Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft

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Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
Dreigroschenheft
      Informationen zu Bertolt Brecht

27. Jahrgang                                      Heft 1/2020

Vorschau auf das Brechtfestival (14.–23. Februar 2020)
Gesine Bey über Brecht, Egon Breiner, Bruno Kreisky
Andreas Hauff zu Dessaus und Eislers Wiegenlied
Gerhard Gross erzählt Neues über Bi und Brecht:
u.a. vom Kaffeeklatsch in Kimratshofen (Foto)
Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
Spektakel          Hörspiele       Filme
        IM                 IM          IM
   MARTINI–PARK      S-PLANETARIUM   LILIOM

Spektakel * Premieren *
Uraufführungen *
Theater * Musik *
Literatur *
Hörspiel *
Film *
Konzert
u.v.m.                                          14.2.
                                                   bis
                                               23.2.
                                                2020
                                                   „ Er ist
                                                vernünftig,
                                              jeder versteht
                                                   ihn.“

                                                brechtfestival.de
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Inhalt

Kurz vor Druck: Setzen und genießen .  .  .  .  . 2                           Der Augsburger
Impressum.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 2      Gerhard Gross: Neues über Brecht,
                                                                              Kimratshofen und die Banholzers.  .  .  .  .  .  . 33
Brechtfestival
„Er ist vernünftig, jeder versteht ihn“: Brecht für                           Lyrik
alle beim Brechtfestival 2020.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 3                Brecht-Übersetzer David Constantine und Tom
„Wo man früher noch Brecht lesen musste, reicht es                            Kuhn stellen ihre Arbeit vor .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 38
heute, die Zeitung aufzuschlagen!“ .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 5                 Franz Fromholzer
Politische Selbstkastration.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 8
       Nikolaus Merck                                                         Der Augsburger
                                                                              Eine Begegnung mit Tanja Kinkel in der
Musik                                                                         Augsburger Staats- und Stadtbibliothek. .  .  . 40
Brechts Hauspostille zum Hören. . . . . . . . 10                                     Karin Perz

Theater                                                                       Rezensionen
Brecht als humorvoller Aufklärer                                              Kindt, Tom (2018): Brecht und die Folgen .  . 42
unserer Zeit .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 11           Florian Vaßen
       Diana Zapf-Deniz
                                                                              KK und BB.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 43
                                                                                     Gerd Koch
Brecht international
„Dieser unerwartete Anruf hat mich getroffen,                                 Brecht international
als ob mir ein Pflasterstein auf den Kopf
                                                                              „Die Ausnahme und die Regel“: Reflexionen
gefallen wäre.“Egon Breiner schreibt an
                                                                              über szenische Experimente in São Paulo,
Johannes Kunz.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 13
                                                                              Brasilien .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 44
       Gesine Bey
                                                                                     Laura Brauer

Musik
                                                                              Musik
„Wiegenlied“ in der Komposition von Paul
                                                                              Nichts für „stillen Suff “: „Lehrstück“ oder
Dessau:Ein besonderes Geschenk Brechts.  .  . 22
                                                                              Lehrstück? .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 49
Dessaus „Wiegenlied“ – nicht nur für Peter                                           Jan Knopf
Breiner .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 26
       Andreas Hauff

Dreigroschenheft 1/2020
Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
Kurz vor Druck:                                                                                Impressum

                                                         Dreigroschenheft
                                                         Informationen zu Bertolt Brecht

                                                         Gegründet 1994
                                                         Herausgeber 1994-2009: Kurt Idrizovic
                                                         www.dreigroschenheft.de

                                                         Erscheint vierteljährlich zu Quartalsbeginn
                                                         Einzelpreis: 7,50 €
                                                         Jahresabonnement: 30,- €

Martha Schad, Komm und setz dich, lieber Gast – Am       Anschrift:
                                                         Wißner-Verlag GmbH & Co. KG
Tisch mit Bertolt Brecht und Helene Weigel“, gebunden,
                                                         Im Tal 12, 86179 Augsburg
208 Seiten, Augsburg: Presse-Druck- und Verlags-
                                                         Telefon: 0821-25989-0
GmbH, ISBN 978-3946282150, 24,95€                        www.wissner.com
                                                         redaktion@dreigroschenheft.de

Setzen und geniessen                                     vertrieb@dreigroschenheft.de

Der prächtige Bildband der internatio-                   Bankverbindung: Wißner-Verlag GmbH & Co. KG
                                                         Stadtsparkasse Augsburg
nal erfolgreichen Augsburger Historike-                  Swift-Code: AUGSDE77
rin Martha Schad, „Komm und setz dich,                   IBAN: DE15 7205 0000 0000 0282 41
lieber Gast – Am Tisch mit Bertolt Brecht
und Helene Weigel“, 2005 in der Collection               Redaktionsleitung: Michael Friedrichs (mf)
Rolf Heyne München erschienen und seit
                                                         Wissenschaftlicher Beirat: Dirk Heißerer, Tom Kuhn,
langem vergriffen, ist nun vom Verlag der                Joachim Lucchesi, Werner Wüthrich
Augsburger Allgemeinen inhaltlich un-
verändert, aber in neuem Design heraus-                  Autorinnen und Autoren in dieser Ausgabe: Gesine Bey,
gebracht worden. Die kombinierte kuli-                   Tina Bühner, Michael Friedrichs, Franz Fromholzer, Gerhard
narische und literarische Spurensuche hat                Gross, Andreas Hauff, Gerd Koch, Karin Perz, Florian Vaßen,
                                                         Diana Zapf-Deniz
ergeben, dass kaum ein Werk Brechts ohne
Essen und Trinken auskommt; obendrein                    Titelbild: Kaffeeklatsch in Kimratshofen (Archiv Gerhard
sind viele einschlägige Anekdoten überlie-               Gross)
fert. Ergänzend werden 50 Originalrezepte
aus dem handschriftlichen Nachlass von                   Druck: WirmachenDruck GmbH, Backnang
Helene Weigel dokumentiert, und das gan-                 ISSN: 0949-8028
ze ist mit vielen Fotos appetitanregend ver-
anschaulicht.
                                                                                              Gefördert durch die
Im Brechthaus Augsburg wird das Werk am                                                       Stadt Augsburg

9. Februar vorgestellt, und am 7. März wird
im gegenüberliegenden Brechts Bistro daraus                                                   Gefördert durch den
gelesen (von der Autorin) und gekocht (von                                                    Bert Brecht Kreis
andern). (mf)                                                                                 Augsburg e.V.

                                                                                     Dreigroschenheft 1/2020
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„Er ist vernünftig, jeder versteht ihn“:

                                                                                               BrechtFestival
                         Brecht für alle beim Brechtfestival 2020

Die neuen künstlerischen Leiter Tom             pelbaren Brecht thematisieren wir die an-
Kühnel und Jürgen Kuttner (© Fabian             dere Seite: die Unterhaltung, das Wilde, den
Schreyer) inszenieren das Brechtfestival        Zirkus, den Jahrmarkt, den Punker Brecht.
2020 als genreübergreifendes Gesamtkunst-       Einen Brecht, der durchaus weit in die Pop-
werk – mit vielen exklusiven Produktionen       kultur strahlt“, so Jürgen Kuttner.
und spontanen Interventionen, mit Thea­
ter, Literatur, Musik, Hörspiel, Film und       Die Highlights im Überblick
erlesenen Gästen. Ob Gassenhauer oder
Neuentdeckung, ob schriller Spaß oder           Zwei Spektakel-Ereignisse am Freitag 14.2.
kluger Tiefsinn: Das Brechtfestival lädt vom    und Samstag 22.2. stehen im Zentrum des
14.–23. Februar dazu ein, Unbekanntes mit       Programms. Der martini-Park wird zum
Neugier zu erkunden und (vermeintlich)          Brecht-Jahrmarkt mit vielen Bühnen und
Bekanntes mit anderen Augen zu sehen.           insgesamt über 20 Beiträgen. Corinna Har-
                                                fouch performt mit der Band Die Tentakel
„Er ist vernünftig, jeder versteht ihn“         von Delphi Exilgedichte, Lars Eidinger
– dieses Motto hat sich das kommende            kratzt mit seiner Version von Brechts Haus-
Brechtfestival auf die Fahnen geschrieben.      postille an den Rändern des Asozialen, die
2020 gibt es „Brecht für alle“. Folgerichtig    Regisseurin Kalliniki Fili haucht einem
legen die Festivalleiter die aktuelle Ausgabe   vielstimmigen Text von Lothar Trolle Le-
als großes Spektakel an: „Gegen den Schul-      ben ein – das alles und noch viel mehr gibt
buch-Brecht, gegen Brecht den Klassiker,        es bei „Spektakel Vol.1“ und „Spektakel
gegen den grauen, funktionalistischen, sta-     Vol.2“ zu entdecken.

Dreigroschenheft 1/2020
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Shari Vari und Banda Internationale feat.
BrechtFestival

                                                                 Bernadette La Hengst. Die Band The Cold
                                                                 War mit Augsburger Künstler*innen for-
                                                                 miert sich exklusiv für das Brechtfestival.

                                                                 Das Staatstheater Augsburg ist wieder Ko-
                                                                 operationspartner und in der diesjährigen
                 Brechts Leidenschaft für den Augsburger         Ausgabe des Festivals besonders produk-
                 Plärrer ist literarisch verbürgt. Also darf     tiv. Auch eine Uraufführung gehört dazu:
                 eines beim Spektakel nicht fehlen – ein Rie-    Die mehrsprachige Zusammenarbeit mit
                 senrad. Und selbstverständlich wird auch        den Städtischen Bühnen Prag „Švejk /
                 dies zur Bühne: „Brechts Big Wheel“.            Schweijk“ in der Regie von Armin Petras
                                                                 feiert am 21.2. Premiere.
                 Trotz aller Wildheit, Spektakel-Spaß und
                 Marktschreierei: Auf inhaltlicher Ebene         Eine weitere transnationale Ost-West-Zu-
                 geht das Festival ganz im Geiste seines Na-     sammenarbeit ist die „Lehrstückzentrale“.
                 mensgebers in die Tiefe. Mit teils selten ge-   Die Augsburger Theaterensembles theter
                 hörten Texten von Brecht und Heiner Mül-        und bluespots productions arbeiten mit-
                 ler ­ – Gedichten, Lehrstücken, Hörspielen,     tels moderner Kommunikationstechnik
                 Krieg und Kalter Krieg, Osten und Westen,       über tausende Kilometer hinweg zwischen
                 Heute und Morgen, Theorie und Praxis – all      New York, Augsburg und St. Petersburg mit
                 das umkreist das Brechtfestival.                dem Regisseur Oleg Eremin und der Regis-
                                                                 seurin Alice Bever an Brecht- und Müller-
                 16 Neuproduktionen, mehr als jemals zu-         Texten und geben beim Festival Einblicke
                 vor, gehören zum Programm und sind erst-        in den Arbeitsstand und ihre Erfahrungen.
                 mals und exklusiv in Augsburg zu erleben.
                 Darunter zwei internationale Koproduk-          Mit „Kosmos Heiner Müller“ präsentiert
                 tionen sowie weitere Beiträge von promi-        das Festival vom 18.–21.2. eine Reihe aus-
                 nenten Künstlern und Künstlerinnen wie          gewählter Hörspiele im S-Planetarium mit
                 den Schauspieler*innen Charly Hübner,           Einführungen namhafter Experten. Die
                 Milan Peschel, Kathrin Angerer und dem          Filmreihe „Von Hollywood nach Buckow“
                 Politiker und Satiriker Martin Sonneborn.       im Liliom Kino zeigt vom 19.–21.2. Brecht
                                                                 als Drehbuchautor, Regisseur und als Pro­
                 Im Rahmen des Eröffnungsabends am 14.2.         tagonist eines fiktionalisierten Künstler-
                 ist auf der Bühne im martini-Park ein Gast-     porträts.
                 spiel des Schauspiels Hannover zu sehen:
                 Heiner Müllers „Der Auftrag“ in der In-         Ihre 2015er Inszenierung „Eisler on the
                 szenierung von Tom Kühnel und Jürgen            Beach“ vom Deutschen Theater Berlin ver-
                 Kuttner mit Corinna Harfouch u.a. wird          dichten die Regisseure Tom Kühnel und
                 beim Brechtfestival zum allerletzten Mal        Jürgen Kuttner exklusiv für das Brechtfe-
                 überhaupt gespielt.                             stival zu dem Liederabend „Eisler: Wir so
                                                                 gut es gelang, haben das Unsre getan“. Mit
                 2020 konzentriert sich die „Lange Brecht-       Berlinale-Filmpreisträgerin Maren Eggert,
                 nacht“ erstmals auf einen Ort. Im Kongress      dem Schauspieler Ole Lagerpusch und den
                 am Park geht es am 15.2. mit der Popkul-        Pauken und Trompeten der Bolschewi-
                 tur-Rakete auf zu neuen Sphären. Auf drei       stischen Kurkapelle Schwarz-Rot aus Ber-
                 Bühnen spielen The Notwist, Fatoni, Gis-        lin geht das Brechtfestival 2020 musikalisch
                 bert zu Knyphausen, Voodoo Jürgens,             zu Ende.

                                                                                    Dreigroschenheft 1/2020
Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
„Wo man früher noch Brecht lesen                 • Was gibt es an Brecht neu zu entdecken?

                                                                                                     BrechtFestival
musste, reicht es heute, die Zeitung             Kuttner: Neu, neu, neu? Lasst uns das alte,
                                                 das vermeintlich Bekannte an ihm entde-
aufzuschlagen!“                                  cken. Die einen sagen, dass unsere Welt
Tom Kühnel und Jürgen Kuttner sind die           immer „komplexer“, immer „unüberschau-
künstlerischen Leiter des Brechtfestivals        barer“ wird – ein Gedanke, den ich nicht
2020. Die beiden Berliner haben sich einen       teile. Wer so etwas sagt, ist nur denkfaul.
Namen als Regie-Duo gemacht und gelten           Die Welt war nie einfach und nie mit einem
als Brecht-Experten. Wie ticken sie, was ist     Seitenblick zu überschauen! Was sich in
ihr Blick auf Brecht? Jürgen Kuttner, der auch   den letzten zwanzig, dreißig Jahren verän-
als Radiomoderator und Kulturwissenschaft-       dert hat, führte aber nicht dazu, dass Brecht
ler bekannt ist, beantwortet einige Fragen für   „aktueller“ oder „wieder aktuell“ geworden
das Dreigroschenheft.                            ist, vielmehr ist unsere Gesellschaft nach ei-
                                                 ner kurzen sozialstaatlichen Irritation ein-
• Ihnen beiden geht der Ruf voraus, derzeit      fach wieder brechtischer geworden, hat sich
  die Brecht-affinsten Theaterleute zu sein.     der Gesellschaft, die Brecht beschrieb, hat
  Was soll man heute mit Brecht machen?          sich den vermeintlich alten, den vermeint-
Kuttner: Das ist Quatsch! Grundsätzlich          lich überholten Fragen Brechts angenä-
muss man wohl sagen, dass man als The-           hert. In gewisser Weise ist sie sogar wieder
aterregisseur, als Schauspieler oder auch        „überschaubarer“ geworden. Ein US-ame-
Performer an Brecht, der das Theater,            rikanischer Präsident wie Donald Trump ist
auch das Welttheater, grundstürzend ver-         kein Fehler des Systems, wie immer wieder
ändert hat, einfach nicht vorbeikommt.           behauptet wird – er ist Ausdruck, Symptom
Ob bewusst oder unbewusst und selbst in          des Systems, in dem wir leben. Das einzig
der Negation wirkt Brechts Theaterpraxis         Irritierende, Verblüffende ist nur, dass das
und seine Theatertheorie, seine Texte, sein      so klar, so deutlich bisher nicht zu sehen
analytischer Blick auf gesellschaftliche Ver-    war. Trump ist eine brechtsche Figur par ex-
hältnisse nach. Sätze wie „erst kommt das        cellence ­­­– ein Präsident einer Gesellschaft,
Fressen, dann kommt die Moral“ kennen            die sich in ihm „bis zur Kenntlichkeit ent-
selbst die, die den Namen Brecht noch nie        stellt“ sehen kann. Man könnte fast sagen:
gehört haben. Richtig ist, dass Brecht für       Wo man früher noch Brecht lesen musste,
uns von Anbeginn unserer gemeinsamen             reicht es heute, die Zeitung aufzuschlagen!
Arbeit an, z.B. mit „Jasagen und Neinsa-
gen“ (eine „Coverversion“ des brechtschen        • Wie wünschen Sie sich Ihre Besucher*
Jasager/Neinsager-Lehrstücks) über „Die            innen?
Schöpfer der Einkaufswelten. Ein quasi-          Kuttner: Mit Spaß und Neugier.
maoistisches Lehrstück“ (nach Harun Faro-
cki) bis hin zum Müllerschen „Der Auftrag“         Das Brechtfestival Augsburg wird veranstal-
und dem „Untergang des Egoisten Johann             tet vom Brechtbüro im Kulturamt der Stadt
Fatzer“, ein Fluchtpunkt unserer Arbeit war.       Augsburg in Kooperation mit dem Staats­
Ein besonderer Interessenspunkt war dabei          theater Augsburg.
Brechts noch immer unabgegoltene, noch
immer aufregende Lehrstücktheorie, ohne            Infos und Karten unter www.brechtfestival.de
die ja das heutige, nunmehr auch schon
zwanzig Jahre alte „postdramatische Thea-          Text Programmübersicht: Tina Bühner. Die
ter” (Hans-Thies Lehmann) nicht denkbar            Interviewfragen stellte Michael Friedrichs
wäre. Wer als Theatermensch „ich“ sagt,
ohne Brecht zu nennen, lügt!

Dreigroschenheft 1/2020                                                                         
Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
Kontext von Brechts Biografie kurz vorstel-
BrechtFestival

                                                                len. Den Anfang macht der Fritz Lang-Film
                                                                „Hangmen Also Die“ (Bild) aus dem Jahr
                                                                1943. Am Drehbuch des Film-Noir-Thril-
                                                                lers mit NS-Szenario war Brecht beteiligt.
                                                                „Abschied – Brechts letzter Sommer“ ist ein
                                                                Portrait, das im Sommer 1956 in Brechts
                                                                Anwesen in Buckow spielt, mit Josef Bier-
                                                                bichler, Monica Bleibtreu, Birgit Minich-
                                                                mayr und Samuel Finzi prominent besetzt.
                                                                1950 brachte Bertolt Brecht Der Hofmeister
                 „Der Auftrag. Erinnerung an eine Revo-         von Jakob Michael Reinhold Lenz auf die
                 lution“ 14.2.20, 20.30 Uhr, B13 / martini-     Bühne, mit hohem Aufwand dokumentiert.
                 Park                                           Mithilfe des Archivmaterials katapultieren
                                                                Tom Kühnel und Jürgen Kuttner Brechts
                 Am 14.2. läuft beim Brechtfestival (14.2.-     Theaterarbeit ins 21. Jahrhundert: in Ein-
                 23.2.20) das Gastspiel „Der Auftrag“ von       zelbildschaltungen, live synchronisiert von
                 Heiner Müller. Die Koproduktion des            Kathleen Morgeneyer und Peter René Lüdi-
                 Schauspiels Hannover mit den Ruhrfest-         cke vom Deutschen Theater Berlin. „Brecht
                 spielen Recklinghausen ist in Augsburg auf     in echt: Jürgen Kuttner live: Hofmeister“
                 der Großen Bühne des Staatstheaters im         feiert seine Augsburg-Pre­miere am 21.2.
                 martini-Park zum allerletzten Mal über-        (siehe auch nachfolgende Besprechung).
                 haupt zu sehen. Regie: Tom Kühnel und
                 Jürgen Kuttner. Mit: Sarah Franke, Corinna     „Lehrstückzentrale“, 16.2.20, 18 Uhr,
                 Harfouch, Janko Kahle, Jürgen Kuttner, Da-     Brechtbühne im Gaswerk
                 niel Nerlich, Hagen Oechel, Jonas Steglich.
                 Bild © Katrin Ribbe                            Die Augsburger Theaterensembles theter
                                                                und bluespots productions arbeiten mittels
                 „Von Hollywood nach Buckow“:                   moderner Kommunikationstechnik über
                 Filmreihe im Liliom (19.2.-21.2.)              tausende Kilometer hinweg zwischen New
                                                                York, Augsburg und St. Petersburg mit dem
                 Bertolt Brecht als Drehbuchautor, Regis-       Regisseur Oleg Eremin und der Regisseurin
                 seur und Protagonisten eines fiktionalisier­   Alice Bever an Brecht- und Müller-Texten
                 ten Porträts zeigt das Brechtfestival in der   und geben beim Festival Einblicke in den
                 Reihe „Von Hollywood nach Buckow“ im           Arbeitsstand und ihre Erfahrungen. Im
                 Liliom Kino. Der Brechtexperte Dr. Mi-         Bild: Theter bei der Probe mit Alice Bever.
                 chael Friedrichs wird die Filme jeweils im     © Lina Meyn

                                                                                   Dreigroschenheft 1/2020
Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
BrechtFestival
„Die Lange Brechtnacht“ 15.2.20,
ab 19.30 Uhr, Kongress am Park

Auf den Spuren Brechts verfolgt die „Lan-
ge Brechtnacht“ im Rahmen des Brecht-
festivals Impulse der zeitgenössischen
Popkultur im Umgang mit den Wider-
sprüchen der Welt. 2020 findet die Lange
Brechtnacht erstmals an einem einzigen
Veranstaltungsort statt, und zwar auf drei
Bühnen im Kongress am Park. Auf zu neu-
en Sphären mit The Notwist (Bild, © Pa-
trick Morarescu), Fatoni, Gisbert zu Kny-
phausen, Voodoo Jürgens u.v.a.

Dreigroschenheft 1/2020
Informationen zu Bertolt BrecHt - Dreigroschenheft
Der Hofmeister – Kino Babylon Berlin – Eine Brecht-Inszenierung als Standbild-
BrechtFestival

                 Folge, Schauspieler*innen des Deutschen Theaters machen ein Stück draus
                                         Politische Selbstkastration
                                         Nikolaus Merck

                 Berlin, 4. Oktober 2019. Am           Wir drucken gerne        am Berliner Rosa-Luxem-
                 Schönsten, wenn Kathleen Mor-         (und mit Dank für die    burg-Platz, schräg gegen­
                 geneyer als Gustchen und Lise         Erlaubnis) diese Be-     über der Volksbühne, „wenn
                 juchzt und g’schamig dem Hof-         sprechung der Berliner   wir Hans­Albersmäßig in die
                 meister auf die Pelle rückt. Am       Erstaufführung aus der   Ferne gucken, der Text wird
                 Schönsten, wenn Samuel Finzi          „Nachtkritik“            an die Empore projiziert.“
                 die Begeisterung des Lehrers          www.nachtkritik.de       HansAlbersmäßig ist dann
                 Wenzeslaus laut heraus kräht,         vom Oktober nach,        aber weniger der blaue Blick
                                                       denn beim Augsburger
                 weil sich der Lehrerkollege Läuf-                              ins imaginär Weite, als das
                                                       Brechtfestival gibt es
                 fer kastriert hat, um einen Job zu    am 21.2. Brechts Hof-
                                                                                Verfertigen von Atmosphäre
                 ergattern. Am Schönsten, wenn         meister in weitgehend    beim Sprechen. Albers war
                 Peter-René Lüdecke den Sumpf          gleicher Besetzung zu    der erste, der im Tonfilm
                 und das Brackwasser vertont, in       genießen. (mf)           Geräusch-Kehricht        zwi-
                 dem Gustchen sich als-ob ersäu-                                schen die Sätze streute. Die
                 fen will.                                                      drei Schauspieler vom Deut-
                                                                 schen Theater, die einen aus Standfotos von
                 Einbruch des Punk in die Schlaghosenwelt        Brechts „Hofmeister“-Inszenierung am
                                                                 Berliner Ensemble 1950 komponierten Film
                 „Nicht wundern“, sagt Regisseur und Mit-        synchronisieren, tun es ihm mit Herzens-
                 spieler Jürgen Kuttner im Kino Babylon          wonne quiekend und murrend, krähend und
                                                                                        knoddernd, brum-
                                                                                        mend und schnar-
                                                                                        rend, rumpelnd und
                                                                                        schmatzend nach.
                                                                                        Das Ganze ist Teil
                                                                                        der Versammlung
                                                                                        aller frisch restau-
                                                                                        rierten, digitalisier-
                                                                                        ten,    archivierten,
                                                                                        komponierten Film-
                                                                                        Arbeiten des Bertolt
                                                                                        Brecht, die an vier
                                                                                        Tagen im traditions-
                                                                                        schwersatten Kino
                                                                                        Babylon am Berli-
                                                                                        ner Rosa-Luxem-
                                                                                        burg-Platz gezeigt
                                                                                        werden.

                                                                                     Dreigroschenheft 1/2020
„Der Hofmeister“, schreibt Heiner Müller,     (der deutsche Mann richtet die Waffe lie-

                                                                                             BrechtFestival
der alles wusste, „war der Höhepunkt von      ber gegen sein Geschlecht = Vitalität, „ent-
Brechts Arbeit am Berliner Ensemble.“         mannt“ sich eher, als gegen die Obrigkeit zu
Eine „ganz scharfe, elegante, schöne Auf-     rebellieren) und die schauspielerische Lust,
führung“. Mit der Brecht, der Theaterstar,    die damals den Welterfolg des „Hofmeister“
ungeliebt, aber renommeehalber dringend       ausgemacht haben müssen.
benötigt in der jungen DDR, ganz schön
wider die offizielle GoetheundSchillerund-    Und in dieser Hinsicht schließt das Team
MannKulturpolitik der SED aninszenierte.      vom Deutschen Theater in der Gegen-
Lenz, den sein Freund Goethe verstieß we-     wart leibnah auf. Die Schauspieler*innen
gen Unbotmäßigkeit in Weimar, Lenz, bei       haben sichtlich das größte Vergnügen an
dem sich der Hauslehrer kastriert und die     der Live-Synchro, der Regisseur und Laut-
Soldaten in die Büsche werfen, Lenz ver-      sprecher Kuttner (Kollege Kühnel hält
steht man am besten als eine Art Einbruch     sich bedeckt im Parkett) insinuiert eine
des Punk in die wohl geordnete Popperwelt     politische Bedeutung (die es auf alle Fälle
von Föhntolle und Schlaghosen.                gibt, denn was anders als politische Selbst-
                                              kastration der abhängig Beschäftigten ist
Bitte ins Repertoire!                         die Wahl der AfD?), Anna Vavilkina an
                                              der Kino-Orgel rückt das fotografisch-fil-
Fast 70 Jahre nach der Premiere ist im Ba-    mische Dokument der Ruth Berlau von
bylon von Punk nicht mehr viel zu bemer-      1950 noch einmal um gut 30 Jahre zurück
ken. Wenn eine will, mag sie die Exaltiert-   in die totale Stummfilmzeit etwa der Klei-
heiten von Hans Gaugler als Hofmeister        nen Strolche, während das Publikum vor
(=Privatlehrer) Läuffer beim Menuett und      Vergnügen ausdauernd giggelt. Ein unend-
beim Schlittschuhlauf im schwarz-weiß ver-    licher Spaß, den, das sei angeraten, Ulrich
schwommenen Filmbild als Keimzelle der        Khuon scheunigst eingemeinden sollte in
späteren Energieleistungen an der Castorf-    sein Repertoire im Deutschen Theater, wo
schen Volksbühne identifizieren. Aber in      „Der Hofmeister“ am 15. April 1950 auch
Wirklichkeit waren die Regie- und Spiellei-   Premiere gehabt hat.
stungen der Leopold
Jessners und Erwin
Piscators und ihrer
Schauspiel­agenten
in der Weimarer Re-
publik schon weiter
gewesen. Auch die
brave Bühne von
Caspar Neher, die
für Arbeiters einige
historische Stuben-
teile zum Wiederer-
kennen bereithielt,
war schon 1950
nicht gerade dernier
cri. Aber es war die-
se Mischung aus Re-
alismus, politischer
Scharfzüngigkeit

Dreigroschenheft 1/2020                                                                 
Brechts Hauspostille zum Hören:
Brecht und Musik

                   Christel Peschke und Geoffrey Abbott zeigen, wie’s geht
                   Ein Abend im Augsburger Brechthaus

                   Brechts Hauspostille ist
                   eine Gedichtsammlung,
                   ein lyrischer Zyklus.
                   Typischerweise       be­
                   kommt man einzelne
                   Texte (manche wurden
                   herausragend vertont)
                   zu hören, einige sind
                   ja berühmt: Apfelböck.
                   Marie Farrar. Schwim­
                   men in Seen und
                   Flüssen. Ballade von
                   den Seeräubern. Hanna
                   Cash. Marie A. Eine
                   sichere Bank bei Brecht-
                   Liederabenden.
                   Aber Christel Peschke und Geoffrey Abbott      muss erstmal die Idee (und die Courage)
                   machten es anders für ihr Konzert im           haben zu einem Überblickskonzert über
                   Augsburger Brechthaus am 17. Oktober:          die Hauspostille, und die hatte Christel
                   Sie präsentierten (im Wesentlichen in der      Peschke.
                   Reihenfolge des Originals) 25 Gedichte,        Jürgen Hillesheim unterzog sich vor ein
                   gesprochen wenn reiner Text, Kom­posi­         paar Jahren der herkulischen Aufgabe,
                   tionen gesungen.                               sämtliche Gedichte der „Hauspostille“ in
                   Vorab bekam man Auszüge aus der                einem umfangreichen Buch zu analysieren
                   „Anleitung zum Gebrauch der einzelnen          – ein Standardwerk. Bei Peschke/Abbott
                   Lektionen“ zu hören, und es spricht für        waren nicht alle Texte zu erleben: von
                   Christel Peschkes Vortragskunst ebenso         den 50 Texten der ersten Ausgabe von
                   wie für die Intelligenz ihres Publikums        1922 „nur“ 25, nicht alle in der Fassung
                   (das Brechthaus war so voll besetzt wie        dieser Ausgabe. Vielleicht nicht ganz
                   selten), dass dabei immer wieder kleines       fair gegenüber dem Publikum, das nicht
                   glucksend-glückliches Lachen zu hören          erwähnt zu haben? Aber dies war ein Kon­
                   war. „So wie du sie vorträgst, machst du die   zert, keine Wissenschaft.
                   Texte durchsichtig“, sagte nachher David       Und wie mitfühlend Christel die Marie
                   Ortmann, Hausregisseur am Staatstheater        Farrar spricht, die hilflose Magd, die ihr Kind
                   Augsburg.                                      getötet hat, und wie couragiert-lebensfroh
                   Geoffrey Abbott ist in Augsburg seit Jahr      die Ballade von den Seeräubern. Und wie
                   und Tag das Synonym für Brecht am Klavier,     präzise Geoff die Begleitung meistert und
                   und Christel Peschke ist die unvergängliche    Zwischenmusik zwischen die einzelnen
                   Mutter Courage der hiesigen Brecht-            Lektionen streut – ein uneingeschränkter
                   Inszenierungen. Es liegt auf der Hand, dass    Genuss. Bedauernswert, wer’s nicht hören
                   sich beide seit langem schätzen, aber man      konnte. (Text und Foto: mf)

                   10                                                                   Dreigroschenheft 1/2020
Brecht als humorvoller Aufklärer unserer Zeit

                                                                                                                 Theater
     Diana Zapf-Deniz

Oft ist es so, dass der Prophet im eigenen               darin Jürgen Hillesheim zu den ausgewähl-
Land wenig zählt. Bertolt Brecht bildet                  ten Stücken, dass diesen von Seiten der li-
hier leider keine Ausnahme. Junge Men-                   terarischen Öffentlichkeit „generell weniger
schen in Brechts Geburtsstadt Augsburg                   Bedeutung beigemessen“ wurde und bei de-
kennen ihn kaum. Umso schöner, wenn                      nen „seitens Brecht eher augenzwinkernder
ein Gymnasium im Landkreis Augsburg                      Spaß als ernsthaftes literarisches Bemühen
Brecht ausführlich behandelt und spielt.                 der Ansporn war.“ Sie haben etwas von fri-
Dies ist Klaus Drechsel, dem stellvertreten-             volen, kurzen Komödien, und der Einfluss
den Schulleiter des Schmuttertal Gymnasi-                Karl Valentins, den Brecht überaus schätzte,
ums, zu verdanken. Er arbeitete viele Jahre              ist unbestritten.
beherzt an Brechts einstiger Schule, dem
Peutinger-Gymnasium. Gerade dort war                     Die Interessen und Beobachtungen des
es Drechsel wichtig, Brecht in seinen Thea-              21jährigen Brechts nur wenige Jahre jünge-
terkursen zu spielen. Diese Tradition lässt              ren Schülern von heute nahezubringen ist
er in Diedorf weiterleben und brachte mit                Drechsel mit dem Stück „Lux in tenebris“
dem Oberstufentheater gleich drei Einakter               grandios gelungen. Die dunklen Seiten der
von dem ganz jungen Brecht aus dem Jahr                  Prostitution und die seelenlosen Habgieri-
1919 auf die Bühne: „Er treibt einen Teufel              gen, die sich am Elend der Ausgebeuteten
aus“, „Lux in tenebris“ und „Die Hochzeit“               eine goldene Nase verdienen möchten, war
(später umbe­nannt in „Die Kleinbürger-                  nicht nur damals aktuell, sondern ist es
hochzeit“). Allein die ausführlichen Texte               auch heute. Nicht nur im Rotlichtmilieu,
im Programmheft entlarven Drechsel als                   sondern auch, wenn es um Kinderarbeit
Brechtkenner und -liebhaber. So zitiert er               und Kobalt für angeblich saubere Elektro-

Herr Paduk (Elias Kuschek) geht schäbig mit den Prostituierten um, während Frau Hogge (Ella Heuer) im Leopar-
denmantel scheinheilig versucht, sich um die für sie arbeitenden Mädchen zu kümmern.

Dreigroschenheft 1/2020                                                                                    11
Theater

          Eine spießige Kleinbürgerhochzeit die alles andere als idyllisch zu Ende geht. Die Schülerinnen und Schüler hatten
          hier den meisten Text zu lernen und meisterten diese Herausforderung exzellent. (Fotos: Diana Zapf-Deniz)

          autos geht. Brecht, als Aufklärer bekannt,                 der Prostituierten-Darstellerinnen zeigten,
          passt hervorragend in unsere Zeit, um die                  dass es nichts mit Schönheit zu tun hat. Se-
          Jugend im Aids- und Kapitalismuszeitalter                  xuell Aufreizendes war ausdrücklich nicht
          aufzuklären. Zudem wusste Brecht, wovon                    gewünscht. So wurde der Fokus berechtigt
          er spricht, da er noch kurz zuvor auf der                  auf das Elend dieser Berufsgruppe gerichtet
          Station für Geschlechtskrankheiten als Mi-                 und sprengte nicht den Rahmen eines Schü-
          litärkrankenwärter im Reservelazarett von                  lertheaters. Humorvoll eingeführt wurde
          Augsburg war und unweit der Augsburger                     das Stück mit dem Bill-Ramsey-Song „Pi-
          Bordellgasse, der Hasengasse, wohnte.                      galle“. Wie passend, denn hier geht es um
                                                                     das Rotlichtviertel von Paris.
          Die Hauptfigur in „Lux in tenebris“ ist Pa-
          duk, ein regelmäßiger Bordellbesucher,                     Die Schulband unter der Leitung von An-
          der, nachdem er von der Bordellbesitzerin                  dreas Meyer samt ihren Sängerinnen begei-
          Frau Hogge aus deren Etablissement ge-                     sterte im Anschluss mit „Ganz in Weiß“ von
          worfen wurde, die Bevölkerung erleuchten                   Roy Black zum wohl bekanntesten Einakter
          möchte, indem er für Geld medizinische                     an diesem Abend, nämlich „Die Hochzeit“.
          Exponate über Geschlechtskrankheiten                       Auch hier ein ausgesprochen starkes Büh-
          zeigt. Elias Kuschek spielte überzeugend                   nenbild mit buchstäblich schrägen Stühlen
          und redegewandt die Hauptrolle des Pa-                     und von Schülern unter der Leitung von
          duk. Der Kunst+ Kurs brachte fantastisch                   Michael Hinterleitner gezimmert.
          ekelerregende, von Krankheiten befallene,
          modellierte Körperteile. Auch das Büh-                     Die Oberstufentheaterproduktion wurde
          nenbild, das den Hurenschaufenstern in                     nicht nur mehrmals im Rahmen von Schul-
          der Herbertgasse in Hamburg gleicht, war                   vorstellungen aufgeführt, sondern zusätz-
          ausgezeichnet. Doch Brechts Stück spielte                  lich bei den Diedorfer Kulturtagen. Dort
          sich in Augsburg im Roten Hahn ab und                      war das Interesse sehr groß und es hatte
          auch dies hatten die Schüler berücksichtigt.               sich gelohnt, Brecht auch auf dem Land zu
          Drechsel war es wichtig, dass die Kostüme                  spielen.

          12                                                                                    Dreigroschenheft 1/2020
„Dieser unerwartete Anruf hat mich getroffen, als ob

                                                                                                                Brecht International
mir ein Pflasterstein auf den Kopf gefallen wäre.“
Egon Breiner schreibt an Johannes Kunz
     Gesine Bey

Im Jahr 1980 erschien „Bertolt Brecht in                 men war, wenn Lyon schlussfolgert, dass
America“, eine Monographie des amerika-                 die „Sowjetunion damals für Brecht eine
nischen Literaturwissenschaftlers James K.               Mustergesellschaft und der Mittelpunkt der
Lyon über Brecht im USA-Exil 1941–1947.                  weltweiten, revolutionären Arbeiterbewe-
Es gibt wohl kaum ein Buch über Brecht,                  gung“ gewesen wäre. Um gegen Brechts
dem so viele Gespräche mit Freunden, Be-                 taktierendes Auftreten vor dem HUAC-
rufskollegen, Mitarbeitern vorausgegangen                Aus­schuss zu argumentieren, führt er als
sind, es ist eine außerordentliche Quellen-              Faktum an, Brecht hätte eine im Juni 1941
sammlung. Unter den Brief- und Interview-                in einer Buchhandlung in Wladiwostok
Partnern für dieses Projekt war auch der                 erworbene „deutsche Lenin-Ausgabe“ vor
österreichische Emigrant Egon Breiner, be-               der Ankunft in San Pedro in das Hafenbec-
freundet mit Brecht seit der gemeinsamen                 ken geworfen, wiederum belegt durch den
Überfahrt nach Kalifornien. Es brauchte                  Zeugen Breiner, dem Brecht damals erklärt
zehn Jahre, bis Lyon sich aus der Oral Hi-               habe: „Ich will […] keinen Ärger mit den
story, Auszügen aus Briefen und veröffent-               amerikanischen Behörden‘.“
lichten Notizen Brechts eine Grundlage
geschaffen hatte, um Brechts Arbeit in den               Vieles spricht dafür, dass Breiner Lyons
Mittelpunkt zu stellen, aber auch Haltun-                „Brecht in America“ nach seinem Erschei-
gen, Konflikte und politische Stellungnah-               nen als Herausforderung empfunden hat,
men. Lyon hatte sich vorgenommen, gegen                  seine Erinnerungen an Brecht noch einmal
den Brecht-Kult der 1960er und 1970er Jah-               in der eigenen Reihenfolge, im logischen
re anzuschreiben: „Bei aller Bewunderung                 Zusammenhang zu erzählen, der sich bei
der Werke war ich von der Legendenbil-                   Lyon auflöst in die Beweisführung verschie-
dung um seine Person abgestoßen. Vieles                  dener Kapitel – vielleicht auch, um sich zu
davon wucherte schon vor seinem Tod im                   korrigieren. Er sagt im Interview: „Ich habe
Jahr 1956.“ Der heutige Leser fragt sich, ob            Lyons Buch, das Buch des Professors in San
Lyon mit manchem Urteil nicht zu weit ge-                Diego, gelesen.“ Nichts stand darin über
gangen war. Ob ihm z. B. Breiners Aussage,               die enge Freundschaft der Familien Breiner
Brecht hätte „der ewig wechselnden, politi-              und Brecht, kein Wort über die gemein-
schen Linie des russischen Kommunismus                   same Überfahrt auf der „Annie Johnson“,
gegenüber eine kindliche Abhängigkeit“                  die für ihn selbst so bedeutsam geworden
gezeigt, nicht allzu sehr entgegengekom-                 war. In kurzem zeitlichem Abstand zum
                                                         Erscheinen des Buches, im November 1980,
	 Lyon, James K.: Brecht in America. Princeton: Uni-    entstand Breiners Interview, eigentlich ein
   versity Press 1980.                                   Selbstbericht nach einem Frage-Antwort-
	 Zitiert nach der deutschen Ausgabe: Lyon, James K.:
   Brecht in Amerika. Aus dem Amerikanischen von         	 Ebd., S. 400.
   Traute M. Marshall. Frankfurt am Main: Suhrkamp       	 Ebd., S. 422.
   1984, S. 9.                                           	 Egon Breiner über Bert Brecht, 17. November 1980.
	 Ebd., S. 399. Lyon bezieht sich auf einen Brief von      Abschrift eines Tonband-Interviews. DGH 3/2019,
   Breiner vom 30.7.1972, ebd., S. 500.                     S. 21.

Dreigroschenheft 1/2020                                                                                   13
Sehr geehrter Herr Kunz (Genosse Kunz)
Brecht International

                       Sie werden sich sicher wundern von einem sehr unbekannten Mann aus Los Angeles einen
                       Brief zu bekommen, aber seit ich Ihre Anekdotensammlung über meinen alten Freund Bruno
                       Kreisky gelesen habe, lässt es mir keine Ruhe, Ihnen eine Episode mitzuteilen die nicht sehr
                       bekannt ist und die sowohl Brunos als auch mein Leben sehr verändert hat.

                       Zunächst eine kurze Erklärung woher ich den Bruno kenne. Wir waren zusammen in der
                       S.A.J. (Sozialistische Arbeiterjugend). Wir waren beide Obmänner einer Bezirksorganisation,
                       haben uns daher mindestens einmal wöchentlich in einer sogenannten Obmännerkonferenz
                       getroffen. Das war also unendlich lange zurück, etwa 1929. Im Jahre 1934 nach dem Verbot
                       unserer Organisation unter dem Dollfußfaschismus, waren er und ich einer von denen, die
                       unter dem ungeheuren Druck der Kommunisten eine illegale sozialistische Jugendorganisation
                       geschaffen haben. Ich bin nach 1938 über die Schweizer Grenze und konnte dann nach Schwe-
                       den emigrieren, wo ich den Bruno wieder getroffen habe. Wir haben in Stockholm eine kleine
                       sozialistische Gruppe gegründet die unregelmäßig zusammengekommen ist. Wir waren alle
                       überzeugt davon dass nach der deutschen Invasion in Dänemark und Norwegen Schweden
                       das nächste Opfer der Nazis sein wird. Wir haben gehört dass die Deutschen in einem Ostsee-
                       hafen eine Flotte konzentriert hatten die wie wir geglaubt haben eine Invasion in Schweden
                       vorbereitet. Wir alle haben damals eine Auswanderung nach Amerika beabsichtigt, wo Josef
                       Buttinger für uns eine Dollargarantie erlegt hatte. Nur war damals der Weg für uns versperrt
                       da man um nach Amerika zu kommen nach Wladiwostok musste, von dort nach Japan.
                       Damals haben die Japaner die Durchreise unter dem Druck der Deutschen für Emigranten
                       gesperrt.

                       Im Jahre 1941, es war etwa April oder Mai wurden wir von der schwedischen Regierung ver-
                       ständigt dass es ein schwedisches Schiff gäbe, das von Wladiwostok direkt über die Philippinen
                       nach Amerika fährt und obwohl es ein Lastschiff war, etwa 60 Passagierplätze hat. Wir poli-
                       tischen Österreicher könnten davon 5 haben. In einer Sitzung wurde nun beschlossen wer am
                       meisten gefährdet wäre. Bruno war der Fünfte. Zwei Tage vor dem Abflug nach Moskau, wo
                       man dann die transsibirische Eisenbahn erreichen konnte hat mich der Bruno angerufen und
                       mir mitgeteilt dass er sich endgültig entschlossen habe nicht zu fahren und ob i c h an seiner
                       Stelle die Flug und Fahrkarte und vor allem den Schiffsplatz ausnützen wolle. Dieser uner-
                       wartete Anruf hat mich getroffen, als ob mir ein Pflasterstein auf den Kopf gefallen wäre. Nach
                       einer halben Stunde Überlegung habe ich dem Bruno zugesagt. Ich bin dann nach der rus-
                       sischen Botschaft gefahren wo die Krupskaja residiert hat die dem Stalin und seinen Henkern
                       nur deshalb entgangen ist weil sie Gesandtin in Stockholm war, mir die Durchreisebewilligung
                       gegeben hat. (Sie konnte es tun ohne in Moskau anzufragen da sie eine alte Freundin Lenins
                       war). Ich und andere haben sich den Kopf darüber zerbrochen was der Grund für Brunos
                       plötzlichen Entschluss war. Ich habe dann erfahren dass Brunos Papiere nicht in Ordnung
                       waren und er später fahren wollte. Allerdings gab es kein später, kurze Zeit später fielen die

                       	 Brief Egon Breiner an Johannes Kunz. Kreisky Archiv, I.1-1.2 Familie – Jugend – Exil, Box 7. Typoskript mit
                          Handschrift. Eigenarten der Schreibweise wie das Weglassen der Kommas vor Nebensätzen wurden beibehalten,
                          Tippfehler stillschweigend verbessert. Für die Genehmigung zum Abdruck danke ich Prof. Peter Breiner, Univer-
                          sity at Albany, State University of New York. – Dank an das Bruno Kreisky Archiv Wien.
                       	 Verwechslung mit Alexandra Kollontai (1872 St. Petersburg – Moskau 1952), 1930–1945 Botschafterin der
                          UdSSR in Stockholm. Breiner verwechselt ihren Namen mit dem von Lenins Ehefrau Nadeshda Krupskaja (1869
                          St. Petersburg – Moskau 1939), er beschreibt sie aber richtig als alte Freundin Lenins.

                       14                                                                                 Dreigroschenheft 1/2020
Deutschen in Russland ein, weshalb es keine Durchreise durch die Sowjetunion gab. Drei Tage

                                                                                                Brecht International
nachdem das Schiff Wladiwostok verlassen hatte begann die deutsche Invasion in Russland.
Die drei Tage waren der Unterschied zwischen Leben und Tod. Nach der Invasion hätte nie-
mand mehr auf dem Schiff Russland verlassen können. Wahrscheinlich auch Bert Brecht nicht
mehr der mit Familie auf dem Schiff war.

In Brunos Erinnerungen „Zwischen den Zeiten“ finden Sie eine Stelle in der Bruno schreibt
dass er sich immer wieder mit dem Satz „was wäre gewesen wenn“ beschäftigt. Da ich fast
jedes Jahr in Wien zu Besuch war und den Bruno getroffen habe haben wir oft über die eigen-
artigen Zufälle gesprochen die unser Leben aber besonders sein Leben entscheidend beeinflusst
haben. Wenn ich mich richtig erinnere (?) gibt es in der Walpurgisnachtszene die Stelle man
glaubt zu schieben und wird geschoben.

Besten Dank wenn Sie den Brief bis hierher gelesen haben. Er ist geschrieben worden „at a
spur of a moment“ wie man es hier ausdrückt. Ich kenne keine deutsche Übersetzung die
zulänglich ist …

                                           Mit besten Grüßen unbekannterweise
Los Angeles, 1. September. 1991                                                         Ihr
                                                                               Egon Breiner
[hdschr.]
egon breiner
3452 adina drive
Los Angeles 90068
california u.s.a.

Dreigroschenheft 1/2020                                                                   15
selbst in seinen Memoiren „Zwischen den
Brecht International

                                                                             Zeiten“, wo es heißt: „Es gibt für alles in
                                                                             Österreich eine Anekdote, ja unsere ganze
                                                                             Geschichte läßt sich auflösen in Anekdo-
                                                                             ten“. Anekdoten würden das Verständnis
                                                                             für die Zusammenhänge erleichtern. Kunz’
                                                                             Sammlung von Anekdoten über das Leben
                                                                             Bruno Kreiskys ist chronologisch geordnet,
                                                                             spart die Zeit des Exils aber aus. Breiner
                                                                             macht den Herausgeber darauf aufmerk-
                                                                             sam, dass es eine, wenn auch ernste, Epi-
                                                                             sode auch aus der Emigration zu berichten
                                                                             gibt: Bruno Kreisky überließ ihm 1941 sein
                                                                             Visum und sein Schiffsticket für den Weg
                                                                             ins USA-Exil. Eine unerwartete Pointe die-
                                                                             ser Geschichte war Breiners Begegnung mit
                                                                             Bertolt Brecht.

                                                                             In Breiners Brief geht es wieder um die
                                                                             „Annie Johnson“. Brecht wird erwähnt,
                       Erster Teil der Memoiren von Bruno Kreisky, 1986.     nun steht die vorausliegende Beziehung zu
                                                                             Bruno Kreisky im Mittelpunkt. Ein Anlass,
                                                                             noch einmal nach dem Schnittpunkt dieser
                       Schema mit dem amerikanischen Regisseur               Lebenswege zu fragen, zu denen noch eine
                       Carlton Moss. Michael Friedrichs hat das              vierte Person gehört, der österreich-ameri-
                       im Bertolt-Brecht-Archiv gefundene Kas-               kanische Jurist Joseph T. Simon (urspr. Josef
                       settenband „Egon Breiner über Bert Brecht,            Simon), der ebenfalls in die USA emigrierte
                       17. November 1980“ verschriftlicht und im             und als amerikanischer Offizier nach Wien
                       Dreigroschenheft 3/2019 publiziert.                   zurückkehrte.

                       Egon Breiners Brief vom 1. September 1991             Wer in Brechts Journalen aus dem amerika-
                       aus Los Angeles an Johannes Kunz in Wien              nischen Exil nach Egon Breiner sucht, findet
                       ist wohl einem ähnlichen Impuls zu ver-               zwei Einträge, die sich förmlich wiederho-
                       danken. Er reagiert auf das kleine Buch „Ich          len: „16. 4. 42 / Vormittags hier Mitreisende
                       bin der Meinung … Kreisky in Witz und                 vom Schiff, Otto Bauers Frau und der jun-
                       Anekdote“, das der ehemalige Pressespre-             ge österreichische Arbeiter Breiner. Er ist
                       cher des österreichischen Bundeskanzlers              Schlosser bei der Southern Railway, verdient
                       von 1970 bis 1983, Bruno Kreisky, nun In-             45 $ in der Woche, hat ein kleines Auto und
                       formationsintendant des Fernsehens beim               feine Schale.“ Im Eintrag vom 15.11.1944
                       ORF, im Molden Verlag Wien 1974 heraus-               berichtet Brecht, er lese Hans Winge und
                       gegeben hatte. Vermutlich nahm Breiner                Paul Dessau Kapitel aus den „Flüchtlingsge-
                       es in die Hand, nachdem sein langjähriger             sprächen“ vor, „sowie dem österreichischen
                       Freund, Kampf- und Exilgefährte am 29.                Arbeiter Breiner, der mit uns auf der ‚Anni
                       Juli 1990 in Wien gestorben war. Bruno                Johnson‘ herüberkam und in der Southern
                       Kreisky liebte Anekdoten, verwendete sie
                                                                             	 Kreisky, Bruno: Zwischen den Zeiten. Erinnerungen
                       	 Kunz, Johannes (Hrsg.): „Ich bin der Meinung …        aus fünf Jahrzehnten. Berlin: Siedler Verlag 1986,
                          Kreisky in Witz und Anekdote“. Wien u.a.: Molden      S. 29.
                          1974.                                              	 BFA, Bd. 27, S. 84.

                       16                                                                             Dreigroschenheft 1/2020
Pacific arbeitet.“10 Bekannt war, dass Brecht               nifest in ein Lehrgedicht umzuwandeln. Es

                                                                                                                   Brecht International
nach der Geburt von Leopoldine Breiners                     gibt Auskunft darüber, dass sich Brecht in
erstem Kind Peter am 4. Juli 1947 sein Wie-                 Los Angeles nicht allein unter Künstlern,
genlied „Mein Sohn, was immer auch aus                      Filmemachern, Theaterleuten, Schriftstel-
dir werde“ aus „Lieder, Gedichte, Chöre“                    lern, Komponisten bewegt hat, sondern
von Paul Dessau vertonen ließ und in die                    durch Breiner die Möglichkeit für Gesprä-
Klinik schickte.11 Erst durch das Interview                 che im politischen Kontext fand. Nach sei-
wird deutlich, wie oft die beiden Famili-                   ner Ankunft lebte dieser bei dem früheren
en miteinander Umgang hatten. „Wenn                         Berliner Verleger Elias Laub in Los Ange-
wir einige Zeit nicht zu Brecht gekommen                    les, der hier nur noch eine Druckerei besaß.
sind, hat Helli angerufen, weshalb wir nicht                Dessen Frau Lisa betreute in der Wohnung
kommen“12, sagt Breiner. Beide Frauen wa-                   eine Pension. Auch die Sozialwissenschaft-
ren Wienerinnen und verstanden sich gut:                    lerin Helene Bauer, Witwe des 1938 verstor-
„das Haus war ein offenes Haus, in das wir                  benen Vorsitzenden der SDAP, Otto Bauer,
zu jeder Tages- und fast zu jeder Nachtzeit                 eine Reisegefährtin auf der Annie Johnson,
kommen konnten. Besonders meine Frau,                       bezog ein Zimmer, bevor sie ein Jahr später
die also Ärztin war und häufig bei ihnen in                 nach Seattle ging und 1942 starb. Es war ein
der Nähe zu tun hatte […]. Es war ein sehr                  sozialistisches Milieu, in das Brecht hier zu
inniges Verhältnis, und ich denke auch ein                  Besuch kam, seine Gesprächspartner wa-
eigenartiges, eine eigenartige Beziehung,                   ren Gewerkschafter und Sozialdemokraten.
die damit zusammenhängt, dass man sich                      Laubs Verlag in Berlin war sozialdemokra-
gegenseitig braucht.“13 Leopoldine Breiner                  tisch geprägt, publizierte in den zwanziger
hatte eine Praxis in Los Angeles und betreu-                Jahren aber auch Bücher von Leo Trotzki.
te auch die Kinder der Brechts. Sie war eine
geborene Rheinisch, die gleich nach dem                     Breiner war von Beruf Schlosser, sein Va-
„Anschluss“ Österreichs 1938 in die USA                     ter besaß in Wien eine Werkstatt. Er war
geflohen war. Der amerikanische Zweig                       in der österreichischen Arbeiterbewegung
ihrer ursprünglich aus Polen stammenden                     aktiv und arbeitete auch als Emigrant in
Familie hatte sie, ihre Mutter und eine ih-                 seinem Beruf. Genau darauf beziehen sich
rer Schwestern in die USA geholt. Egon und                  die Stichworte in den Journalen Brechts.
Leopoldine Breiner lernten sich Ende 1941                   Breiner konnte ihm Kenntnisse aus der
in Los Angeles kennen und heirateten im                     proletarischen Arbeitswelt vermitteln. Brei-
November 1942. Nach dem Kriegsende in                       ner sagt, „als Metallarbeiter hab ich also
Europa sind sie nicht nach Wien zurückge-                   meinen Beruf ausgeübt in Schweden, war
kehrt, sondern in den Vereinigten Staaten                   natürlich politisch aktiv, interessiert nach
geblieben.14                                                wie vor, und für Brecht, denke ich, war
                                                            ich irgendwie so jemand, der Stimmungen
Das Interview ist für die Brecht-Forschung                  und Ansichten von Arbeitern weitergeben
ein wichtiger Text. Es erinnert daran, dass                 konnte.“15
Egon Breiner Brecht 1945 von dem Projekt
abgeraten hatte, das Kommunistische Ma-                     Aus den Gesprächen mit Breiner, die in der
10   BFA, Bd. 27, S. 210.
                                                            Akademie der Künste als Tonbänder aufbe-
11   Vgl. BFA, Bd. 27, S. 415.                              wahrt werden, wird klar, dass er auch ein
12   Egon Breiner über Bert Brecht, DGH 3/2019, S. 12.      Intellektueller war. In einigen Diskussionen
13   Ebd., S. 18.                                           mit Brecht war er sein Antipode. Breiners
14   Auskunft von Peter Breiner an die Verfasserin per E-   enger Freund Joseph T. Simon widmete ihm
     Mail, 6.10.2019. Sie können noch nicht zusammen
     auf der „Annie Johnson“ gefahren sein, wie in der      15 Egon Breiner über Bert Brecht, 17. November 1980,
     BFA, Bd. 27, S. 415 angegeben.                            a.a.O. S. 6.

Dreigroschenheft 1/2020                                                                                      17
in seiner Autobiographie ein Porträt: „Egon               ist bis auf den heutigen Tag Egon Breiner
Brecht International

                       Breiner war manueller Arbeiter, ein Schlos-               – damals ein Schlossergehilfe.“18
                       ser, aber er war in einem höherem Grad In-
                       tellektueller als ich und meine Freunde. Er               Tatsächlich haben sich die Lebensläufe von
                       war sehr belesen und dies nicht nur in der                Bruno Kreisky (1911–1990), Egon Breiner
                       politischen Literatur. Seine politische Land-             (1910–2000) und Joseph T. Simon (1912–
                       schaft hatte sehr scharfe Grenzen, er kannte              1976) in ihrer Jugend eng berührt und las-
                       keine Kompromisse, er war von einer fast                  sen sich teilweise nur zusammen erzählen.
                       sturen Härte, die sich vor allem gegen die                Breiner und Kreisky waren Obmänner in
                       Kommunisten richtete. In den meisten Fra-                 der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ):
                       gen, die sich damals ergaben, stimmten wir                Kreisky auf der Wieden, dem 4. Wiener
                       überein – und mehr als einmal mußte ich                   Gemeindebezirk, Breiner im 2. Bezirk, der
                       seiner überlegenen Dialektik nachgeben.“16                Leopoldstadt. Joseph T. Simon war Vorsit-
                                                                                 zender des Verbandes Sozialistischer Mit-
                       Das „Biographische Handbuch der deutsch-                  telschüler im 18. Bezirk (Währing), seine
                       sprachigen Emigration nach 1933“ führt zu                 Gruppe nannte man deshalb „die Acht-
                       Egon Breiner an: „1938 Emigr. Schweiz,                    zehner“. Kreisky organisierte überdies das
                       anschl. Frankreich u. Stockholm. 1941 mit                 Bildungswesen in der SAJ. Nachdem am
                       Helene Bauer über die UdSSR u. die Phi-                   12. Februar 1934, in den Tagen des Bür-
                       lippinen nach Los Angeles. Mitglied des                   gerkriegs in Wien, unter Schuschnigg alle
                       Kreises sozialist. Emigr. in Kalifornien um               Parteien und ihre Jugendorganisationen
                       Karl Heinz und Berthold König. Bis zur                    verboten wurden, gehörten Kreisky, Breiner
                       Pensionierung Metallarb. Southern Pacific                 und Simon zur engsten Leitung der „Revo-
                       Railway.“17                                               lutionären Sozialisten Österreichs“ im Un-
                                                                                 tergrund. Ihre Aktionen berührten sich mit
                       Das Gefühl, selbst unter Genossen sei wenig               denen der kommunistischen Gruppen. Sie
                       über die Vergangenheit der Wiener Sozia-                  brachten Genossen über die Grenze in die
                       listen bekannt, mag ein Grund für den An-                 Tschechoslowakei, verteilten illegale Schrif-
                       fang des Briefes an „Genosse Kunz“ gewe-                  ten, so die in Brünn hergestellte illegale
                       sen sein: „Sie werden sich sicher wundern                 Arbeiter-Zeitung. Sie überstanden Gefäng-
                       von einem sehr unbekannten Mann aus Los                   nisstrafen und bereiteten sich, unterstützt
                       Angeles einen Brief zu bekommen.“ Kreis-                  durch die Sozialistische Jugend-Interna-
                       ky schreibt im 2. Teil seiner Memoiren, „Im               tionale, teils erst nach dem Einmarsch von
                       Strom der Politik“: „Ich habe in meinem                   Hitler, auf ihr Exil in Skandinavien vor.
                       Leben sehr wenige Freunde jüdischer Kon-
                       fession gehabt. Das war, wenn man so will,                Joseph T. Simon war 1920 als Schuljun-
                       ‚klassenbedingt‘, weil ich innerhalb der Ar-              ge durch die Aktion „Wienerkinder“ nach
                       beiterjugend wirkte. Einer meiner besten                  Dänemark als Pflegekind in die Familie
                       und ältesten Freunde jüdischer Konfession                 des Pastors und späteren Kirchenministers
                                                                                 Thorvald Povlsen gekommen. Die Hilfs-
                                                                                 bereitschaft dieser Familie half ihm Jahre
                       16 Simon, Joseph T.: Augenzeuge. Erinnerungen eines
                                                                                 später auch, in die Emigration zu gehen.
                          österreichischen Sozialisten. Eine sehr persönliche    Povlsen intervenierte für ihn 1937 bei ei-
                          Zeitgeschichte. Hrsg. von Maria Dorothea Simon,        ner Sitzung des Völkerbundes in Genf bei
                          Wien: LIT Verlag 2008, S. 152f.                        Schuschnigg. Breiner floh im Sommer
                       17 Hagemann, Harald (Hrsg.): Biographisches Hand-
                                                                                 1938, schon nach dem „Anschluss“, über
                          buch der deutschsprachigen Emigration nach 1933.
                          Bd. I, Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben. Mün-   18 Kreisky, Bruno: Im Strom der Politik. Der Memoi-
                          chen: K. G. Saur 1999, S. 91.                             ren zweiter Teil. Berlin: Siedler Verlag, S. 280

                       18                                                                                Dreigroschenheft 1/2020
die Schweizer Grenze. Kreisky kam im Sep-          wie ich in diesem Augenblick das fast un-

                                                                                                            Brecht International
tember 1938 unter der Bedingung aus dem            abweisbare Bedürfnis hatte – ich sage das
Gestapogefängnis frei, binnen weniger Tage         ohne jegliches Pathos –, auf dem freien Bo-
das Land zu verlassen. Ihm blieb nicht die         den Dänemarks auf die Knie zu sinken.“20
Zeit, das angekündigte Einreisevisum nach
Schweden abzuwarten. Er fuhr nach Berlin,          So ist die zwei Jahre später erfolgte Über-
stieg in ein dänisches Flugzeug, obwohl er         lassung des Schiffstickets an Egon Brei-
auch für Dänemark noch keine Aufent-               ner durch Kreisky nicht nur als Geschenk
haltsgenehmigung besaß. Inzwischen hatte           zu verstehen. Die Entscheidung muss für
Egon Breiner an Joseph Simon einen Ex-             Kreisky mit dem Gefühl gemeinsam getra-
pressbrief nach Kopenhagen geschickt, der          gener Gefahren verbunden gewesen sein.
ihn über Kreiskys Kommen informierte,              Joseph Simon war schon Anfang 1941 in
mit der dringlichen Bitte, ihm die Einreise-       die USA gelangt, von Wladiwostok aus
erlaubnis zu verschaffen. Simon, der noch          nach Japan, dann mit einem japanischen
ein Empfehlungsschreiben des ehemaligen            Schiff. Unterwegs in Stockholm hatte er
sozialdemokratischen Wiener Bürgermei-             bei Kreisky gewohnt. Breiner war aus der
sters Karl Seitz in der Tasche hatte, fuhr von     Schweiz über Frankreich nach Schweden
Holte aus nach Kopenhagen, ließ sich beim          gelangt, lebte bis zum Kriegsbeginn 1939
dänischen Ministerpräsidenten Thorvald             in Malmö, unweit der Eltern von Joseph T.
Stauning anmelden. „Ich erzählte ihm von           Simon, dann in Stockholm; er arbeitete, wie
der Gefahr, in der Kreisky nun schwebte“,19        die Fotos zum veröffentlichten Interview
schreibt Simon. Auf dem Dienstweg über             zeigen, in der Stockholmer österreichischen
den dänischen Innenminister ließ sich kein         sozialistischen Gruppe mit.
Visum mehr bewerkstelligen, es kam ja auf
jede Stunde an. Stauning gab Simon für den         Bruno Kreisky hatte in Stockholm bald ein
nächsten Tag ein Schreiben mit den nöti-           gutes Auskommen. Er bekam eine Stelle als
gen Papieren für Kreisky an die Polizeista-        Berater des Direktors vom schwedischen
tion des Kopenhagener Flughafens Kastrup           Konsumverein, schrieb hochbezahlte Arti-
mit. Bruno Kreisky schildert den Moment            kel für die Londoner „Tribune“ und andere
seiner Ankunft ebenso anschaulich: „In             ausländische Zeitungen, u. a. darüber, was
Kopenhagen auf dem Flughafen Kastrup               er über Deutschland recherchieren und
wollten die dänischen Grenzbeamten mich            analysieren konnte. Im Fall einer deutschen
nicht durchlassen, weil ich kein Visum hat-        Besetzung Schwedens wäre er besonders
te. Um nach Schweden zu gelangen, war ein          gefährdet gewesen, auch wegen seiner jü-
Transitvisum für Dänemark nötig, aber der          dischen Herkunft. Doch er schreibt: „nach
dänische Konsul in Wien hatte es mir ver-          Kriegsausbruch bin ich nicht aus Schweden
weigert. […] ‚Wenn Sie mich jetzt zurück-          weggegangen, obwohl mir von Joseph But-
schicken‘, habe ich in Kopenhagen einem            tinger21 alle Möglichkeiten geboten wurden;
dänischen Beamten gesagt, ‚liefern Sie mich        ich hätte den langen Weg über Moskau mit
den Leuten aus, denen ich gerade entkom-           der transsibirischen Eisenbahn nach Wla-
men bin.‘ […] In diesem Augenblick kam
                                                   20 Kreisky, Bruno: Zwischen den Zeiten, a.a.O.,
der Flughafenbus aus Kopenhagen, und                  S. 314f.
Freunde aus der Dänischen Sozialistischen          21 Joseph Buttinger (1906-1992), Vorsitzender der
Partei sowie Joseph Simon, ein alter Freund           Revolutionären Sozialisten, war im Exil in der Aus-
aus Wien, hatten alle Dokumente mit, die              landsvertretung der SDAP (ALÖS). Er folgte seiner
ich brauchte. Ich erinnere mich noch heute,           amerikanischen Frau in die USA. Durch sie war
                                                      er vermögend, hatte gute Beziehungen zu Eleanor
                                                      Roosevelt, um USA-Visa für politisch gefährdete
19 Simon, Joseph T.: Augenzeuge, a.a.O., S. 220.      Flüchtlinge zu besorgen.

Dreigroschenheft 1/2020                                                                              19
diwostok und über Japan in die Vereinigten                fahre! Ich hätte besser nicht fragen sollen,
Brecht International

                       Staaten nehmen oder mit einem der letzten                 denn die Antwort ergab sich von selbst: das
                       Frachter aus der Sowjetunion nach Ameri-                  Stalinsche Schreckensregime hatte seinen
                       ka fahren können […] Ich bin geblieben.                   Höhepunkt erreicht, und Brecht wollte sein
                       Ich wollte nicht auf der Flucht sein. Sollte              Werk nicht vorzeitig beenden.“24
                       es zum Schlimmsten kommen, so dachte
                       ich irgendwie in den riesigen Wäldern im                  Politisch wie persönlich hat die Chemie
                       Norden unterzutauchen.“22 Denkbar ist,                    zwischen Kreisky und Brecht nicht ge-
                       dass man ihn im Kriegsfall nach England                   stimmt. Als Dichter schätzte er ihn und
                       ausgeflogen hätte.                                        zitierte ihn in seinen Memoiren. Ziemlich
                                                                                 am Anfang seiner Memoiren erinnert er
                       Zu Breiners Frage „Was wäre gewesen, wenn                 sich an eine Veranstaltung im Rahmen der
                       …“ kann man noch erwähnen, dass Bruno                     Arbeiter-Symphoniekonzerte im Großen
                       Kreisky Brecht persönlich kennengelernt                   Konzerthaussaal Wien. Er datiert sie auf
                       hatte. Im Mai 1939 hielt Brecht seinen Vor-               den 11. Februar 1934, einen Tag vor dem
                       trag „Über experimentelles Theater“ in der                Beginn der austrofaschistischen Diktatur:
                       Studentenbühne Stockholm, er bereitete                    „Bei dem Konzert wurde auch aus Brechts
                       weitere Referate für andere Laienbühnen                   ‚Die Mutter‘ rezitiert: ‚als er zur Wand ging,
                       vor. Als man Kreisky im Gebäude des So-                   um erschossen zu werden …‘. Da war allen
                       zialistischen Jugendverbandes ein Zimmer                  Anwesenden eigentlich klar, daß dies das
                       mit freiem Porto und Telefon zur Verfü-                   letzte Arbeitersymphoniekonzert sein wür-
                       gung gestellt hatte, begegnete er Brecht zum              de.“25 Hier liegt eine Verschiebung der Er-
                       ersten Mal. „Ich bin immer sehr viel länger               innerung vor. Die Aufführungen „Das Lied
                       in meinem Büro gesessen als die anderen.                  vom Kampf “, eine Lied-, Chor- und Sprech-
                       Eines Abends, als ich gerade gehen wollte,                montage von Brecht und Eisler aus „Die
                       trat aus einem der Zimmer des langen Kor-                 Mutter“ und „Die Maßnahme“ unter der
                       ridors ein Mann mittleren Alters, dessen                  Leitung von Anton Webern, hatten ein Jahr
                       asketisches Gesicht mir bekannt vorkam.                   früher, vom 26.2. bis zum 19. März 1933 in
                       Wer als letzter das Haus verließ, mußte die               Wien stattgefunden,26 als Engelbert Dollfuß
                       Tür abschließen, und so fragte ich ihn ra-                gerade das Parlament auflöste, es war aller-
                       debrechend, ob ich oder er das tun sollte.                dings ein ähnlich dramatischer Moment.
                       Er konnte ebensowenig schwedisch wie ich.
                       Es war, was ich aber erst später herausfand,              Im Wiener Kreisky-Archiv liegt eine frühe-
                       Bertolt Brecht, der damals beim Reichs-                   re Transkription des Interviews „Egon Brei-
                       verband der Amateurtheater, der sein Se-                  ner über Bert Brecht“ als die von Michael
                       kretariat in der Partei hatte, Lehrstücke                 Friedrichs, getippt zu Beginn der 1980er
                       schrieb.“23 Als Journalist war Kreisky im so-             Jahre auf einer elektrischen Schreibmaschi-
                       wjetisch-finnischen „Winterkrieg“ 1939/40.                ne deutscher Tastatur.27 Kreisky kann Brei-
                       Dort, in Finnland, habe er Brecht bei einer               ner diese Abschrift durch sein Kanzlerbüro
                       finnischen Schriftstellerin wiedergetroffen.
                       Sie unterhielten sich über das Exil. „‚Warum              24 Kreisky, Bruno: Zwischen den Zeiten, a.a.O., S. 316.
                                                                                 25 Ebd., S. 15.
                       bleiben Sie nicht in Moskau?‘ fragte ich ihn,             26 Bericht „Das Lied vom Kampf “, in: Politische Büh-
                       ‚Sie sind doch Kommunist.‘ Brecht antwor-                    ne, Wien 3/4 (März/April) 1933 (Rezension). Aka-
                       tete barsch, das sei seine Sache, wohin er                   demie der Künste, Berlin, Hanns-Eisler-Archiv, Nr.
                                                                                    3299.
                       22 Kreisky, Bruno: Zwischen den Zeiten, a.a.O., S. 316.   27 Egon Breiner, Erinnerungen an Bert Brecht. Kreis-
                       23 Ebd., S. 321. Partei: Sozialdemokratische Arbeiter-       ky-Archiv I – 1.2. Familie – Jugend – Exil, Box 12.
                          partei Schwedens. Hier als Dachverband verstan-           In dieser Transkription ist das Interview auf den 12.
                          den.                                                      Nov. 1980 datiert. Es enthält nicht die englischen

                       20                                                                                  Dreigroschenheft 1/2020
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