Toleranz, Integration und interkulturelle Kommunikation

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Toleranz, Integration und interkulturelle
Kommunikation
Festrede zum Jubiläum der deutschen Lions
von Prof. Dr. Klaus Hurrelmann

Ich habe Ihre Einladung sehr gerne angenommen. Ich bin selbst nicht Mitglied, arbeite aber
schon sehr lange mit den deutschen Lions zusammen und bin zu einem überzeugten Sympathi-
santen geworden.
                   Und so möchte ich ganz persönlich über meine Erfahrungen mit den deut-
                   schen Lions sprechen. Die dauern jetzt schon seit über 30 Jahren an. In diesen
                   drei Jahrzehnten habe ich Sie als große, liebenswerte, engagierte, manchmal
                   etwas konservative, manchmal etwas behäbige, aber dauerhaft zuverlässige
                   und belastbare, durchaus resiliente Organisation kennengelernt, die – gerade
                   wegen dieser Eigenschaften – überraschend innovativ ist und sich intensiv für
                   öffentliche Belange einsetzt. Als eine Organisation ganz besonderen Charak-
                   ters, eine Mischung aus Nichtregierungsorganisation, Wohlfahrtsverband, Stif-
tung und Verein, wie sie in Deutschland ihresgleichen sucht. Repräsentiert von Menschen aus
Fleisch und Blut, die alle schon ihre Leistung im Leben erbracht haben und nun zusätzlich bei den
Lions eine Aufgabe übernehmen. Die nach der Pflicht noch eine Kür fahren. Menschen, die eh-
renamtlich in einer Weise tätig sind, die man sonst nur von absoluten Profis kennt.
Aus diesen Gründen fällt es mir nicht schwer, Ihnen hier heute eine Hommage zu erstatten. Es ist
eine Hommage in fünf Kapiteln.

1. Kapitel: Meine erste Erfahrung mit den deutschen Lions
Ende der 1980er Jahre traten drei Lehrerinnen und Lehrer einer Gesamtschule und einer Haupt-
schule in der Nähe von Bielefeld an mich heran und baten um Unterstützung. Sie hatten in den
USA bei Kollegen das Programm Lions-Quest kennengelernt.
Weil sie große Probleme mit dem sozialen Verhalten ihrer Schülerinnen und Schüler hatten, wur-
den sie hellhörig. Sie erlebten ein gut durchdachtes Programm zur Förderung der Lebenskompe-
tenz von jungen Leuten. Auch die Förderung der Gesundheit, besonders der psychischen Ge-
sundheit, der Konfliktfähigkeit und der Resilienz standen in diesem Programm im Vordergrund.
Sie waren sich einig: Das war genau das, was sie auch für ihre Schule brauchten. Eine Stärkung
von sozialen und persönlichen Schlüsselkompetenzen, eine Vorbeugung von Gewalthandlung
und Fremdschädigung über die Stärkung des sozialen und emotionalen Lernens.
Ich habe mir das amerikanische Lions-Quest-Programm kommen lassen, und mir leuchtete die
Begeisterung der Lehrkräfte sofort ein. Lions-Quest war 1984 als Gemeinschaftsprojekt von Lions
Clubs International und Quest International entstanden. Ein Blick in die amerikanische Vorlage
zeigte mir, warum die Lehrerinnen und Lehrer alle so angetan von dem Programm zur Förderung
von „Life Skills“ waren. Es enthielt nämlich genau das, was uns in Deutschland fehlte. In den
Schulen stand die Vermittlung von Fachwissen im Vordergrund, aber immer mehr Lehrkräfte

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spürten, dass sie mit dem Unterricht nicht vorankamen, weil das Klassenklima nicht stimmte und
die Schülerinnen und Schüler durch persönliche Probleme und Konflikte blockiert waren.
Niemand wagte sich an das Thema heran, die Sozial- und Persönlichkeitsentwicklung der Schüle-
rinnen und Schüler mit in die schulische Bildungsarbeit einzubeziehen, obwohl alle die Notwen-
digkeit dazu erkannt hatten. Auch wusste niemand, wie das pädagogisch professionell umgesetzt
werden konnte, ohne die Lehrerrolle zu vernachlässigen oder in Frage zu stellen. Anerkannte
und bewährte außercurriculare Lebenskompetenz- und Präventionsprogramme existierten da-
mals noch nicht. Da kam das Life-Skills-Programm Lions-Quest gerade zur rechten Zeit.
Und: Die Lehrerinnen und Lehrer hatten sich natürlich auch gemerkt, dass die amerikanischen
Lions das Programm tatkräftig unterstützen. Auch das wollten sie kopieren, weil sie das der deut-
schen Schuladministration nicht zutrauten. Völlig zu Recht. Wir alle spürten, dass ein ziviles En-
gagement einspringen musste. Und deshalb stellten die Lehrerinnen und Lehrer genau diese Ver-
bindung zu den deutschen Lions über verschiedene Kanäle her.
So kam es kurze Zeit später zum Engagement der deutschen Lions nach dem Vorbild der ameri-
kanischen Lions. Keiner konnte ahnen, dass wir an einem der erfolgreichsten schulischen Förder-
programme arbeiten sollten. Für Deutschland wie gesagt verbunden mit der Besonderheit, nicht
durch die Kultusbürokratie oder politische Institutionen quasi offiziell ins Leben gerufen zu sein,
sondern einfach so, durch zivilgesellschaftliche Kräfte.
Genauer: Durch – typisch Lions – eine Nichtregierungsorganisation (NGO) mit bürgerschaftlicher
Bodenhaftung. Welche andere Organisation hätte diese Rolle übernehmen können? Keine! Es
brauchte die besondere Ethik, die intensive Verankerung im gesellschaftlichen Leben, den langen
Atem, das zähe Durchhaltevermögen, die unnachgiebige Durchsetzungsfähigkeit, die Leiden-
schaft der Repräsentanten der deutschen Lions, um ein solches Riesenprojekt zu stemmen.
Es gelang uns mit vereinten Kräften, zusätzlich zu Lions-Geldern finanzielle Unterstützung von
der Jacobs Foundation und der Universität Bielefeld einzuwerben, und die fast fünf Jahre dau-
ernde Phase der Übersetzung und Transformation des amerikanischen Ausgangsprogramms von
Lions-Quest „Erwachsen werden“ begann.
Es war damals eine kleine Sensation, dass ein schulisches Lernprogramm aus einer zivilgesell-
schaftlichen Initiative hervorging und nicht von einer staatlich gesteuerten Lehrplan-Kommission
entwickelt wurde. Das war für viele auch anstößig und „verdächtig“. Als wir 1997 damit heraus-
kamen, schlugen uns aus diesem Grund auch viele Vorurteile entgegen. Aber am Ende über-
zeugte die Qualität des Programms.

2. Kapitel: Die schulische Bildungsarbeit der deutschen Lions
Heute wissen wir: Es gibt wohl kaum ein anderes Programm zur Förderung sozialer Kompeten-
zen, das so nachhaltig und erfolgreich das Schulsystem in Deutschland bereichert hat wie Lions-
Quest. Mit seinem innovativen Grundprinzip, die Kompetenz von Kindern und Jugendlichen in
Gruppenprozessen durch soziales und emotionales Lernen zu stärken, hat es Maßstäbe gesetzt.
Es hat dafür gesorgt, dass soziale Lernprogramme und Kompetenztrainings in die schulische Bil-
dungsarbeit integriert wurden und eine wichtige Ergänzung zum regulären, fachbezogenen
Schulunterricht darstellen.

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Und – ein weiterer wichtiger Aspekt – es hat neue und anspruchsvolle Standards für die Fortbil-
dung von Profis festgelegt. Das Programm durfte von Anfang an nur von denjenigen Lehrkräften
eingesetzt werden, die an einem entsprechenden Training teilgenommen hatten. Eine solche
Qualifizierung der Lehrkräfte nach dem Multiplikatoren-Prinzip war in Deutschland bis dahin un-
bekannt. Schon nach wenigen Fortbildungsveranstaltungen zeigte sich, dass sie der Schlüssel zur
Gewährleistung einer kontinuierlichen und nachhaltigen Programmwirkung im „System Schule“
war.
Die Erstauflage des Lehrerhandbuchs zum Lions-Quest-Programm „Erwachsen werden“ wurde
1997 veröffentlicht. Danach wurde Lions-Quest kontinuierlich und konsequent weiterentwickelt.
Alle Anregungen aus den Schulen wurden aufgenommen und eingearbeitet. Wir haben keine
Mühen gescheut, immer wieder Überarbeitungen und Neuauflagen zu erstellen, um auf der
Höhe der Entwicklung zu bleiben. Es war kontinuierliche Basisarbeit – typisch Lions.
Nach rund zehn Jahren war es dann soweit: Es galt vielen Schulen als ein Markenzeichen, sich
Lions-Quest-Qualitätssiegel-Schule nennen zu dürfen und damit zum Ausdruck zu bringen, dass
neben fachlichem Unterricht das soziale Kompetenztraining einen hohen pädagogischen Rang
einnimmt.
Heute können die deutschen Lions stolze Erfolgszahlen vorweisen. Sie haben im Rahmen von
mehr als 4.300 Lions-Quest-Seminaren mehr als 100.000 Lehrkräfte qualifiziert. Damit haben Sie
Millionen von Kindern und Jugendlichen erreicht. Sie haben der Gemeinschaft damit einen un-
schätzbaren Dienst erwiesen.
Lions-Quest ist das führende und am weitesten verbreitete Lebenskompetenz- und Präventions-
Programm in Deutschland und wird inzwischen – auch das war ein sehr langer Weg – von den
Kultusministerien aller Bundesländer anerkannt. Lions-Quest wird regelmäßig wissenschaftlich
evaluiert und ist in der „Grünen Liste Prävention“, der Datenbank empfohlener Präventionspro-
gramme enthalten.
Typisch Lions: Darauf haben Sie sich nicht ausgeruht. Die gesellschaftlichen Herausforderungen
spitzten sich an anderen Stellen neu zu. Die 2000er Jahre brachten neue gesellschaftliche Ver-
werfungen. Die blühenden Landschaften wollten sich nicht einstellen. Jugendliche, die immer so-
ziale Seismografen sind, wurden unruhig. Gewalt und politischer Extremismus waren die Ant-
wort vieler von ihnen.
Die Lions haben reagiert. Neben diversen Aufbauseminaren zu den Themen „Mobbing“ und „El-
ternarbeit“ wurde Lions-Quest „Erwachsen werden“ im Jahr 2014 um eine neue Fortbildung er-
gänzt: Lions-Quest „Erwachsen handeln“. Damit stand erstmalig in Deutschland auch ein Lebens-
kompetenz- und Präventionsprogramm für ältere Jugendliche und junge Erwachsene zur Verfü-
gung.
Auch inhaltlich wurden neue Akzente gesetzt, indem hier erstmals die Vermittlung von Lebens-
kompetenzen mit politischer Bildung, Demokratielernen, Menschenrechtsbildung und Service
Learning (Lernen durch Engagement) verknüpft wurde. Nicht zuletzt aufgrund dieses Innovati-
onspotenzials hat die Deutsche UNESCO-Kommission die Schirmherrschaft über die Entwicklung
und Einführung von Lions-Quest „Erwachsen handeln“ übernommen.

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Für mich ist das Engagement der deutschen Lions bei diesen Programmen immer exemplarisch
für die Arbeitsweise Ihrer Organisation gewesen. Immer haben Sie auf aktuelle kulturelle und so-
ziale Konfliktpotenziale reagiert. Immer waren Ihre Mitglieder wegen ihrer Lebenserfahrung
auch menschliche Botschafter. In allen Bereichen des Lebens hatten sie ihre Sensoren ausgefah-
ren, und sobald es irgendein Problem gab, mit dem die gesellschaftlichen Kräfte (und darin ein-
geschlossen auch die politischen Kräfte) sichtlich überfordert waren, haben Sie gehandelt. Ge-
treu dem Motto der Lions „We Serve“.

3. Kapitel: Das neue Lions-Quest-Programm „Zukunft in Vielfalt“
So war natürlich zu erwarten, (aber ich war dann doch angenehm überrascht, weil ich mich mitt-
lerweile aus der aktuellen Entwicklungsarbeit bei Lions-Quest zurückgezogen und jüngere Kolle-
gen eingearbeitet hatte), dass sich die deutschen Lions auch der aktuellen Problematik der Ver-
änderung der Zusammensetzung der Bevölkerung zuwenden würden. Hinter den Kulissen haben
Sie in den letzten Jahren an einem weiteren schulischen Bildungsprogramm gearbeitet, das den
Nerv der Zeit trifft.
Mit „Zukunft in Vielfalt“ liegt das jüngste Produkt der Lions-Quest-Programmfamilie vor. Erneut
gelang dem verantwortlichen Autorenteam ein innovatives und wegweisendes Fortbildungskon-
zept. Als bislang einziges außercurriculares Fortbildungsprogramm in Deutschland eignet sich Li-
ons-Quest „Zukunft in Vielfalt“ zur systematischen Schul- und Organisationsentwicklung im Be-
reich der interkulturellen Kompetenz. Die Vermittlung grundlegender Life Skills, interkulturelles
Lernen und Wertebildung fließen dabei konzeptionell zusammen und entfalten ihr Präventions-
potenzial im Zusammenspiel der Kräfte.
Das Lions-Quest Grundprinzip des gemeinsamen sozialen und emotionalen Lernens zur Förde-
rung der psychischen Widerstandskraft (Resilienz) bleibt dabei erhalten.
Damit greifen Sie – typisch Lions – in dringende gesellschaftliche Probleme ein: die Förderung
interkultureller Kompetenzen und Integration. Die Zielgruppen sind erneut Lehrkräfte sowie Aus-
bilderInnen, SozialarbeiterInnen, Fachpersonal und hauptamtliche sowie ehrenamtliche Helferin-
nen und Helfer. Die Adressaten sind Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Fluchterfah-
rung bzw. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene aus Deutschland mit und ohne Migrations-
hintergrund zwischen 10 und 21 Jahren.
Das Wirkungspotenzial liegt in der Sensibilisierung für den Themenzusammenhang „Diversity“
und in der Erzeugung einer reflektierten Haltung, im Aufbau eines Klimas der gegenseitigen
Wertschätzung und des Vertrauens, im Kennenlernen von Werten und Regeln, demokratischen
Prinzipien und Grundrechten, in der Reduktion von Vorurteilen und Konflikten, in der Prävention
von Radikalisierung und Extremismus und in der Förderung von Integration und sozialer Inklu-
sion.
Das neue Programm eignet sich sowohl für schulische als auch für außerschulische Zielgruppen,
lässt sich an unterschiedliche Bedarfe und Voraussetzungen anpassen und ist altersübergreifend
angelegt. Damit empfiehlt es sich als ideales Weiterbildungs-angebot für Lehrkräfte und außer-
schulische Multiplikatoren.
Typisch Lions: Alles auf die dringlichste Herausforderung abgestellt, die Schulen und Bildungsein-
richtungen heute haben. Mit Lions-Quest „Zukunft in Vielfalt“ haben die deutschen Lions wieder

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einen unschätzbar wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung der Kinder, Jugendlichen und
jungen Erwachsenen geleistet.
Und wieder einmal kommt das neue Lions-Quest-Programm genau zur richtigen Zeit. In Zeiten
der Einwanderung und der Flucht hat eine solche professionelle und innovative Fortbildung bis-
her bitter gefehlt. Ich bin sicher: Lions-Quest „Zukunft in Vielfalt“ wird ebenso wie die bisherigen
Lions-Quest-Programme große Resonanz finden und schon bald zum Standard an unseren Schu-
len gehören.
Wir haben eine vermehrte Zuwanderung von Menschen auf der Flucht aus Krisengebieten und
Kriegen. Unsere Gesellschaft wird heterogen und kulturell vielfältig, auch wegen der weltweiten
Vernetzung und der digitalen Erreichbarkeit. Schon über ein Fünftel der Bevölkerung hat einen
Migrationshintergrund, ist also in den letzten drei oder vier Jahrzehnten nach Deutschland ein-
gewandert. In der jungen Generation der unter 30-jährigen liegt dieser Wert schon bei über ei-
nem Drittel.
Wir sind faktisch eine Einwanderungsgesellschaft, tun uns aber sehr schwer, uns dazu auch wirk-
lich zu bekennen. Das spiegelt sich in den Schulen wider. Die Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich
überfordert. Sie sollen Heterogenität und kulturelle Diversität mal eben so pädagogisch bewälti-
gen. Außer den eingewanderten sollen sie so ganz nebenbei auch die Kinder mit verschiedenarti-
gen Behinderungen in ihren Klassen aufnehmen. Ohne jede Unterstützung sollen sie Inklusion
betreiben.
Aber woher sollen Sie wissen, wie man kulturelle, religiöse, sprachliche, intellektuelle, emotio-
nale, psychische und soziale Vielfalt aufnimmt und vereint? Es fehlt an guter Lehrerfortbildung.
Auch in der Ausbildung lernt man hierzu nicht viel. Der kompetente Umgang mit unterschiedli-
chen Lernvoraussetzungen wird nicht systematisch trainiert. Dabei muss er heute ein zentrales
Lernziel für alle Lehrkräfte sein, weil in der Schule die Weichen für Toleranz, Integration und in-
terkulturelle Kommunikation gestellt werden.

4. Kapitel: Die deutschen Lions und die junge Generation
Die neue Fortbildung Lions-Quest „Zukunft in Vielfalt“ hat ein überzeugendes Konzept: Beide Sei-
ten müssen sich bei der Integration bewegen:
Die einheimischen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen müssen eine Aufnahmebereitschaft
zeigen und deutlich machen, dass sie gegenüber den neuen Mitgliedern der Gesellschaft tolerant
sind, auch gegenüber den Geflüchteten. Dabei spielt auch eine Sensibilisierung für die traumati-
schen Erfahrungen von vielen der Geflüchteten eine Rolle. Die eingewanderten oder geflüchte-
ten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen müssen ihrerseits bereit sein, sich der neuen Gruppe
mit ihren bestehenden Regeln zu öffnen und anzupassen.
Die junge Generation wird durch drei Merkmale geprägt:
1. Die junge Generation ist mit interaktiven digitalen Medien groß geworden und erschließt sich
damit jeden Winkel der Welt. Sie ist weltweit vernetzt und nimmt jederzeit an jedem Ort alle
wichtigen Informationen auf. In dieser Fähigkeit ist sie den älteren Generationen überlegen. Sie
will diese für sie völlig selbstverständliche Form der Kommunikation in jedem Lebensbereich,
auch im Beruf, einsetzen.

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2. Sie hat politische Spannungen, Terroranschläge und Kriege in zahlreichen Regionen der Welt
miterlebt und weiß intuitiv, wie unsicher das öffentliche Leben geworden ist. Sie hat erfahren,
wie ungewiss bis vor wenigen Jahren auch in Deutschland der Übergang in den Beruf war. Die
Jugendarbeitslosigkeit machte es 20% bis 30% von ihnen unmöglich, einen Ausbildungs- oder ei-
nen Arbeitsplatz zu erhalten. Sie ist entsprechend flexibel orientiert, auf alle Eventualitäten ein-
gerichtet und hält sich möglichst viele Optionen offen.
3. Sie wird von ihren Eltern behütet und gefördert, wie keine andere Generation vor ihr, aber sie
ahnt: Sie könnte die erste Generation seit dem Zweiten Weltkrieg sein, für die das Versprechen
auf immer mehr Wohlstand nicht mehr gilt.
Die aktuellen Jugendstudien zeigen, wie diese Ausgangslage sie prägt: Die Angehörigen dieser
jungen Generation haben sich eine offene und suchende Haltung angewöhnt, arrangieren sich
unauffällig mit den Gegebenheiten, die sie vorfinden, manövrieren und taktieren flexibel, um
sich Vorteile zu verschaffen und gehen an alle Herausforderungen mit einer Mischung aus Prag-
matismus und Neugier heran. In Zweifelsfällen orientieren sie sich an ihren Eltern. Sie lehnen
sich deshalb eng an Mutter und Vater an und schließen eine Zweckallianz mit ihnen. Diese Eigen-
schaften haben den jungen Leuten in den USA das Etikett „Generation Why“ eingebracht, womit
die fragende und suchende Grundhaltung symbolisiert werden soll. Daraus ist die symbolische
Bezeichnung „Generation Y“ geworden, die sich inzwischen auch im Deutschen verbreitet hat.
Das gilt für die Einheimischen und die Eingewanderten gleichermaßen. Abwarten, improvisieren,
umdisponieren – das ist zur zweiten Haut der Ypsiloner geworden, denn so sind sie groß gewor-
den. Dank dieser Haltung kommt die junge Generation erstaunlich gut mit den Ungewissheiten
ihres Lebens zurecht. Sie hat die Welt ohnehin nie anders kennengelernt. Die Erkenntnis, dass
die gesellschaftliche Ordnung nicht in Stein gemeißelt ist, macht sie zu Pragmatikern. Ein zu frü-
hes Festlegen auf eine bestimmte Karriere wird immer mehr zum Risiko, später mit Allem oder
Nichts dazustehen. Also ist man tastend und vorsichtig.
Das Leben mit Widersprüchen gehört zu den Spezialitäten dieser Generation. Man greift gerne in
die Scholle und legt einen Schrebergarten an, man strickt mit Naturwolle, aber das sind nur Opti-
onen der Lebensgestaltung. Man wünscht sich harmonische, sichere Bindungen, aber die per-
sönliche Freiheit und Individualität möchte man nicht aufgeben.
Und: Die letzte Shell-Jugendstudie hat gezeigt, man ist offen und tolerant. Die jungen Leute sind
mit bis zu 40 Prozent Zugewanderten groß geworden. Für sie ist Vielfalt der Alltag. Typisch ist
große Toleranz, vor Zuwanderung haben die meisten Jugendlichen keine Angst. Aber natürlich
gibt es neue Konflikte und Spannungen, und von alleine kommen auch die cleversten jungen
Leute mit der neuen gesellschaftlichen Situation nicht zurecht.
Auch hier greift das neue Lions-Quest-Programm. Es erreicht diese Generation kongenial. Die be-
währten Verfahrensweisen aus den bisherigen Programmen werden alle eingesetzt und übertra-
gen. Es geht um Sensibilisierung für die Vielfalt der Menschen, um eine reflektierte Haltung ge-
genüber Andersartigkeit und Fremdheit, um die Unterstützung von Gruppenprozessen und ein
Klima der gegenseitigen Wertschätzung und des Vertrauens. Es geht um das Kennenlernen von
Werten und Regeln, demokratischen Prinzipien und Grundrechten, um den Abbau von Vorurtei-
len und Konflikten und damit auch um die Vorbeugung von Radikalisierung und Extremismus. Es

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geht um die Verknüpfung von Lebenskompetenzen mit Demokratie, Pädagogik, Wertebildung
und interkulturellem Lernen.

5. Kapitel: Wie machen die deutschen Lions das alles?
Leitmotiv Ihres Treffens hier in Berlin zum 100. Geburtstag 2017 ist: „Toleranz, Integration und
interkulturelle Kommunikation“. Während der 30 Jahre Kooperation mit Ihnen konnte ich mich
davon überzeugen, dass Ihr Handeln in Einklang mit Ihrer Ethik und Ihren Grundsätzen steht, so-
wohl organisationsintern als auch in Ihrer öffentlichen Kommunikation. Ich möchte die Organisa-
tion in Deutschland sehen, die außer den deutschen Lions das nach 100 Jahren noch so selbst-
verständlich zu Recht von sich behaupten kann.
Sie werden wahrscheinlich selbst nicht genau wissen, warum das so gelungen ist, woher Ihr ho-
hes prosoziales Gestaltungs- und Wirkungspotenzial kommt und wodurch es immer neu befeuert
wird. Aber vom exemplarischen Beispiel der Bildungsprogramme würde ich ableiten, was ich ein-
gangs sagte:
Sie haben einen unmittelbaren Einfluss auf die Entwicklung der Jugend und damit der Gesell-
schaft, weil Sie auf die Schulentwicklung und Bildungspolitik in Deutschland nicht nur Einfluss
nehmen, sondern sie einfach mitgestalten. Durch engagierte und motivierte Bürgerinnen und
Bürger, die ihre gesellschaftliche Verantwortung bewusst und gezielt wahrnehmen.
Sie sind eine große, liebenswerte, engagierte, manchmal etwas konservative, manchmal etwas
behäbige, aber dauerhaft zuverlässige und belastbare, gewissermaßen auch resiliente Organisa-
tion, die sich innovativ für öffentliche Belange einsetzt. Eine Organisation ganz besonderen Cha-
rakters, eine Mischung aus Nichtregierungsorganisation, Wohlfahrtsverband, Stiftung und Ver-
ein, wie sie in Deutschland ihresgleichen sucht. Repräsentiert von Menschen aus Fleisch und
Blut, die alle schon ihre Leistung im Leben gebracht haben und nun zusätzlich bei den Lions eine
Aufgabe übernehmen. Die nach der Pflicht noch eine Kür fahren. Menschen, die ehrenamtlich in
einer Weise tätig sind, die man sonst nur von absoluten Profis kennt.
Letztlich sind es wohl die Zielsetzungen und ethischen Grundsätze der Lions mit dem zentralen
Leitmotiv: „We Serve“! Das muss es wohl sein, das Ihnen zu einem überzeugenden Engagement-
Konzept verhilft, in dem die Leitsätze und Proklamationen, die öffentliche Wahrnehmung und
die Praxisebene übereinstimmen.

Sonderdruck des LC Mosbach zur Zertifizierung des Nicolaus-Kistner-Gymnasiums Mosbach als
Lions-Quest-Schule am 15. Januar 2020

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