Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
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Dreigroschenheft Informationen zu Bertolt Brecht 27. Jahrgang Heft 1/2020 Vorschau auf das Brechtfestival (14.–23. Februar 2020) Gesine Bey über Brecht, Egon Breiner, Bruno Kreisky Andreas Hauff zu Dessaus und Eislers Wiegenlied Gerhard Gross erzählt Neues über Bi und Brecht: u.a. vom Kaffeeklatsch in Kimratshofen (Foto)
Spektakel Hörspiele Filme IM IM IM MARTINI–PARK S-PLANETARIUM LILIOM Spektakel * Premieren * Uraufführungen * Theater * Musik * Literatur * Hörspiel * Film * Konzert u.v.m. 14.2. bis 23.2. 2020 „ Er ist vernünftig, jeder versteht ihn.“ brechtfestival.de
Inhalt Kurz vor Druck: Setzen und genießen . . . . . 2 Der Augsburger Impressum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Gerhard Gross: Neues über Brecht, Kimratshofen und die Banholzers. . . . . . . 33 Brechtfestival „Er ist vernünftig, jeder versteht ihn“: Brecht für Lyrik alle beim Brechtfestival 2020. . . . . . . . . . . 3 Brecht-Übersetzer David Constantine und Tom „Wo man früher noch Brecht lesen musste, reicht es Kuhn stellen ihre Arbeit vor . . . . . . . . . . 38 heute, die Zeitung aufzuschlagen!“ . . . . . . . . . . . 5 Franz Fromholzer Politische Selbstkastration. . . . . . . . . . . . 8 Nikolaus Merck Der Augsburger Eine Begegnung mit Tanja Kinkel in der Musik Augsburger Staats- und Stadtbibliothek. . . . 40 Brechts Hauspostille zum Hören. . . . . . . . 10 Karin Perz Theater Rezensionen Brecht als humorvoller Aufklärer Kindt, Tom (2018): Brecht und die Folgen . . 42 unserer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Florian Vaßen Diana Zapf-Deniz KK und BB. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Gerd Koch Brecht international „Dieser unerwartete Anruf hat mich getroffen, Brecht international als ob mir ein Pflasterstein auf den Kopf „Die Ausnahme und die Regel“: Reflexionen gefallen wäre.“Egon Breiner schreibt an über szenische Experimente in São Paulo, Johannes Kunz. . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Brasilien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Gesine Bey Laura Brauer Musik Musik „Wiegenlied“ in der Komposition von Paul Nichts für „stillen Suff “: „Lehrstück“ oder Dessau:Ein besonderes Geschenk Brechts. . . 22 Lehrstück? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 Dessaus „Wiegenlied“ – nicht nur für Peter Jan Knopf Breiner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 Andreas Hauff Dreigroschenheft 1/2020
Kurz vor Druck: Impressum Dreigroschenheft Informationen zu Bertolt Brecht Gegründet 1994 Herausgeber 1994-2009: Kurt Idrizovic www.dreigroschenheft.de Erscheint vierteljährlich zu Quartalsbeginn Einzelpreis: 7,50 € Jahresabonnement: 30,- € Martha Schad, Komm und setz dich, lieber Gast – Am Anschrift: Wißner-Verlag GmbH & Co. KG Tisch mit Bertolt Brecht und Helene Weigel“, gebunden, Im Tal 12, 86179 Augsburg 208 Seiten, Augsburg: Presse-Druck- und Verlags- Telefon: 0821-25989-0 GmbH, ISBN 978-3946282150, 24,95€ www.wissner.com redaktion@dreigroschenheft.de Setzen und geniessen vertrieb@dreigroschenheft.de Der prächtige Bildband der internatio- Bankverbindung: Wißner-Verlag GmbH & Co. KG Stadtsparkasse Augsburg nal erfolgreichen Augsburger Historike- Swift-Code: AUGSDE77 rin Martha Schad, „Komm und setz dich, IBAN: DE15 7205 0000 0000 0282 41 lieber Gast – Am Tisch mit Bertolt Brecht und Helene Weigel“, 2005 in der Collection Redaktionsleitung: Michael Friedrichs (mf) Rolf Heyne München erschienen und seit Wissenschaftlicher Beirat: Dirk Heißerer, Tom Kuhn, langem vergriffen, ist nun vom Verlag der Joachim Lucchesi, Werner Wüthrich Augsburger Allgemeinen inhaltlich un- verändert, aber in neuem Design heraus- Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe: Gesine Bey, gebracht worden. Die kombinierte kuli- Tina Bühner, Michael Friedrichs, Franz Fromholzer, Gerhard narische und literarische Spurensuche hat Gross, Andreas Hauff, Gerd Koch, Karin Perz, Florian Vaßen, Diana Zapf-Deniz ergeben, dass kaum ein Werk Brechts ohne Essen und Trinken auskommt; obendrein Titelbild: Kaffeeklatsch in Kimratshofen (Archiv Gerhard sind viele einschlägige Anekdoten überlie- Gross) fert. Ergänzend werden 50 Originalrezepte aus dem handschriftlichen Nachlass von Druck: WirmachenDruck GmbH, Backnang Helene Weigel dokumentiert, und das gan- ISSN: 0949-8028 ze ist mit vielen Fotos appetitanregend ver- anschaulicht. Gefördert durch die Im Brechthaus Augsburg wird das Werk am Stadt Augsburg 9. Februar vorgestellt, und am 7. März wird im gegenüberliegenden Brechts Bistro daraus Gefördert durch den gelesen (von der Autorin) und gekocht (von Bert Brecht Kreis andern). (mf) Augsburg e.V. Dreigroschenheft 1/2020
„Er ist vernünftig, jeder versteht ihn“: BrechtFestival Brecht für alle beim Brechtfestival 2020 Die neuen künstlerischen Leiter Tom pelbaren Brecht thematisieren wir die an- Kühnel und Jürgen Kuttner (© Fabian dere Seite: die Unterhaltung, das Wilde, den Schreyer) inszenieren das Brechtfestival Zirkus, den Jahrmarkt, den Punker Brecht. 2020 als genreübergreifendes Gesamtkunst- Einen Brecht, der durchaus weit in die Pop- werk – mit vielen exklusiven Produktionen kultur strahlt“, so Jürgen Kuttner. und spontanen Interventionen, mit Thea ter, Literatur, Musik, Hörspiel, Film und Die Highlights im Überblick erlesenen Gästen. Ob Gassenhauer oder Neuentdeckung, ob schriller Spaß oder Zwei Spektakel-Ereignisse am Freitag 14.2. kluger Tiefsinn: Das Brechtfestival lädt vom und Samstag 22.2. stehen im Zentrum des 14.–23. Februar dazu ein, Unbekanntes mit Programms. Der martini-Park wird zum Neugier zu erkunden und (vermeintlich) Brecht-Jahrmarkt mit vielen Bühnen und Bekanntes mit anderen Augen zu sehen. insgesamt über 20 Beiträgen. Corinna Har- fouch performt mit der Band Die Tentakel „Er ist vernünftig, jeder versteht ihn“ von Delphi Exilgedichte, Lars Eidinger – dieses Motto hat sich das kommende kratzt mit seiner Version von Brechts Haus- Brechtfestival auf die Fahnen geschrieben. postille an den Rändern des Asozialen, die 2020 gibt es „Brecht für alle“. Folgerichtig Regisseurin Kalliniki Fili haucht einem legen die Festivalleiter die aktuelle Ausgabe vielstimmigen Text von Lothar Trolle Le- als großes Spektakel an: „Gegen den Schul- ben ein – das alles und noch viel mehr gibt buch-Brecht, gegen Brecht den Klassiker, es bei „Spektakel Vol.1“ und „Spektakel gegen den grauen, funktionalistischen, sta- Vol.2“ zu entdecken. Dreigroschenheft 1/2020
Shari Vari und Banda Internationale feat. BrechtFestival Bernadette La Hengst. Die Band The Cold War mit Augsburger Künstler*innen for- miert sich exklusiv für das Brechtfestival. Das Staatstheater Augsburg ist wieder Ko- operationspartner und in der diesjährigen Brechts Leidenschaft für den Augsburger Ausgabe des Festivals besonders produk- Plärrer ist literarisch verbürgt. Also darf tiv. Auch eine Uraufführung gehört dazu: eines beim Spektakel nicht fehlen – ein Rie- Die mehrsprachige Zusammenarbeit mit senrad. Und selbstverständlich wird auch den Städtischen Bühnen Prag „Švejk / dies zur Bühne: „Brechts Big Wheel“. Schweijk“ in der Regie von Armin Petras feiert am 21.2. Premiere. Trotz aller Wildheit, Spektakel-Spaß und Marktschreierei: Auf inhaltlicher Ebene Eine weitere transnationale Ost-West-Zu- geht das Festival ganz im Geiste seines Na- sammenarbeit ist die „Lehrstückzentrale“. mensgebers in die Tiefe. Mit teils selten ge- Die Augsburger Theaterensembles theter hörten Texten von Brecht und Heiner Mül- und bluespots productions arbeiten mit- ler – Gedichten, Lehrstücken, Hörspielen, tels moderner Kommunikationstechnik Krieg und Kalter Krieg, Osten und Westen, über tausende Kilometer hinweg zwischen Heute und Morgen, Theorie und Praxis – all New York, Augsburg und St. Petersburg mit das umkreist das Brechtfestival. dem Regisseur Oleg Eremin und der Regis- seurin Alice Bever an Brecht- und Müller- 16 Neuproduktionen, mehr als jemals zu- Texten und geben beim Festival Einblicke vor, gehören zum Programm und sind erst- in den Arbeitsstand und ihre Erfahrungen. mals und exklusiv in Augsburg zu erleben. Darunter zwei internationale Koproduk- Mit „Kosmos Heiner Müller“ präsentiert tionen sowie weitere Beiträge von promi- das Festival vom 18.–21.2. eine Reihe aus- nenten Künstlern und Künstlerinnen wie gewählter Hörspiele im S-Planetarium mit den Schauspieler*innen Charly Hübner, Einführungen namhafter Experten. Die Milan Peschel, Kathrin Angerer und dem Filmreihe „Von Hollywood nach Buckow“ Politiker und Satiriker Martin Sonneborn. im Liliom Kino zeigt vom 19.–21.2. Brecht als Drehbuchautor, Regisseur und als Pro Im Rahmen des Eröffnungsabends am 14.2. tagonist eines fiktionalisierten Künstler- ist auf der Bühne im martini-Park ein Gast- porträts. spiel des Schauspiels Hannover zu sehen: Heiner Müllers „Der Auftrag“ in der In- Ihre 2015er Inszenierung „Eisler on the szenierung von Tom Kühnel und Jürgen Beach“ vom Deutschen Theater Berlin ver- Kuttner mit Corinna Harfouch u.a. wird dichten die Regisseure Tom Kühnel und beim Brechtfestival zum allerletzten Mal Jürgen Kuttner exklusiv für das Brechtfe- überhaupt gespielt. stival zu dem Liederabend „Eisler: Wir so gut es gelang, haben das Unsre getan“. Mit 2020 konzentriert sich die „Lange Brecht- Berlinale-Filmpreisträgerin Maren Eggert, nacht“ erstmals auf einen Ort. Im Kongress dem Schauspieler Ole Lagerpusch und den am Park geht es am 15.2. mit der Popkul- Pauken und Trompeten der Bolschewi- tur-Rakete auf zu neuen Sphären. Auf drei stischen Kurkapelle Schwarz-Rot aus Ber- Bühnen spielen The Notwist, Fatoni, Gis- lin geht das Brechtfestival 2020 musikalisch bert zu Knyphausen, Voodoo Jürgens, zu Ende. Dreigroschenheft 1/2020
„Wo man früher noch Brecht lesen • Was gibt es an Brecht neu zu entdecken? BrechtFestival musste, reicht es heute, die Zeitung Kuttner: Neu, neu, neu? Lasst uns das alte, das vermeintlich Bekannte an ihm entde- aufzuschlagen!“ cken. Die einen sagen, dass unsere Welt Tom Kühnel und Jürgen Kuttner sind die immer „komplexer“, immer „unüberschau- künstlerischen Leiter des Brechtfestivals barer“ wird – ein Gedanke, den ich nicht 2020. Die beiden Berliner haben sich einen teile. Wer so etwas sagt, ist nur denkfaul. Namen als Regie-Duo gemacht und gelten Die Welt war nie einfach und nie mit einem als Brecht-Experten. Wie ticken sie, was ist Seitenblick zu überschauen! Was sich in ihr Blick auf Brecht? Jürgen Kuttner, der auch den letzten zwanzig, dreißig Jahren verän- als Radiomoderator und Kulturwissenschaft- dert hat, führte aber nicht dazu, dass Brecht ler bekannt ist, beantwortet einige Fragen für „aktueller“ oder „wieder aktuell“ geworden das Dreigroschenheft. ist, vielmehr ist unsere Gesellschaft nach ei- ner kurzen sozialstaatlichen Irritation ein- • Ihnen beiden geht der Ruf voraus, derzeit fach wieder brechtischer geworden, hat sich die Brecht-affinsten Theaterleute zu sein. der Gesellschaft, die Brecht beschrieb, hat Was soll man heute mit Brecht machen? sich den vermeintlich alten, den vermeint- Kuttner: Das ist Quatsch! Grundsätzlich lich überholten Fragen Brechts angenä- muss man wohl sagen, dass man als The- hert. In gewisser Weise ist sie sogar wieder aterregisseur, als Schauspieler oder auch „überschaubarer“ geworden. Ein US-ame- Performer an Brecht, der das Theater, rikanischer Präsident wie Donald Trump ist auch das Welttheater, grundstürzend ver- kein Fehler des Systems, wie immer wieder ändert hat, einfach nicht vorbeikommt. behauptet wird – er ist Ausdruck, Symptom Ob bewusst oder unbewusst und selbst in des Systems, in dem wir leben. Das einzig der Negation wirkt Brechts Theaterpraxis Irritierende, Verblüffende ist nur, dass das und seine Theatertheorie, seine Texte, sein so klar, so deutlich bisher nicht zu sehen analytischer Blick auf gesellschaftliche Ver- war. Trump ist eine brechtsche Figur par ex- hältnisse nach. Sätze wie „erst kommt das cellence – ein Präsident einer Gesellschaft, Fressen, dann kommt die Moral“ kennen die sich in ihm „bis zur Kenntlichkeit ent- selbst die, die den Namen Brecht noch nie stellt“ sehen kann. Man könnte fast sagen: gehört haben. Richtig ist, dass Brecht für Wo man früher noch Brecht lesen musste, uns von Anbeginn unserer gemeinsamen reicht es heute, die Zeitung aufzuschlagen! Arbeit an, z.B. mit „Jasagen und Neinsa- gen“ (eine „Coverversion“ des brechtschen • Wie wünschen Sie sich Ihre Besucher* Jasager/Neinsager-Lehrstücks) über „Die innen? Schöpfer der Einkaufswelten. Ein quasi- Kuttner: Mit Spaß und Neugier. maoistisches Lehrstück“ (nach Harun Faro- cki) bis hin zum Müllerschen „Der Auftrag“ Das Brechtfestival Augsburg wird veranstal- und dem „Untergang des Egoisten Johann tet vom Brechtbüro im Kulturamt der Stadt Fatzer“, ein Fluchtpunkt unserer Arbeit war. Augsburg in Kooperation mit dem Staats Ein besonderer Interessenspunkt war dabei theater Augsburg. Brechts noch immer unabgegoltene, noch immer aufregende Lehrstücktheorie, ohne Infos und Karten unter www.brechtfestival.de die ja das heutige, nunmehr auch schon zwanzig Jahre alte „postdramatische Thea- Text Programmübersicht: Tina Bühner. Die ter” (Hans-Thies Lehmann) nicht denkbar Interviewfragen stellte Michael Friedrichs wäre. Wer als Theatermensch „ich“ sagt, ohne Brecht zu nennen, lügt! Dreigroschenheft 1/2020
Kontext von Brechts Biografie kurz vorstel- BrechtFestival len. Den Anfang macht der Fritz Lang-Film „Hangmen Also Die“ (Bild) aus dem Jahr 1943. Am Drehbuch des Film-Noir-Thril- lers mit NS-Szenario war Brecht beteiligt. „Abschied – Brechts letzter Sommer“ ist ein Portrait, das im Sommer 1956 in Brechts Anwesen in Buckow spielt, mit Josef Bier- bichler, Monica Bleibtreu, Birgit Minich- mayr und Samuel Finzi prominent besetzt. 1950 brachte Bertolt Brecht Der Hofmeister „Der Auftrag. Erinnerung an eine Revo- von Jakob Michael Reinhold Lenz auf die lution“ 14.2.20, 20.30 Uhr, B13 / martini- Bühne, mit hohem Aufwand dokumentiert. Park Mithilfe des Archivmaterials katapultieren Tom Kühnel und Jürgen Kuttner Brechts Am 14.2. läuft beim Brechtfestival (14.2.- Theaterarbeit ins 21. Jahrhundert: in Ein- 23.2.20) das Gastspiel „Der Auftrag“ von zelbildschaltungen, live synchronisiert von Heiner Müller. Die Koproduktion des Kathleen Morgeneyer und Peter René Lüdi- Schauspiels Hannover mit den Ruhrfest- cke vom Deutschen Theater Berlin. „Brecht spielen Recklinghausen ist in Augsburg auf in echt: Jürgen Kuttner live: Hofmeister“ der Großen Bühne des Staatstheaters im feiert seine Augsburg-Premiere am 21.2. martini-Park zum allerletzten Mal über- (siehe auch nachfolgende Besprechung). haupt zu sehen. Regie: Tom Kühnel und Jürgen Kuttner. Mit: Sarah Franke, Corinna „Lehrstückzentrale“, 16.2.20, 18 Uhr, Harfouch, Janko Kahle, Jürgen Kuttner, Da- Brechtbühne im Gaswerk niel Nerlich, Hagen Oechel, Jonas Steglich. Bild © Katrin Ribbe Die Augsburger Theaterensembles theter und bluespots productions arbeiten mittels „Von Hollywood nach Buckow“: moderner Kommunikationstechnik über Filmreihe im Liliom (19.2.-21.2.) tausende Kilometer hinweg zwischen New York, Augsburg und St. Petersburg mit dem Bertolt Brecht als Drehbuchautor, Regis- Regisseur Oleg Eremin und der Regisseurin seur und Protagonisten eines fiktionalisier Alice Bever an Brecht- und Müller-Texten ten Porträts zeigt das Brechtfestival in der und geben beim Festival Einblicke in den Reihe „Von Hollywood nach Buckow“ im Arbeitsstand und ihre Erfahrungen. Im Liliom Kino. Der Brechtexperte Dr. Mi- Bild: Theter bei der Probe mit Alice Bever. chael Friedrichs wird die Filme jeweils im © Lina Meyn Dreigroschenheft 1/2020
BrechtFestival „Die Lange Brechtnacht“ 15.2.20, ab 19.30 Uhr, Kongress am Park Auf den Spuren Brechts verfolgt die „Lan- ge Brechtnacht“ im Rahmen des Brecht- festivals Impulse der zeitgenössischen Popkultur im Umgang mit den Wider- sprüchen der Welt. 2020 findet die Lange Brechtnacht erstmals an einem einzigen Veranstaltungsort statt, und zwar auf drei Bühnen im Kongress am Park. Auf zu neu- en Sphären mit The Notwist (Bild, © Pa- trick Morarescu), Fatoni, Gisbert zu Kny- phausen, Voodoo Jürgens u.v.a. Dreigroschenheft 1/2020
Der Hofmeister – Kino Babylon Berlin – Eine Brecht-Inszenierung als Standbild- BrechtFestival Folge, Schauspieler*innen des Deutschen Theaters machen ein Stück draus Politische Selbstkastration Nikolaus Merck Berlin, 4. Oktober 2019. Am Wir drucken gerne am Berliner Rosa-Luxem- Schönsten, wenn Kathleen Mor- (und mit Dank für die burg-Platz, schräg gegen geneyer als Gustchen und Lise Erlaubnis) diese Be- über der Volksbühne, „wenn juchzt und g’schamig dem Hof- sprechung der Berliner wir HansAlbersmäßig in die meister auf die Pelle rückt. Am Erstaufführung aus der Ferne gucken, der Text wird Schönsten, wenn Samuel Finzi „Nachtkritik“ an die Empore projiziert.“ die Begeisterung des Lehrers www.nachtkritik.de HansAlbersmäßig ist dann Wenzeslaus laut heraus kräht, vom Oktober nach, aber weniger der blaue Blick denn beim Augsburger weil sich der Lehrerkollege Läuf- ins imaginär Weite, als das Brechtfestival gibt es fer kastriert hat, um einen Job zu am 21.2. Brechts Hof- Verfertigen von Atmosphäre ergattern. Am Schönsten, wenn meister in weitgehend beim Sprechen. Albers war Peter-René Lüdecke den Sumpf gleicher Besetzung zu der erste, der im Tonfilm und das Brackwasser vertont, in genießen. (mf) Geräusch-Kehricht zwi- dem Gustchen sich als-ob ersäu- schen die Sätze streute. Die fen will. drei Schauspieler vom Deut- schen Theater, die einen aus Standfotos von Einbruch des Punk in die Schlaghosenwelt Brechts „Hofmeister“-Inszenierung am Berliner Ensemble 1950 komponierten Film „Nicht wundern“, sagt Regisseur und Mit- synchronisieren, tun es ihm mit Herzens- spieler Jürgen Kuttner im Kino Babylon wonne quiekend und murrend, krähend und knoddernd, brum- mend und schnar- rend, rumpelnd und schmatzend nach. Das Ganze ist Teil der Versammlung aller frisch restau- rierten, digitalisier- ten, archivierten, komponierten Film- Arbeiten des Bertolt Brecht, die an vier Tagen im traditions- schwersatten Kino Babylon am Berli- ner Rosa-Luxem- burg-Platz gezeigt werden. Dreigroschenheft 1/2020
„Der Hofmeister“, schreibt Heiner Müller, (der deutsche Mann richtet die Waffe lie- BrechtFestival der alles wusste, „war der Höhepunkt von ber gegen sein Geschlecht = Vitalität, „ent- Brechts Arbeit am Berliner Ensemble.“ mannt“ sich eher, als gegen die Obrigkeit zu Eine „ganz scharfe, elegante, schöne Auf- rebellieren) und die schauspielerische Lust, führung“. Mit der Brecht, der Theaterstar, die damals den Welterfolg des „Hofmeister“ ungeliebt, aber renommeehalber dringend ausgemacht haben müssen. benötigt in der jungen DDR, ganz schön wider die offizielle GoetheundSchillerund- Und in dieser Hinsicht schließt das Team MannKulturpolitik der SED aninszenierte. vom Deutschen Theater in der Gegen- Lenz, den sein Freund Goethe verstieß we- wart leibnah auf. Die Schauspieler*innen gen Unbotmäßigkeit in Weimar, Lenz, bei haben sichtlich das größte Vergnügen an dem sich der Hauslehrer kastriert und die der Live-Synchro, der Regisseur und Laut- Soldaten in die Büsche werfen, Lenz ver- sprecher Kuttner (Kollege Kühnel hält steht man am besten als eine Art Einbruch sich bedeckt im Parkett) insinuiert eine des Punk in die wohl geordnete Popperwelt politische Bedeutung (die es auf alle Fälle von Föhntolle und Schlaghosen. gibt, denn was anders als politische Selbst- kastration der abhängig Beschäftigten ist Bitte ins Repertoire! die Wahl der AfD?), Anna Vavilkina an der Kino-Orgel rückt das fotografisch-fil- Fast 70 Jahre nach der Premiere ist im Ba- mische Dokument der Ruth Berlau von bylon von Punk nicht mehr viel zu bemer- 1950 noch einmal um gut 30 Jahre zurück ken. Wenn eine will, mag sie die Exaltiert- in die totale Stummfilmzeit etwa der Klei- heiten von Hans Gaugler als Hofmeister nen Strolche, während das Publikum vor (=Privatlehrer) Läuffer beim Menuett und Vergnügen ausdauernd giggelt. Ein unend- beim Schlittschuhlauf im schwarz-weiß ver- licher Spaß, den, das sei angeraten, Ulrich schwommenen Filmbild als Keimzelle der Khuon scheunigst eingemeinden sollte in späteren Energieleistungen an der Castorf- sein Repertoire im Deutschen Theater, wo schen Volksbühne identifizieren. Aber in „Der Hofmeister“ am 15. April 1950 auch Wirklichkeit waren die Regie- und Spiellei- Premiere gehabt hat. stungen der Leopold Jessners und Erwin Piscators und ihrer Schauspielagenten in der Weimarer Re- publik schon weiter gewesen. Auch die brave Bühne von Caspar Neher, die für Arbeiters einige historische Stuben- teile zum Wiederer- kennen bereithielt, war schon 1950 nicht gerade dernier cri. Aber es war die- se Mischung aus Re- alismus, politischer Scharfzüngigkeit Dreigroschenheft 1/2020
Brechts Hauspostille zum Hören: Brecht und Musik Christel Peschke und Geoffrey Abbott zeigen, wie’s geht Ein Abend im Augsburger Brechthaus Brechts Hauspostille ist eine Gedichtsammlung, ein lyrischer Zyklus. Typischerweise be kommt man einzelne Texte (manche wurden herausragend vertont) zu hören, einige sind ja berühmt: Apfelböck. Marie Farrar. Schwim men in Seen und Flüssen. Ballade von den Seeräubern. Hanna Cash. Marie A. Eine sichere Bank bei Brecht- Liederabenden. Aber Christel Peschke und Geoffrey Abbott muss erstmal die Idee (und die Courage) machten es anders für ihr Konzert im haben zu einem Überblickskonzert über Augsburger Brechthaus am 17. Oktober: die Hauspostille, und die hatte Christel Sie präsentierten (im Wesentlichen in der Peschke. Reihenfolge des Originals) 25 Gedichte, Jürgen Hillesheim unterzog sich vor ein gesprochen wenn reiner Text, Komposi paar Jahren der herkulischen Aufgabe, tionen gesungen. sämtliche Gedichte der „Hauspostille“ in Vorab bekam man Auszüge aus der einem umfangreichen Buch zu analysieren „Anleitung zum Gebrauch der einzelnen – ein Standardwerk. Bei Peschke/Abbott Lektionen“ zu hören, und es spricht für waren nicht alle Texte zu erleben: von Christel Peschkes Vortragskunst ebenso den 50 Texten der ersten Ausgabe von wie für die Intelligenz ihres Publikums 1922 „nur“ 25, nicht alle in der Fassung (das Brechthaus war so voll besetzt wie dieser Ausgabe. Vielleicht nicht ganz selten), dass dabei immer wieder kleines fair gegenüber dem Publikum, das nicht glucksend-glückliches Lachen zu hören erwähnt zu haben? Aber dies war ein Kon war. „So wie du sie vorträgst, machst du die zert, keine Wissenschaft. Texte durchsichtig“, sagte nachher David Und wie mitfühlend Christel die Marie Ortmann, Hausregisseur am Staatstheater Farrar spricht, die hilflose Magd, die ihr Kind Augsburg. getötet hat, und wie couragiert-lebensfroh Geoffrey Abbott ist in Augsburg seit Jahr die Ballade von den Seeräubern. Und wie und Tag das Synonym für Brecht am Klavier, präzise Geoff die Begleitung meistert und und Christel Peschke ist die unvergängliche Zwischenmusik zwischen die einzelnen Mutter Courage der hiesigen Brecht- Lektionen streut – ein uneingeschränkter Inszenierungen. Es liegt auf der Hand, dass Genuss. Bedauernswert, wer’s nicht hören sich beide seit langem schätzen, aber man konnte. (Text und Foto: mf) 10 Dreigroschenheft 1/2020
Brecht als humorvoller Aufklärer unserer Zeit Theater Diana Zapf-Deniz Oft ist es so, dass der Prophet im eigenen darin Jürgen Hillesheim zu den ausgewähl- Land wenig zählt. Bertolt Brecht bildet ten Stücken, dass diesen von Seiten der li- hier leider keine Ausnahme. Junge Men- terarischen Öffentlichkeit „generell weniger schen in Brechts Geburtsstadt Augsburg Bedeutung beigemessen“ wurde und bei de- kennen ihn kaum. Umso schöner, wenn nen „seitens Brecht eher augenzwinkernder ein Gymnasium im Landkreis Augsburg Spaß als ernsthaftes literarisches Bemühen Brecht ausführlich behandelt und spielt. der Ansporn war.“ Sie haben etwas von fri- Dies ist Klaus Drechsel, dem stellvertreten- volen, kurzen Komödien, und der Einfluss den Schulleiter des Schmuttertal Gymnasi- Karl Valentins, den Brecht überaus schätzte, ums, zu verdanken. Er arbeitete viele Jahre ist unbestritten. beherzt an Brechts einstiger Schule, dem Peutinger-Gymnasium. Gerade dort war Die Interessen und Beobachtungen des es Drechsel wichtig, Brecht in seinen Thea- 21jährigen Brechts nur wenige Jahre jünge- terkursen zu spielen. Diese Tradition lässt ren Schülern von heute nahezubringen ist er in Diedorf weiterleben und brachte mit Drechsel mit dem Stück „Lux in tenebris“ dem Oberstufentheater gleich drei Einakter grandios gelungen. Die dunklen Seiten der von dem ganz jungen Brecht aus dem Jahr Prostitution und die seelenlosen Habgieri- 1919 auf die Bühne: „Er treibt einen Teufel gen, die sich am Elend der Ausgebeuteten aus“, „Lux in tenebris“ und „Die Hochzeit“ eine goldene Nase verdienen möchten, war (später umbenannt in „Die Kleinbürger- nicht nur damals aktuell, sondern ist es hochzeit“). Allein die ausführlichen Texte auch heute. Nicht nur im Rotlichtmilieu, im Programmheft entlarven Drechsel als sondern auch, wenn es um Kinderarbeit Brechtkenner und -liebhaber. So zitiert er und Kobalt für angeblich saubere Elektro- Herr Paduk (Elias Kuschek) geht schäbig mit den Prostituierten um, während Frau Hogge (Ella Heuer) im Leopar- denmantel scheinheilig versucht, sich um die für sie arbeitenden Mädchen zu kümmern. Dreigroschenheft 1/2020 11
Theater Eine spießige Kleinbürgerhochzeit die alles andere als idyllisch zu Ende geht. Die Schülerinnen und Schüler hatten hier den meisten Text zu lernen und meisterten diese Herausforderung exzellent. (Fotos: Diana Zapf-Deniz) autos geht. Brecht, als Aufklärer bekannt, der Prostituierten-Darstellerinnen zeigten, passt hervorragend in unsere Zeit, um die dass es nichts mit Schönheit zu tun hat. Se- Jugend im Aids- und Kapitalismuszeitalter xuell Aufreizendes war ausdrücklich nicht aufzuklären. Zudem wusste Brecht, wovon gewünscht. So wurde der Fokus berechtigt er spricht, da er noch kurz zuvor auf der auf das Elend dieser Berufsgruppe gerichtet Station für Geschlechtskrankheiten als Mi- und sprengte nicht den Rahmen eines Schü- litärkrankenwärter im Reservelazarett von lertheaters. Humorvoll eingeführt wurde Augsburg war und unweit der Augsburger das Stück mit dem Bill-Ramsey-Song „Pi- Bordellgasse, der Hasengasse, wohnte. galle“. Wie passend, denn hier geht es um das Rotlichtviertel von Paris. Die Hauptfigur in „Lux in tenebris“ ist Pa- duk, ein regelmäßiger Bordellbesucher, Die Schulband unter der Leitung von An- der, nachdem er von der Bordellbesitzerin dreas Meyer samt ihren Sängerinnen begei- Frau Hogge aus deren Etablissement ge- sterte im Anschluss mit „Ganz in Weiß“ von worfen wurde, die Bevölkerung erleuchten Roy Black zum wohl bekanntesten Einakter möchte, indem er für Geld medizinische an diesem Abend, nämlich „Die Hochzeit“. Exponate über Geschlechtskrankheiten Auch hier ein ausgesprochen starkes Büh- zeigt. Elias Kuschek spielte überzeugend nenbild mit buchstäblich schrägen Stühlen und redegewandt die Hauptrolle des Pa- und von Schülern unter der Leitung von duk. Der Kunst+ Kurs brachte fantastisch Michael Hinterleitner gezimmert. ekelerregende, von Krankheiten befallene, modellierte Körperteile. Auch das Büh- Die Oberstufentheaterproduktion wurde nenbild, das den Hurenschaufenstern in nicht nur mehrmals im Rahmen von Schul- der Herbertgasse in Hamburg gleicht, war vorstellungen aufgeführt, sondern zusätz- ausgezeichnet. Doch Brechts Stück spielte lich bei den Diedorfer Kulturtagen. Dort sich in Augsburg im Roten Hahn ab und war das Interesse sehr groß und es hatte auch dies hatten die Schüler berücksichtigt. sich gelohnt, Brecht auch auf dem Land zu Drechsel war es wichtig, dass die Kostüme spielen. 12 Dreigroschenheft 1/2020
„Dieser unerwartete Anruf hat mich getroffen, als ob Brecht International mir ein Pflasterstein auf den Kopf gefallen wäre.“ Egon Breiner schreibt an Johannes Kunz Gesine Bey Im Jahr 1980 erschien „Bertolt Brecht in men war, wenn Lyon schlussfolgert, dass America“, eine Monographie des amerika- die „Sowjetunion damals für Brecht eine nischen Literaturwissenschaftlers James K. Mustergesellschaft und der Mittelpunkt der Lyon über Brecht im USA-Exil 1941–1947. weltweiten, revolutionären Arbeiterbewe- Es gibt wohl kaum ein Buch über Brecht, gung“ gewesen wäre. Um gegen Brechts dem so viele Gespräche mit Freunden, Be- taktierendes Auftreten vor dem HUAC- rufskollegen, Mitarbeitern vorausgegangen Ausschuss zu argumentieren, führt er als sind, es ist eine außerordentliche Quellen- Faktum an, Brecht hätte eine im Juni 1941 sammlung. Unter den Brief- und Interview- in einer Buchhandlung in Wladiwostok Partnern für dieses Projekt war auch der erworbene „deutsche Lenin-Ausgabe“ vor österreichische Emigrant Egon Breiner, be- der Ankunft in San Pedro in das Hafenbec- freundet mit Brecht seit der gemeinsamen ken geworfen, wiederum belegt durch den Überfahrt nach Kalifornien. Es brauchte Zeugen Breiner, dem Brecht damals erklärt zehn Jahre, bis Lyon sich aus der Oral Hi- habe: „Ich will […] keinen Ärger mit den story, Auszügen aus Briefen und veröffent- amerikanischen Behörden‘.“ lichten Notizen Brechts eine Grundlage geschaffen hatte, um Brechts Arbeit in den Vieles spricht dafür, dass Breiner Lyons Mittelpunkt zu stellen, aber auch Haltun- „Brecht in America“ nach seinem Erschei- gen, Konflikte und politische Stellungnah- nen als Herausforderung empfunden hat, men. Lyon hatte sich vorgenommen, gegen seine Erinnerungen an Brecht noch einmal den Brecht-Kult der 1960er und 1970er Jah- in der eigenen Reihenfolge, im logischen re anzuschreiben: „Bei aller Bewunderung Zusammenhang zu erzählen, der sich bei der Werke war ich von der Legendenbil- Lyon auflöst in die Beweisführung verschie- dung um seine Person abgestoßen. Vieles dener Kapitel – vielleicht auch, um sich zu davon wucherte schon vor seinem Tod im korrigieren. Er sagt im Interview: „Ich habe Jahr 1956.“ Der heutige Leser fragt sich, ob Lyons Buch, das Buch des Professors in San Lyon mit manchem Urteil nicht zu weit ge- Diego, gelesen.“ Nichts stand darin über gangen war. Ob ihm z. B. Breiners Aussage, die enge Freundschaft der Familien Breiner Brecht hätte „der ewig wechselnden, politi- und Brecht, kein Wort über die gemein- schen Linie des russischen Kommunismus same Überfahrt auf der „Annie Johnson“, gegenüber eine kindliche Abhängigkeit“ die für ihn selbst so bedeutsam geworden gezeigt, nicht allzu sehr entgegengekom- war. In kurzem zeitlichem Abstand zum Erscheinen des Buches, im November 1980, Lyon, James K.: Brecht in America. Princeton: Uni- entstand Breiners Interview, eigentlich ein versity Press 1980. Selbstbericht nach einem Frage-Antwort- Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Lyon, James K.: Brecht in Amerika. Aus dem Amerikanischen von Ebd., S. 400. Traute M. Marshall. Frankfurt am Main: Suhrkamp Ebd., S. 422. 1984, S. 9. Egon Breiner über Bert Brecht, 17. November 1980. Ebd., S. 399. Lyon bezieht sich auf einen Brief von Abschrift eines Tonband-Interviews. DGH 3/2019, Breiner vom 30.7.1972, ebd., S. 500. S. 21. Dreigroschenheft 1/2020 13
Sehr geehrter Herr Kunz (Genosse Kunz) Brecht International Sie werden sich sicher wundern von einem sehr unbekannten Mann aus Los Angeles einen Brief zu bekommen, aber seit ich Ihre Anekdotensammlung über meinen alten Freund Bruno Kreisky gelesen habe, lässt es mir keine Ruhe, Ihnen eine Episode mitzuteilen die nicht sehr bekannt ist und die sowohl Brunos als auch mein Leben sehr verändert hat. Zunächst eine kurze Erklärung woher ich den Bruno kenne. Wir waren zusammen in der S.A.J. (Sozialistische Arbeiterjugend). Wir waren beide Obmänner einer Bezirksorganisation, haben uns daher mindestens einmal wöchentlich in einer sogenannten Obmännerkonferenz getroffen. Das war also unendlich lange zurück, etwa 1929. Im Jahre 1934 nach dem Verbot unserer Organisation unter dem Dollfußfaschismus, waren er und ich einer von denen, die unter dem ungeheuren Druck der Kommunisten eine illegale sozialistische Jugendorganisation geschaffen haben. Ich bin nach 1938 über die Schweizer Grenze und konnte dann nach Schwe- den emigrieren, wo ich den Bruno wieder getroffen habe. Wir haben in Stockholm eine kleine sozialistische Gruppe gegründet die unregelmäßig zusammengekommen ist. Wir waren alle überzeugt davon dass nach der deutschen Invasion in Dänemark und Norwegen Schweden das nächste Opfer der Nazis sein wird. Wir haben gehört dass die Deutschen in einem Ostsee- hafen eine Flotte konzentriert hatten die wie wir geglaubt haben eine Invasion in Schweden vorbereitet. Wir alle haben damals eine Auswanderung nach Amerika beabsichtigt, wo Josef Buttinger für uns eine Dollargarantie erlegt hatte. Nur war damals der Weg für uns versperrt da man um nach Amerika zu kommen nach Wladiwostok musste, von dort nach Japan. Damals haben die Japaner die Durchreise unter dem Druck der Deutschen für Emigranten gesperrt. Im Jahre 1941, es war etwa April oder Mai wurden wir von der schwedischen Regierung ver- ständigt dass es ein schwedisches Schiff gäbe, das von Wladiwostok direkt über die Philippinen nach Amerika fährt und obwohl es ein Lastschiff war, etwa 60 Passagierplätze hat. Wir poli- tischen Österreicher könnten davon 5 haben. In einer Sitzung wurde nun beschlossen wer am meisten gefährdet wäre. Bruno war der Fünfte. Zwei Tage vor dem Abflug nach Moskau, wo man dann die transsibirische Eisenbahn erreichen konnte hat mich der Bruno angerufen und mir mitgeteilt dass er sich endgültig entschlossen habe nicht zu fahren und ob i c h an seiner Stelle die Flug und Fahrkarte und vor allem den Schiffsplatz ausnützen wolle. Dieser uner- wartete Anruf hat mich getroffen, als ob mir ein Pflasterstein auf den Kopf gefallen wäre. Nach einer halben Stunde Überlegung habe ich dem Bruno zugesagt. Ich bin dann nach der rus- sischen Botschaft gefahren wo die Krupskaja residiert hat die dem Stalin und seinen Henkern nur deshalb entgangen ist weil sie Gesandtin in Stockholm war, mir die Durchreisebewilligung gegeben hat. (Sie konnte es tun ohne in Moskau anzufragen da sie eine alte Freundin Lenins war). Ich und andere haben sich den Kopf darüber zerbrochen was der Grund für Brunos plötzlichen Entschluss war. Ich habe dann erfahren dass Brunos Papiere nicht in Ordnung waren und er später fahren wollte. Allerdings gab es kein später, kurze Zeit später fielen die Brief Egon Breiner an Johannes Kunz. Kreisky Archiv, I.1-1.2 Familie – Jugend – Exil, Box 7. Typoskript mit Handschrift. Eigenarten der Schreibweise wie das Weglassen der Kommas vor Nebensätzen wurden beibehalten, Tippfehler stillschweigend verbessert. Für die Genehmigung zum Abdruck danke ich Prof. Peter Breiner, Univer- sity at Albany, State University of New York. – Dank an das Bruno Kreisky Archiv Wien. Verwechslung mit Alexandra Kollontai (1872 St. Petersburg – Moskau 1952), 1930–1945 Botschafterin der UdSSR in Stockholm. Breiner verwechselt ihren Namen mit dem von Lenins Ehefrau Nadeshda Krupskaja (1869 St. Petersburg – Moskau 1939), er beschreibt sie aber richtig als alte Freundin Lenins. 14 Dreigroschenheft 1/2020
Deutschen in Russland ein, weshalb es keine Durchreise durch die Sowjetunion gab. Drei Tage Brecht International nachdem das Schiff Wladiwostok verlassen hatte begann die deutsche Invasion in Russland. Die drei Tage waren der Unterschied zwischen Leben und Tod. Nach der Invasion hätte nie- mand mehr auf dem Schiff Russland verlassen können. Wahrscheinlich auch Bert Brecht nicht mehr der mit Familie auf dem Schiff war. In Brunos Erinnerungen „Zwischen den Zeiten“ finden Sie eine Stelle in der Bruno schreibt dass er sich immer wieder mit dem Satz „was wäre gewesen wenn“ beschäftigt. Da ich fast jedes Jahr in Wien zu Besuch war und den Bruno getroffen habe haben wir oft über die eigen- artigen Zufälle gesprochen die unser Leben aber besonders sein Leben entscheidend beeinflusst haben. Wenn ich mich richtig erinnere (?) gibt es in der Walpurgisnachtszene die Stelle man glaubt zu schieben und wird geschoben. Besten Dank wenn Sie den Brief bis hierher gelesen haben. Er ist geschrieben worden „at a spur of a moment“ wie man es hier ausdrückt. Ich kenne keine deutsche Übersetzung die zulänglich ist … Mit besten Grüßen unbekannterweise Los Angeles, 1. September. 1991 Ihr Egon Breiner [hdschr.] egon breiner 3452 adina drive Los Angeles 90068 california u.s.a. Dreigroschenheft 1/2020 15
selbst in seinen Memoiren „Zwischen den Brecht International Zeiten“, wo es heißt: „Es gibt für alles in Österreich eine Anekdote, ja unsere ganze Geschichte läßt sich auflösen in Anekdo- ten“. Anekdoten würden das Verständnis für die Zusammenhänge erleichtern. Kunz’ Sammlung von Anekdoten über das Leben Bruno Kreiskys ist chronologisch geordnet, spart die Zeit des Exils aber aus. Breiner macht den Herausgeber darauf aufmerk- sam, dass es eine, wenn auch ernste, Epi- sode auch aus der Emigration zu berichten gibt: Bruno Kreisky überließ ihm 1941 sein Visum und sein Schiffsticket für den Weg ins USA-Exil. Eine unerwartete Pointe die- ser Geschichte war Breiners Begegnung mit Bertolt Brecht. In Breiners Brief geht es wieder um die „Annie Johnson“. Brecht wird erwähnt, Erster Teil der Memoiren von Bruno Kreisky, 1986. nun steht die vorausliegende Beziehung zu Bruno Kreisky im Mittelpunkt. Ein Anlass, noch einmal nach dem Schnittpunkt dieser Schema mit dem amerikanischen Regisseur Lebenswege zu fragen, zu denen noch eine Carlton Moss. Michael Friedrichs hat das vierte Person gehört, der österreich-ameri- im Bertolt-Brecht-Archiv gefundene Kas- kanische Jurist Joseph T. Simon (urspr. Josef settenband „Egon Breiner über Bert Brecht, Simon), der ebenfalls in die USA emigrierte 17. November 1980“ verschriftlicht und im und als amerikanischer Offizier nach Wien Dreigroschenheft 3/2019 publiziert. zurückkehrte. Egon Breiners Brief vom 1. September 1991 Wer in Brechts Journalen aus dem amerika- aus Los Angeles an Johannes Kunz in Wien nischen Exil nach Egon Breiner sucht, findet ist wohl einem ähnlichen Impuls zu ver- zwei Einträge, die sich förmlich wiederho- danken. Er reagiert auf das kleine Buch „Ich len: „16. 4. 42 / Vormittags hier Mitreisende bin der Meinung … Kreisky in Witz und vom Schiff, Otto Bauers Frau und der jun- Anekdote“, das der ehemalige Pressespre- ge österreichische Arbeiter Breiner. Er ist cher des österreichischen Bundeskanzlers Schlosser bei der Southern Railway, verdient von 1970 bis 1983, Bruno Kreisky, nun In- 45 $ in der Woche, hat ein kleines Auto und formationsintendant des Fernsehens beim feine Schale.“ Im Eintrag vom 15.11.1944 ORF, im Molden Verlag Wien 1974 heraus- berichtet Brecht, er lese Hans Winge und gegeben hatte. Vermutlich nahm Breiner Paul Dessau Kapitel aus den „Flüchtlingsge- es in die Hand, nachdem sein langjähriger sprächen“ vor, „sowie dem österreichischen Freund, Kampf- und Exilgefährte am 29. Arbeiter Breiner, der mit uns auf der ‚Anni Juli 1990 in Wien gestorben war. Bruno Johnson‘ herüberkam und in der Southern Kreisky liebte Anekdoten, verwendete sie Kreisky, Bruno: Zwischen den Zeiten. Erinnerungen Kunz, Johannes (Hrsg.): „Ich bin der Meinung … aus fünf Jahrzehnten. Berlin: Siedler Verlag 1986, Kreisky in Witz und Anekdote“. Wien u.a.: Molden S. 29. 1974. BFA, Bd. 27, S. 84. 16 Dreigroschenheft 1/2020
Pacific arbeitet.“10 Bekannt war, dass Brecht nifest in ein Lehrgedicht umzuwandeln. Es Brecht International nach der Geburt von Leopoldine Breiners gibt Auskunft darüber, dass sich Brecht in erstem Kind Peter am 4. Juli 1947 sein Wie- Los Angeles nicht allein unter Künstlern, genlied „Mein Sohn, was immer auch aus Filmemachern, Theaterleuten, Schriftstel- dir werde“ aus „Lieder, Gedichte, Chöre“ lern, Komponisten bewegt hat, sondern von Paul Dessau vertonen ließ und in die durch Breiner die Möglichkeit für Gesprä- Klinik schickte.11 Erst durch das Interview che im politischen Kontext fand. Nach sei- wird deutlich, wie oft die beiden Famili- ner Ankunft lebte dieser bei dem früheren en miteinander Umgang hatten. „Wenn Berliner Verleger Elias Laub in Los Ange- wir einige Zeit nicht zu Brecht gekommen les, der hier nur noch eine Druckerei besaß. sind, hat Helli angerufen, weshalb wir nicht Dessen Frau Lisa betreute in der Wohnung kommen“12, sagt Breiner. Beide Frauen wa- eine Pension. Auch die Sozialwissenschaft- ren Wienerinnen und verstanden sich gut: lerin Helene Bauer, Witwe des 1938 verstor- „das Haus war ein offenes Haus, in das wir benen Vorsitzenden der SDAP, Otto Bauer, zu jeder Tages- und fast zu jeder Nachtzeit eine Reisegefährtin auf der Annie Johnson, kommen konnten. Besonders meine Frau, bezog ein Zimmer, bevor sie ein Jahr später die also Ärztin war und häufig bei ihnen in nach Seattle ging und 1942 starb. Es war ein der Nähe zu tun hatte […]. Es war ein sehr sozialistisches Milieu, in das Brecht hier zu inniges Verhältnis, und ich denke auch ein Besuch kam, seine Gesprächspartner wa- eigenartiges, eine eigenartige Beziehung, ren Gewerkschafter und Sozialdemokraten. die damit zusammenhängt, dass man sich Laubs Verlag in Berlin war sozialdemokra- gegenseitig braucht.“13 Leopoldine Breiner tisch geprägt, publizierte in den zwanziger hatte eine Praxis in Los Angeles und betreu- Jahren aber auch Bücher von Leo Trotzki. te auch die Kinder der Brechts. Sie war eine geborene Rheinisch, die gleich nach dem Breiner war von Beruf Schlosser, sein Va- „Anschluss“ Österreichs 1938 in die USA ter besaß in Wien eine Werkstatt. Er war geflohen war. Der amerikanische Zweig in der österreichischen Arbeiterbewegung ihrer ursprünglich aus Polen stammenden aktiv und arbeitete auch als Emigrant in Familie hatte sie, ihre Mutter und eine ih- seinem Beruf. Genau darauf beziehen sich rer Schwestern in die USA geholt. Egon und die Stichworte in den Journalen Brechts. Leopoldine Breiner lernten sich Ende 1941 Breiner konnte ihm Kenntnisse aus der in Los Angeles kennen und heirateten im proletarischen Arbeitswelt vermitteln. Brei- November 1942. Nach dem Kriegsende in ner sagt, „als Metallarbeiter hab ich also Europa sind sie nicht nach Wien zurückge- meinen Beruf ausgeübt in Schweden, war kehrt, sondern in den Vereinigten Staaten natürlich politisch aktiv, interessiert nach geblieben.14 wie vor, und für Brecht, denke ich, war ich irgendwie so jemand, der Stimmungen Das Interview ist für die Brecht-Forschung und Ansichten von Arbeitern weitergeben ein wichtiger Text. Es erinnert daran, dass konnte.“15 Egon Breiner Brecht 1945 von dem Projekt abgeraten hatte, das Kommunistische Ma- Aus den Gesprächen mit Breiner, die in der 10 BFA, Bd. 27, S. 210. Akademie der Künste als Tonbänder aufbe- 11 Vgl. BFA, Bd. 27, S. 415. wahrt werden, wird klar, dass er auch ein 12 Egon Breiner über Bert Brecht, DGH 3/2019, S. 12. Intellektueller war. In einigen Diskussionen 13 Ebd., S. 18. mit Brecht war er sein Antipode. Breiners 14 Auskunft von Peter Breiner an die Verfasserin per E- enger Freund Joseph T. Simon widmete ihm Mail, 6.10.2019. Sie können noch nicht zusammen auf der „Annie Johnson“ gefahren sein, wie in der 15 Egon Breiner über Bert Brecht, 17. November 1980, BFA, Bd. 27, S. 415 angegeben. a.a.O. S. 6. Dreigroschenheft 1/2020 17
in seiner Autobiographie ein Porträt: „Egon ist bis auf den heutigen Tag Egon Breiner Brecht International Breiner war manueller Arbeiter, ein Schlos- – damals ein Schlossergehilfe.“18 ser, aber er war in einem höherem Grad In- tellektueller als ich und meine Freunde. Er Tatsächlich haben sich die Lebensläufe von war sehr belesen und dies nicht nur in der Bruno Kreisky (1911–1990), Egon Breiner politischen Literatur. Seine politische Land- (1910–2000) und Joseph T. Simon (1912– schaft hatte sehr scharfe Grenzen, er kannte 1976) in ihrer Jugend eng berührt und las- keine Kompromisse, er war von einer fast sen sich teilweise nur zusammen erzählen. sturen Härte, die sich vor allem gegen die Breiner und Kreisky waren Obmänner in Kommunisten richtete. In den meisten Fra- der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ): gen, die sich damals ergaben, stimmten wir Kreisky auf der Wieden, dem 4. Wiener überein – und mehr als einmal mußte ich Gemeindebezirk, Breiner im 2. Bezirk, der seiner überlegenen Dialektik nachgeben.“16 Leopoldstadt. Joseph T. Simon war Vorsit- zender des Verbandes Sozialistischer Mit- Das „Biographische Handbuch der deutsch- telschüler im 18. Bezirk (Währing), seine sprachigen Emigration nach 1933“ führt zu Gruppe nannte man deshalb „die Acht- Egon Breiner an: „1938 Emigr. Schweiz, zehner“. Kreisky organisierte überdies das anschl. Frankreich u. Stockholm. 1941 mit Bildungswesen in der SAJ. Nachdem am Helene Bauer über die UdSSR u. die Phi- 12. Februar 1934, in den Tagen des Bür- lippinen nach Los Angeles. Mitglied des gerkriegs in Wien, unter Schuschnigg alle Kreises sozialist. Emigr. in Kalifornien um Parteien und ihre Jugendorganisationen Karl Heinz und Berthold König. Bis zur verboten wurden, gehörten Kreisky, Breiner Pensionierung Metallarb. Southern Pacific und Simon zur engsten Leitung der „Revo- Railway.“17 lutionären Sozialisten Österreichs“ im Un- tergrund. Ihre Aktionen berührten sich mit Das Gefühl, selbst unter Genossen sei wenig denen der kommunistischen Gruppen. Sie über die Vergangenheit der Wiener Sozia- brachten Genossen über die Grenze in die listen bekannt, mag ein Grund für den An- Tschechoslowakei, verteilten illegale Schrif- fang des Briefes an „Genosse Kunz“ gewe- ten, so die in Brünn hergestellte illegale sen sein: „Sie werden sich sicher wundern Arbeiter-Zeitung. Sie überstanden Gefäng- von einem sehr unbekannten Mann aus Los nisstrafen und bereiteten sich, unterstützt Angeles einen Brief zu bekommen.“ Kreis- durch die Sozialistische Jugend-Interna- ky schreibt im 2. Teil seiner Memoiren, „Im tionale, teils erst nach dem Einmarsch von Strom der Politik“: „Ich habe in meinem Hitler, auf ihr Exil in Skandinavien vor. Leben sehr wenige Freunde jüdischer Kon- fession gehabt. Das war, wenn man so will, Joseph T. Simon war 1920 als Schuljun- ‚klassenbedingt‘, weil ich innerhalb der Ar- ge durch die Aktion „Wienerkinder“ nach beiterjugend wirkte. Einer meiner besten Dänemark als Pflegekind in die Familie und ältesten Freunde jüdischer Konfession des Pastors und späteren Kirchenministers Thorvald Povlsen gekommen. Die Hilfs- bereitschaft dieser Familie half ihm Jahre 16 Simon, Joseph T.: Augenzeuge. Erinnerungen eines später auch, in die Emigration zu gehen. österreichischen Sozialisten. Eine sehr persönliche Povlsen intervenierte für ihn 1937 bei ei- Zeitgeschichte. Hrsg. von Maria Dorothea Simon, ner Sitzung des Völkerbundes in Genf bei Wien: LIT Verlag 2008, S. 152f. Schuschnigg. Breiner floh im Sommer 17 Hagemann, Harald (Hrsg.): Biographisches Hand- 1938, schon nach dem „Anschluss“, über buch der deutschsprachigen Emigration nach 1933. Bd. I, Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben. Mün- 18 Kreisky, Bruno: Im Strom der Politik. Der Memoi- chen: K. G. Saur 1999, S. 91. ren zweiter Teil. Berlin: Siedler Verlag, S. 280 18 Dreigroschenheft 1/2020
die Schweizer Grenze. Kreisky kam im Sep- wie ich in diesem Augenblick das fast un- Brecht International tember 1938 unter der Bedingung aus dem abweisbare Bedürfnis hatte – ich sage das Gestapogefängnis frei, binnen weniger Tage ohne jegliches Pathos –, auf dem freien Bo- das Land zu verlassen. Ihm blieb nicht die den Dänemarks auf die Knie zu sinken.“20 Zeit, das angekündigte Einreisevisum nach Schweden abzuwarten. Er fuhr nach Berlin, So ist die zwei Jahre später erfolgte Über- stieg in ein dänisches Flugzeug, obwohl er lassung des Schiffstickets an Egon Brei- auch für Dänemark noch keine Aufent- ner durch Kreisky nicht nur als Geschenk haltsgenehmigung besaß. Inzwischen hatte zu verstehen. Die Entscheidung muss für Egon Breiner an Joseph Simon einen Ex- Kreisky mit dem Gefühl gemeinsam getra- pressbrief nach Kopenhagen geschickt, der gener Gefahren verbunden gewesen sein. ihn über Kreiskys Kommen informierte, Joseph Simon war schon Anfang 1941 in mit der dringlichen Bitte, ihm die Einreise- die USA gelangt, von Wladiwostok aus erlaubnis zu verschaffen. Simon, der noch nach Japan, dann mit einem japanischen ein Empfehlungsschreiben des ehemaligen Schiff. Unterwegs in Stockholm hatte er sozialdemokratischen Wiener Bürgermei- bei Kreisky gewohnt. Breiner war aus der sters Karl Seitz in der Tasche hatte, fuhr von Schweiz über Frankreich nach Schweden Holte aus nach Kopenhagen, ließ sich beim gelangt, lebte bis zum Kriegsbeginn 1939 dänischen Ministerpräsidenten Thorvald in Malmö, unweit der Eltern von Joseph T. Stauning anmelden. „Ich erzählte ihm von Simon, dann in Stockholm; er arbeitete, wie der Gefahr, in der Kreisky nun schwebte“,19 die Fotos zum veröffentlichten Interview schreibt Simon. Auf dem Dienstweg über zeigen, in der Stockholmer österreichischen den dänischen Innenminister ließ sich kein sozialistischen Gruppe mit. Visum mehr bewerkstelligen, es kam ja auf jede Stunde an. Stauning gab Simon für den Bruno Kreisky hatte in Stockholm bald ein nächsten Tag ein Schreiben mit den nöti- gutes Auskommen. Er bekam eine Stelle als gen Papieren für Kreisky an die Polizeista- Berater des Direktors vom schwedischen tion des Kopenhagener Flughafens Kastrup Konsumverein, schrieb hochbezahlte Arti- mit. Bruno Kreisky schildert den Moment kel für die Londoner „Tribune“ und andere seiner Ankunft ebenso anschaulich: „In ausländische Zeitungen, u. a. darüber, was Kopenhagen auf dem Flughafen Kastrup er über Deutschland recherchieren und wollten die dänischen Grenzbeamten mich analysieren konnte. Im Fall einer deutschen nicht durchlassen, weil ich kein Visum hat- Besetzung Schwedens wäre er besonders te. Um nach Schweden zu gelangen, war ein gefährdet gewesen, auch wegen seiner jü- Transitvisum für Dänemark nötig, aber der dischen Herkunft. Doch er schreibt: „nach dänische Konsul in Wien hatte es mir ver- Kriegsausbruch bin ich nicht aus Schweden weigert. […] ‚Wenn Sie mich jetzt zurück- weggegangen, obwohl mir von Joseph But- schicken‘, habe ich in Kopenhagen einem tinger21 alle Möglichkeiten geboten wurden; dänischen Beamten gesagt, ‚liefern Sie mich ich hätte den langen Weg über Moskau mit den Leuten aus, denen ich gerade entkom- der transsibirischen Eisenbahn nach Wla- men bin.‘ […] In diesem Augenblick kam 20 Kreisky, Bruno: Zwischen den Zeiten, a.a.O., der Flughafenbus aus Kopenhagen, und S. 314f. Freunde aus der Dänischen Sozialistischen 21 Joseph Buttinger (1906-1992), Vorsitzender der Partei sowie Joseph Simon, ein alter Freund Revolutionären Sozialisten, war im Exil in der Aus- aus Wien, hatten alle Dokumente mit, die landsvertretung der SDAP (ALÖS). Er folgte seiner ich brauchte. Ich erinnere mich noch heute, amerikanischen Frau in die USA. Durch sie war er vermögend, hatte gute Beziehungen zu Eleanor Roosevelt, um USA-Visa für politisch gefährdete 19 Simon, Joseph T.: Augenzeuge, a.a.O., S. 220. Flüchtlinge zu besorgen. Dreigroschenheft 1/2020 19
diwostok und über Japan in die Vereinigten fahre! Ich hätte besser nicht fragen sollen, Brecht International Staaten nehmen oder mit einem der letzten denn die Antwort ergab sich von selbst: das Frachter aus der Sowjetunion nach Ameri- Stalinsche Schreckensregime hatte seinen ka fahren können […] Ich bin geblieben. Höhepunkt erreicht, und Brecht wollte sein Ich wollte nicht auf der Flucht sein. Sollte Werk nicht vorzeitig beenden.“24 es zum Schlimmsten kommen, so dachte ich irgendwie in den riesigen Wäldern im Politisch wie persönlich hat die Chemie Norden unterzutauchen.“22 Denkbar ist, zwischen Kreisky und Brecht nicht ge- dass man ihn im Kriegsfall nach England stimmt. Als Dichter schätzte er ihn und ausgeflogen hätte. zitierte ihn in seinen Memoiren. Ziemlich am Anfang seiner Memoiren erinnert er Zu Breiners Frage „Was wäre gewesen, wenn sich an eine Veranstaltung im Rahmen der …“ kann man noch erwähnen, dass Bruno Arbeiter-Symphoniekonzerte im Großen Kreisky Brecht persönlich kennengelernt Konzerthaussaal Wien. Er datiert sie auf hatte. Im Mai 1939 hielt Brecht seinen Vor- den 11. Februar 1934, einen Tag vor dem trag „Über experimentelles Theater“ in der Beginn der austrofaschistischen Diktatur: Studentenbühne Stockholm, er bereitete „Bei dem Konzert wurde auch aus Brechts weitere Referate für andere Laienbühnen ‚Die Mutter‘ rezitiert: ‚als er zur Wand ging, vor. Als man Kreisky im Gebäude des So- um erschossen zu werden …‘. Da war allen zialistischen Jugendverbandes ein Zimmer Anwesenden eigentlich klar, daß dies das mit freiem Porto und Telefon zur Verfü- letzte Arbeitersymphoniekonzert sein wür- gung gestellt hatte, begegnete er Brecht zum de.“25 Hier liegt eine Verschiebung der Er- ersten Mal. „Ich bin immer sehr viel länger innerung vor. Die Aufführungen „Das Lied in meinem Büro gesessen als die anderen. vom Kampf “, eine Lied-, Chor- und Sprech- Eines Abends, als ich gerade gehen wollte, montage von Brecht und Eisler aus „Die trat aus einem der Zimmer des langen Kor- Mutter“ und „Die Maßnahme“ unter der ridors ein Mann mittleren Alters, dessen Leitung von Anton Webern, hatten ein Jahr asketisches Gesicht mir bekannt vorkam. früher, vom 26.2. bis zum 19. März 1933 in Wer als letzter das Haus verließ, mußte die Wien stattgefunden,26 als Engelbert Dollfuß Tür abschließen, und so fragte ich ihn ra- gerade das Parlament auflöste, es war aller- debrechend, ob ich oder er das tun sollte. dings ein ähnlich dramatischer Moment. Er konnte ebensowenig schwedisch wie ich. Es war, was ich aber erst später herausfand, Im Wiener Kreisky-Archiv liegt eine frühe- Bertolt Brecht, der damals beim Reichs- re Transkription des Interviews „Egon Brei- verband der Amateurtheater, der sein Se- ner über Bert Brecht“ als die von Michael kretariat in der Partei hatte, Lehrstücke Friedrichs, getippt zu Beginn der 1980er schrieb.“23 Als Journalist war Kreisky im so- Jahre auf einer elektrischen Schreibmaschi- wjetisch-finnischen „Winterkrieg“ 1939/40. ne deutscher Tastatur.27 Kreisky kann Brei- Dort, in Finnland, habe er Brecht bei einer ner diese Abschrift durch sein Kanzlerbüro finnischen Schriftstellerin wiedergetroffen. Sie unterhielten sich über das Exil. „‚Warum 24 Kreisky, Bruno: Zwischen den Zeiten, a.a.O., S. 316. 25 Ebd., S. 15. bleiben Sie nicht in Moskau?‘ fragte ich ihn, 26 Bericht „Das Lied vom Kampf “, in: Politische Büh- ‚Sie sind doch Kommunist.‘ Brecht antwor- ne, Wien 3/4 (März/April) 1933 (Rezension). Aka- tete barsch, das sei seine Sache, wohin er demie der Künste, Berlin, Hanns-Eisler-Archiv, Nr. 3299. 22 Kreisky, Bruno: Zwischen den Zeiten, a.a.O., S. 316. 27 Egon Breiner, Erinnerungen an Bert Brecht. Kreis- 23 Ebd., S. 321. Partei: Sozialdemokratische Arbeiter- ky-Archiv I – 1.2. Familie – Jugend – Exil, Box 12. partei Schwedens. Hier als Dachverband verstan- In dieser Transkription ist das Interview auf den 12. den. Nov. 1980 datiert. Es enthält nicht die englischen 20 Dreigroschenheft 1/2020
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