Topologie der Verhaltensführung. Resonanzen zwischen Kurt Lewin und Bertolt Brecht

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Topologie der Verhaltensführung.
Resonanzen zwischen Kurt Lewin und Bertolt Brecht
Katja Rothe

Sicherheitsraum
„Was muß man tun, um dem, was man nicht genau kennt, im voraus die Stirn zu bieten?“ (Foucault 2004:
37) – diese Frage isoliert Foucault als Leitfrage stadtplanerischer Ideen Ende des 18. Jahrhunderts, die den
Raum der Stadt als Sicherheitsraum denken, als „Milieu“. 1 In den Räumen großer Bevölkerungen, der
„Multiplizität von Individuen“ (Foucault 2004: 41) „[…] wird die Sicherheit versuchen, ein Milieu im
Zusammenhang mit Ereignissen oder Serien von Ereignissen oder möglichen Elementen zu gestalten,
Serien, die in einem multivalenten und transformierbaren Rahmen reguliert werden müssen. Der
Sicherheitsraum verweist als auf eine Serie möglicher Ereignisse, er verweist auf das Zeitliche und das
Aleatorische, ein Zeitliches und eine Aleatorisches, die in einen gegebenen Raum eingeschrieben werden
müssen.“ (Foucault 2004: 40) Das Milieu als Sicherheitsraum unterscheidet sich von der Beherrschung des
Territoriums durch den Souverän und der Disziplinierung des Raums durch hierarchische und
funktionelle Aufteilungen (Foucault 2004: 39f). Das Milieu organisiert „Wirkungen, Massenwirkungen, die
auf all jene gerichtet sind, die darin ansässig sind“ (Foucault 2004: 41), ist „Interventionsfeld“, in dem man
„versucht, eine Bevölkerung zu erreichen“ (Foucault 2004: 41). Regieren im Sicherheitsraum bedeutet
Einwirken auf das Milieu durch die „fortwährende Verflechtung des geografischen, klimatischen,
physikalischen Milieus mit der menschlichen Art“. Gouvernementalität als politische Technik des
Regierens richtet sich anstatt auf souveräne Akte und disziplinäre Maßnahmen (die nichtsdestotrotz
weiterhin wirksam sind) auf die Kontrolle und Steuerung von Wirkungen innerhalb eines
Sicherheitsraums, den Foucault „Milieu“ (Foucault 2004: 44) nennt. Physik, Biologie, Städtebau beziehen
sich also auf einen Sicherheitsraum, in dem Fragen auftauchen werden, die man noch nicht genau kennt,
die man aber nichtsdestotrotz bereits einkalkuliert. Diese Fragen betreffen die Ereignisse und Zufälle, die
zu Serien zusammengefasst innerhalb eines dynamischen, flexiblen Raums reguliert werden müssen. Ziel
der Regulation ist die Steuerung von „Wirkungen“ auf die „Multiplizität von Individuen“ (Foucault 2004:
28), auf die Bevölkerung.
Einen ähnlichen Wissenszusammenhang von Raum, Ereignis, Bevölkerungen und schließlich dem Willen
zur Lenkung von Individuen, ihren Tätigkeiten, ihres Verhaltens möchte ich im Folgenden zu Beginn des
20. Jahrhunderts anhand des Wissenstransfers zwischen Physik, Psychologie und Ästhetik skizzieren.
Exempels dieser recht groben Skizze werden die experimentelle Psychologie Kurt Lewins und die
experimentelle Lehrstückästhetik Bertolt Brechts sein. Ich möchte an diesen konkreten Beispielen
beschreiben, wie hier ein Konzept des Sicherheitsraumes auftaucht, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts

1Foucault übernimmt den Begriff – der im Städtebau des ausgehenden 18. Jahrhunderts nicht präsent ist (Foucault 2004: 40) – in Anschluss an
Canguilhems Schilderungen eines Wissenstransfers zwischen Physik und Biologie, der rund um das Problem der „Distanzwirkung eines Körpers
auf einen anderen“ (Ibid.) stattfand. Siehe dazu auch Foucault 2004, Fußnote 36, S. 49. Der Begriff des Milieus als die „organische[] Reaktion auf
die Aktion eines Milieus“ (Canguilhem nach Foucault 2004: 49), knüpfe, so Canguilhem, an Newtons Fluidum-Begriff an, dessen „Archetypus“
der Äther ist (Ibid.). Der Zusammenhang von Äthertheorie und Milieubegriff muss hier ausgespart werden, gleichwohl seine Diskussion sicherlich
sehr erhellend wäre. Außerdem vernachlässige ich die Rolle des Behaviorismus, da ich noch keine Zeit gefunden habe, Lewins und Brechts
nachgewiesene Bezüge zum Behaviorismus detailliert auszuarbeiten. Trotz der wertschätzenden Auseinandersetzung sowohl Brechts als auch
Lewins mit dieser Richtung der Psychologie, distanzieren sie sich jedoch beide. Rosenbauer 1970; Lewin 1967, S. 10.
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ausgehend von der nichteuklidischen Geometrie, der physikalischen Feldtheorie und schließlich der
Physiologie und Psychologie in nahezu allen Bereichen des Wissens – wissenschaftlich und populär –
zirkuliert: die Topologie. Im topologischen Sicherheitsraum der angewandten Psychologie Lewins
wiederum wird der Zugriff auf das Verhalten des Einzelnen in Abhängigkeit zu seiner Umwelt über
(selbst)steuernde Experimentalanordnungen sichergestellt. Dabei hat man es nicht mehr mit der Disziplin,
sondern mit einer normalisierenden 2 Gouvernementalität zu tun, die ausgehend von Sozialpsychologie
und Arbeitswissenschaften in einer neuen, man könnte sagen „zweiten“ oder auch „weichen“ Form der
Psychotechnik wirksam wird, auf die Brecht in seiner Lehrstück-Ästhetik rekurriert. 3

Neue Räume: physikalische Topologie
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfuhr ein grundsätzlich neues Verständnis von Räumlichkeit, wie es die
Mathematik und Physik entwickelt hatte, eine ungeheure Konjunktur in den Kultur- und
Sozialwissenschaften. 4 Über Ernst Cassirer vermittelt entdeckten Phänomenologie und Strukturalismus
dynamische, relationale Räumlichkeit und beschrieben ihre Strukturen. 5 Gerade der physikalische
Feldbegriff befeuerte diesen Wissenstransfer, der schließlich auch in politische, geografische, ästhetische,
soziologische und pädagogische Konzepte einfloss. Ohne das Ausmaß dieses Transfers hier im Einzelnen
darstellen zu können, sei kurz auf das physikalische Topologie eingegangen, die sowohl auf Lewin als auch
auf Brecht großen Einfluss hatte.
In der Physik setzt sich im 19. Jahrhundert mit der Entdeckung des Elektromagnetismus durch Faraday
und Maxwell eine topologische Raumbeschreibung durch. 6 Mit dem Wissen vom Elektromagnetismus war
die Welt der Physik keine mechanische mehr, sondern eine von Feldern bestimmte. Mit dem Begriff des
Feldes kann man physikalische Effekte beschreiben, die durch Kräfte bzw. Wechselwirkungen
hervorgerufen werden, wie z.B. ein elektromagnetisches Feld oder ein Geschwindigkeitsfeld einer
Strömung. Damit kann ganz im topologischen Sinne jede durch ein aktuelles Feld bzw. seine Feldgrößen
beschreibbare physikalische Erscheinung nach einheitlichen strukturellen Gesichtspunkten und in
gleichartiger Weise behandelt werden. Die Feldtheorie interessierte sich für Kräfteverhältnisse aufgrund
von elektrischen Ladungen, die auf nichts außerhalb ihrer selbst zurückzuführen sind und keinen Träger

2 Ich beziehe mich in diesem Text auf den Begriff der flexiblen Normalisierung, wie ihn Jürgen Link eingeführt hat. Link 2006. In einem
folgenden Teil meiner Arbeit soll allerdings der Begriff der Normalisierung selbst Gegenstand einer Untersuchung werden. Hierbei sollen
Beziehungen zu Foucaults Konzept der Normalisierung, zu Performativitätskonzepten, zur Theatralität, aber auch zur historischen Genese des
Begriffs zum Beispiel von Goldsteins (ein Freund Lewins) Nivellierung der Grenze zwischen Normal und Anormal, an die wiederum Canguilhem
anknüpft, nachgegangen werden. Bartz, Krause 2007.
3 Folgende Untersuchungen stellen hier die Frage, ob man hier von einer Ökonomisierung biopolitischer Kalküle in der Psyche des

„Humankapitals“ sprechen kann. Dazu sollen neben psychologischen und ästhetischen Diskursen vor allem auch Managementtheorien und die
die Humankapitaltheorie der 1950er und 1960er Jahre analysiert werden.
4 Dazu ausführlich Günzel 2005, 2006.
5 Lewin war Schüler Ernst Cassirers und vertrat wie dieser das „Funktionsdenken“ gegenüber dem „Substanzdenken“. Cassirer (1910) 2000;

Cassirer (1930) 2006; Lewin(1931) 1981. Dazu auch Günzel 2005.
6 In der Mathematik entstand bereits mit der „Analysis situs“ (1693) von Leibnitz, die das Augenmerk weg von der Beschreibung der Dinge im

Raum hin auf die Ausdehnungen und Relationen zwischen den Orten legte, und mit Leonard Eulers Lösung des Brückenrätsels von Königsberg -
die Frage war, wie man alle sieben Brücken der Stadt Königsberg nur einmal überqueren kann und am Ende wieder an den Ausgangspunkt
zurückkehrt –ein neuer Zweig, die „Topologie“, die erstmals 1847 Jahann Benedict Listing formulierte und die sich 1914 mit Felix Hausdorffs
Buch „Grundzüge der Mengenlehre“ endgültig etablierte. Dazu ausführlich Günzel 2006: 19- 43. Die mathematisch-topologische
Raumbeschreibung basiert auf der radikalen Vereinfachung des Anschauungsraumes der Elementargeometrie, sieht von sowohl von der Substanz
wie der räumlichen Ausdehnung der Dinge im Raum ab. Der Raum ist kein sichtbarer mehr, sondern allein durch seine Struktur bestimmt, von
Lagebeziehungen und Strecken zwischen Punkten. Ganz verschiedene Räume – gekrümmte, gestauchte, gedehnte – sind dem topologischen
Denken äquivalent, wenn sie kontinuierlich ineinander verformt werden können. Günzel 2007: 13-29.
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brauchen. 7 In der Physik hat man es also seit Elektromagnetismus und Quantentheorie nicht mehr mit
einem allgemeinen, nur vorstellbaren, möglicherweise göttlichen Raum als „Container“ (Einstein 1988: 93)
der Dinge zu tun. Vielmehr ist nun ein Raum zu denken, der von der Zeit abhängig ist und damit vom
sich ändernden Zustand der Materie. Der Raum als Komposition elektromagnetischer Felder ist somit ein
sehr dynamischer, aber unanschaulicher Raum, der den euklidischen, geometrisch erschließbaren Raum als
Behälter hinter sich gelassen hat. Der Raum, der mit dem Elektromagnetismus und der Feldtheorie
auftaucht, ist in diesem Sinne einer, der sich der Repräsentation und der damit verbundenen Aufspaltung
eines repräsentierenden und eines repräsentierten Raums entzieht. Der Raum der Felder ist ein
unsichtbarer, der sich erst durch die Dinge und ihre Lage zueinander konstituiert. 8 Topologische Räume
sind von Relationalität, Dynamik, Kräfteverhältnissen und Strukturdarstellungen an Stelle des
Ausdehnungsaprioris geprägt.
In der Psychologie schien die Topologie eine Lösung für das bis heute virulente Grundproblem der
Beziehung zwischen physiologischen Vorgängen und psychischem Geschehen zu sein. Die Psychophysik
Gustav Fechners suchte im 19. Jahrhundert die Lösung in der Untersuchung der Zusammenhänge von
physikalischem Reiz und Erleben (äußere Psychophysik). Dagegen entwickelte Wolfgang Köhler, der eng
mit Max Wertheimer, Carl Duncker und eben auch Kurt Lewin an Fragen der Wahrnehmungs-, Denk-,
Lern- und Motivationspsychologie zusammenarbeitete, ein Programm der so genannten „inneren
Psychophysik“ und nahm an, dass sich im zentralen Nervensystem Feldprozesse im Sinne des
Elektromagnetismus abspielten. Er erklärte physiologische (Feld-)Veränderungen als Resultat
psychologischer Wahrnehmungsprozesse (Lück 2001: 10f), ein Erklärungsansatz, in dessen Tradition auch
die kognitive Neurowissenschaft steht. Kurt Lewin, der zum weiteren Umkreis der Berliner
Gestaltpsychologen zählte, 9 dagegen setzte sich von psychophysischen Modellen ab und entwickelte
ebenfalls in Anschluss an die physikalische Feldtheorie eine „rein psychologische Feldtheorie“ (Lück 2001:
11).

Verhaltensfelder
Kurt Lewin stellte aus holistischer Perspektive die Mensch-Umwelt-Beziehungen unter topologischen
Vorzeichen in den Vordergrund. 10 Menschliches Verhalten spielt sich für Lewin als Vektorenbewegungen
innerhalb von Kraftfeldern ab, die zwar präkognitiv, aber a) strukturell variabel und b) allein dann
„wirklich“ sind, wenn sie wirksam werden („Wirklich ist, was wirkt“; Lewin 1969: 41). 11 Der
„Lebensraum“ als psychologisches Feld bestehend also aus Person und Umwelt und ist begrenzt von
Dingen und Ereignissen, die nicht wirksam werden. Gegliedert wiederum ist der Lebensraum durch
Barrieren wie Verbote und Zonen mit verschiedenen „Valenzen“ („Aufforderungscharakter“). Diese

7 Siehe dazu Einstein 1920.
8 Den Raum als Weise des Erscheinens zu beschreiben, hatte bereits Kant unternommen. Zur kantianischen Raumauffassung und deren
Nachfolger siehe Günzel 2006: 28-35.
9 Bei den Berliner Gestaltpsychologen spielte das Thema Raum als eine zentrale Rolle. Carl Stumpf beispielsweise führte Studien zur visuellen und

akustischen Raumwahrnehmung durch (Stumpf 1873), Hornbostel und Wertheimer entwickelten Geräte zur akustischen Ortung im Raum (Mehr
bei Hoffmann 1994).
10 Zu Lewins topologischer Psychologie siehe Günzel 2006, S. 125-127; Lück 2001; Lück 2007; Lang 1979.
11 Wie Koffka unterscheidet er zwischen einer „objektiven“ Umwelt und der Umwelt, die sich dem Wahrnehmungsbereich erschließt, wozu neben

räumlich-geografischen Elementen auch soziale und kulturelle Systeme zählen. Günzel 2006: 34.
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Zonen beschreibt er als „Kraftfelder“ mit verschiedenen Intensitäten. Der Lebensraum ist ein sehr
lebhafter Raum, in dem die Dinge für die Individuen ständig an Reiz gewinnen und verlieren, in dem sich
Individuen durch ihre Bewegungen hin zu Zonen mit positiver Valenz verhalten und differenzieren; es ist
ein Raum, der sich dadurch wiederum selbst permanent und irreversibel verändert. Die psychologische
Person – ebenfalls ein gegliedertes psychologisches Feld – bewegt sich entlang der durch die topologische
Struktur vorgegebenen „Wege“ gewissermaßen als Vektor in diese Zonen hinein („Lokomotion“) und
verhält sich je nach den topologischen Relationen des Angrenzens, des Entferntseins, des Einschließens,
Ausschließens zu den Valenzen der Kraftfelder (Lewin 1969, 1982). Das psychologische Feld ist ein
„hodologischer“ (Lewin 1934) Raum, der durch Komplexität, Dynamik und räumliche Begrenztheit
(Regionalbezug) charakterisiert ist. Verhalten versteht Lewin als eine Funktion von konkreter Person und
Umwelt (V=f(P, U)), es ist stets in Verbindung mit den „Kräften“ der Umwelt zu denken. In Lewins
Topologie sind das Erleben, Verhalten, Handeln, die Persönlichkeit und ihre Entwicklung, aber auch die
zwischenmenschlichen, sozialen Prozesse nicht „wesenhaft“ oder „charakterbestimmt“, sondern
komplexe, dynamische Strukturationen innerhalb eines topologischen Feldes, das durch individuelle
Dispositionen und die Umwelt dynamisch konstituiert ist.
Gegen die sogenannte „aristotelische Denkweise“ setzt Lewin die „galileische“, oder eben topologische 12,
die er allein für geeignet befindet, mit dem „Fragen der Dynamik“, die in den „praktischen“ Forschungen
von Physik, Biologie und Psychologie sich drängend stellen, adäquat umzugehen (Lewin 1981: 234).
Kennzeichnend für das neue, dynamische Denken sind dabei vor allem vier Aspekte: Homogenität, Fall,
Situation und Experiment.
1. Homogenität: Es werden Gesetzmäßigkeiten gesucht, die verschiedenen Phänomenen zugrunde liegen,
egal, wie der konkrete Fall im Einzelnen aussieht (Lewin 1981: 241). 13 „[J]edes psychologische Gesetz“
solle dabei „wirklich ausnahmslos gelten“ (Lewin 1981: 255).
2. Fall. Anstatt das Quantitative, Durchschnittliche zu betonen, streicht Lewin den einzelnen Fall, den
konkreten Einzelgegenstand hervor. Er fordert eine Wende „vom Durchschnitt zum ‚reinen‘ Fall“ (Lewin
1981: 256). In der Kritik am Denken des Durchschnitts lehnt er die Statistik als Verfahren nicht gänzlich
ab, sondern nur ihre „aristotelische“ Anwendung zur Gruppierung von Fällen zu Gruppen (Lewin 1981:
251). Er plädiert für eine „Hinwendung zum Konkret-Einzelnen“ (Lewin 1981: 252) in alltäglichen,
lebensnahen Situationen (Lewin 1981: 254), um der Dynamik der vorliegenden Prozesse gerecht zu
werden.
3. Situation. Da Lewin Verhalten als gerichteten, vektoriellen Faktor in der Umwelt betrachtet und die
Bewegungen durch das psychologische Feld durch die „Umgebung“ bestimmt sind, ist die
„Eigentümlichkeiten der Situation“ „begrifflicher und methodologischer Mittelpunkt“ der Lewinschen
Psychologie (Lewin 1981: 259). 14 Häufigkeit und historische Konstanz wird zugunsten von Seltenheit,

12 Lewin verwendet eine uneinheitliche Terminologie: „Vektorpsychologie“, „dynamische Theorie“, „Topologische Psychologie“, „Feldtheorie“.
Dazu Lück 2007: 252.
13 „Ob das Geschehen, das das Gesetz beschreibt, im wirklichen Ablauf der Welt selten oder häufig vorkommt, läßt das Gesetz ganz dahingestellt.

Ja, in einem gewissen Sinne bezieht sich das Gesetz allemal auf Fälle, die im wirklichen historischen Ablauf nie oder nur angenähert realisiert
werden.“ Lewin 1981: 243.
14 „Der durch die konkrete, Gegenstand und Umgebung umfassende Gesamtsituation sind die Vektoren bestimmt, die die Dynamik jeweils

beherrschen.“ Lewin 1981: 260
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Einmaligkeit, Flüchtigkeit des Einzelnen in einer Gesamtsituation aufgegeben (Lewin 1981: 262), 15
weshalb Lewin sich zugunsten von Untersuchungen vor Ort von reinen Laboruntersuchungen
verabschiedet und gern auf Filmaufnahmen von „alltäglichen“ Situationen zurückgreift. 16
4. Experiment. Während aristotelische Begriffe einen unmittelbaren Bezug zur historisch gegebenen
Wirklichkeit herstellen, indem sie das regelmäßig und häufig zu Beobachtende in den Mittelpunkt einer
Klassifizierung durch „wertartige“ und dichotome Kategorisierung (z.B. „normal“ und „pathologisch“,
Lewin 1981: 243) rücken, setze die moderne Physik und so auch Lewin auf den Begriff des Experiments,
um den singulären, zufälligen, aber konkreten Fall in seiner Gesetzmäßigkeit zu fassen (Lewin 1981: 250).
Dabei wendet sich Lewin gegen ein Verständnis des Experiments als bloßen Test (z.B. Sterns IQ-Test)
oder Beweis einer bereits aufgestellten Hypothese in einem lebensfernen Laboratorium. Entgegen dem
Paradigma der Wiederholbarkeit, das noch Wundt als zentrales Merkmal des Experiments ansah, und
gegen die zeitgenössische Tendenz, vor allem auch in der Psychotechnik, den statistischen Durchschnitt
zum Maß der Dinge zu erklären (Lewin 1981: 249), setzt Lewin die Reihe. 17 Mit Hilfe von Reihen sollen
individuelle Einzelfälle in ihrem Lebensumfeld gruppiert und in ihren kontinuierlichen Abwandlungen,
Übergänge beobachtet werden (Lewin 1981: 241, 245), um daraus ein Gesetz abzuleiten, aber die
Unterschiede bestehen zu lassen (Lewin 1981: 254; Lewin 1967: 23, 35). 18 Für Lewin sind Experimente
„planmäßige Veränderung der Situation“, die „Aufschluss darüber […] geben, welche kausal-dynamischen
Fakten man im einzelnen Fall vor sich hat“ (Lewin 1967: 35, auch 44). Vom „konkreten Einzelfall“ könne
man dann „zum konditional-genetischen Geschehenstypus aufsteigen“ (Lewin 1967: 44). Lewin nennt
dieses Vorgehen auch „konditional-genetische“ Begriffsbildung (Lewin 1981: 242), bei der das
„Verhalten“ „gegenüber bestimmten Einflüssen“ definiert wird und nicht einfach phänomenale
Eigenschaften beschrieben werden (Lewin 1967: 22). 19
Es geht Lewin also um die wissenschaftliche und gesetzmäßige Erfassung von flüchtigen, unfassbaren,
aber konkreten und situativen Willensprozessen, Affekt- und Gefühlsvorgängen, von dynamischen
Strukturen die keine eindeutige Voraussage erlauben (auch Lewin 1967: 9). Über diese kontingenten,
singulären Vorgänge aber lassen sich „Erkenntnisse nur über das Experiment gewinnen“ (Lewin 1967:
11). Lewin schlägt hier eine Experimentalisierung des Inkommensurablen, Kontingenten, Nicht-
Darstellbaren vor. Er denkt den topologischen Raum der Psyche als Sicherheitsraum, der im Sinne
Foucaults Fragen umstellt, die man noch nicht genau kennt (das Verhalten, die Affekte der konkreten
Personen in konkreten Situationen), die man aber nichtsdestotrotz bereits im Experiment einkalkuliert. In

15 „Die Dynamik des Geschehens ist allemal zurückzuführen auf die Beziehung des konkreten Individuums zur konkreten Umwelt und, soweit es
sich um innere Kräfte handelt, auf das Zueinander der verschiedenen funktionellen Systeme, die das Individuum ausmachen.“ Lewin 1981: 270
16 Lewin ist deshalb auch ein Vorreiter für den Einsatz des Films bei der Darstellung seiner psychologischen Untersuchungen. In folgenden

Untersuchungen wird die Rolle des Mediums Film zum zentralen Gegenstand werden. Auf Grund des begrenzten Raums und des frühen
Forschungsstandes wird an dieser Stelle auf detaillierte Ausführungen zur Medialität verzichtet. An anderer Stelle habe ich bereits auf den
Zusammenhang zwischen Topologie, Experimentalisierung, Normalisierung und Radio hingewiesen. Rothe 2009.
17 Lewin knüpft hier an den Reihenbegriff von Cassirer (1910) an, der mit dem Begriff sich auf meta-mathematischer Ebene von der

psychologisch begründeten Abstraktionstheorie (J.St.Mill) abgrenzen wollte.
18 „Nicht auf die Realisation einer möglichst großen Anzahl gleicher Fälle kommt es im Experiment an, sondern auf eine systematische Variierung,

also auf eine Analyse der Bedingungen durch Verwirklichung eines Inbegriffs verschiedener Fälle.“ Lewin 1967: 15. Der Reihenbegriff gewährt
dabei gleichzeitig den Anspruch der Wissenschaftlichkeit, denn Reihen suggerieren, dass man eine wissenschaftliche Erkenntnis auf gegebene
Aufgaben in wiederholbarer Art und Weise anwenden kann.
19 Lewin spricht auch von einem „reinen Geschehenstypus“, den man über die Ermittlung von einem „Geschehensdifferential“ ermitteln könne.

„Das Zurückgehen auf das Geschehensdifferential ist z.T. also eine Komplementärerscheinung der Tendenz, die Dynamik auf die Stellung des
Konkret-Einzelnen in der konkreten jeweiligen Gesamtsituation zurückzuführen.“ Lewin 1981: 264.
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diesem Sicherheitsraum Lewins geht es um die Beobachtung und – wie sich zeigen wird – Regulierung der
unsichtbaren, unabwägbaren und flüchtigen Ereignisse „im“ Menschen, die man als Affekt, Verhalten,
Wille beschrieb. Man hat es hier also mit einer Verinnerlichung und Psychologisierung des
Sicherheitsraumes zu tun, wobei dem Experiment eine herausragende Bedeutung zukommt. In seinen
Experimenten setzt Lewin – wie von Foucault für die Einkreisung des „Milieus“ beschrieben – auf die
Bildung von Reihen, von Serien um die Ereignisse und Zufälle herum und zielt mit seinen
Experimentalanordnungen im (Arbeits-)Alltag der Individuen auf die Steuerung von „Wirkungen“ in einer
Gruppe, in einer „Multiplizität von Individuen“. Diesen biopolitischen Aspekt der topologischen
Psychologie Lewins und die Doppelbedeutung des Experiments als Beobachtungstechnologie und
Technik des Einübens, Eingreifens, eben der Steuerung von „Bevölkerung“ möchte ich nun zeigen.

Vom Test der Eignung zum „Umlernverfahren“
Lewins experimentelle Praxis unterschied sich sehr von der frühen Generation experimenteller
Psychologen. In seinen Experimenten variierte er                                      Situationen anstatt feste, wiederholbare
Untersuchungsbedingungen zu schaffen, griff als Leiter selbst in das Geschehen ein, war somit praktisch
Bestandteil der Experimentalsituation, ließ die Versuchspersonen an der abschließenden Diskussion der
Ergebnisse teilnehmen, frustrierte die Versuchspersonen durch unlösbare Aufgaben (Lück 2001: 56). Wie
wir gesehen haben, war für Lewin nicht eine nach festen Kategorien auszumessende Versuchsperson
Gegenstand der Untersuchung, sondern ein konkreter Fall sollte in einer bestimmten Situation dynamisch
erfasst werden. Damit grenzte er sich ebenfalls von der Psychotechnik z.B. Münsterbergs ab, die die
psychotechnische Prüfung als Test meist physiologischer Eigenschaften entlang eines vorher festgelegten,
statistisch errechneten Durchschnitts in militärischen, öffentlichen und wirtschaftlichen Institutionen zur
Feststellung von Eignung und Berufsauslese einsetzten.                           20   Lewin gehörte zur zweiten Generation von
Psychologen, die der Psychotechnik kritisch gegenüberstanden, wenngleich sie sie ebenfalls betrieben.
Es war bereits Anfang der 1920er Jahre zu einer Umorientierung von bloßen körperlichen und kognitiven
Leistungskriterien auf die „Persönlichkeit“ gekommen. 21 „Qualität“ anstatt „Quantität“ war nun gefragt,
gegen die psycho-physischen Gesetzmäßigkeiten stellte man die (Wieder-)Entdeckung der „Gestalt“, der
ganzheitlichen Betrachtung der Persönlichkeit. 22 Auf der 6. Internationalen Konferenz für Psychotechnik
in Barcelona ging man bereits von der „Krise der Psychotechnik“ aus und suchte nach Lösungswegen
(Spielrein 1933: 31). Neben den messbaren Fähigkeiten rückte mehr und mehr die Neigung und das
Interesse in den Fokus der psychologischen Eignungspraxis: „Neigung geht vor Eignung“, formulierte

20 Für die klassischen Verfahren der Psychotechnik in Deutschland steht vor allem Moede, ein radikaler Vertreter psychotechnischer
Massenprüfungen, der seine Kritiker gern als „Schreibtischpsychotechniker“ diffamierte und Arbeitgebern Tipps zum Mobbing unliebsamer
Mitarbeiter gab. Zu Walther Moede Spur 2009.
21 Dazu auch Geuter 1984: 151-161.
22 Die Psychotechnik wurde in Deutschland bereits im Vorfeld dem 7. Kongress für experimentelle Psychologie 1921 in Marburg kontrovers

diskutiert. William Stern, ein Psychotechniker der ersten Stunde, kritisierten die gängige Praxis der Eignungstest hinsichtlich ihrer mangelhaften
wissenschaftlichen Grundierung und die Vereinnahmung des Feldes durch fachfremdes Personal (Stern 1920: 1). Anstatt Psychologen
einzusetzen, wurden psychotechnische Verfahren von Ingenieuren, Handwerkern, einfachen Mitarbeitern durchgeführt. Giese bemerkte
sarkastisch, dass die Psychotechnik offenbar eine Wissenschaft sein, „die man schneller erlernen könne als Schreibmaschine schreiben oder
Spitzenklöppeln“ (Giese 1920: 293). Stern forderte die Sicherung wissenschaftlicher Standards, die Zuständigkeit ausgebildeter Psychologen und
die permanente Kontrolle der Bewährung der Psychotechnik in der Praxis. Außerdem insistierte er, dass die pure Messung physiologischer Daten
nicht ausreiche und die Massenprüfungen durch psychologisch analysierte Einzelprüfungen ergänzt werden, und dass die psychotechnischen
Eignungstests durch psychologische Beobachtung qualitativer Natur ergänzt werden müssen (Stern 1920).
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1927 Helmut Bogen (Bogen 1927) und Franziska Baumgarten hob die Bedeutung von
Charaktereigenschaften und Neigungen für die berufliche Tätigkeit heraus (Baumgarten 1928: 48, 55). Im
Zuge zunehmender Spezialisierung forderte Psychologen die komplexe Erfassung des „Charakters“ der
Probanden. 23 Man lehnte mehr und mehr den Test isolierter Eigenschaften und Fähigkeiten ab und
entwickelte eine charakterologische, ganzheitliche Eignungsdiagnostik, die auf eine „psychologische
Gesamtbegutachtung“ der Gesamtpersönlichkeit zielte (Poppelreuther 1923). Motivation, Wille, Interesse
- die Haltung wurden zur zentralen Größe der Eignungsdiagnostik, 24 die nun statt auf Tests auf situative
Arbeitsproben setzte und die Probanden hinsichtlich ihrer Arbeitshaltung beobachtete (Geuter 1987: 871).
Der Begriff der „psychotechnischen Eignungsprüfung“ wich dem Begriff der „psychologischen
Eignungsuntersuchung“ (Seifert 1977: 13). Die Psychotechnik wurde von einem wirtschaftlichen
Optimierungs-, Rationalisierungs- und Disziplinierungsverfahren, das den „richtigen Mann am richtigen
Platz“ (Taylor 1913: 62f) auswählte, zu einem Institut der situativen Verhaltensbeobachtung und –
lenkung, das auf Motivation und Schaffensfreude in der Betriebsgemeinschaft zielte (Arnold 1925: 206f).
Die Arbeitenden wurde also nicht mehr nur unter dem Gesichtspunkt der möglichst optimierten
Bewegung und maschinengerechten Reaktion gesehen, sondern auf seine Gefühle, Stimmungen und
Einstellungen im Arbeitsprozess hin untersucht. Er ist nicht mehr anzupassendes Teil einer Maschinerie,
sondern dynamisches Element eines komplexen organisationalen und sozialen Systems.
Kurt Lewins hat mit seinen Experimenten wesentlich zu dieser Veränderung beigetragen. Zusammen mit
Hans Rupp, einen der führenden Psychotechniker der Weimarer Republik, führte er 1928 beispielsweise
„Untersuchungen zur Textil-Industrie“ 25 durch, in denen Rupp und Lewin forderten, über die pure
psychotechnische Prüfung äußerlicher Vorgänge hinauszugehen und „das innerlich, psychologisch
Charakteristische, ‚Kritische‘ der Arbeit“ (Lewin/Rupp 2008: 181) einzubeziehen. Neben der
Beschreibung von Arbeitsabläufen und handwerklichen Eignungen von Arbeiterinnen in der
Textilindustrie legten sie Wert auf Erforschung der „dynamischen Faktoren des Arbeitsvorganges“
(Lewin/Rupp 2008: 254). Ganz im oben dargestellten Sinne der topologischen Psychologie galt das
Interesse der beiden dem Verlauf des Gesamtprozesses der Arbeit als Ganzes und der Feststellung, in
welchem konkreten Arbeitsfeld sich die Arbeiterin bewegt, also der Ermittlung der „Topologie des
inneren und äußeren Arbeitsfeldes, wie d[en] Kräfte[n], die vom Arbeitsfelde auf den Arbeiter wirken“
(Lewin/Rupp 2008: 254). Denn:

23 Dazu Giese 1925: 773, 776; Domsch, Jochum 1989: 2f. Zur Charakterologie Geuter 1984: 168-180. Lewin setzt sich mit seiner topologischen
Verhaltenslehre, wie bereits oben erwähnt, deutlich von einer „Charakter“-Beschreibung ab.
24 In der Hawthorne-Studien-Reihe (1924-1932) im Auftrag des National Research Council und der amerikanischen Elektrizitätsindustrie wurde

erstmals der Einfluss der Arbeitseinstellung und –motivation auf die berufliche Arbeitsleistung untersucht. Außerdem entdeckte man, dass
Versuchspersonen ihr Verhalten ändern, wenn ihnen bewusst ist, dass sie Teil eines Experimentalsystems sind (Hawthorne-Effekt). Ihr Verhalten
wird also durch die Studie verfälscht oder gar erst hervorgerufen, was natürlich die Validität von Untersuchungsergebnissen in Frage stellte. Man
entwickelte darauf hin Verfahren, in denen die Arbeitsleistung durch die aktive Einbeziehung der ArbeiterInnen in die Studie, durch nicht-
direktive Führungsstile (v.a. durch von Elton Mayo von der Harvard Business School) und Lohnanreize gesteigert werden konnte. In der Folge
entwickelte sich als Gegenmodell zum Taylorismus der Human-Relations-Ansatz, in dem der homo oeconomicus dem social man weichen sollte
und wirtschaftliches als Teil des sozialen Handelns verstanden wurde. Roethlisberger, Dickson (1939) 1966. Zentrale Forschungsthemen wurden
nun Gruppenphänomenen, soziale Interaktionen, Arbeitszufriedenheit und kooperative Führungsstile. Auch Kurt Lewin wird sich nach seiner
Flucht in die USA mit solchen Fragen beschäftigen und zu einem führenden Vertreter der Gruppendynamik und der Führungsstilanalyse
aufsteigen. Lück 2001, S. 111-134.
25 Lewin, Rupp (1928) 2008: 180-259.

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„Die Arbeiterin befindet sich in einem psychischen Kraftfeld, von dessen
                   momentanen Zustand der psychologische und der wirtschaftliche Sinn der
                   einzelnen Aktion abhängt.“ (Lewin/Rupp 2008: 258f)

Wenn man also dieses Kraftfeld beeinflusst, so kann man nach Rupp und Lewin gezielt das ökonomische
Verhalten steuern:

                   „Vom psychotechnischen Standpunkt aus kommt es dann drauf an,                                das
                   Arbeitsfeld bzw. die innere Situation des Arbeiters derart umzugestalten,                    daß
                   Aufforderungscharaktere und damit psychische Kräfte zu den Zeitpunkten                       und
                   in solcher Richtung entstehen, daß das natürliche Verhalten zugleich                          das
                   zweckmäßigste ist.“ (Lewin/Rupp 2008: 255)

Rupp und Lewin setzen nicht auf äußeren Zwang oder die Anpassung an vorgängige Normen, sondern
auf das „Führen der Führung“ (Foucault 1994: 255), auf die Einflussnahme auf das psychische Feld, das
sich dann ganz von selbst „zweckmäßig“ verhält.
Das Datenmaterial für diese (Selbst-)Steuerung stellen Rupp und Lewin einerseits maschinell her: Sie
lassen die Arbeitsvorgänge von Maschinen beobachten, die ein „Schaubild“ (Lewin/Rupp 2008: 259)
bestehend aus Strichen auf Papierstreifen mittels Vielfachschreiber bzw. elektrischen Vielfachschreiber,
„Registrierapparat[e] für Geschehensverläufe“ (Lewin/Rupp 2008: 229-232), herstellen. Rupp und Lewin
erzeugen also mittels der Produktion von differentiellen Zeichenketten einen Repräsentationsraum für die
spätere Analyse. Nicht die Arbeitsabläufe selbst, sondern diese im Forschungsprozess erst hergestellten
Bilder werden analysiert. 26 Lewin setzt aber neben den Maschinen auf die „direkte Mitarbeit des
Arbeiters“ (Lewin 2008: 274) bei der Datengewinnung. Die wesentliche Aufgabe der Arbeitenden – „wie
bei psychologischen Experimenten überhaupt“ – besteht darin, „‘Selbstbeobachter‘ zu sein, d.h.
Aufschluß zu geben zu können über die näheren Eigentümlichkeiten ihrer Arbeitsweise unter bestimmten
Versuchsbedingungen“ (Lewin 2008: 274). Um diese „Selbstbeobachtungen“ abschöpfen zu können,
etabliert Lewin Diskussionsrunden, an denen neben den ForscherInnen auch die Arbeitenden teilnehmen
und die Ergebnisse der Untersuchung diskutieren sollten.
Gleichzeitig fungierte eine abschließende Diskussionsrunde als „Umlernverfahren“ (Lewin/Rupp 2008:
255), die im Falle der Textilindustrie-Untersuchung die Arbeiterinnen durch die Präsentation und
Diskussion von Schaubildern der verschiedenen Arbeitsweisen und einfache Formeln zum „richtige[n]
Verhalten im konkreten Fall“ durch „Einsicht in den leistungsmäßigen Nutzen“ angehalten werden sollten
(Lewin/Rupp 2008b: 256). Den Arbeiterinnen wurde also nicht lediglich ein optimierter Arbeitsverlauf
vorgegeben, sondern sie sollten die an ihnen beobachteten idealen Abläufe selbst „einsehen“ und durch
diese „Einsicht“ sich selbst steuern.
Rupp und Lewin setzten also anstatt auf psychotechnische Zurichtung entlang von feststehenden Normen
auf Selbststeuerung durch Selbstbeobachtung und eigene Einsicht in gemeinsam diskutierte
Zusammenhänge zwischen dem individuellen Verhalten und der Gesamtsituation vor Ort. Das
Experiment fungiert hierbei als (Selbst-)Beobachtungstechnologie und gleichzeitig als Verfahren der
Einstellungsänderungen. In dieser Dopplung fällt die Trennung von Objekte und Subjekte der Forschung,

26   Auf diese für Experimentalsysteme nach Rheinberger typische Vorgehensweise werde ich später zurückommen.
                                                                                                                       8
verschwimmen die Beobachtung von Forschungsgegenständen und deren Herstellung bzw. Umstellung,
verwischt sich die Grenze zwischen Untersuchung und Übung.
Ziel dieser doppelbödigen Experimente war, wie Lewin in seinem Aufsatz „Die Sozialisierung des
Taylorsystems“ 1920 programmatisch und (im Sinne eines anzustrebenden Sozialismus) unumwunden
biopolitisch formulierte, 27 „Menschenökonomie“ 28 und „Sozialhygiene“ 29 (Lewin 2008: 277). Er plädiert
dafür, die „unmittelbar auf seelische Faktoren gerichtete Methode“ (Lewin 2008: 275) der experimentellen
Regulierung in allen Betrieben einzuführen, und „wo Betriebe also kurzsichtig genug sein wollen, derartige
Verbesserungen abzulehnen, wäre von Gemeinschafts wegen auf ihre Einführung hinzuwirken“ (Lewin
2008: 288) und zwar von einer „straff[en] zentrale[n] Leitung“, „die in wissenschaftlicher Hinsicht die
Forschungsarbeit leiten, deren Ergebnisse zu ordnen und wissenschaftlich zu prüfen hätte“ (Lewin 2008:
289).
Lewin wird diese Form der protokybernetischen Verhaltensregulation später nicht nur in der
Industrieberatung, sondern auch in der Regierungsberatung in den USA einsetzen, hier allerdings nicht
mehr im Dienste des Sozialismus‘, sondern der von ihm sehr geschätzten US-amerikanischen
Demokratie. 30 Lewins Feldexperimente zum „dynamischen Prozess der Einstellungsänderung“ (Lück
2001: 116) haben nun auch ganz praktisch biopolitische Ausrichtung: Er führt z.B. unter Mitarbeit von
Margaret Mead eine Studie zu den Ernährungsgewohnheiten der Hausfrauen des mittleren Westens durch
und versucht die Konsumgewohnheiten mittels Gruppendiskussionen und Gruppenentscheidungen im
Sinne der „Volksgesundheit“ positiv zu beeinflussen (Lück 2001: 114-117). 31
Man kann Lewins experimentelle Topologie des Verhaltens als klar biopolitische Steuerungspraxis
beschreiben, die um „dynamische Faktoren“, um Ereignisse, das „Kritische“ (Lewin/Rupp 2008: 181), das
Kontingente im und des Verhaltens einen topologischen Sicherheitsraum legt, um a) Wissen darüber
herzustellen und b) Zugriff darauf zu suchen. Zugriff auf das Feld und seine Kräfte aber sollen über
Verfahren der Selbstbeobachtung, Selbststeuerungen wie Selbstkorrektur, durch Feedback und
Gruppendiskussion erlangt werden. Lewins „Gestaltungsprinzip“ (Lewin 2008: 263) propagiert das direkte
„Design“ von Verhalten über indirekte Methoden des „Führens der Führung“ im laborfernen, alltäglichen
Umfeld unter sensibler Mitwirkung von im indirekten Führungsstil 32 agierenden ForscherInnen und
Führungskräften, die also nicht aus der Distanz beobachten, sondern selbst in die Experimentalanordnung
eingreifen.

27 Wichtigster Gewährsmann für Sozialismusfragen ist in Lewins Text Karl Korsch, der Brecht und Lewin miteinander bekannt machte und den
sein enger Freund Brecht als einen der wichtigsten marxistischen Denker verehrte. Lewin bezieht sich dabei auf Korsch 1919. Zur Freundschaft
Lück 2001: 111.
28 Lewin zielte auf eine vom „menschenökonomischen Standpunkt“ aus möglichst effiziente Nutzung der individuellen „Fähigkeiten und

Anlagen“, die er als „Gemeingut“ begriff (Lewin 2008: 272).
29 Lewin wollte den „‘Verbrauch‘ des Arbeiters im Dienste der Produktion“ minimieren, indem man den „Lebenswert“ der Arbeit steigert (Lewin

2008: 272). Für ihn war es eine volkswirtschaftliche Notwendigkeit, durch ein gutes und effizientes Arbeitsklima, die Arbeitsbindungen der
ArbeitnehmerInnen und die Produktion insgesamt zu verbessern (Lewin 2008: 265, 269).
30 Er brachte es hier zu solchen Ruhm, dass ihn der US-amerikanische Historiker als einen herausragenden Vertreter des typisch amerikanischen

„Democratic Social Engineering“ ehrte. Graebner 1986.
31 Lewins Konzept der normalisierenden Selbstregulierung innerhalb von Gruppenprozessen weist übrigens nicht ohne Grund auch Ähnlichkeiten

zum Assessment-Center-Verfahren auf. Tatsächlich war Lewin an der Entwicklung des Offiziersauswahlverfahrens in Deutschland beteiligt, das
in den 1940er Jahren in den USA zur Agentenausbildung eingesetzt und später auch als Auswahlverfahren in der Wirtschaft. In den USA arbeitete
Lewin wiederum im Office of Strategic Services (OSS) an der Agentenausbildung mit. Die Überschneidungen sind also vielschichtig, können an
dieser Stelle leider nicht weiter ausgeführt werden. Dazu auch Rothe 2009.
32 Lewin entwickelte in den USA das Konzept des indirekten Führungsstils, das bis heute in Management, Organisations- und Arbeitspsychologie,

Personalentwicklung und Pädagogik enormen Einfluss hat.
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Die Aussicht, über eine Anleitung zur Selbstführung das unkalkulierbare Verhalten der Einzelnen sich
unter sanfter Einwirkung selbst steuern zu lassen; die Vorstellung, Technologien zu haben, die es
ermöglichen – wie im Röhrenradio die Sprache –, die Psyche des Einzelnen zwischen modulierbaren
Kraftfeldern vibrieren zu lassen; diese Fantasie vom Zugriff und Eingriff in das menschliche Verhalten
ohne autoritäre Disziplinierung, ja ohne selbst im Besitz einer vorgängigen „Wahrheit“ zu sein, beflügelte
nicht nur Betriebsführung und Militär,33 sondern auch die politische Ästhetik Bertolt Brechts. Brecht
orientierte sich – und das gilt es nun zu zeigen – an der topologischen Psychologie Lewins, um seine Ideen
vom eingreifenden Theater zu verwirklichen.

Brechts Werkstatt
Der Einfluss von Lewin auf Brecht ist vielfältig und schwer zu fassen. Sie lernten sich über Karl Korsch
(Langemeyer 1998) erst 1943 persönlich kennen, 34 teilten aber bereits in den 1920er und 1930er Jahren das
Interesse für sozialistische Ideen. Insofern ist es vorstellbar, dass Brecht Lewins Aufsatz über „Die
Sozialisierung des Taylorsystems“ kannte, der 1920 in der von Karl Korsch herausgegebenen
Schriftenreihe „Praktischer Sozialismus“ erschien. Darüber hinaus kannte er laut Sautters die
Druckfassung von Lewins Vortrag „Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in
Biologie und Psychologie“ von 1931 (Lewin 1981), die in der von Carnap und Reichenbach
herausgegebenen Zeitschrift „Die Erkenntnis“ erschien, die wiederum Brecht seit der ersten Ausgabe
bezog. 35 Lewin hielt diesen Vortrag an der am Berliner Standort des Wiener Kreises der Gesellschaft für
empirische Philosophie. Bereits hier könnte Brecht dem Vortrag beigewohnt haben, da ihm das Institut
aus seiner eigenen Vortragstätigkeit vertraut war. Geht man vor allem Brechts Schriften der 1930er Jahre
durch, finden sich in großer Zahl Hinweise, aber nur in einer Fußnote ein direkter Verweis und zwar auf
Lewins frühen Text zur Topologie von „Kriegslandschaften“ (1918). 36 Brecht definiert hier Raum im
Sinne der topologischen Psychologie Lewins als dynamische, performativ sich erst im „Gebrauch“
konstituierende Räumlichkeit des konkreten Individuums (GBA 22.1: 251).
Brechts Arbeits- und Umgangsweise mit Experten und sein großer Bekanntenkreis zeigen, dass er seine
Arbeit als Produkt von Werkstattgesprächen betrachtete. Er spricht unverblümt von seiner
„grundsätzlichen Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“ (GBA 2: 440). Brecht sah sich selbst als
Produzent, der kollektiv mit den Produktionsmitteln der Zeit arbeitet und organisatorisch tätig ist (Knopf
2001 24f, 33). Insofern werden in Brechts „Werkstatt“ (Knopf 2001: 27) alle möglichen Ideen, Konzepte,
Anregungen, Gespräche und eben auch wissenschaftliche Erkenntnisse weiterverarbeitet:

33 Der Psychologe Rieffert entwickelte wurde u.a. auf Grundlage der Lewinschen Forschungen ein Offiziersauswahlverfahren, das auf die indirekte
„Führen der Führung“ zielte und später über Umwege in den USA als Assessment-Center-Verfahren beim Geheimdienst eingesetzt wurde (auch
hier arbeitet Lewin wieder mit), bevor es sich in den 1950er Jahren in der Wirtschaft als Auswahlverfahren für Führungskräfte etablierte. Dieser
Zusammenhang wird für meine zukünftigen Untersuchungen zentral werden.
34 Brecht erwähnt Lewin in seinem Arbeitsjournal unter dem Eintrag „März, April, Mai 42“, als er von dem Befinden von befreundeten Exilanten

berichtet: „[…] neue bekanntschaft: kurt lewin, der in iowa unter scouts und arbeitern ‚führerbenehmen‘ ausbildet und mich einlädt, interessiert an
dem ‚BÖSEN BAAL DEM ASOZIALEN.“ Bertolt Brecht: Arbeitsjournal 1938-1955. Berlin, Weimar 1977, S. 323. Karl Korsch und Lewin
arbeiteten seit Mitte der 1930er Jahre zusammen, ohne jedoch zu einem gemeinsamen Resultat oder Statement zu gelangen. Mel van Elteren:
“Karl Korsch and Lewinian social psychology: failure of a project History of the Human Sciences”. In: History of Human Science. 5.2/1992, S.
33-61.
35 Dazu Sautter 1995: 701.
36 GBA 22.1: 251, Fußnote 1. Brecht beschreibt in „Der doppelte Aspekt“ (GBA 22.1: 254) selbst eine Kriegslandschaft nach Lewinschen

Vorbild, ohne direkte Nennung Lewins.
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„Kunst und Wissenschaft wirken in sehr verschiedener Weise, abgemacht.
                  Dennoch muß ich gestehen, so schlimm es klingen mag, daß ich ohne
                  Benutzung einiger Wissenschaften als Künstler nicht auskomme.“ (Brecht
                  1963: 58)

Auch Lewins Psychologie geriet in dieses Mahlwerk, wie ich nun in einigen recht groben Strichen einer
ersten Skizze zeigen möchte. Es handelt sich hier nicht um klar zu belegende Bezüge, sondern um
einzelne Fäden, die eingearbeitet und dabei Teil eines anderen werden. 37 Ich möchte diesen Resonanzen
nun in zwei Richtungen nachhören: in Richtung topologischer Raumkonzepte und in Richtung der
Bedeutung des Experiments.

Brechts Topologie
Brecht knüpft wie Lewin an den epistemologischen Paradigmenwechsel der modernen Physik an und
wendet ihn auf die Psychologie des Individuums an. Brecht schreibt:

                  „Eben jetzt stellt die Physik fest, dass die kleinsten Körper unberechenbar sind;
                  ihre Bewegungen sind nicht vorauszusagen. Sie erscheinen wie Individuen, mit
                  eigenem freien Willen begabt.“ (GBA 12: 568)

Um aber solche Bewegungen verständlich zu machen, „war es nötig geworden, die Umwelt, in der die
Menschen lebten, groß und 'bedeutend' zur Geltung zu bringen.“ (Brecht 1963: 53f.) Dabei versteht
Brecht Räumlichkeit im Sinne der topologischen Psychologie Lewins:

                  „Die Psychologie sagt uns, daß je nach dem Gebrauch, den die Menschen von
                  einem Ort machen, ein anderer Augenschein entsteht.“ (GBA 22.1: 251) 38

Das topologische Raumverständnis wiederum überträgt er auf das Bühnenbild, das er aus „mobilen
Elementen“ bestehend entwirft:

                  „Der Aufbau der Bühne in mobilen Elementen entspricht einer neuen
                  Betrachtungsweise unserer Umgebung. Sie wird als veränderlich und
                  veränderbar angesehen, als voll von Widersprüchen in labiler Einheitlichkeit.“
                  (GBA 22.1: 260)

Auf solchermaßen „topologischen“ Bühnen, so Brecht weiter, „haben [wir] es nicht nur mit uns
unbekannten Wirkungen, sondern auch mit uns unbekannten Ursachen zu tun, wenn wir arbeiten. In der
Dramatik werden die Voraussagen, das Individuum betreffend, zunehmend unsicher.“ (GBA 22.1: 395)
Er empfiehlt deshalb in der dynamischen Umgebung „das typische Verhalten des Menschen dieser Zeit
den neuen Methoden der Betrachtung“ (GBA 21: 439) zu unterwerden und das heißt, die „Zustände in
Prozesse auf[zulösen]“ (GBA 21: 439), 39 „Kraftfelder mit entgegenwirkenden Strömungen“ zu untersuchen
und „Bewegungen“ von und in „Mächtegruppen“ zu analysieren (GBA 21: 303). Diese dynamischen
Vorgänge solle in einer „fast wissenschaftliche[n], interessierte[n], nicht hingebende[n] Haltung des
Zuschauers“ beobachtet werden (GBA 21: 439). Die ZuschauerInnen waren also zur Beobachtung
aufgerufen, zu einer „ruhig betrachtende[n], wägende[n] und kontrollierte[n] Haltung […], die unsere

37 Ich beziehe mich auf Brechts Schriften I und II, sowie auf sein Konzept des „Lehrstücks“. Zum Lehrstück ausführlich Krabiel 2006, S. 41-52.
38 In der Fußnote zu diesem Satz bezieht er sich auf Lewins Kriegslandschaften.
39 „Nicht nur die Verhältnisse zwischen den Menschen wurden zu Prozessen – der Mensch selber wurde zum Prozeß.“ GBA 21: 320.

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Techniker und unsere Wissenschaftler zu ihren Entdeckungen und Erfindungen geführt hat. Nur war es
im Theater die Schicksale der Menschen und ihr Verhalten, das interessieren sollte“ (GBA 21: 440).
Diese Beobachtungen wiederum begreift Brecht wiederum in Rückbezug auf die Physik
(Unschärferelation) als eingreifende Praxis, denn „das Untersuchte wird durch die Untersuchung
verändert“ (GBA 22.2: 730). Und Ziel der Brechtschen Dramatik ist es ja, „das Zusammenleben der
Menschen so [zu demonstrieren], daß es beeinflußbar von der Gesellschaft erscheint“ (GBA 22.1: 393).
Sowohl Lewin als auch Brecht grenzen sich in ihren „Topologien“ von „aristotelischen“ Konzepten ab –
Lewin vom „aristotelischen Begriffsbildung“, Brecht von der „aristotelischen“ Poetik. Wie Lewin kann
man auch Brechts anti-aristotelisches Programm dabei anhand der vier Aspekte 1. Homogenität, 2. Feld,
3. Situation und 4. Experiment beschreiben. Brecht fordert:
1. anstatt der Einfühlung Homogenität und Gesetzlichkeit (GBA 22.1: 396) 40;
2. anstatt der Beschreibung des „typische[n] Ablauf[s] eines Menschenlebens“ (GBA 22.1: 171) und der
Behauptung der Normalität über Dauer und die Häufigkeit der Wiederholung (Brecht 1963: 54) die
Berücksichtigung des singulären, widersprüchlichen und konkreten Falls (Brecht 1963: 54), der als Typus
jedoch für eine Haltung steht (GBA 21: 441; GBA 22.1: 393; GBA 22.1: 396) 41;
3. statt der Katharsis durch Mimesis und Tragödie solle die genaue Situation zur Kenntnis genommen
werden.

                  „Die Vorgänge (Situationen, Menschen, Meinungen, Emotionen usw.)
                  werden mit Hilfe der V-Effekte ‚entselbstverständlicht‘, d.h. es wird ihnen
                  die A-priori-Geltung entzogen und der Charakter des Einmaligen,
                  Historischen, Änderbaren verliehen. Das Verhalten der Menschen,
                  zugekoppelt den jeweiligen gesellschaftlichen Motoren, verliert das Fixierte,
                  das ‚Ewige‘, ‚Natürliche‘ (einer fixierten Natur) und gewinnt so etwas
                  Fremdes, zu Studierendes […].“ (GBA 22.1: 599);

4. anstatt durch Identifizierung Zuschauenden „besoffen“ (GBA 22.1: 555) zu machen, solle man „ihm
nunmehr die Welt […] zum Zugriff“ vorlegen und zwar im Experiment (GBA 22.1: 555). 42 Dabei ist die
Erforschung des Überraschenden auch bei Brecht an seine „Reihenhaftigkeit“ gebunden. 43 Das Bühne
wird bei Brecht zum Experimentalraum, in dem sowohl ZuschauerIn als auch SchauspielerIn erst eine
distanzierte, reflektierte Haltung des Beobachtenden gegenüber „menschliche[n] Material“ einnehmen, um
es in einem zweiten Schritt „selber zu ordnen“ (GBA 21: 440, Herv.i.O.). 44

40 „Das Denken zielt auf „Wahrheiten“, die immer gelten, gesagt zu jedem Zeitpunkt, auf jedem Feld die gleiche Wirkung haben. Die Wahrheit
hat also weder Zeit noch Ort.“ GBA 21: 421
41 „Die großen Typen, welche als möglichst fremd, also möglichst objektiv (nicht so, daß man sich in sie hineinfühlen konnte) dargestellt wurden,

sollten durch ihr Verhalten zu anderen Typen gezeigt werden. Ihr Handeln wurde als nicht selbstverständlich, sondern auffällig hingestellt: So
sollte das Hauptaugenmerk auf die Zusammenhänge der Handlungen, auf die Prozesse innerhalb bestimmter Gruppen hingelenkt werden. Eine
fast wissenschaftliche, interessierte, nicht hingebende Haltung des Zuschauers wurde also vorausgesetzt (die Dramatiker glauben: ermöglicht).“
GBA 21: 439. Auch „Dialektik und Verfremdung“. GBA 22.1: 401f. Lewin spricht auch von „Typus“: „[D]as Gesetz ist eine Aussage über einen
bestimmten Typus, der durch sein Sosein charakterisiert ist.“ Lewin 1967: 18.
42 Ausführlich schreibt Brecht zur Rolle des Experiments in: „Über experimentelles Theater“. GBA 22.1: 540-561.
43 „Das Individuum mag uns – bei diesen Prozessen in Massen – überraschen. Erst eine ganze Reihe seiner Äußerungen und Bewegungen fixiert

es einigermaßen in der oder jener Masse. Es würde uns an ihm etwas fehlen, nämlich Individuelles, wenn es allzu widerspruchslos der
gesetzmäßigen Bewegung der Masse folgen würde, das wäre bei ihm der Sonderfall.“ „Die Kausalität in nichtaristotelischer Dramatik“. GBA 22.1:
396.
44 „Die Bühne begann zu erzählen. Nicht mehr fehlte mit der vierten Wand zugleich der Erzähler. Nicht nur der Hintergrund nahm Stellung zu

den Vorgängen auf der Bühne, indem er auf großen Tafeln gleichzeitige andere Vorgänge an anderen Orten in die Erinnerung rief, Aussprüche
von Personen durch projizierte Dokumente belegte oder widerlegte, zu abstrakten Gesprächen sinnlich faßbare, konkrete Zahlen lieferte, zu
plastischen, aber in ihrem Sinn undeutlichen Vorgängen Zahlen und Sätze zur Verfügung stellte – auch die Schauspieler vollzogen die
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Ein Gedicht Brechts beschreibt diese experimentelle Herangehensweise aller Mitwirkenden,
SchauspielerInnen wie ZuschauerInnen, recht plastisch:

                  „Betrachtet genau das Verhalten dieser Leute: / Findet es befremdend, wenn
                  auch nicht fremd / Unerklärlich, wenn auch gewöhnlich / Unverständlich,
                  wenn auch die Regel. / Selbst die kleinste Handlung, scheinbar einfach /
                  Betrachtet mit Mißtrauen! Untersucht, ob es nötig ist / Besonders das Übliche!
                  / Wir bitten euch ausdrücklich, findet / Das immerfort Vorkommende nicht
                  natürlich! / Denn nichts werde natürlich genannt / In solcher Zeit blutiger
                  Verwirrung / Verordneter Unordnung, planmäßiger Willkür / Entmenschter
                  Menschheit, damit nichts / Unveränderlich gelte.“ (GBA 2: 793)

Brechts wie Lewins Experimentalanordnungen zielen darauf, „unmittelbar verwertbares Wissen, d.h.
eingreifendes Wissen ausbilden können“ (GBA 21: 526). Ihre Experimente werden so zu Übungen in eine
Haltung des Beobachtens, die Wissen generiert, im Prozess dieser Wissenserzeugung aber gleichzeitig
Gegenstand und „Subjekt“ der Beobachtung verändern soll. Und diese Ausweitung des Experiments zur
Übung betrifft für Brecht, der vehement die Aufhebung des „Systems Spieler und Zuschauer“ forderte,
alle Mitspieler, „die zugleich Studierende sind“ (GBA 21, 396).
Die Räumlichkeit der topologischen Psychologie, ihre Gleichzeitigkeit von Untersuchung und
Veränderung des Forschungsgegenstandes, aber auch die räumliche wie personelle Ausweitung der
Beobachtungspositionen und die zentrale Bedeutung des einzelnen Falls in Form eines „Typus“ in
komplexen, variablen Umgebungen, all diese Aspekte der experimentellen Topologie Lewins kommen
dem Brechtschen Projekt des „Lehrstücks“ als „neuartige[s] Institut ohne Zuschauer“ (GBA 21: 320)
offenbar sehr entgegen. Auch in den konkreten „Versuchsaufbau“ ihrer Experimente lassen sich
Übereinstimmungen finden, die ich abschließend an einigen Beispielen zeigen möchte.

Vom „Werkstattcharakter“ zum „Experimentalcharakter“
Sowohl Lewins als auch Brechts Interesse gilt der Erforschung und Regulierung des Verhaltens von und
zwischen Menschen. Dabei nähern sie sich diesem unsicheren Untersuchungsgegenstand nicht über
statistische Daten und messbare Normen wie die klassische Psychotechnik. Vielmehr bauen sie um die
Vagheit ihres Forschungsgegenstandes herum Experimentalanordnungen auf, die diese Daten erst
produzieren.
Diese Experimentalisierung beginnt für Brecht bereits auf der Ebene der Textproduktion. Bereits sein
Schreiben hat experimentellen Charakter. Brecht fordert die „Technifizierung“ der schriftstellerischen
Produktion. Der Autor solle ein Experimentator sein, der an die literarischen Gegenstände mit „den
neuen Methoden der Betrachtung“ (GBA 21.1: 439) herantritt. So begreift Brecht selbst seine
dramaturgische wie auch schriftstellerische Arbeit als fortwährenden, seriellen Prozess des
Experimentierens. Er veröffentlicht seine Lehrstücke in immer wieder überarbeiteten Versionen
beispielsweise in den „Versuchen“, eine Reihe von zeitschriftenartigen Heften, die aus preiswerten grauen
Papier bestanden und entsprechend preiswert zu erwerben waren. Sie sollten schon äußerlich
Gebrauchskunst sein, für den „Gebrauch“ bestimmt, Hefte, die man, nach dem sie „einverleib[t]“ (GBA

Verwandlung nicht vollständig, sondern hielten Abstand zu der von ihnen dargestellten Figur, ja forderten deutlich zur Kritik auf.“ Brecht 1963:
54.
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