Albert Speer - Verlag Ferdinand Schöningh
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Albert Speer
Wolfgang Schroeter Albert Speer Aufstieg und Fall eines Mythos 2019 Ferdinand Schöningh
Der Autor: Wolfgang Schroeter ist als Historiker und Pädagoge in der historisch-politischen Bildungsarbeit tätig. Mit Albert Speer befasst er sich seit langem und wurde aufgrund einer Studie zu dessen Rezeption an der Frei- en Universität Berlin promoviert. Umschlagabbildung: Arbeit am Mythos: Albert Speer am 24. November 1945 in seiner Zelle im Zeugenflügel des Nürnberger Stadtgefängnisses zur Zeit des Hauptprozesses vor dem Internationalen Militärtribunal (ullstein bild – Chronos Dokumentarfijilm GmbH) Bibliografijische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografijie; detaillierte bibliografijische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2019 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.schoeningh.de Einbandgestaltung: Nora Krull, Bielefeld Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-506-78913-6 (hardback) ISBN 978-3-657-78913-9 (e-book)
Für meinen Vater Gabriel Schroeter, mit dem ich es gerne diskutiert hätte. ∵
Inhaltsverzeichnis Einleitung: Konturen eines Mythos aus der Perspektive der Generationen ....................................................................................................... 1 1 Speers Mythologisierung seiner „Leistungen“ im „Dritten Reich“ ..................................................................................................................... 15 Herkunft und Epoche ......................................................................................... 15 Faust und sein Mephisto – zwei Generationen des Nationalsozialismus............................................................................................ 20 Ein „apolitischer Künstler“ als Architekt der Gigantomanie ................... 31 Der Technokrat des „Rüstungswunders“ und Modernisierer Deutschlands ........................................................................................................ 42 Die Erinnerungen: Denkmal der „Leistungen“ ohne Verbrechen ........... 52 Anmerkungen....................................................................................................... 63 2 Der Mythos des „guten“ Nazis ........................................................................ 83 Ausblendungen: Holocaust, Hungerplan und Zwangsarbeit .................. 83 Speers Krise und „Widerstand“ 1944/45 ......................................................... 89 Nürnberger Prozess: Verantwortung ohne eigene Schuld und Wissen? .......................................................................................................... 100 Reue zeigen und überleben: Die Spandauer Tagebücher ......................... 106 Das Spätwerk Der Sklavenstaat: Schuldabwälzung auf Himmlers SS .......................................................................................................... 116 Anmerkungen....................................................................................................... 123 3 Entlastung: Speer als Mythos der Täter- und Flakhelfergeneration ........................................................................................ 139 Eine „skeptische Generation“ im Zeichen des „Wirtschaftswunders“ ......................................................................................... 139 Hintergründe: Die juristische und politische Aufarbeitung der NS- Verbrechen 1945–1957......................................................................................... 146 Wie man sich selbst entlastet: NS und „saubere Wehrmacht“ in der populären Kultur der Nachkriegszeit ..................................................... 150 Die frühe Heroisierung Speers 1944–1966..................................................... 158 Die Glorifijizierung Speers als „Zeitzeuge“...................................................... 167
viii Inhaltsverzeichnis Die moralische Legitimation Speers durch Emigranten.......................... 174 Kleine Anfänge der Kritik ................................................................................ 182 Psychologisierung und Moralisierung: Serenys Speer-Biographie ........ 189 Arbeit am Mythos: Fests konservative Verteidigung des Bürgertums ........................................................................................................... 198 Anmerkungen...................................................................................................... 208 4 Späte Entzauberung: Speer und die „68er“ ............................................... 229 „68er“ und „Post68er“ ........................................................................................ 229 Prozesse und Proteste gegen die alten NS-Eliten ....................................... 234 Von Hannah Arendt zu Mitscherlich und Wildt: Deutungen und Typologien der Täter .......................................................................................... 235 Mediale Wende zu den Opfern: Die TV-Serie „Holocaust“ ...................... 244 Vom Echoraum zur ersten Entmythologisierung ...................................... 247 Die achtziger Jahre: Weitere Kritik durch neue Quellenfunde .............. 260 Autoren der Entmythologisierung 1997–2015 ............................................. 266 Von der radikalen Dekonstruktion zur Skandalisierung des Mythos: 2004–2017 ............................................................................................. 275 Anmerkungen...................................................................................................... 284 5 Zwischen Erinnerungskultur und Medialisierung: Speer und die Enkelgenerationen .................................................................................... 301 Die „Generation Golf“ und die Wiedervereinigung .................................. 301 Letzte NS-Prozesse und die Etablierung der Erinnerungskultur .......... 303 Kontroverse Deutungen der NS-Zeit ............................................................. 305 Die Medialisierung des NS und Speers popkulturelles Fortleben in Film und TV ..................................................................................................... 312 Weitere Verschärfung der Kritik durch Historiker, Gedenkstätten und Ausstellungen.............................................................................................. 324 „Generation 89“: Die postmoderne Ironisierung und Virtualisierung der NS-Zeit .............................................................................. 330 Anmerkungen...................................................................................................... 337 Epilog: Was von Albert Speer blieb.............................................................. 349
Inhaltsverzeichnis ix Bildteil ................................................................................................................... 361 Danksagungen .................................................................................................... 371 Literaturverzeichnis ......................................................................................... 373 Personenregister ................................................................................................ 409
Einleitung Konturen eines Mythos aus der Perspektive der Generationen Fast vierzig Jahre nach seinem Tod drängt sich der gleiche Eindruck auf wie bereits 1966 nach seiner spektakulären Entlassung aus zwanzigjähriger Haft – Speer ist wieder da. Gewichtige Pressekonferenzen, Zeitungsartikel und Fern- sehberichte künden von seiner Wiederkehr in die Öfffentlichkeit.1 Doch etwas ist anders. Damals wirkten seine Erzählungen wie eine orientalische Legende, in der sich „nach zwanzig Jahren der Überlebende aus einer Gruft erhebt und sagt, er sei dabei gewesen“, auf dem Berghof, im Teehaus und im brennenden Berlin.2 Dagegen signalisieren die aktuellen Biographien, vor allem der Best- seller von Magnus Brechtken, seine komplette, öfffentliche Entzauberung – die Auffforderung der Kuratoren der Nürnberger Speer-Ausstellung zur Rückgabe seiner Schriften sogar seine Skandalisierung.3 Wie konnte es nach dem so lang- anhaltenden Aufstieg seines Mythos zu einem so tiefen Fall kommen? Noch ein Jahrzehnt zuvor war die öfffentliche Meinung über ihn gespalten gewesen. Wie die 2005 zu seinem hundertsten Geburtstag mit großem Auf- wand ausgestrahlte TV-Serie „Speer und Er“ und deren Rezensionen und Medienberichte zeigten, waren weiterhin viele der in seinen Bestsellern4 milli- onenfach verbreiteten Mythen als Popkultur im kommunikativen Gedächtnis präsent. Hier dominierte noch der „apolitische Künstler“ und Architekt, der für seinen „Fastfreund“ Hitler in Rekordzeit monumentale Bauten wie das Nürn- berger Reichsparteitagsgelände und die Neue Reichskanzlei errichtet und noch weitaus monumentalere geplant hatte. Zufällig in das Amt des Rüstungs- ministers gekommen, steigerte er die Wafffenproduktion des „Dritten Reichs“ um ein Vielfaches und gewann damit fast den Krieg, wollte aber nichts vom Jahrhundertverbrechen des Holocaust gewusst haben, geschweige denn daran beteiligt gewesen sein. Im Gegenteil hatte er „Widerstand“ gegen Hitlers verbre- cherische „Nerobefehle“ geleistet und vielleicht sogar ein Attentat auf seinen „Führer“ geplant. Denn er war – so sein Zentralmythos – der unschuldige, vom dämonischen Hitler Verführte, der diesem Teufel seine Seele verkauft hatte. Zu gern wurden diese Mythen immer noch von Teilen der Bevölkerung geglaubt, da sie dadurch auch selber entschuldet wurden, selbst wenn Historiker diese Behauptungen schon früher komplett entkräftet hatten. Doch wie so häufijig wurden deren Fachdiskussionen und Kommentare auch bei „Speer und Er“ in einem separaten Teil zu später Sendezeit vor wenigen Zuschauern gezeigt. Insofern steht Speers Gesamtmythos in seinen verschiedenen Ausprägun- gen vom Faust, der den Teufelspakt geschlossen hatte, vom „guten, bereuenden © VERLAG FERDINAND SCHÖNINGH, 2019 | doi:10.30965/9783506789136_002
2 Einleitung Nazi“5, vom „Engel, der aus der Hölle kam“6 stellvertretend für die Beziehung der Deutschen zu Hitler und zum Nationalsozialismus, die sich im Laufe der Nachkriegszeit stark gewandelt hat und zu einer „zweiten Geschichte des Nationalsozialismus“ geworden ist.7 Der Faustmythos diente geradezu als Gründungs- und Nationalmythos der jungen Bundesrepublik, weil er das Dia- bolische Hitlers und damit auch die „Verstrickung“ in den Nationalsozialismus zu erklären schien.8 Speer schuf und verkörperte beide Pole des Faustmythos: Auf der einen Seite war er der erfolgreiche Machtmensch und Techniker, der für den Erfolg seine Seele verkauft hatte. Doch war er auf der anderen Seite auch der in Schuld verstrickte, durch seine lange Inhaftierung grüblerische, zeitweise in Depressionen verfallene Zweifler, der nach seiner Freilassung bei aller Souveränität doch verklausulierend und stockend seine Reue als NS-Täter auszudrücken versuchte. Und wenn der mächtige Rüstungsminister nichts vom Holocaust gewusst hatte, dann konnte auch die Generation der einfachen Kriegsteilnehmer dies nicht und fühlte sich damit exkulpiert, selbst wenn die nächste Generation ihr nicht glaubte. Doch jede Generation wollte und mach- te sich ein neues Bild von Speer.9 Denn einerseits berichtete Speer, lange bevor der Begrifff populär wurde, als hochrangigster, wohlinformierter und an Entscheidungen mitbeteiligter „Zeitzeuge“ aus den Führerhauptquartieren; andererseits kritisierte er zugleich die – ihm damals angeblich unbekannte – dunkle Seite des Nationalsozialis- mus. Mit seinem plötzlichen Tod 1981 kam er seiner eigenen Entmythologi- sierung zuvor10, bevor seine heruntergespielte Verantwortung für das Leid der Zwangsarbeiter, die Baugenehmigung für Auschwitz-Birkenau, seine Beteiligung an der Vertreibung der Berliner Juden in Fachkreisen bekannt wurde.11 Stattdessen festigten Gitta Serenys Bestseller Albert Speer und das deutsche Trauma (1995) und die ebenso erfolgreiche Biographie seines Lek- tors Joachim Fest von 1999 in der breiten Öfffentlichkeit weiterhin sein Bild als bereuender, persönlich integrer Nationalsozialist und dienten der Entlastung der Kriegsgeneration.12 Damit stellt sich die bislang weitgehend unerforschte Frage nach der Rezeption der Mythen Albert Speers vor dem Hintergrund des Umgangs mit dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland.13 In diesem Buch soll der Wandel des Bildes und der Wirkung von Albert Speer in der Öfffentlichkeit aus dem neuen Blickwinkel der verschiedenen Generati- onen untersucht werden. Der Forschungsstand zu Speer ist bereits sehr fortgeschritten. 24 Regalmeter Aktenbestände aus Speers persönlichem Nachlass inklusive seiner umfangrei- chen Korrespondenz und den aus seiner Spandauer Haft herausgeschmug- gelten 20.000 Blatt, die von seinem Studienfreund und Chronisten Rudolf Wolters gesammelt und in maschinenschriftlichen Abschriften archiviert wurden, befijinden sich im Bundesarchiv in Koblenz. Ebenfalls umfangreiche
Einleitung 3 Aktenbestände des Ministeriums und seiner Planungs- und Bautätigkeit lagern in Berlin-Lichterfelde. Weiteres Hintergrundmaterial wurde nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Öfffnung der Moskauer Archive gefunden sowie in Prag speziell zu Speers Genehmigung des Ausbaus von Auschwitz-Birkenau zum Vernichtungslager.14 Es liegen gut recherchierte Dokumentationen und Interviewsammlungen von Heinrich Breloer über Speers Umfeld vor.15 2015 veröfffentlichte der Kanadier Martin Kitchen eine Lebensbeschreibung Speers, 2017 gefolgt von der auf intensiven Archivrecherchen basierenden großen Bio- graphie Magnus Brechtkens, die den aktuellen Forschungsstand darstellt und auch Speers großen eigenen Anteil an seiner Mythologisierung hervorhebt, vielleicht aber doch – wie noch zu zeigen ist – zu eindeutig in ihrer ideolo- giegetriebenen Kausalität ist.16 Anstelle dieser Vielzahl an Biographien über Speer fordert Kim Christian Priemel einen „innovativen“ Ansatz, der über die reine Dekonstruktion von Speers Mythengeflecht hinausgeht und begründet, „wie erfolgreich Speers Autosuggestion war“.17 Deshalb analysierte Isabell Trommer jüngst in ihrer Studie Rechtfertigung und Entlastung. Albert Speer in der Bundesrepublik die Rezeptionsgeschichte Speers, jedoch ohne den hier ver- wendeten Generationenansatz, der diese erst erklärt.18 Denn trotz einer breiten Literatur über die Person Albert Speers, in der ihn die Erlebnisgeneration unter dem dominanten Einfluss seiner Selbst- darstellungen bis zu seinem Tode heroisierte und sich mehr auf die Frage nach seinem Wissen von den NS-Verbrechen als nach seiner aktiven Betei- ligung daran konzentrierte19, wurden seine Mythen erst durch die folgende Generation decouvriert, ohne jedoch sofort eine Skandalisierung zu bewir- ken. Zur Mitverantwortung für den Holocaust kamen die Aufdeckung persön- licher Arisierungsgewinne20, Teilhabe am Kunstraub21 sowie weit über das veröfffentlichte Maß hinaus erzielte Architektenhonorare und Provisionen.22 Schließlich reduzierte sich auch der Mythos seines Organisationsgenies beim Bau der Reichskanzlei und der seines Anteils am „Rüstungswunder“.23 Auch die Rollen der einzelnen Ministerien und Institutionen des „Dritten Reichs“ sowie der Industrie und ihre Beteiligung an der Zwangsarbeit wurden ausge- leuchtet.24 Weiterhin werden seit einigen Jahren Speers Mitarbeiter und ihre verbrecherischen Aktivitäten im Auftrag ihres Chefs genauso untersucht wie Speers umfassende mediale Darstellung seiner Erfolge bereits zu NS-Zeiten.25 Dennoch blieb sein populärer Mythos gleichsam parallel weiter bestehen und wurde durch mediale Darstellungen wie den großen Kinofijilm „Der Untergang“ zeitweise eine Ikone der Popkultur. In Bezug auf Speer und seine vorgeblich so positive Rolle im„Dritten Reich“ wurde der Begrifff „Mythos“ häufijig gebraucht, ganz plakativ 1982 durch Matthias Schmidt, der vom „Ende des Mythos Speers“ schrieb, dabei aber den Begrifff weder defijinierte noch für eine Analyse handhabbar machte.26 Schmidt ging es
4 Einleitung um die Dekonstruktion des Speerschen Mythos und den Nachweis, dass dieser selber dessen „Architekt und Organisator“ war:27 Die Geschichtsschreibung wird sich auf Dauer nicht mit jenem Bild zu- frieden geben wollen und können, das Albert Speer von sich gezeichnet hat: zuviel ist Legende, ja Mythos, zuwenig historische Wahrheit!28 Deshalb möchte ich in diesem Buch untersuchen, wie und mit welchen Helfern Speer sein Selbstbild manipulierte und in einen wirkmächtigen Mythos ver- wandelte. Es geht darum, zu erkennen, welche Struktur dieser Mythos besitzt und wie er entzaubert wurde. Der heute inflationär benutzte Begrifff Mythos umfasst mehrere Aspekte: In ihm wird die Vergangenheit durch eine emotio- nale Weitergabe mittels Erzählungen in der Gegenwart als Orientierungskraft für die Zukunft etabliert. Durch die Überlieferung von einer Generation zur nächsten erfolgt so eine emotionalisierte Aneignung der Vergangenheit, aber auch deren Veränderung bis hin zur Fälschung.29 Grundsätzlich beinhaltet der Speer-Mythos – ob in der Ausprägung als Faustmythos oder als „Engel, der aus der Hölle kam“ – immer den positiven Pol der „Leistungen“ und die verborgene negative Seite des „Nazis“, wenn auch des „guten“. Dabei unterlag Speers Mythos bei aller Konstanz und Beharrlichkeit durchaus einer Dynamik. Nachdem in der breiten Öfffentlichkeit seine behaup- tete Unschuld akzeptiert worden war, begann er nach und nach die Bedeutung seiner Architekturplanungen, seine Distanz zu Himmler und dessen SS sowie seine angebliche Nähe zum Widerstand stärker zu betonen, ohne aber durch die zunehmend dreisteren Lügen zusätzliche Anerkennung zu gewinnen. Jedoch konnte Speers Mythologisierung nur deshalb so große Bedeutung für die Nachkriegsgeschichte des Nationalsozialismus gewinnen, weil er unter kräftiger Mithilfe von Fest und Siedler die – auch aufgrund der Phasenver- schiebung durch die lange Haftzeit ermöglichten – Anpassung an den ge- änderten Zeitgeist das Bedürfnis der Täter- und Mitläufergeneration nach Verdrängung und Entlastung von der Schuld erfüllte. Bereits 1946 hatte Karl Jaspers zwischen krimineller, politischer, moralischer und metaphysischer Schuld unterschieden.30 Speer leugnete dabei weitgehend seine individuel- le, also kriminelle Schuld, übernahm aber die grundsätzliche politische, gern auch die abstraktere moralische und religiös metaphysische Schuld. Was ist eine Generation? Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Allgemeinen und Speer im Besonderen wird in diesem Buch über vier Generationen
Einleitung 5 nachvollzogen und die Frage nach den unterschiedlichen Speer-Narrativen der einzelnen Generationen gestellt. Die „Generation“ als Kategorie histori- scher Untersuchungen geht zurück auf Karl Mannheim, für den historische Generationen durch gemeinsame Sozialisationserlebnisse im Alter von 12 bis 25 Jahren geprägt werden.31 Alle zwanzig bis dreißig Jahre ergibt sich eine Ab- lösung in der Dominanz der Generationen mit einer zentralen Bedeutung für die Erneuerung des kollektiven Gedächtnisses.32 Heinz Bude sieht die deutschen Generationen in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts durch das zeitliche Verhältnis zum Krieg defijiniert, nämlich die Kriegsjugendgeneration von 1905, also Speers Jahrgang, damit zusammengefasst die politische Generation der Weimarer Republik und an- schließend die Flakhelfergeneration des Zweiten Weltkriegs und die „68er“.33 Auch für Ulrich Herbert sind dies die einzigen politischen Generationen der Bundesrepublik.34 Die anschließenden Generationen werden nach Bude ökonomisch durch ihr Verhältnis zum Wohlfahrts- und Versorgungsstaat der Nachkriegszeit defijiniert, der zu großen generationellen Unterschieden führt.35 Damit sind deutsche Generationen im zwanzigsten Jahrhundert politisch oder ökonomisch bestimmt. Hilfreich sind die Generationsabgrenzungen von Norbert Frei. In Bezug auf den Holocaust unterscheidet er:36 • die ab etwa 1885 geborene eigentliche Führungsgeneration der „alten Kämp- fer“, von denen viele Minister und Gauleiter wurden. Zu dieser im Kaiser- reich sozialisierten Elite kamen später die gleichaltrigen Generäle und Admiräle, deren Generalstabskarrieren ebenfalls dort begannen. • die wie Speer ab etwa 1905 geborene Kriegsjugendgeneration der Funkti- onseliten. Aus dieser „Generation des Unbedingten“, die zu jung für den tatsächlichen Fronteinsatz war, aber stark von der Kriegsbegeisterung des Ersten Weltkrieges geprägt wurde, rekrutierten sich viele Entscheidungsträ- ger des „Dritten Reichs“, darunter auch die juristisch ausgebildeten, enthu- siastisch der Rassenideologie des „Dritten Reichs“ verpflichteten Mitglieder des Reichssicherheitshauptamtes, von denen viele die SS-Einsatzgruppen leiteten.37 • die etwa 1925 geborene „skeptische Generation“ der ehemaligen Flakhel- fer und Jungofffijiziere, deren Ideologieferne und Pragmatismus des Wie- deraufbaus und der Wirtschaftswunderzeit die negativen Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Krieges verdrängen sollten.38 Eine Zwischen- generation bilden die auch als „Kriegskinder“ bezeichneten Jahrgänge ab 1930, die zwar im „Dritten Reich“ sozialisiert, aber nicht mehr im Krieg ein- gesetzt wurden. Ihre Kriegserinnerungen machen sich oft erst im Alter trau- matisch bemerkbar und sie können letztlich zu den „skeptischen“ gerechnet werden.39
6 Einleitung • die etwa 1945 geborenen „Generation der Achtundsechziger“, der Nach- kriegskinder. Ihr Protest richtete sich gegen die Vätergeneration und deren Verschweigen des Holocaust.40 Am Ende dieser Generation fijinden sich die „Post-68er“, die kulturell von den „68ern“ geprägt wurden, ökonomisch aber nicht mehr wie diese von den durch die Expansion des Bildungswe- sens neugeschafffenen Stellen profijitieren konnten und deshalb oft zu deren schärfsten politischen Kritikern wurden. • die etwa ab 1970 geborene Enkelgeneration. Diese bilden zwar durch die kommunikative Präsenz der Großeltern den letzten Teil eines generatio- nenübergreifenden Drei-Personen-Gedächtnisses (Großeltern – Eltern – Kinder), doch lösen in dieser „Generation Golf“ Konsuminteressen die Bedeutung der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ab.41 • die 1990–2015 geborene vierte Generation der Urenkel, die zwar in der kul- turellen Präsenz der letzten Zeitzeugen und der pädagogischen Dominanz der bundesdeutschen Erinnerungskultur aufgewachsen sind, jedoch als politische „Generation 1989“ von der Wiedervereinigung geprägt wurden.42 Spätestens die ab der Jahrtausendwende Geborenen verkörpern den Über- gang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. Die hier auf Speer und den Nationalsozialismus angewandte Erinnerungs- forschung geht auf Maurice Halbwachs, Pierre Nora, Henry Rousso, Herfried Münkler sowie Aleida Assmann zurück.43 Für Assmann bildet das Familien- gedächtnis einen zentralen Ort, der im Allgemeinen drei sich kommunikativ austauschende Generationen umfasst.44 Sie spitzt die Erinnerungsforschung zum Nationalsozialismus auf die These zu, dass sich diese durch den Tod der Zeitzeugen im Übergang vom kommunikativen Gedächtnis der Familiener- innerungen zum kulturellen Gedächtnis der Erinnerungskultur befijindet. Der Erinnerungsdiskurs wandelt sich dabei von der Anklage der Täter zu einer neu- en Identifijikation mit den Opfern. Hierbei entsteht im Zuge der Tradierung von der Familienerinnerung oft ein „Postmemory“-Efffekt, der in der dritten Gene- ration der Enkel die Erzählungen der ersten Generation mit medialen Bildern aus populären Filmen unterlegt, zum Beispiel aus „Schindlers Liste“, und sich in der vierten Generation möglicherweise sogar verflüchtigt.45 Bei der Anwendung des Generationenbegrifffs sind mehrere Einschränkun- gen zu berücksichtigen. Erstens handelt es sich um Typisierungen, die die Mentalität eines Großteils, aber nicht aller Mitglieder einer Generation be- schreiben. Zweitens wurde – vor allem in Bezug auf die „68er“ – der Vorwurf erhoben, es handele sich bei den Generationen um reine Selbstbeschrei- bungskategorien, das heißt, um eine nachträgliche Idealisierung einer kleinen Kerngruppe.46 Deshalb betrachten neuere Studien Generationen weniger als gemeinsamen Erfahrungsraum, sondern vielmehr als Konstruktionen „nachträglicher Generationalisierung“.47 Dies betriffft sowohl die Idealisierung
Einleitung 7 der Flakhelfer als demokratische Aufbaugeneration des „Wirtschaftswun- ders“ als auch die der „68er“ als zweite Staatsgründung der Bundesrepublik.48 Außerdem ist jede Generation zusätzlich von der Vorgeneration geprägt, ge- gen deren Aufffassungen sie oftmals rebelliert, aus der aber häufijig auch ihre Meinungsführer stammen.49 Insofern befijindet sich jede Generation im Zu- sammenhang mit der Vorgeneration. Zudem lassen sich die Generationen oft nicht klar abgrenzen. Diese mangelnde Trennschärfe führt zu kontrovers diskutierten Überlappungen. Dies wird besonders deutlich am Beispiel der Kriegskinder (1930–1945) und der „Post-68er“.50 In diesem Buch ergibt sich aus dem Generationswechsel der Herrschaftse- liten und Meinungsführer auch eine Unterteilung der deutschen Nachkriegs- geschichte in Bezug auf den Umgang mit Nationalsozialismus, Holocaust und Zweitem Weltkrieg. In den Hauptkapiteln geht es um drei Epochen bundes- republikanischer Identitätsbildung: Der Blick auf die Speer-Rezeption im Wandel der Generationen lässt uns in besonderer Klarheit drei Phasen der bundesdeutschen Identitätsbildung erkennen – und neue Einblicke in die deutsche Geschichte nach 1945 erlangen.51 Anmerkungen 1 Sogar das „heute-journal“ des ZDF sendete am 27.4.2017 einen vierminütigen Beitrag über die Eröfffnung der Nürnberger Sonderausstellung „Albert Speer in der Bundesrepublik“ mit einem Interview von Magnus Brechtken, der später auch bei Markus Lanz auftrat. 2 Eberhard Schulz, Ein Günstling des Schicksals in Merkur (Heft 260), 12/1969, abgedruckt in Adelbert Reif (Hrsg.), Albert Speer. Kontroversen um ein deutsches Phänomen, München 1978, S. 268–276, hier S. 268. 3 Martin Kitchen, Speer. Hitler’s Architekt. New Haven 2015; Magnus Brechtken, Albert Speer. Eine deutsche Kariere. München 2017; aber auch die Rezeptionsstudie von Isabell Trommer, Rechtfertigung und Entlastung. Albert Speer in der Bundesrepublik, Frankfurt/M./New York 2016 (zugl. Diss. Frankfurt/O. 2015). 4 Albert Speer, Erinnerungen. Berlin 1969, künftig zitiert als: Erinnerungen; ders., Spandau- er Tagebücher. Berlin 1975, künftig zitiert als: Tagebücher. Von den Erinnerungen Speers wurden mit Lizenz- und Taschenbuchausgaben „weit über eine Million“ Exemplare in Deutschland verkauft. Sein Verleger Wolf Jobst Siedler im Interview mit Heinrich Breloer in: ders., Unterwegs zur Familie Speer. Begegnungen, Gespräche, Interviews. Berlin 2005, S. 473. Zusätzlich wurden etwa 2,5 Millionen Stück im Ausland allein bis Mai 1976 abge- setzt. Brief von Siedler an Speer vom 25. Mai 1976. BA Koblenz N1340/54. Von den Tage- büchern wurden allein in den ersten Monaten 350.000 deutsche Exemplare gedruckt. „Große Aufregung“ in: Der Spiegel (Nr. 16), 14.04.1975. Insgesamt dürften sich auch die Tage- bücher mit ihren unzähligen Auflagen weltweit in mehreren Millionen Exemplaren verkauft haben. 5 Basiert auf dem programmatischen Buchtitel von Dan van der Vat, Der gute Nazi. Albert Speers Leben und Lügen. Berlin 1997. Auch in vielen Rezensionen aufgenommen, aktuell Adam Tooze, „The Myth of the Good Nazi“ in: The Wall Street Journal, 23. 12. 2015.
8 Einleitung 6 So sein Verleger Wolf Jobst Siedler in Heinrich Breloer, Unterwegs zur Familie Speer. Be- gegnungen, Gespräche, Interviews. Berlin 2005, S. 474. 7 Vgl. Peter Reichel, Harald Schmidt u. Peter Steinbach (Hrsg.) Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung. München 2009. 8 Münkler erklärt den Faustmythos in seiner tiefgründigen Studie als den anschlussfähigs- ten der alten Nationalmythen. Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin 2009, S. 109–139, explizit zu Speer S. 129. 9 So Ulrich Herbert im Interview von Stefan Reinecke, „Speer war nur gebildeter“ in: Die Tageszeitung 06.05.2005. 10 Die Entzauberung erfolgte durch Matthias Schmidt, Albert Speer. Das Ende eines Mythos. Aufdeckung einer Geschichtsverfälschung. Bern u. München 1982 (zugl. Diss. FU Berlin 1981). 11 Aufgedeckt durch Susanne Willems, Der entsiedelte Jude. Albert Speers Wohnungsmarkt- politik für den Berliner Hauptstadtbau. Berlin 2002 (zugl. Diss. Ruhr-Universität Bochum 1999). 12 Gitta Sereny, Das Ringen mit der Wahrheit. Albert Speer und das deutsche Trauma. Mün- chen 1995; Joachim Fest, Speer. Eine Biographie. Berlin 1999. 13 Die vorliegende Arbeit beschränkt sich in ihrer Analyse der Rezeptionsgeschichte Speers auf die Bundesrepublik Deutschland, wo er den eindeutig größten Einfluss hatte. Aus- gespart bleibt die Rezeption sowohl Speers als auch des Nationalsozialismus allgemein in der DDR, die sich in ihrer Staatsgründung justiziell und durch ihren defijinitorischen Antifaschismus von der Rechtsnachfolge des Deutschen Reichs abgrenzte, so dass Speer in ihrer Geschichtsschreibung keine Rolle spielte. Zum Umgang der DDR mit dem Na- tionalsozialismus siehe Arnd Bauerkämper, Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinne- rung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945. Paderborn 2012, S. 132–137, S. 195–197, S. 201–206, S. 305–310, S. 316–318, S. 380 u. S. 385. Zur Rezeption Speers in der DDR: Trommer, Rechtfertigung, S. 117–120. Dort auch zur Rezeption in den USA S. 209–216. 14 „Nach einer Besprechung von Speer und seinen Mitarbeitern Walther Schieber, Karl Otto Saur, Wilhelm Stefffens und Paul Briese mit dem Leiter des SS-Wirtschafts- Verwaltungshauptamts, Oswald Pohl, am 15.09.1942 hielt dieser fest: Reichsminister Professor Speer hat die Vergrößerung des Barackenlagers Auschwitz im vollen Umfang genehmigt und ein zusätzliches Bauvolumen in Höhe von 13,7 Millionen Reichsmark bereitgestellt.“ Er stellte auch „die fijinanziellen Mittel und … die Baustofffkontingente für die im Bau befijindlichen Einrichtungen […] zur ‚Durchführung der Sonderbehand- lung‘ zur Verfügung.“ Florian Freund, Bertrand Perz und Karl Stuhlpfarrer, Der Bau des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Vorhaben: Kriegsgefangenenlager Auschwitz (Durchführung der Sonderbehandlung) in: Zeitgeschichte (H5/6) 20, 1993, S. 187–213. 15 Heinrich Breloer, Die Akte Speer. Spuren eines Kriegsverbrechers, Berlin 2006; ders., Un- terwegs zur Familie Speer. Begegnungen, Gespräche, Interviews. Berlin 2005. 16 Kitchen, Speer; Brechtken, Speer. Siehe hierzu Kapitel „Von der radikalen Dekonstrukti- on zur Skandalisierung des Mythos: 2004–2017“. Aktuell zur Wertung auch Kim Christian Priemel, Rezension zu Magnus Brechtken, Albert Speer. Eine deutsche Karriere in: H-Soz- Kult. 08.12.2017. http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26244 (20. Dezember 2017). 17 Ebd. 18 Trommer, Rechtfertigung. 19 Einen guten Überblick über diese Phase gibt der Sammelband mit den damals wichtigs- ten Rezensionen: Adelbert Reif (Hrsg.), Albert Speer. Kontroversen um ein deutsches Phänomen. München 1978.
Einleitung 9 20 Janin Reif, Horst Schumacher, Lothar Uebel; Schwanenwerder. Ein Inselparadies in Ber- lin. Berlin 2000, S. 120f. 21 Heinrich Breloer, Akte, S. 415–423. 22 Er dürfte „bis 1945 … somit zehn Millionen RM (125 Millionen Euro)“, also „mehr als das Vierfache“ der von ihm veröfffentlichten Angaben verdient haben. Dietmar Arnold, Neue Reichskanzlei und „Führerbunker“. Legenden und Wirklichkeit, Berlin 2005, S. 75 und Fn22. 23 Jonas Scherner und Jochen Streb, Das Ende eines Mythos? Albert Speer und das soge- nannte Rüstungswunder, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (93) 2006, S. 178f. 24 Beispielhaft genannt seien Eckart Conze/Norbert Frei/Peter Hayes/Moshe Zimmermann, Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bun- desrepublik, unter Mitarbeit von Annette Weinke und Andrea Wiegeshofff, München 2010. Zu Recht kritisch dazu Daniel Koerfer, Diplomatenjagd. Joschka Fischer, seine Unabhän- gige Historikerkommission und das AMT. Mit einem Essay von Alfred Grosser. Potsdam 2013. Umfassend zur NS-Rüstungspolitik, Zwangsarbeit und kolonialistischen Ausbeu- tung des Ostens Adam Tooze, Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus. München 2007. Beispiele dominanter Konzerne untersuchen: Kim Christian Priemel. Flick. Eine Konzerngeschichte vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik. Göttingen 2007 (zugl. Diss. Uni Freiburg 2007); Thomas Urban, Zwangsarbeit bei Thyssen. "Stahlverein" und "Baron-Konzern" im Zweiten Weltkrieg. Paderborn 2014. 25 Zur Bedeutung seines Studienfreundes, Chronisten und Unterstützers während der Haft, Rudolf Wolters siehe dessen Biographie. André Deschan, Im Schatten von Albert Speer. Der Architekt Rudolf Wolters. Berlin 2016 (zugl. Diss. Uni Weimar 2013); ders., Ru- dolf Wolters – Der Mann hinter Speer in: Wolfgang Benz, Peter Eckel, Andrea Nachama (Hrsg.), Kunst im NS-Staat. Ideologie, Ästhetik, Protagonisten. Berlin 2015, S. 319–331. Zum Abteilungsleiter, der für die „Entmietung“ der Berliner Juden verantwortlich war, siehe Jörg-Michael Schiefer, Speers Vollstrecker. Willi Clahes. Göttingen 2015. Alexander Kropp, Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt: Architektur und Propaganda in: Wolfgang Benz, Peter Eckel, Andrea Nachama (Hrsg.), Kunst im NS-Staat. Ideologie, Ästhetik, Pro- tagonisten. Berlin 2015, S. 333–345 verfolgt ein Dissertationsprojekt über Speers Medien- politik. Er weist im obigen Aufsatz nach, wie Speer seine Umgestaltungspläne für Berlin wie Goebbels mit modernsten Propagandamitteln verfolgte. Dabei kommen Kropp seine Erfahrungen aus dem Berliner Politikbetrieb als Assistent eines Bundestagsabgeordneten zugute. Von ihm liegt bereits vor: ders., Die politische Bedeutung der Repräsentations- architektur im Dritten Reich. Die Neugestaltungspläne Albert Speers für den Umbau Berlins zur „Welthauptstadt Germania“ 1936–1942/43 (Deutsche Hochschuledition, Bd. 135). München 2005. Weiterhin arbeitet Kropp am Editionsprojekt der von Rudolf Wolters geführten „Chronik“ der Speerdienststellen mit der Kommentierung der architektoni- schen Tätigkeiten mit, während Jonas Scherner die rüstungspolitischen kommentiert. Alexander Kropp, Fälschungen auf der Spur. Hitlers „Lieblingsarchitekt“ Albert Speer und sein Diensttagebuch – ein Editionsprojekt In: uni.vers (13), 11/2007, S. 33–35. 26 Dies versuchte 2003 aus germanistischer Perspektive Michael Atze, „Unser Hitler“. Der Hitler-Mythos im Spiegel der deutschsprachigen Literatur nach 1945. Göttingen 2003, wobei er den Gesamtmythos in eine Vielzahl von Mythemen aufspaltete und deren Verwendung minutiös analysierte, der historische Erkenntnisgewinn aber gering blieb. Wesentlich größer war dieser bei Reiner Eisfelds Untersuchung des „Mythos Peene- münde“, der viele Gemeinsamkeiten mit Speers Mythos hat. Auch das Raketenprojekt besaß eine „gute“ technische Seite und eine „dunkle“ der Zwangsarbeit und wurde wie Speers Person und Tätigkeit hinterher umgedeutet in die Erforschung des Weltraums und
10 Einleitung damit der Nachkriegsideologie angepasst. Neben der offfensichtlichen Gemeinsamkeit der V-2, für deren forcierte Entwicklung sich Speer stark einsetzte, wenn er dies hin- terher auch als seinen „größten Fehler“ bezeichnete, wurden die Raketen in grausamer Zwangsarbeit in den unterirdischen Höhlen von Mittelbau-Dora produziert als Bestand- teil von Speers Rüstungsressort. Genauso wollte sich Speer hinterher als Wegbereiter des amerikanischen Systems von free enterprise und damit des „Wirtschaftswunders“ sehen, und wurde auch von ideologiekritischen Historikern in dieser Rolle anerkannt. Vgl. hier- zu Rainer Eisfeld, Mondsüchtig. Wernher von Braun und die Geburt der Raumfahrt aus dem Geist der Barbarei. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 228, wo Eisfeld explizit die Raketenfertigung als „Sklavenstaat der SS“ bezeichnet und damit Speers Spätwerk und seine Mythen zitiert; Jannes Erichsen u. Bernhard M. Hoppe (Hrsg.), Peenemünde. Mythos und Geschichte der Rakete 1923–1989. Berlin 2004; Günter Jikeli (Hrsg.), Raketen und Zwangsarbeit in Peenemünde. Schwerin 2014. 27 Matthias Schmidt, Albert Speer. Das Ende eines Mythos. Aufdeckung einer Geschichts- verfälschung. Bern/München 1983 (19821), S. 1. Mit der Begrifffsbildung wurden Speers Aussagen in das Reich der Mythologie verwiesen, wobei Schmidt den Begrifff „Mythos“ durch Beispiele für Speers Verfälschungen und Widersprüchlichkeiten illustrierte, und ihn abwechselnd und synonym mit „Legende“ sowie einmal auch „Saga“ verwendete. Da- bei wurde, zum Beispiel in der Einleitung, „Legende“ wesentlich häufijiger als „Mythos“ ge- braucht. Dennoch hielt Schmidt den Begrifff „Mythos“ eindeutig für wirkmächtiger, da er ihn im Buchtitel und der Überschrift des ersten Kapitels „Die Entstehung eines Mythos“ verwendete und im inhaltlichen Schlusskapitel sogar als Steigerungsform von „Legende“ benutzte. 28 Ebd., S. 240. 29 Generell gelten „Mythen“ als „Erzählungen, die sich auf eine kollektiv wichtige Wirk- lichkeit beziehen […]. In politikwissenschaftlicher Hinsicht wurde die Konzeption politischer Mythen vor allem als Geschichtsmythen verstanden. […] Politische My- then schafffen eine emotional aufgeladene symbolische Sinnwelt, eine Situierung der Gegenwart in der Vergangenheit, aus der diese ihre handlungsleitende und formative Kraft bezieht.“ Rudolf Speth/Edgar Wolfrum, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Politische My- then und Geschichtspolitik. Konstruktion – Inszenierung – Mobilisierung, Berlin 1996, S. 7–16, hier: S. 8–10. Gleichzeitig haben Mythen eine ambivalente Bedeutung. Indem sie von einer Generation zur nächsten überliefert werden, werden sie von ihrem Ursprung entkoppelt, was zur Veränderung und sogar Verfälschung von historischen Tatsachen führen kann. Andererseits bedeutet der Mythos gerade in der Form eines Gründungs- aktes, die Gegenwart und die sie fundierende Geschichte mit identischen Augen zu be- trachten, so dass die Vergangenheit durch ihre afffektive Aneignung in der Gegenwart Orientierungskraft für die Zukunft gewinnt. Beide Aspekte, der der afffektiven Aneignung und der der Verfälschung, können im Begrifff „Mythos“ gleichzeitig auftreten, müssen es aber nicht. Der Mythos entfaltet seine Wirkung am stärksten durch narrative Wiederho- lung und Weitergabe. Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen. Berlin 2009, S. 14f. unterscheidet zwischen „narrativer Variation, ikonischer Verdichtung und ritueller Inszenierung.“ Inszenierung versteht er als Ritual und damit Verfestigung von Mythen. Wenn auch Bilder und sogar Inszenierungen manchmal ebenfalls als Erscheinungsfor- men des Mythos angesehen werden, wird im Folgenden der Begrifff Mythos primär in seiner Erscheinungsform und Weitergabe als „Erzählung“ verwendet. Vgl. auch Assmann, Schatten, S. 40f. u. Ebbrecht, Geschichtsbilder, S. 25–45. 30 Karl Jaspers, Die Schuldfrage in: ders., Lebensfragen der deutschen Politik, München 1963, S. 36f., S. 45f.
Einleitung 11 31 Wenn sie, wie in dieser Untersuchung „Grundintentionen und Gestaltungsprinzipien“ tei- len, spricht Mannheim von „Generationseinheiten“, die einheitliche Reaktionen auf die Herausforderungen der Zeit zeigen. Karl Mannheim, Das Problem der Generationen, in: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. v. Kurt H. Wolfff, Berlin und Neuwied 1964, S. 509–565, hier: S. 544–547. Kritisch zum „doppelten Dilemma des Generationenbegrifffs [… zwischen] lebensweltliche[r] Evidenz und emphatische[r] Überdetermination“ siehe Bernd Weisbrod, Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte in: Aus Po- litik und Zeitgeschichte (Nr. 8/2005), 16.02.2005, S. 2. 32 Assmann, Schatten, S. 27. Normalerweise wird für den Generationsabstand das Durch- schnittsalter der Mutter bei der Geburt ihrer Kinder zugrunde gelegt, das durch Kriegsereignisse oder ein generell verändertes generatives Verhalten leicht variiert. Ulrike Jureit benutzt Generation als „relationale Größe“, die im Betrachtungszeitraum primär vom Erleben bzw. Nichterleben von Nationalsozialismus, Holocaust und Zweitem Weltkrieg geprägt ist. Dennoch sieht sie im Gegensatz zu Assmann kein gemeinsames Generationengedächtnis, sondern nur eine kommunikativ vermittelte Gemeinsamkeit, d. h. Generation wird als Selbstbeschreibungskategorie verstanden. Ulrike Jureit u. Chris- tian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, Bonn 2010, S. 78fff. Konstitutive Aspekte von Generationen beinhalten „Identitätskonstruktion, Kol- lektivbezug, Erfahrungsgemeinschaft und Handlungsrelevanz“. Ulrike Jureit u. Michael Wildt (Hrsg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegrifffs. Ham- burg 2005, S. 9. 33 Etwas überpointiert benennt er Klasse als zentrale soziologische Kategorie für das Ver- ständnis Englands, die Stellung zur Republik für Frankreich und eben den Begrifff der Ge- neration für Deutschland. Heinz Bude, „,Generation‘ im Kontext. Von den Kriegs- zu den Wohlfahrtsstaatsgenerationen“ in Ulrike Jureit u. Michael Wildt (Hrsg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegrifffs. Hamburg 2005, S. 28–44, hier S.31. Auch wenn Bude wie einige „68er“ selbst, diese ab dem Geburtsdatum 1938 beginnen lässt und damit ihrer späteren „Neuerfijindung“ als „Kriegskinder“ zuordnet, begründet meines Erachtens gerade die Defijinition über die Erfahrung der Kriegszeit deren Zuordnung zur skeptischen Generation der Flakhelfer. Heinz Bude, Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938 bis 1948. Frankfurt/M. 1995 (zugl. Habil. Uni Hamburg). 34 Ulrich Herbert bezeichnet als die einzigen politischen Generationen die Kriegsjugend- generationen beider Weltkriege und die „68er“, also die letzten drei hier betrachteten. Ulrich Herbert, „Generationenfolge in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts“ in Jürgen Reulecke (Hrsg.), Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. München 2003, S. 95–114. 35 An der Schwelle beider Bestimmungsfaktoren profijitierten die „68er“ von der einma- ligen Versorgung mit Jobs, langer Lebenserwartung und seit 1958 drastisch erhöhten Renten sowie der Praxis der Frühverrentung. Es folgten die „Post68er“ und dann die Zwischengeneration Golf, bevor die „1989er“ kamen, deren Job- und Rentenaussichten deutlich schlechter sind. Bude, ebd. Demgegenüber sind aber gerade sie – wie schon die Bezeichnung verrät – wieder von politischen Ereignissen defijiniert. 36 Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, erweiterte Taschenbuchausgabe. München 2009, S. 42. 37 Geprägt wurde dieser Begrifff von Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Füh- rungskorps des Reichssicherheitshauptamts. Hamburg 2002 (zugl. Habil. Uni Hannover 2001), S. 24f. 38 Der Begrifff stammt von dem konservativen Soziologen Helmut Schelsky, Die skepti- sche Generation, Düsseldorf 1957. Vgl. zu dieser Generation auch Heinz Bude, Deutsche
12 Einleitung Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation. Frankfurt/M. 1987 (zugl. Diss. FU Berlin 1986); aktuell: Malte Herwig, Die Flakhelfer. Wie aus Hitlers jüngsten Parteimitgliedern Deutschlands führende Demokraten wurden. München 2013. 39 Hierzu vor allem Sabine Bode, Die vergessene Generation – Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen. Stuttgart 2004. Heinz Bude zählt demgegenüber die ab 1938 geborenen Kriegskinder zu den „68ern“, wie bereits sein Titel zeigt. Heinz Bude, Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938–1948. Frankfurt 1995. 40 Christian Schneider nennt sie in ihrer Identifijikation mit den Opfern des Nationalso- zialismus die „Entronnenen“, in: Ulrike Jurleit u. Christian Schneider, Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Bonn 2010, S. 193. 41 Florian Illies, Generation Golf. Eine Inspektion, Berlin 2000. 42 Dies war 2003 noch nicht so deutlich, weshalb Frei diese damals noch sehr junge Ge- neration mit der vorherigen zusammenfasst. Frei, 1945, S. 42. In dieser Studie wird den „1989ern“ das letzte Kapitel des 5. Teils gewidmet, da sich deren Distanz zum Nationalso- zialismus in Ironisierung und Virtualisierung ausdrückt. 43 Die Hauptwerke zur Gedächtnisforschung sind Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la mémoire. Paris [1925] 1952; ders., La mémoire collective. Paris [1939] 1950; Pierre Nora, Les lieux de mémoire, 3 tomes. Paris 1984–1996; Henry Rousso, La dernière catastrophe. Paris 2012. 44 Assmann, Schatten, S. 22. 45 Hierbei kann es sogar zur Verknüpfung von Geschichten von Flucht, Vertreibung und Bombenkrieg mit Bildern aus Konzentrationslagern kommen. Aus russischen Soldaten werden so in der Beschreibung SS-Bewacher. Genauso werden nach Harald Welzer oft die Erzählungen der ersten Generation zu Widerstandstaten umgedeutet, obwohl gene- rell Schulwissen über den Holocaust und die Schuld der Vorfahren bekannt und weithin akzeptiert ist. Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall, Opa war kein Nazi. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt/M. 2002, S. 10f. 46 Generell zum „konstruktivistischen“ Charakter der Selbstdeutung gegenüber einem rein „essentialistischen“ Generationsverständnis siehe Arnd Bauerkämper, ‚Generation´als Selbstdeutung. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus, in: Almut Hille, Huang Li- ayou, Benjamin Langer (Hrsg.), Generationenverhältnisse in Deutschland und China. Soziale Praxis – Kultur – Medien, Berlin u. Boston 2016. 47 Benjamin Möckel, Erfahrungsbruch und Generationsbehauptung. Die „Kriegsjugendge- neration“ in den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften. Göttingen 2014 (zugl. Diss. Göttingen 2013), S. 385. Möckel weist in seiner Studie detailliert nach, dass erstens die Erfahrungen der Flakhelfergeneration unterschiedlich waren und sie zweitens in der Bundesrepublik und der DDR aufgrund eines anderen Deutungsrahmens diametral entgegengesetzt verarbeitet wurden. 48 Münkler, Deutschen, S. 458. 49 Auf diesen oft übersehenen Aspekt verweist Münkler unter Bezug auf Mannheim. Zwar defijinieren die prägenden Sozialisationserfahrungen Generationen, doch „entscheidend dafür dürfte die Erlebnisverarbeitung sein, und dabei spielen Meinungsführer und Deu- tungseliten die entscheidende Rolle. Sie nämlich versehen das Erlebte mit Sinn und Bedeutung beziehungsweise verbinden es narrativ und ikonisch mit den großen Er- zählungen des politischen Verbandes und weisen dabei der jeweiligen Generation eine Rolle in der politischen und sozialen Geschichte des Großverbands zu.“ Münkler, Die Deutschen, S. 27. Ursprünglich geht der Begrifff des Meinungsführers auf das zweistufijige Kommunikationsmodell der Medien des amerikanischen Soziologen Paul Lazarsfeld
Einleitung 13 zurück. Vgl. Paul F.Lazarsfeld, Bernard Berelson, Hazel Gaudet, The People’s Choice. How the Voter Makes up his Mind in a Presidential Campaign. New York, London 1944. Zum heutigen Stand, der auch, wie in diesem Kontext erforderlich, eine bereichsspezifijische Meinungsführerschaft berücksichtigt, siehe Michael Schenk, Medienwirkungsforschung. Tübingen 20022, S. 320–369. 50 Gerade die Kriegskinder weisen Merkmale der skeptischen Generation auf. Mit ihnen teilen sie den prägenden Einfluss der Jugendorganisationen des „Dritten Reichs“, ohne jedoch als Erwachsene deren Folgeorganisationen als Flakhelfer oder junger Frontsoldat miterlebt zu haben. Dennoch können Reste des Wertekanons des Nationalsozialismus in ihrem Verhalten und ihren Ansichten ebenso festgestellt werden wie die oft traumati- schen Erfahrungen des Bombenkriegs und der Flucht. Je nach Alter kann eine der beiden Komponenten überwiegen. 51 Jörn Rüsen, Holocaust-Erfahrung und deutsche Identität. Ideen zu einer Typologie der Generationen in: Harald Welzer (Hrsg.), Das Soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinne- rung, Tradierung. Hamburg 2001, S. 245, 251 u. 254. Eine ähnliche Periodisierung nehmen Helmut König und Aleida Assmann vor. Der Politikwissenschaftler König unterscheidet zwischen einer durch eine moralische Schulddebatte geprägten unmittelbaren Nach- kriegszeit, der Adenauerära der fünfziger Jahre, in der sich die neugegründete Bundes- republik klar vom Nationalsozialismus abgrenzte, gleichzeitig aber dennoch dessen Anhänger und Eliten integrierte, der „lange[n] Welle zwischen 1960 und 1990“ mit dem Holocaust als zentralem Deutungsrahmen, und der Berliner Republik mit der Historisie- rung des „Dritten Reichs“ und der Institutionalisierung der Erinnerungskultur. Die „lange Welle“ bildet die Phase des großen Generationenkonflikts, in dessen Verlauf die Kinder der Kriegsgeneration ihren Eltern sowohl die Verbrechen als auch deren Verleugnung und Verdrängung vorwarfen. Assmann konstatiert ein „Crescendo der Holocaust-Erinnerung“, das in generationsbildenden zwanzigjährigen Abständen vom Kriegsende 1945 über die Auschwitzprozesse von 1965 und die Weizsäckerrede und den Historikerstreit von 1985 in gerader Linie zum zentralen Holocaust Mahnmal von 2005 führt. Assmann löst damit den Generationenbegrifff von der seit Mannheim üblichen Fixierung auf die Jugendphase und bestätigt die These vom Einfluss der Meinungsführerschaft von Exponenten der Vorgän- gergeneration auf die nachfolgende. Assmann, Unbehagen, S. 56–58.
Kapitel 1 Speers Mythologisierung seiner „Leistungen“ im „Dritten Reich“ Herkunft und Epoche Die Mythologisierung seiner „Leistungen“ im „Dritten Reich“ begann Speer bereits bei der Darstellung seiner Geburt, Herkunft und Jugend. An einem Sonntag, dem 19. März 1905, 12 Uhr mittags, kam ich in Mannheim zur Welt. Der Donner eines Frühjahrsgewitters übertönte, wie mir meine Mutter oft erzählte, das Glockengeläute von der nahen Christuskirche.1 Tatsächlich donnerte es erst einige Stunden später und die Kirche wurde erst sechs Jahre später vollendet, wie Matthias Schmidt – sein erster kritischer Biograph – herausfand; doch Speer liebte es, seine Geburt durch besondere Naturphänomene zu einem geschichtlich bedeutsamen Ereignis zu stilisieren.2 Albert Speer stammte aus einem großbürgerlichen Elternhaus. Sein Vater war wie schon sein Großvater erfolgreicher Architekt, und auch er und sein ältester Sohn Albert sollten Architektur studieren.3 Allerdings verschwieg Speer, dass sein Großvater – möglicherweise aus geistiger Verwirrung – Selbstmord beging und der Vater deshalb nicht, wie geplant, das Fach stu- diert sondern in einem Architekturbüro gelernt hatte.4 Noch wohlhabender war die Linie mütterlicherseits, in der es Speers Großvater als Sohn eines Försters zum erfolgreichen Inhaber eines Mainzer Handelshauses und einer großen Werkzeugmaschinenfabrik gebracht hatte.5 In der aus wirtschaftlichen Erwägungen geschlossenen Ehe von Speers Eltern spielte Liebe offfenbar keine Rolle6 – dafür war das Elternhaus verschwenderisch mit 14 Zimmern, 5 bis 6 Dienstboten sowie zwei Automobilen ausgestattet.7 Speers Eltern gingen kühl und distanziert miteinander um, und er selbst fühlte sich unwohl in seiner Herkunftsfamilie. Obwohl er seinen Vater bewun- derte, fand er ein enges, offfenes Verhältnis weder zu ihm noch zu seiner in prä- tentiöser Repräsentationssucht gefangenen Mutter, die regelmäßig Empfänge und Hausbälle veranstaltete. Auch der Vater war stets formell gekleidet und besaß eigene, unverrückbare Maßstäbe.8 Als erfolgreicher Bürger blieb er dem Liberalismus Naumannscher Prägung auch nach der „Machtergreifung“ treu © VERLAG FERDINAND SCHÖNINGH, 2019 | doi:10.30965/9783506789136_003
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