dem Lieblingsverein des ehemaligen Präsi-
Täter gekommen sein. Allerdings können auch       denten Néstor Kirchner, mit La Guardia Imperial,
Ergebnisse von Spielen Einfluss auf tödliche       die erste barra brava, die bis heute einflussreich
Ausschreitungen haben. So ermordeten 1994         ist. Seitdem bauten die „Wilden Horden“ ihre
zwei barrabravas von Boca Juniors zwei Kon-       Macht aus. Romero, der die Gewaltkultur in sei-
trahenten vom Erzrivalen River Plate, nachdem     nem Standardwerk Muerte en la Cancha (Tod im
der vorangegangene superclásico zwischen den      Stadion) beleuchtet hat, beschreibt zweierlei Ar-
beiden populärsten Mannschaften Argentiniens      ten von Gewalt beim Fußball in Argentinien. Ein-
0:2 ausgegangen war. „Empatamos – Wir haben       mal die spektakuläre an Spieltagen, im Stadion,
ausgeglichen“ lautete ihr lakonisch-zynischer     mit Flaggen, Gangs und Messern. Und dann die
Kommentar. Ganz normaler Fußballwahnsinn in       zweite Form zwischen den Spielen: Gewalt und
Argentinien, wenngleich Mord die Spitze der Ge-   Erpressungen, meist gegen Spieler. Aber auch
walt darstellt und nicht alltäglich ist.          hin und wieder gegen Vereinsfunktionär_innen,
Der Begriff barra brava ist neueren Datums und    so sie nicht bereit sind, kostenlosem Einlass für
geht auf den Publizisten Amilcar Romero zurück,   die barras zuzustimmen, ihnen Ticketkontigente
der ihn 1958 im Zusammenhang mit dem ge-          zum Weiterverkauf zur Verfügung zu stellen und
waltsamen Tod des River-Anhängers Alberto Lin-    Auswärtsfahrten zu finanzieren. In der Regel
ker erstmals benutzte. Der kam allerdings nicht   sind die Funktionär_innen aber willig. Ob und

 Argentinien Resistencia

                                                                                                  Foto: Torben Ibs

                                                                                       LN-Dossier 10                 17
wie freiwillig ist dabei schwer auszumachen           Anhängerin, ich war Ehefrau eines fanatischen
      und wohl auch uneinheitlich. „Es gibt drei wich-      Racing-Fans und bin Mutter eines fanatischen
      tige Faktoren beim Fußball: Gewalt, Informatio-       Anhängers.“ Das schlägt sich auch in der Politik
      nen und Geld. Die barras bravas haben Gewalt          nieder: 2009 kaufte der staatseigene Sender TV
      und Informationen. Die Vorstände haben Geld“,         Pública dem Fußballverband AFA die TV-Rechte
      beschrieb Romero gegenüber dem britischen             für 110 Millionen Euro ab. Statt Pay-TV gibt es
      Journalisten Simon Kuper den Zusammenhang.            jetzt alles frei empfangbar, oft auf mehreren Ka-
      Wenn ein Spieler bei Vertragsverhandlungen            nälen gleichzeitig – an jedem Spieltag von Frei-
      zickt, bringen ihn nicht selten die barras auf Vor-   tag bis Montag 900 Minuten lang, unterlegt mit
      standsgeheiß zur Einsicht. Sei es „nur“ mit der       politischer Werbung für den Kirchnerismo. Futbol
      Drohung, pikante Informationen über seinen Le-        para todos (Fußball für alle) sorgt auf alle Fälle für
      benswandel zu veröffentlichen oder mit direkter       Pluspunkte bei der Bevölkerung.
      Gewalt gegen des Spielers Eigentum, ihn selbst        Für eine andere Aktion gilt das weniger. Ein Jahr
      oder seine Familie.                                   vor der Weltmeisterschaft in Südafrika wurden
      Wer sich der Vettern- und Basenwirtschaft ver-        die Hinchadas Unidas Argentinas (Vereinte Fan-
      weigert, bekommt gewaltige Probleme. Jorge            gruppen Argentiniens) gegründet. Die in der HUA
      Rinaldi, der Ende der 1980er Jahre bei Boca Ju-       zusammengeschlossenen barrabravas gaben als
      niors spielte, machte seine Erfahrung öffentlich.     offizielles Ziel aus, genau das zu bekämpfen, was
      Er hatte einer Einladung zu einem Spieleressen        für viele ihrer Mitglieder bis vor kurzem noch ein
      durch La Doce (der zwölfte Spieler), die mächtigs-    einträgliches Geschäft war: die Gewalt in den
      te barra brava des Vereins, nicht Folge geleistet.    Stadien. Da sie von Marcel Mallo, einem regie-
      „Jedes Mal, wenn ich danach den Rasen betrat,         rungsnahen Basispolitiker, angeführt wurden,
      wurde ich von den barras mit einer Flut von Ver-      vermuteten viele Argentinier_innen einen Deal:
      wünschungen begleitet. Es war als wäre ich einer      Unterstützung im Wahlkampf für die Kirchners ge-
      der meistgehassten Feinde und nicht einer, der        gen Freiflüge nach Südafrika. Doch dieser Schuss
      die Farben des Vereins verteidigt, den sie behaup-    ging für die barrabravas nach hinten los: Dort an-
      ten zu lieben.“ Rinaldi blieb nur der Vereinswech-    gelangt, wurde ein Teil von ihnen als karteigeführ-
      sel als Ausweg.                                       te Gewalttäter direkt im nächsten Flugzeug nach
      Der Boss von La Doce war lange Zeit Rafael Di         Argentinien zurückgeschickt – darunter einer, der
      Zeo. Er gab Autogramme, verkehrte in den hohen        wegen versuchten Mordes auf Bewährung war.
      Kreisen der Stadt. Der amtierende Bürgermeister       Die Regierung selbst stellt eine Zusammenarbeit
      von Buenos Aires, Mauricio Macri, war von 1995        in diesem Fall und generell jede Art von Deals mit
      bis 2007 Präsident von Boca Juniors und gelang-       der HUA in Abrede. Mallo steht allerdings inzwi-
      te so zu Bekanntheit, die ihm den Weg zur politi-     schen in der zweiten Reihe, die repräsentative
      schen Karriere ebnete. 2007 wurde di Zeo zu vier      Spitze der HUA hat nun eine Frau übernommen,
      Jahren und drei Monaten Haft verurteilt, weil er      die Anwältin Débora Hamba.
      1999 während eines Freundschaftsspiels verant-        Die Frau an der Spitze von Salvemos al Futbol
      wortlich für einen brutalen Angriff auf Fans des      füllt ihr Mandat dagegen nicht nur repräsenta-
      gegnerischen Clubs Chacarita Juniors war. Dank        tiv aus. Mónica Nizzardo, die die Organisation
      seiner guten Beziehungen mangelte es ihm im           gegründet hat, forderte die Fans auf, Fälle von
      Gefängnis jedoch an nichts. Boca-Spieler schenk-      Gewalt und Korruption anzuzeigen. So, wie sie
      ten ihm einen Plasma-Fernseher für seine Zelle,       es selbst in ihrer Zeit als Pressesprecherin bei
      Vereinsrekordtorschütze Martín Palermo besuch-        einem Drittligisten einmal getan hat – und ohn-
      te ihn im Knast.                                      mächtig mit ansehen musste, wie die Polizei
      Auch Argentiniens Präsidentin Cristina Fernández      nichts unternahm. Danach beschloss sie 2006,
      de Kirchner steht nicht gerade im Ruf, trennscharf    die Organisation zu gründen. Ende 2012 zog sie
      zwischen barrabravas und gewaltlosen, leiden-         sich frustriert zurück. Die Organisation ficht mit
      schaftlichen Fans zu differenzieren. In der Diskus-   Liliana Marta Suárez an der Spitze weiter: In der
      sion um die Sicherheit rund um den Fußball äu-        argentinischen Gemengelage ein Kampf, der je-
      ßerte sie 2012: „Ich möchte nicht von barrabravas     de Anerkennung verdient.
      sprechen, denn ich bin Tochter einer fanatischen                                          // Martin Ling

18   LN-Dossier 10
WENN EINER EINEN CONDORO BAUT
INTERVIEW MIT CONSTANZA SILVA LIRA ÜBER DIE ROLLE DES FUSSBALLS IN CHILE

    Ein Nationalstadion als Folterstätte, ein Spiel
    ohne Gegner und ein Torwart, der sich selbst           CONSTANZA SILVA LIRA
    verletzt: Chiles Fußball ist reich an Absonder-        ist Lateinamerikanistin und lebt in Berlin. Nach
    lichkeiten. Ein Gespräch mit der Zeitzeugin            dem Putsch in Chile emigrierte sie 1974 mit ihrer
    Constanza Silva Lira (siehe Kasten) über die           Mutter nach Deutschland. 1980 kehrte sie allein
    Bedeutung des Fußballs in Chile zu Zeiten der          nach Chile zurück, um dort 1989 die Schule zu be-
    Diktatur und generell.                                 enden. Heute arbeitet sie als Referentin des Glo-
                                                           balen Lernens vor allem an Schulen.
    Was spielt Fußball in Chile für eine Rolle?
    Fußball ist wahnsinnig wichtig. Dadurch fallen lei-
    der alle anderen Sportarten fast komplett unter        trotzdem angepfiffen. Und Carlos Caszely hat ein
    den Tisch. Fußball ist auch die einzige Sportart,      Tor geschossen. Er rannte und schoss ein Tor -
    über die im Fernsehen berichtet wird. Höchstens        und dann wurde abgepfiffen. Das war eine ziem-
    noch ein bisschen Tennis, weil wir einige gute         lich absurde Geschichte, denn so hat sich Chile für
    Tennisspieler haben. Wenn Chile an einem inter-        die WM 1974 qualifiziert. Und es war symbolisch
    nationalen Fußballturnier teilnimmt, dann wird das     für die internationale Isolation Chiles während der
    überall übertragen, alle sprechen darüber. Oder        Militärdiktatur.
    man trifft sich und sieht sich das Spiel zusammen
    an. Und wenn Chile an der WM teilnimmt, dann           Carlos Caszely war einer der Spieler, die als
    ist das eine wirklich große Sache. Ich kann mich       Gegner Pinochets galten. Welche Erinnerun-
    noch gut an den Tag erinnern, als sich Chile für die   gen an ihn haben Sie?
    WM 1982 qualifizierte, mitten in der Diktatur. Als      Ich habe selbst sein Abschiedsspiel 1984 im Na-
    die Mannschaft das Qualifikationsspiel in Santia-       tionalstadion miterlebt. Caszely stand politisch
    go de Chile gewonnen hatte, kamen wir gerade           links, das wussten alle. Seine Mutter wurde nach
    vom Land zurück. Auf den Straßen rannten lauter        dem Putsch verhaftet und er selbst ist von 1973
    Menschen, die Fahnen schwenkten und ich dach-          bis 1978 nach Spanien emigriert und hat dort ge-
    te: „Huch, ist Pinochet jetzt gefallen oder was?“      spielt. Wir sind alle zu seinem Abschiedsspiel ins
    Aber es war nur die WM-Qualifikation.                   Nationalstadion gegangen, aber eigentlich nicht
                                                           so sehr, weil wir uns für Fußball interessierten,
    Stichwort Fußball in der Diktatur – ist es den         sondern weil die linken Parteien, die Schüler- und
    Militärs gelungen, den Fußball für sich zu ver-        Jugendorganisationen dazu aufgerufen hatten.
    einnahmen?                                             Die ganze Schülerbewegung war dort, und hat mit
    Naja, es war komplizierter. Das Nationalstadion        Fahnen und Sprechchören gegen die Diktatur pro-
    wurde ja nach dem Putsch zu einem Ort, an dem          testiert. Das Stadion war voll, es war eine super
    viele tausend politische Gefangene interniert          tolle Stimmung: Unten wurde Fußball gespielt und
    waren. Von September bis November waren die            wir haben gegen die Diktatur geschrien! Das Spiel
    Gefangenen dort, direkt im Stadion wurde auch          wurde ganz klar ein Protest gegen die Regierung.
    gefoltert. Aber dann stand das WM-Qualifikati-          Caszely hat bei seinem Abschied ziemlich viele To-
    onsspiel zwischen Chile und der Sowjetunion an,        re geschossen, aber auch einen Elfmeter versem-
    dafür musste das Stadion geräumt werden. Die           melt, worüber wir viele Witze gemacht haben. Als
    Sowjetunion ist aber aus Protest gegen die Dik-        das Spiel zu Ende war, wartete draußen die Polizei
    tatur und die Folterungen nicht angetreten. Das        auf uns, soweit ich mich erinnern kann, auch mit
    heißt, Chile hat alleine gespielt, das Spiel wurde     Tränengas. Wir sind dann ziemlich schnell wegge-

                                                                                                  LN-Dossier 10   19
Foto: esfema, CC BY NC ND 2.0
        Chile Valparaíso

      rannt, damit sie uns nicht verhaften, was mir auch   weiter zu machen, weil ihre Sicherheit gefährdet
      geglückt ist. Wir haben solche Momente immer         sei. Das Spiel wurde dann abgepfiffen. Aber als
      genutzt, damit die Medien auf uns aufmerksam         man später die Videoaufzeichnungen von dem
      wurden. Natürlich haben sie in dem Sinne berich-     Spiel angesehen hat, konnte man sehen, dass
      tet, dass „subversive Elemente“ im Stadion Ran-      der Feuerwerkskörper den Torwart gar nicht be-
      dale gemacht hätten.                                 rührt hatte. Irgendwann hat er gebeichtet, dass
                                                           er selbst eine Rasierklinge dabei hatte und sich
      Gab es auch Fußball-Skandale in Chile, so wie        selbst eine Wunde zugefügt hat, die stark blutete.
      in anderen Ländern?                                  Das alles war von der Mannschaft so geplant wor-
      Der größte Skandal betraf den Torwart Roberto        den: Wenn sie dabei wären zu verlieren, wollten
      Rojas, dessen Spitzname „Cóndor“ war. Er hat         sie erreichen, dass das Spiel abgebrochen und
      beim WM-Qualifikationsspiel 1989 gegen Brasi-         wiederholt würde. Tatsächlich wurde die chileni-
      lien im Maracanã einen ziemlich großen Fehler        sche Mannschaft für die WM von 1990 und 1994
      gemacht. Chile musste gewinnen, lag aber gegen       gesperrt. Und seitdem, bis heute noch, sagt man:
      Ende des Spiels 0:1 zurück. Da fiel der „Cóndor“      „Te mandaste un Condoro“, wenn Du einen Fehler
      plötzlich zu Boden und blutete. Er behauptete,       gemacht hast. Oder „Condorito“, wenn Du Mist
      dass ihn gerade ein Feuerwerkskörper getroffen       gebaut hast. Das ist in die Umgangssprache ein-
      hätte. Daraufhin hat die chilenische Mannschaft      gegangen.
      sofort aufgehört zu spielen und sich geweigert                              // Interview: Claudia Fix

20   LN-Dossier 10
BLACK POWER VOM
RIO CHOTA
DER SPORTLICHE UND GESELLSCHAFTLICHE AUFSTIEG SCHWARZER FUSSBALLSPIELER
VERLÄUFT IN ECUADOR RASANT

    Zu den Anfangszeiten des Fußballs in Ecu-            dessen Lage in 2.800 Meter Höhe darstellt, zu
    adors spielten schwarze Spieler kaum eine            Nutze machen. Mit Erfolg: Die Punktausbeute
    Rolle. Heute hingegen wäre das National-             verbesserte sich erheblich, die Beschwerden der
    team ohne die Afro-Ecuadorianer nicht kon-           gegnerischen Teams konnten als Auszeichnung
    kurrenzfähig. Eine Besonderheit ist auch die         verstanden werden.
    geographische Herkunft der Spieler.                  Bereits vorher hatte Dusan Draskovic, ein mon-
                                                         tenegrinischer Trainer-Stratege, der 1988 nach
    Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Fußball in    Ecuador gekommen war, um eine langanhaltende
    Ecuador an die Tür klopfte, dachten nur wenige,      Laufbahn mit Nationalteams zu beginnen, einen
    dass die ruhmreichsten Momente dieses Sports         Kampf gegen den tief verwurzelten Regionalis-
    von Afro-Lateinamerikanern erreicht werden wür-      mus eingeleitet. Aus diesem Grund hatte man
    den. Nicht nur, weil die Schwarzen in Ecuador in     jahrzehntelang zwei verschiedene Nationalteams
    den Anfangsjahren des Fußballs keinen großen         für offizielle Spiele zusammenstellen müssen: Ei-
    Gefallen daran fanden. Auch diejenigen, die ihn      nes mit Spielern von der Küste, das hauptsächlich
    spielten, waren eher Ausländer, die auf der Durch-   aus Fußballern von Barcelona und Emelec aus
    reise an den Küsten des Landes vorbeikamen.          Guayaquil bestand. Und eines mit Spielern aus
    Selbst als die Professionalisierung des ecuado-      dem Hochland, in dem vor allem Spieler von El
    rianischen Fußballs begann, spielten nur wenige      Nacional, Deportivo Quito, Aucas und Liga De-
    Afro-Lateinamerikaner in den Klubs. Erst nach        portiva Universitaria in den Spielen in Quito auf-
    und nach kamen sie dazu, und in einigen Städ-        liefen.
    ten verlief diese Entwicklung sehr langsam. Uli-     Ein weiteres Ereignis spielte für die Entwicklung
    ses de la Cruz, einer der prominentesten Spieler     und das Selbstverständnis des ecuadorianischen
    der ecuadorianischen Fußballgeschichte, erzählt      Nationalteams eine entscheidende Rolle, obwohl
    vom Argwohn ihm gegenüber, als er beim Klub          man selbst gar nicht direkt beteiligt war. Am 5.
    Liga Deportiva Universitaria zu spielen begann,      September 1993 gelang dem kolumbianischen
    weil „zu dieser Zeit ‚die Weißen‘ bei Liga spielen   Fußball-Nationalteam eine der spektakulärsten
    sollten“. Da schrieb man übrigens bereits das Jahr   Heldentaten im Weltsport: Unter dem Trainer
    1997.                                                Francisco Maturana brachte man dem zweimali-
    Zu diesem Zeitpunkt befand sich das ecuadoria-       gen Weltmeister Argentinien durch ein überwälti-
    nische Nationalteam in einem Match gegen die         gendes 5:0 im Estadio Monumental von Buenos
    eigenen Vorurteile. Der Fußballverband, geleitet     Aires in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft
    vom unvergessenen Galo Roggiero, hatte den           in den USA eine unvergessliche Erniedrigung bei.
    kolumbianischen Ex-Nationaltrainer Francisco Ma-     Namen wie Faustino Asprilla, Freddy Rincón,
    turana beauftragt, ein „Team für alle“ aufzubauen.   Adolfo Valencia und andere brachten schwarze
    Es wurde eine der bedeutendsten Entscheidun-         Lateinamerikaner auf das Parkett des großen Fuß-
    gen für den Erfolg des ecuadorianischen Fußballs     balls, so dass dieses Team zum Mitfavoriten für
    getroffen: Die Nationalmannschaft sollte sechs ih-   den WM-Sieg 1994 aufstieg.
    rer acht Heimspiele der WM-Qualifikation in Quito     Obwohl Namen schwarzer Kicker wie der Brasi-
    austragen und sich den Wettbewerbsvorteil, den       lianer Pelé oder der Portugiese Eusebio bereits

                                                                                                LN-Dossier 10   21
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