Brechts Adaptionen der Psychologie Kurt Lewins und ihre Weiterentwicklung fürs epische Theater - Lehr-Lernforschung

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Brechts Adaptionen der Psychologie Kurt Lewins und ihre Weiterentwicklung fürs epische Theater - Lehr-Lernforschung
Ines Langemeyer                            Kurt Lewin - Bert Brecht                                              1

Brechts Adaptionen der Psychologie Kurt Lewins und ihre
Weiterentwicklung fürs epische Theater
Erschienen in: Theodor Rippey (Hg.). Das Brecht Jahrbuch 41, S. 219-246

Für die Entwicklung des nicht-aristotelischen, epischen Theaters suchte Brecht bekanntlich Vorbilder aus der
Wissenschaft. Der Feldbegriff zog dabei seine Aufmerksamkeit auf sich. Aber nicht nur von der Physik, die seit
Faraday magnetische Felder und Feldkräfte erforschte und die sich zugleich vom Atom als einst unteilbares
kleinstes Teilchen verabschiedete, ließ sich Brecht anregen, sondern auch vom Psychologen Kurt Lewin. Damit
rezipierte und verarbeitete Brecht seit etwa Ende der 1930er Jahre auch einen phänomenologisch und
gestaltpsychologisch fundierten Feldbegriff. Die Tatsache der Lewin-Rezeption ist in Sautters Aufsatz zu
Brechts logischem Empirismus (1995) aufgearbeitet. Dennoch wurde bislang nicht hinreichend geprüft,
inwieweit Lewin als Quelle tatsächlich fungierte und welche Potenziale Brecht damit nicht nur für das Theater
eröffnete. Letztlich könnte auch eine an Lewin anschließende Psychologie davon profitieren.

1. Einleitung
Die „dialektische Dramatik“ komme, vermerkte Brecht um die Jahreswende 1930/31, „ohne
Psychologie“ und „ohne Individuum“ aus und würde, „betont episch, die Zustände in
Prozesse auf[lösen]“.1 Künstlerische Darstellungen, die wie die früheren Bildhauer „das
‚Wesentliche‘, ‚Ewige‘, ‚Endgültige‘, kurz, ‚die Seele‘ ihrer Modelle zu gestalten“
versuchen2, gehören für Brecht zu den „falschen Abbildungen des gesellschaftlichen
Lebens“.3 Für das epische Theater gilt daher das experimentelle und kritisch-prüfende
Vorgehen der Naturwissenschaften als Vorbild. Auf der Bühne sollen im „experimentellen
Theater“ die gesellschaftlichen Verhältnisse so eingefangen werden, dass sie wie
Forschungsgegenstände zu erkenn- und veränderbaren Dingen werden. Der Anti-
Psychologismus, wie er im eingangs Zitierten propagiert wird, erscheint dabei als
folgerichtiger Schritt. Dennoch beschäftigt sich Brecht, um „eine Art wissenschaftliche
Haltung“4 beim Zuschauer zu wecken, mit psychologischen Fragen. Dass er die Psychologie
dabei nicht vollständig zu zerlegen, sondern sogar neu zu denken versucht, zeigt
beispielsweise folgende Notiz in seinem Arbeitsjournal aus dem Jahr 1941:
        „Die Krise der Dramatik ist sehr tief. Es kommt darauf an, reiche, komplexe, sich
        entwickelnde Figuren zu schaffen – ohne introspektive Psychologie.“5

1
  B. Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Berlin-Weimar-Frankfurt/M 1989 ff., (im
Folgenden zit. BFA), BFA 21, S. 439
2
  BFA 22.1, S. 573 (1939/49)
3
  Brecht, Bertolt. Kleines Organon für das Theater: mit einem Nachtrag zum Kleinem Organon. Suhrkamp,
1960, S. 25.
4
  BFA 21, 440
5
  BFA 27, Arbeitsjournal, 21.4.41
Ines Langemeyer                         Kurt Lewin - Bert Brecht                                 2

Nicht Auflösung, sondern Komplexität und ein genaueres Verständnis für
Entwicklungszusammenhänge interessieren ihn. Nicht Psychologie per se, sondern
introspektive Psychologie erscheint als Problem.
           Obwohl manche Bemerkungen, wie die bereits zitierten, darauf hindeuten, finden wir
bei Brecht aber auch keinen Verfechter einer objektivistischen Psychologie. Noch im gleichen
Zuge wie er die psychologische Methode der Einfühlung zurückweist, kritisiert er auch den
Behaviorismus. Er liest ihn als Symptom kapitalistischer Verhältnisse:
          „Die gewöhnlichen behavioristischen Bilder sind sehr flach und verwischt (wenn sie
          nicht die Klarheit des Schemas F haben). Auch wenn man nicht nur die biologischen,
          sondern auch die sozialen Reflexe sammelt, kommen selten konkrete Figuren heraus.
          So wie der K[apitalismus] die Kollektivisierung der Menschen durch Depravation und
          Entindividualisierung besorgt und wie zuerst vom K[apitalismus] selber eine Art
          ‚Gemeineigentum an nichts’ geschaffen wird, so spiegelt die behavioristische
          Psychologie zunächst nur die Gleichgültigkeit der Gesellschaft am Individuum ab, von
          dem nur gewisse Reflexe Wichtigkeit haben, da ja das Individuum nur Objekt ist.“6
Einer Auflösung des Individuums in Prozesse redet Brecht also keineswegs das Wort. Seine
psychologisch bedeutsame Problemstellung ist der Einzelne im Verhältnis zur Masse durch
die Art der „Kollektivisierung“ als „Depravation“ und „Entindividualisierung“ im
Kapitalismus. Sie berührt die Prozesse der Enteignung an Gemeineigentum und die
Vermassung der Menschen als Lohnabhängige. Damit wirft er die bedeutsame Frage auf, was
die psychologische Grundlage für eine andere Art der Gesellschaftlichkeit des Menschen
wäre. Der in kapitalistischen Verhältnissen entstehende Objektstatus des Individuums
changiert für Brecht zwischen gesellschaftlicher Gleichgültigkeit und einer Wichtigkeit, bei
der – wie er an anderer Stelle sagt – der „Kapitalismus […] allen Fleiß, alles Ingenium, alles
Planen, alle Grausamkeit, alle Tüchtigkeit in die Produktion des Sumpfes“ stecke.7 Der
gemeinte Objektstatus ist damit einer, in der die Subjektivität nicht ausgeschaltet, sondern
instrumentalisiert und produktiv angewendet wird.
           Brecht erkennt also die Herrschaftsfunktionalität der Psychologie. Aber er konfrontiert
diese Wissenschaft, wie gesagt, nicht nur mit einer destruktiven Form der Kritik. Es ist unter
anderem die Psychologie seines Zeitgenossen Kurt Lewin (1890-1947), die er in den 1930er
Jahren konstruktiv aufgreift. Ihre Bedeutung für die dialektische Dramatik erscheint zwar
schon dadurch marginal, als sie in Brechts Schriften kaum erwähnt wird. Dennoch lässt sich
zeigen, dass die Überschneidungen zwischen dem lewinschen und dem brechtschen Denkens

6
    BFA 27, Arbeitsjournal, 21.4.41
7
    BFA 22.2, S. 536 (1939/40)
Ines Langemeyer                            Kurt Lewin - Bert Brecht                                           3

nicht unwesentlich sind, trifft der psychologische Feldbegriff, den Lewin entwickelt, auch bei
Brecht das Anliegen, „verbesserte Darstellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens der
Menschen“ und ein neues Verständnis für die darin zum Tragen kommende ‚nicht-
aristotelische‘ Kausalität zu erringen.8
        Welchen Einfluss Lewins psychologische und wissenschaftstheoretische
Überlegungen im Einzelnen hatten, lässt sich allerdings nicht mit Exaktheit ermitteln, was
schon mit dem Tatbestand der Rezeption beginnt. Nur in einem Fall ist sicher, dass Brecht
eine Schrift von Lewin kannte. Um das Jahr 1937, auf seiner Reise nach New York, findet
man bei ihm einen Hinweis. In Die Auswahl der einzelnen Elemente9 nimmt er Bezug auf die
frühe Schrift Kriegslandschaft („Psychologie des Schlachtfeldes“) von 1917. In dieser
reflektiert Lewin seine Erfahrungen als Leutnant in der Feldartillerie – er meldete sich 1914
als Freiwilliger.10 Seine zunächst phänomenologische Beschreibung des Schlachtfeldes wird
ein Grundstein für die Psychologie, die er in Berlin in den 1920er und Anfang der 30er Jahren
entwickelt. In seiner Beschreibung der Kriegslandschaft von 1917 wird die
wahrnehmungspsychologische Interpretation der Situation an der Front bedeutsam:
        „Sie [die Landschaft, I.L.] erstreckt sich, verhältnismäßig unabhängig von den durch
        die besondere Geländeform bedingten Sichtverhältnissen, weit über den Raum hinaus,
        den nach optischen Gesetzen die Netzhaut, selbst sukzessiv, widerspiegeln kann; und
        diese Ausdehnung, -- das ist wesentlich für die Friedenslandschaft -- geht nach allen
        Richtungen gleicherweise ins Unendliche […]. Die Landschaft ist rund, ohne vorne
        und hinten.“ -- „Nähert man sich jedoch der Frontzone, so gilt die Ausdehnung ins
        Unendliche nicht mehr unbedingt. Nach der Frontseite hin scheint die Gegend
        irgendwo aufzuhören; die Landschaft ist begrenzt. Die Begrenztheit der Gegend tritt
        beim Anmarsch zur Front bereits beträchtliche Zeit vor dem Sichtbarwerden der
        Stellung ein.“11
Lewin beschreibt hier die Landschaft im Sinne der phänomenologischen Vorgehensweise
seines Lehrers Carl Stumpfs12 und führt zugleich eine Reihe von Überlegungen ein, die für
seine Feldtheorie bedeutsam werden. Eine psychologische Situation, so argumentiert er

8
  BFA 22.2, S. 387 (1938/39)
9
  BFA 22.1, 251ff.
10
   Kurt Lewin (1890-1947) studiert ab 1910 in Berlin Philosophie (bei Alois Riehl und Ernst Cassirer) und später
Psychologie. Er promoviert bei Carl Stumpf. 1921 wird er Assistent, dann Privatdozent und 1927 Professor am
Psychologischen Institut in Berlin. Von 1926-34 sind bei Lewin Handlungen und Affekte Gegenstand seiner
Arbeit. Nachdem er 1932 bereits in den USA eine Gastprofessur angenommen hat, bemüht er sich 1933 als
Migrant um weitere Anstellungen an dortigen Universitäten. In der Emigration werden Gruppen und ihre
Dynamiken zum zentralen Forschungsgebiet. Erst hier spricht Lewin explizit von seiner Theorie als Feldtheorie.
11
   K. Lewin (1917), Kurt Lewin Werke (zit. KLW), Band 4, Werkausgabe hg. v. C.-F. Graumann, Stuttgart:
Klett 1980, S. 316.
12
   H. Lück, Einführung in die „Schriften zur angewandten Psychologie“ Kurt Lewins, Kohlhammer 2009, S. 9
Ines Langemeyer                            Kurt Lewin - Bert Brecht                                           4

später, sei immer durch Begrenzungen, Stellungen und Bewegungen im Feld gekennzeichnet.
Sie zu untersuchen, bedeute zu verstehen, wodurch in ihr als ganze bestimmte Spannungen
entstehen, die Menschen zu Handlungen bewegen.13 Eine verallgemeinernde Erklärung
menschlichen Verhaltens ist also bereits in der Kriegslandschaft angelegt. Das Schlachtfeld
wird zu einem Bild für einen psychologischen Feldbegriff, der später durch Anleihen aus dem
Magnetismus und dem topologischen Vektorraum aus der Mathematik ergänzt, aber von einer
Art Physikalismus scharf abgegrenzt wird.
        1937 notiert Brecht zu Lewins früher Schrift:
        „Die Psychologie sagt uns, dass je nach dem Gebrauch, den die Menschen von einem
        Ort machen, ein anderer Augenschein entsteht.“ 14
Den Nachweis (ohne genaue Publikationsangabe) erbringt er in einer Fußnote handschriftlich,
vermutlich beim Zusammenkleben der einzelnen mit der Schreibmaschine getippter
Abschnitte.

Abbildung 1: Brechts Handschrift befindet sich unter der mit Schreibmaschine getippten Zeile
(eigene Aufnahme).15

Brechts Notiz zeugt dabei von einer wahrnehmungspsychologischen Reflexion, die über
Lewins Beschreibung hinausgeht. Sie enthält die praxisphilosophische Idee, das Denken „als

13
   In dem Aufsatz „Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und
Psychologie“ nimmt er Anleihen aus der Malerei, um den Begriff der Situation zu erklären: „Die Roller der
‚Situation‘ [...] lässt sich vielleicht am besten durch Hinweis auf gewisse Wandlungen der Malerei wiedergeben.
In der mittelalterlichen Malerei gibt es zunächst überhaupt keine Umgebung, sondern nur einen
ungegenständlichen (z.B. goldenen) Hintergrund. Auch wenn dann allmählich eine ‚Umgebung‘ auftritt, besteht
sie vielfach nur darin, dass neben der einen Person noch andere Personen und Gegenstände auf dem Bilde
dargestellt sind. So kommt es bestenfalls zu einem Ensemble von Einzelpersonen, aber jede behält im Grunde
doch eine selbständige Existenz. Erst später wird der Raum selbst malerisch existent; es entsteht eine
Gesamtsituation. Zugleich wird diese Situation als Ganzes beherrschend und das Einzelne ist das, was es ist –
man denke etwa an Rembrandts Gruppenbilder -, sofern es überhaupt noch al Einzelnes bestehen bleibt, nur in
und durch die Gesamtsituation.“ (KLW 1, S. 269)
14
   BFA 22.1, S. 251.
15
   Ich danke Jan Knopf für die Einsicht ins Brecht-Archiv in der Arbeitsstelle Bertolt Brecht in Karlsruhe.
Ines Langemeyer                            Kurt Lewin - Bert Brecht                                          5

soziales Verhalten“ zu lesen, d.h. nach dem „Zweck, den es für den Denkenden und für den,
für den gedacht wird, erfüllt“.16
           Die Rezeption einer zweiten Quelle, der Aufsatz Der Übergang von der
aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie,17 der im ersten Heft
der Zeitschrift „Die Erkenntnis“ (hrsg. seit 1930 von Rudolf Carnap und Hans Reichenbach)
erscheint, wird von Ulrich Sautter18 vermutet: „Dass Brecht Lewins Ideen zur Kenntnis nahm,
scheint kaum bezweifelt werden zu können.“19 Sicher ist dies allerdings nicht, da sich das
entsprechende Heft nicht im Brecht-Archiv befindet. Hier ist vom ersten Band nur Heft 2-4
(in einem Heft) mit den Seiten 89 bis 339 vorhanden.20 Eine Ankündigung des Artikels ist auf
der Umschlagseite eines Heftes aus dem Nachlass zu lesen. Der Titel dürfte mindestens
Brechts Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben.
           Das Interesse für das situative Wie des Erkennens als kritisches Welt- und
Selbstverhältnis verbindet die Arbeiten von Brecht und Lewin. Beide greifen die damaligen
wissenschaftstheoretischen Fragen auf, die vor dem Hintergrund technisch verfeinerter
Methoden und neuer Erkenntnisgegenstände in der Physik virulent geworden waren: Lewin
stellt vor allem in Schriften wie Gesetz und Experiment in der Psychologie (1927) und im
bereits genannten Aufsatz zum Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise
in Biologie und Psychologie (1930/31) die Weichen in seiner Disziplin für einen
Paradigmenwechsel, um Gesetzmäßiges im menschlichen Verhalten neu zu verstehen und die
strikte Teilung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden. Er
führt dazu unter anderem den Begriff des Geschehenstypus’ ein und sucht eine Verbindung
zwischen phänomenologischen und mathematisierenden Verfahren.
           Brecht nimmt etwa zur selben Zeit Fragen der modernen Physik auf, um mit ihnen
Probleme des Theaters zu artikulieren: Gesellschaftliche Prozesse und Widersprüche,
Bewegungen der Massen, das Verhalten der atomisierten Einzelnen und ihre Beziehungen in
den kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnissen sollen zu Erfahrungs- und
Lerngegenständen werden, obwohl sie sich unmittelbar der Anschaulichkeit und der
Darstellbarkeit entziehen.21 Zwar soll das „Theater im wissenschaftlichen Zeitalter“22 an
einem Geschehen nicht Gesetzmäßiges, sondern das historisch Bedeutsame deutlich

16
   BFA 21, S. 424 (1930/31)
17
   Der Text entstand auf der Grundlage eines Vortrags, den Lewin am 4.2.1930 in Berlin gehalten hatte.
18
   U. Sautter, Brechts logischer Empirismus, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 4, 1995, 687-709.
19
   S. 701
20
   Für die Auskunft danke ich vom Brecht-Archiv Helgrid Streidt und für den Hinweis Robert Cohen.
21
   J. Knopf, Bild des gesellschaftlich Verborgenen in den Dramen Brechts. In: Brecht-Journal. Hg. v. J.K..
Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 121-142
22
   Brecht, Bertolt. Kleines Organon für das Theater: mit einem Nachtrag zum Kleinem Organon. Suhrkamp,
1960, S. 25.
Ines Langemeyer                              Kurt Lewin - Bert Brecht                                             6

machen.23 Aber Brecht arbeitet – ähnlich wie die Physik in der Quantenmechanik – daran, die
gesellschaftlichen Verhältnisse modellhaft bzw. theorieförmig auf die Bühne zu bringen, da
mit der Entstehung kapitalistischer Produktionsverhältnisse das „Unrecht völlig aus dem
Gesichtsfeld verschwunden“ und damit der persönlichen Erfahrung unzugänglich geworden
ist.24 Die Modelle sollen die Zuschauer zugleich zum eigenständigen Denken und zu neuen,
kritischen und experimentellen Aneignungsformen herausfordern.25 Es geht Brecht um eine
Form der Erkenntnis, die über die bloße Empirie hinausgeht – daher auch die Anweisung des
Philosophen an die Schauspieler: „Wenn du fertig bist, sollte dein Zuschauer mehr gesehen
haben als ein Augenzeuge des ursprünglichen Vorgangs.“26 Und: „Wenn du zeigst: es ist so,
so zeige es auf eine Art, dass der Zuschauer sagt: ist es denn so?“27 Wie der
Naturwissenschaftler nach einem Experiment mehr sieht als vorher, insofern er z.B. ein
Problem schärfer oder differenzierter erkennt, so soll also auch das Theater – als Ort für
Versuche28 – die Wahrnehmungsfähigkeit zunächst der Schauspieler und dann der Zuschauer
verändern. Im Messingkauf erklärt der Philosoph entsprechend:
         „Die Wissenschaft sucht auf allen Gebieten nach Möglichkeiten zu Experimenten oder
         plastischen Darstellungen der Probleme. Man macht Modelle, welche die Bewegungen
         der Gestirne zeigen, mit listigen Apparaturen zeigt man das Verhalten der Gase. Man
         experimentiert auch an Menschen, jedoch sind hier die Möglichkeiten der
         Demonstration sehr beschränkt. Mein Gedanke war es nun, eure Kunst der
         Nachahmung von Menschen für solche Demonstrationen zu verwenden. Man könnte
         Vorfälle aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen, welche der
         Erklärung bedürftig sind, nachahmen, so dass man diesen plastischen Vorführungen
         gegenüber zu gewissen praktisch verwertbaren Kenntnissen kommen könnte.“29
Die Erkenntnis, um die es Brecht geht, ist damit wie in der Forschung vor allem eine
vorläufige, eine in Arbeit begriffene, an die praktisch weiter angesetzt werden. Sie erweist

23
   BFA 22.1, S. 54: „Alle Typen, die ich schaffe, sind kollektive. Nicht umsonst halte ich es instinktiv für nötig,
alle ihre Situationen historisch aufzufassen. Selbst über Geschehnisse meiner Zeit setze ich Jahreszahlen. Ich
fixiere also die Zeit, in der dieser Typ auftritt. Ich gebe also diese Situationen preis, soweit sie nicht durch ihn
geschaffen werden. Ich halte für historisch, was er sagt.“
24
   BFA 21, S. 437 (1930/31)
25
   Vgl. BFA 22.2, S. 721: „Nicht nur gelöste Probleme stellt das Theater dem Zuschauer vor, sondern auch
ungelöste. Wenn man sich gegen eine Verwirrung der Beschreibung wendet, entscheidet man sich nicht gegen
eine Beschreibung der Verwirrung.“ (Der Philosoph im Messingkauf) Vgl. BFA 21, S. 440: „Der moderne
Zuschauer, so wurde vorausgesetzt, wünscht nicht, irgendeiner Suggestion willenlos zu erliegen und, indem er in
alle möglichen Affektzustände hineingerissen wird, seinen Verstand zu verlieren. Er wünscht nicht, bevormundet
und vergewaltigt zu werden, sondern er will einfach menschliches Material vorgeworfen bekommen, um es
selber zu ordnen. Deshalb liebt er es auch, den Menschen in Situationen zu sehen, die nicht so ohne weiteres klar
sind, deshalb braucht er weder logische Begründungen noch psychologische Motivierungen des alten Theaters.“
26
   GW 16, S. 582
27
   BFA 21, S. 390 (1930/31)
28
   J. Knopf, Bertolt Brecht, Reclam 2000, S. 36f.
29
   BFA 22.2, S. 715 (B17)
Ines Langemeyer                          Kurt Lewin - Bert Brecht                                           7

sich gerade dadurch als nützlich, weil sie dazu antreibt, in weiteren Versuchen über das
Bestehende hinauszudenken, und so im Sinne der Wissenschaft prognostisch denken zu
können. So erklärt der Philosoph im Messingkauf:
        „Ihr müsst wissen, mich verzehrt eine unersättliche Neugier, die Menschen angehend;
        ich kann nicht genug von ihnen sehen und hören. Ich will immer wissen, wie ihre
        Unternehmungen zustande kommen und ausgehen, und ich bin darauf aus, einige
        Gesetzlichkeiten darin zu erkennen, die mich instand setzen könnten, Voraussagen zu
        machen.“30
1931 plante Brecht einen „Marxistischen Klub“ für „marxistische Studien“ zu gründen. Ob er
jemals tagte, ist nicht überliefert.31 Zum Kreis eingeladen werden sollte vermutlich auch Kurt
Lewin. Brecht stellte handschriftlich eine Liste zusammen, auf der der Name – allerdings
nicht ganz leserlich – auftaucht. In Schreibmaschinenschrift übertragen findet man auf einem
anderen Dokument den Namen „Karl Lewin“.32 Als Referatsthemen wurden u.a. „Das
Weltbild der bürgerlichen Physik“ und der „Behaviorismus(Psychologie)“ festgehalten.33
        Persönlich haben Brecht und Lewin sich wohl erst in der Emigration kennengelernt. In
New York, im Frühjahr 1943, notiert Brecht mit einem ironisch-abschätzigen Unterton:
„Neue Bekanntschaft: Kurt Lewin, der in Iowa unter Scouts und Arbeitern ‚Führerbenehmen‘
ausbildet und mich einlädt, interessiert an dem ‚Bösen Baal dem asozialen‘“34 – ein
unvollendetes Lehrstück-Projekt. Beide waren allerdings schon in Berlin mit Karl Korsch
befreundet.35 Lewin kennt ihn seit Studienzeiten.3637
        Im Folgenden gehe ich der Frage nach, inwieweit Brecht und Lewin mit dem
Feldbegriff an einem ähnlichen Problem arbeiten, wenn auch auf recht unterschiedlichen
Gebieten, und inwiefern sich dabei der Einfluss der Diskussionen in der Physik und der
Philosophie ihrer Zeit bemerkbar macht. Damit zeige ich, inwiefern Lewins psychologischer
Feldbegriff für Brecht eine andere Bedeutung hat als der der Physik. Des Weiteren gehe ich
Spuren nach, die darauf hindeuten, dass Brecht auch von Lewins Schrift zum Übergang der
aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie Kenntnis nahm.
Hierbei werden auch über Lewin hinausführende Gedankengänge herausgearbeitet, die über

30
   BFA 22.2, S. 780
31
   E. Wizisla, Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft, Suhrkamp 2004, S. 81
32
   S. 325f
33
   S. 327
34
   BFA 27, Arbeitsjournal, S. 150
35
   U. Sautter, Brechts logischer Empirismus, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 4, 1995, 701.
36
   Lewin verfasst zusammen mit Karl Korsch den Vortrag Mathematic Construct in Psychology and Sociology
für den 5. Internationalen Kongress der Einheitswissenschaft, veröff. 1939. BFA 27, S. 456
37
   Korsch, K., Gesamtausgabe Bd. 8, Briefe 1908-1939, Amsterdam, S. 365. Anders als in der Korsch-Ausgabe
wir in der BFA angegeben, dass Lewin „der Berliner Gruppe der Gesellschaft für empirische Philosophie
nahe[stehe] und […] dort 1930 die Bekanntschaft mit Karl Korsch“ gemacht habe. BFA 27, S. 456
Ines Langemeyer                            Kurt Lewin - Bert Brecht                                             8

die „Einzelpsyche“ hinaus den Weg für eine Psychologie kollektiver Lern- und
Veränderungsprozesse bereiten.

2. Der Kontext der 1930er Jahre
Die positivistischen Strömungen des Logischen Empirismus (Hans Reichenbach, Rudolf
Carnap, Otto Neurath u.a.) sind sowohl für Brecht383940 als auch für Lewin41 wichtige
Bezugspunkte. Für letzteren ist vor allem die Idee einer Einheitswissenschaft, das heißt die
Überwindung des „radikalen Zweischnitts zwischen Natur- und Geisteswissenschaften“
bedeutsam.42 Darüber hinaus hat die Schule der Gestalttheorie (Wolfgang Köhler, Max
Wertheimer u.a.) Einfluss auf seine Arbeiten. Lewins Werke werden ihr teilweise
zugerechnet, obwohl sie sich weit über den Rahmen der Untersuchung von Gestaltgesetzen
hinaus bewegen.
        Gemeinsame Bezugspunkte für Brecht und Lewin sind um 1930 in der Physik die
Entdeckungen der Quantenmechanik (Max Planck, Werner Heisenberg, Nils Bohr u.a.) und
der Relativitätstheorie (Albert Einstein).
        Max Planck veröffentlicht 1900 die Forschungsarbeit, wonach die Energie von
elektromagnetischer Strahlung von Atomen nicht gleichmäßig, sondern in Sprüngen
(Quanten) freigegeben oder aufgenommen wird -- das nach ihm benannte Plancksche
Wirkungsquantum. Ein physikalisches System kann demnach bei einer gegebenen
harmonischen Schwingung Energie nur in diskreten Beträgen, in einem ganzzahligen
Vielfachen des Schwingungsquants, aufnehmen oder abgeben. Der Begriff des
Quantenobjekts vereint dabei Eigenschaften, die sich im Paradigma der bisherigen Physik
gegenseitig ausschlossen. Er überwirft sich mit dem Grundbegriff der Materie der klassischen
Physik.
        Das Atom, das einst Unteilbare, wird teilbar. 1913 entwickelt Nils Bohr sein
Atommodell, in dem Elektronen in Schalen um den Atomkern kreisen. Mit Hilfe neuer
Apparaturen werden Beobachtungen an Elektronen möglich. 1927 wird das berühmte
Doppelspaltexperiment durchgeführt, in welchem sich erklärungsbedürftige Inferenzmuster
zeigen, da etwas entweder nur Teilchen oder nur Welle, aber nicht beides gleichzeitig sein
konnte. Die Quantentheorie wird Katalysator für eine philosophische Wende.

38
   Vgl. W. Hecht (Hg.), Brecht 73; Berlin 1973
39
   U. Sautter, Brechts logischer Empirismus, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 4, 1995, 687-709.
40
   Uludag, K., Brechts Übertragungen aus den physikalischen Theorien, Institut für kritische Theorie (Hrsg.),
Brecht – Eisler – Marcuse. 100 Jahre. Hamburg: Argument 1999, S. 21-32
41
   Vgl. Anmerkungen teils von Lewin teils vom Herausgeber, Alexandre Métraux, zu Der Übergang von der
aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie in der Werkausgabe zur
Wissenschaftstheorie, KLW 1, S. 273-278
42
   Ebd., S. 272
Ines Langemeyer                           Kurt Lewin - Bert Brecht                                            9

        Aber schon davor stellte der Feldbegriff in der Physik mechanische, an materiellen
Eigenschaften ansetzende Erklärungen in Frage. Michael Faraday macht 1845 Beobachtungen
von polarisiertem Licht unter magnetischem Einfluss und benutzt zur Beschreibung den
Begriff des „Magnetfeldes“. 1852 beschreibt er in dem Aufsatz Über den physikalischen
Charakter der magnetischen Kraftlinien, wie das Magnetfeld ganz anders als das
Gravitationsfeld Kraftlinien hätte, die vergrößert, verkleinert und abgelenkt werden könnten
und zwar in Abhängigkeit zum jeweiligen Medium. Er folgert, dass es Ursachen außerhalb
der materiellen Eigenschaften des untersuchten Gegenstands geben müsse. Dazu müsste man
elektromagnetische Wirkungen aber auch in einem perfekten Vakuum untersuchen.43 Da ihm
dafür die Möglichkeiten fehlen, schließt er auf veränderbare Eigenschaften des „Äthers“, die
das Verhalten der Lichtstrahlen bestimmen würden. Seine Äthertheorie rekurriert damit
immer noch auf mechanische Eigenschaften eines Mediums als etwas Ursächliches. Der
Feldbegriff blieb so mit der Verknüpfung des Äthers vom Raumbegriff kaum unterscheidbar.
Erst durch die Arbeiten von Planck zur Wärmestrahlung rückte er an den modernen
Systembegriff heran.44.
        Die allgemeine Relativitätstheorie Einsteins schafft den Durchbruch, den Raum in
Abhängigkeit der Bewegung der Materie zu denken. Die Annahme von Feldeigenschaften,
welche sich durch die Beziehung zwischen den Feldelementen ergeben, befördert eine
systemtheoretische Begriffsbildung. Der Feldbegriff steht damit für eine höhere Ordnung, die
es theoretisch durch die spezifischen Relationen und nicht mehr allein durch die Elemente
und ihre Wesenseigenschaften zu bestimmen gilt.
        Werner Heisenbergs Unschärferelation (1927) formuliert die Einsicht, dass sich exakte
Messungen des Orts und des Impulses bei einem Elektron zur gleichen Zeit ausschließen. Der
Zusammenhang erklärt sich nach Heisenberg aus den Eigenschaften eines Quants – oder
anders gesagt, aus der Schwierigkeit, dass sich die räumliche Position eines Elektrons nur
messen lässt, wenn man es mit Licht bestrahlt, damit also die Schwingung des Elektrons
beeinflusst. Weil sich der Ort des Elektrons umso genauer bestimmen lässt, je kürzer die
Wellenlänge des Lichts ist, schlussfolgert er, habe jeder Messvorgang Auswirkungen auf die
Bewegung des Elektrons. Heisenberg vermutet, dass die Unschärfe der Messung
unüberwindbar sei, weil mit kürzeren Lichtwellen auch der Rückstoß, mit dem ein
abgelenktes Photon auf das Elektron wirkt, größer würde, so dass mit größerer Präzision der
Ortsbestimmung sich zugleich die Genauigkeit der Geschwindigkeitsbestimmung verringere.
Allerdings ist aus heutiger Sicht die Annahme einer direkten Beziehung zwischen dem

43
   M. Faraday, On the Physical Character of the Lines of Magnetic Force, Philosophical Magazine and Journal
of Science, Vol. 3, No. 20, June 1852, pp. 401-427
Ines Langemeyer                             Kurt Lewin - Bert Brecht                                            10

Messvorgang und der Ungenauigkeit fragwürdig.45 Der indirekte Weg der Erkenntnis, der
aufgrund der Art der Forschungsgegenstände auf Apparaturen und theoretisches Denken
zurückgreifen muss, stellt sich erneut als Problem einer unerreichbaren Unabhängigkeit von
Messprozedur und des zu vermessenden Systems dar.

2.1 Adaptionen bei Brecht
Die Unschärfe, dass „das Untersuchte [...] durch die Untersuchung verändert“ wird,46
interpretiert Brecht nicht als Unzulänglichkeit der Wissenschaft oder der Methoden, sondern
wendet sie als Bestätigung der philosophischen Einsicht, dass „man die Dinge erkennen
[kann], indem man sie ändert.“47 Die Unschärferelation wird zu einer Formel für das
Entwicklungsverhältnis von praktischem und gedanklichem Handeln. Sie ist in Brechts
Schriften ein wiederkehrendes Denkbild. So fragt der Philosoph im Messingkauf:
        „Die Physiker sagen uns, dass ihnen bei der Untersuchung der kleinsten Stoffteilchen
        plötzlich ein Verdacht gekommen sei, das Untersuchte sei durch die Untersuchung
        verändert worden. Zu den Bewegungen, welche sie unter den Mikroskopen
        beobachten, kommen Bewegungen, welche durch die Mikroskope verursacht sind.
        Andrerseits werden auch die Instrumente wahrscheinlich durch die Objekte, auf die sie
        eingestellt werden, verändert. Das geschieht, wenn Instrumente beobachten, was
        geschieht erst, wenn Menschen beobachten?“48
Das Augenmerk auf die Lern- und Handlungsfähigkeit der Subjekte legend spielt Brecht auch
bei der Bestimmung des „eingreifenden Denkens“ auf Heisenberg an: Zu wählen seien
„solchen Definitionen, die die Handhabung des definierten Feldes gestatten“: „Unter den
determinierenden Faktoren tritt immer das Verhalten des Definierenden auf.“49 Damit stellt
Brecht wie auch Lewins phänomenologische Reflexion der Kriegslandschaft die Subjekt- und
Praxisabhängigkeit des jeweiligen Feldverständnisses in den Vordergrund. Auch die
Vorstellungen von einem physikalischen Feld bzw. Raum, der nicht mehr absolut, sondern
relativ zu den in ihm befindlichen Elementen existiert, wird von Brecht aufgegriffen:

44
   http://www.physikdidaktik.uni-karlsruhe.de/altlast/14.pdf
45
   Die Unschärfebeziehung ist mittlerweile in der Physik anders interpretiert worden. Experimente, mit denen die
Messungenauigkeit aus der Differenz einer schwachen und einer normalen Messung berechnet werden konnten,
zeigten, dass die Unschärfe nicht so auftritt, wie Heisenberg sie angenommen hatte. Die Unschärfe bleibt als
Tatsache dabei erhalten, wird aber nicht länger in erster Linie auf die Störung des Elektrons durch ein willkürlich
darauf gerichtetes Photon zurückgeführt. R. Scharf, Der große Heisenberg irrte, Frankfurter Allgemeine
Zeitung, Beilage: Naturwissenschaft, 17.11.12. Online verfügbar: http://www.faz.net/aktuell/wissen/physik-
chemie/quantenphysik-der-grosse-heisenberg-irrte-11959435.html .
46
   BFA 22.2, S. 730
47
   BFA 21, S. 425
48
   BFA 22.2, S. 730
49
   GW 20, S. 168
Ines Langemeyer                          Kurt Lewin - Bert Brecht                                11

        „Die Relativitätsphysiker machen die Eigenschaften des Raums abhängig von der
        Verteilung der Materie. Ich bin unfähig, solche Sätze zu lesen, ohne an so was wie
        ‚soziale Räume‘ zu denken.“50
Aus dem methodisch-technisch unüberwindbaren Problem der Unschärfe resultieren
seinerzeit auch wissenschaftstheoretische Überlegungen, wie man bei Untersuchungen mit
vielen gleichzeitig wirkenden Gesetzmäßigkeiten umzugehen hat. Angesichts sich komplex
überlagernder und wechselwirkender Naturgesetzmäßigkeiten, bei welchen sich nicht mehr
im Einzelnen untersuchen lässt, was Ursache und was Wirkung war, wird als Lösung eine
lineare und absolute Vorstellung von Kausalität zugunsten einer strukturalen und statistischen
aufgegeben. Brechts Me-Ti greift diese Frage auf und rückt die Indetermination bei
quantenphysikalischen Experimenten in die Nähe der Eigensinnigkeit menschlichen
Verhaltens:
        „Eben jetzt stellt die Physik fest, dass die kleinsten Körper unberechenbar sind, ihre
        Bewegungen sind nicht vorauszusagen. Sie erscheinen wie Individuen, mit eigenem
        freien Willen begabt. Ihre Bewegungen sind nur deshalb schwer oder nicht
        vorauszusagen, weil für uns zu viele Determinierungen bestehen, nicht etwa gar
        keine.“51
Brecht erkennt, dass zur Lösung dieses Problems der Feldbegriff relevant ist. Die Annahme
eines Feldes ist aber nicht Selbstzweck. Die Eigenschaften eines Feldes müssen dazu dienen,
Einzelfälle erklären zu können. Ihre Erklärung bleibt allerdings vage, im Rahmen
‚statistischer Kausalität‘:52
        „‚Die Welt ist ausdeterminiert‘ ist ein leerer Satz, da er nicht für die Menschen gilt.“ --
        „Die Fragestellung Determinismus o d e r Indeterminismus ist völlig hoffnungslos.
        Wenn alles, was geschieht, determiniert ist, sind die Ketten der Determinierungen
        unendlich, und unendliche Ketten können wir nicht überblicken. So ist also ein
        völliges Ausdeterminieren unmöglich.“53
Brecht folgt sozusagen dem „Skandal der Quantenmechanik“, „dass trotz vollständiger
Bekanntheit des Systems nur Wahrscheinlichkeiten voraussagbar sind“54, und hebt hervor:
        „Die Wahrscheinlichkeitskausalität der Physiker erlaubt jedenfalls gewisse Aussagen
        auch bei unregelmäßigen und komplexen Ereignissen.“55

50
   BFA 27, Arbeitsjournal, 7.1.42
51
   GW 12, S. 568
52
   vgl. W.F. Haug, Philosophieren mit Brecht und Gramsci, Hamburg 1996, S. 54
53
   BFA, AJ 23.3.42
54
   Uludag, K. a.a.O., S. 28
55
   BFA 27, AJ, 23.03.42
Ines Langemeyer                           Kurt Lewin - Bert Brecht                                           12

Brecht inspiriert der Rekurs auf Wahrscheinlichkeiten, weil sie ihm für die Dramatik nützlich
erscheinen. Die Neigung des Alltagsverstands und des pseudowissenschaftlichen Denkens,
das sichtbare Verhalten von Menschen verdoppelnd aus ihrem jeweilig angenommenen
inneren Wesen zu erklären, soll dadurch irritiert und überwunden werden. Brecht hofft, im
Zuschauer ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass „nicht nur die Verhältnisse zwischen den
Menschen […] zu Prozessen“ wurden, sondern auch „der Mensch selber“.56 Aber er wendet
sich zugleich gegen die Affirmation dieser Auflösung des Menschen in Prozesse und macht
genau hieran die Unzulänglichkeit der Psychologie fest:
        „Das Unteilbare, das Individuum, in seine Bestandteile zerfallend, erzeugte die
        Psychologie, die den Bestandteilen nachging, natürlich ohne sie wieder zu einem
        Individuum zusammenzubringen.“57
Auf die Psychologie Kurt Lewins trifft diese Kritik jedoch nicht zu. In welcher Weise sie
Brecht nachweisbar und möglicherweise inspirierte, verdient daher herausgearbeitet zu
werden.

3. Der Feldbegriff – seine Bedeutung in der lewinschen Psychologie und im brechtschen
Theater

3.1 Bezüge zur Gestalttheorie bei Lewin
Bei Wertheimer fasst der Feldbegriff Strukturierungen des Sehfeldes.58 Beispielsweise
erscheine „ein homogenes Feld“ wie eine weiße Fläche „als Ganzfeld, es setzt einer
‚Trennung‘, ‚Zerreißung‘, ‚Unterbrechung‘ Widerstand entgegen.“ Erst die Diskontinuität
einer Figur-Grund-Beziehung erzeuge Aufmerksamkeit für etwas:
        „Aufmerksamkeitsverteilung, Fixation usw. bedingen sich unter natürlichen
        Verhältnissen in der Regel sekundär von den Konstellationsverhältnissen im Ganzen
        her, wieder in erster Linie von der ‚Hauptverteilung‘ in großen Zügen her. […]
        Künstlich erzielte Verschiebung des Aufmerksamkeitsbereiches setzt unter Umständen
        andere, neue Feldbedingungen.“59
Mit diesem Feldbegriff lassen sich so verallgemeinernd Anordnungen von Elementen dahin
untersuchen, ob sie zu einer Figur- bzw. Gestaltwahrnehmung führen.
        Lewin arbeitet an ähnlichen wahrnehmungspsychologischen Fragen, wenn er z.B. von
Dingen spricht, die „Aufforderungscharakter“ hätten. Damit meint er, dass sich Dinge im

56
   BFA 21, 320
57
   BFA 21, S. 435 (1930/31)
58
   Wertheimer, M., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt, Psychologische Forschung, 4. Jg., H. 1, 1923,
301-350; S. 347ff.
59
   Ebd.
Ines Langemeyer                          Kurt Lewin - Bert Brecht                                       13

Gesichtsfeld eines Menschen selten neutral, sondern mal als interessant, mal als abstoßend für
jemanden darstellen. Der Begriff ist sowohl ein phänomenologischer im Sinne einer konkret
beschreibenden Erfahrungskategorie als auch ein theoretisierender, indem er auf die Relation
zwischen situativ wahrgenommener Brauchbarkeit und Interessantheit eines Gegenstands
abhebt. Lewin interpretiert diese Relation dabei nicht nur wahrnehmungs-, sondern auch
verhaltenspsychologisch als eine spezifische Beziehung zwischen Person und Umwelt. Die
Veränderung im Verhalten wie der Umschlag in einer Handlung, die zunächst attraktiv
erschien, hin zur Sättigung und Übersättigung, wonach eine Handlung, häufig in einer
hochemotionalen Weise, unter- oder sogar ganz abgebrochen wird, ist Thema seiner
Forschung Ende der 1920er Jahre. Seinen Feldbegriff wird er später im Hinblick auf solche
spontanen Bewertungsmustern konstruieren und diese mit Begriffen der Physik, den Vektoren
und den Valenzen, belegen. Sie stehen dabei im Dienste des „Grundsatzes der konkreten
Ursachen“, das heißt, dass „nur existierende Fakten das Verhalten beeinflussen“ können.
Abgelehnt werden damit Vorstellungen der „älteren Assoziationstheorie“, die „die Frage:
‚Warum verhält sich eine Person auf die und die Weise?‘ häufig mit dem Hinweis auf ein
ähnliches Verhalten in der onto- oder phylogenetischen Vergangenheit der betreffenden
Person“ beantwortet.60 Lewin sucht so eine strikte Trennung zwischen historischen und
topologischen Erklärungsansätzen hervorzuheben und definiert den letzteren durch das
Postulat, dass „nur der gegenwärtige Zustand der Person ihr gegenwärtiges Verhalten
beeinflusst“ und somit nur die genaue Erforschung der „spezifischen dynamischen
Eigenschaften des dann gegenwärtigen Lebensraums“ Rückschlüsse auf Gesetzmäßigkeiten
erlaubten.61 Solche Überlegungen überträgt er schließlich auf das psychologische Gebiet der
Gruppendynamik.
        Einem Brief von Korsch aus dem Jahre 1937 ist zu entnehmen, wie er Lewin von
gestalttheoretischen Theoremen bei der Analyse dynamischer Einheiten, d.h. der dynamischen
Beziehungen in Gruppen, abrät. Er weist ihn auf Ungenauigkeiten in seiner Argumentation
hin, dass Lewin zwar einerseits von „dynamischen Einheiten verschiedenen Grades“ als
„gestalten of greater or less unity“ spricht, dann aber die Gradunterschiede in Abhängigkeit
der Art der Kommunikation nicht genauer berücksichtigen würde: „Von der Art des
communicating process hängt nicht nur der degree, sondern auch die Existenz der
communication ab.“62 Man erkennt hier die systemtheoretische Grundproblematik, ob sich die
Einheit bzw. das aus Elemente entstehende Gebilde eines Ganzen dominant als Struktur

60
   K. Lewin, Psychoanalyse und Topologische Psychologie (1936), In: Schriften zur Angewandten Psychologie,
hg. v. H. Lück, Krammer 2009, S. 123f.
61
   S. 125
62
   S. 632ff. Der Brief an Kurt und Gertrud Lewin ist in Seattle geschrieben und auf den 3.5.1937 datiert.
Ines Langemeyer                          Kurt Lewin - Bert Brecht                                       14

(Gestalt/System) oder als Prozess (Kommunikation) herleiten lässt. Korsch weist auf die
Wechselwirkung zwischen beidem hin. Erst wenn strukturell betrachtet zwei Elemente mit
einander verkoppelt sind, können sich Grade der Einheitlichkeit eines Ganzen unterscheiden.
Für eine Theorie gesellschaftlicher Widersprüche ist dies bedeutsam.
        Korsch wendet ferner ein, dass „für Deine ‚gestalten of greater or less unity’ [...] in
keiner Weise mehr die Definition“ passe, „dass ‚a change of one part results in a change in all
other parts“. Dieses ‚all‘ wirke „unverifizierbar, mystisch“ und widerspräche seiner
„Unterscheidung der Grade von dynamic unity“.63 Im Gestaltbegriff scheinen damit zwei
Erkenntnisperspektiven zu konfligieren: Einerseits geht es um dynamische Veränderungen,
mit denen erklärt wird, wie sich eine Einheit als Gestalt (als Ganzes) formiert, aber auch
wieder (partiell) auflösen können (Perspektive der Emergenz); andererseits soll wiederum die
Einheit die Stärke von Abhängigkeiten oder Beziehungen in einem Feld und die daraus
folgenden Prozesse erklären (Perspektive der systemischen Folgen). Das ‚Unverifizierbare‘
wäre demnach, der Struktur eines Feldes als Ganzes Macht zuzusprechen, die allen in ihr
enthaltenen Elementen gegenüber determinierend ist (Strukturdeterminismus). Der Gedanke
eines ausdeterminierten Systems ist hierin angelegt. Er widerspricht der Einsicht, dass
Dynamiken auch ein bestimmtes System, in dem sie gründen, sprengen und überschreiten
können.64
        In Lewins Aufsatz zum „Übergang von der aristotelischen zu galileischen Denkweise
in Biologie und Psychologie“ tritt die von Korsch hervorgehobene Problematik noch nicht in
Erscheinung. Er behandelt die Kausalitätsproblematik aus psychologischer Sicht und stellt
zunächst einmal die Weichen für ein nicht-aristotelisches Kausalitätsverständnis. Sofern
Brecht über Korsch oder über die Ankündigung auf einer Rückseite der Zeitschrift von
Lewins Beitrag erfuhr, dürfte dieser, wie gesagt, bei ihm Interesse geweckt haben.

3.2 Der erste Band der „Erkenntnis“ und Lewins Beitrag
Zunächst ein paar Informationen zu der damals unter neuem Titel erscheinenden Zeitschrift:65
In derselben Ausgabe betont Reichenbach, dass es Aufgabe der Wissenschaft sei,
insbesondere der Philosophie, „wissenschaftliche Entdeckungen mit der Welt des täglichen
Lebens zu einem einheitlichen Weltbild zusammenzufügen.“66 Denn wenn „die Philosophen

63
   S. 633
64
   Langemeyer, Ines, Das Wissen der Achtsamkeit. Kooperative Kompetenz in komplexen Arbeitsprozessen.
Münster: Waxmann 2015.
65
   Der frühere Titel war „Annalen der Philosophie“.
66
   Reichenbach schreibt zur Programmatik der Zeitschrift:
Ines Langemeyer                           Kurt Lewin - Bert Brecht                                        15

Entdeckungen wie die relativistische Zeitlehre, die nicht-euklidischen Raumformen, die
quantenmechanische Begrenzung des Kausalitätsgedankens Arbeitshypothesen oder Fiktionen
genannte haben, so haben sie damit [einen] Grenzstrich gezogen“, wodurch die „Wissenschaft
ein Sonderdasein“ erhalte.67 Zwischen Empirismus und Theorieentwicklung klaffe die
philosophische Aufgabe, Verbindungen zu schaffen, die nicht rein spekulativer Natur sind.
Carnap erklärt vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit einer Einheitswissenschaft.
        „Hier liegt […] die Quelle [einer] unglücklichen Spaltung, und der wissenschaftlich
        Ungeschulte wird sie bei aller Tapferkeit seines Lernbedürfnisses nicht überbrücken,
        wenn nicht von Seiten der Philosophie her zuvor der Weg zur Einheit aufgezeigt
        worden ist.“68
In Wege der wissenschaftlichen Weltauffassung69 bestimmt Otto Neurath als deren
„Grundeinsichten“, dass „zwischen den verschiedenen Wissenschaftsgebieten nur praktische
und keine prinzipiellen Grenzen bestehen.“70 Der Logische Empirismus lehnt – in Carnaps,
Hahns und Neuraths Worten – die „dunklen Fernen und unergründlichen Tiefen“ der
metaphysischen Wesensschau ab.71 Carnaps Anliegen in seinem Beitrag Die alte und die
neue Logik ist es, die „Prädikatenlogik“ zu einer „Logik der Relationen“ zu erweitern, weil
erstere nur eine Ursache anzugeben vermag.72

„Unsere Zeitschrift will keine Lehrmeinungen, keine ausgedachten Systeme, keine
Begriffsbildung; sie will Erkenntnis.
Die ‚Erkenntnis’ ist eine Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie. Sie ist
nicht festgelegt auf die Methoden eines philosophischen Systems, sie sieht
Philosophie nicht in einem Eigenrecht der Vernunft gegründet, welche
unabhängig von den Fachwissenschaften Erkenntnisse allgemein verpflichtender
Art aufrichten könnte, sondern sie will Philosophie nach den Methoden der
Einzelwissenschaften treiben, ohne das Vorurteil einer übergreifenden Erkenntnis
a priori allein aus der Fragestellung konkreter Probleme heraus. Die Form der
Zeitschrift ist der gegebene Ausdruck für eine solche Philosophie, in der es
Einzelprobleme unabhängig vom Rahmen eines Systems zu lösen gibt und in der
Erkenntnisse von vielen zum Bau einer Gesamtwissenschaft zusammengetragen
werden - der es um ‚Erkenntnis‘ zu tun ist in dem gleichen Sinn wie jeder
Fachwissenschaft.
Rudolf Carnap / Hans Reichenbach (Hrsg.), Die Erkenntnis, Band I, Leipzig 1930-31, zugleich "Annalen der
Philosophie", Bd. 9, S. 50
67
   S. 50
68
   S. 50f.
69
   Im Heft aus dem Nachlassbestand finden sich zu Neuraths Artikel Anstreichungen und Kommentare von
Brecht.
70
   S. 313f
71
   Carnap, Hahn, Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung: Der Wiener Kreis 1929, S. 15
72
   Carnaps Anliegen korrespondiert mit Lewins Forderung nach Funktionsbegriffen und mit Brechts Interesse für
die Überwindung einer eindimensionalen Vorstellung Kausalität – in der Prädikatenlogik wie folgt beschrieben:
„Wenn jeder Satz einem Subjekt ein Prädikat zuschreibt, so kann es im Grunde nur ein Subjekt geben, das
Absolute; und jeder Sachverhalt muss darin bestehen, dass dem Absoluten ein gewisses Prädikat zukommt.«
(1930/31, 18, zit. nach Ulrich Sautter 1995, S. 698f).
Ines Langemeyer                           Kurt Lewin - Bert Brecht                                         16

        Lewin greift dasselbe Problem in der Psychologie auf, so der Herausgebers des ersten
Bandes der Kurt Lewin Werkausgabe Alexandre Métraux:73 Der Begriff der
Einheitswissenschaft solle für Lewin „mehr besagen […] als die sicherlich richtige
Behauptung, dass alle Wissenschaften gleichermaßen aus ‚begrifflichem‘ Material bestehen“,
vielmehr gehe es um die Aufhebung des „radikalen Zweischnitts in Natur- und
Geisteswissenschaften“.74
         Lewin rückt dazu „Fragen der Dynamik“75 in den Mittelpunkt, die die „massiven
Unterschiede der Denkweise“ in der Physik Galileis und Aristoteles’ zutage treten lassen.76 Er
sieht den Mangel der aristotelischen Physik darin, dass sie einem Gegenstand per
Klassifikation ein Wesen zuordnet und darüber „sein Verhalten in positiver und negativer
Hinsicht“ erklärt.77 Aristoteles‘ „Klassifikationen bewegten sich häufig in Gegensatzpaaren
(wie warm und kalt, feucht und trocken) und trügen einen ‚absoluten‘, starren Charakter.“78
Seine Begriffe seien „anthropomorphe,“ „unexakte“ Veranschaulichungen und implizieren
Werte: während den Himmelskörpern vollendete Kreisbewegungen zukämen, sei die
‚irdische‘ Welt „ihrem Wesen nach minderer Art.“79
        Statt der absoluten Gegensätze findet Lewin bei der moderne Physik fließende
Übergänge, denn „an die Stelle von ‚Substanzbegriffen‘ treten ‚Funktionsbegriffe‘.“80 Die
aristotelischen Substanzbegriffe würden eine Abstraktion der Art vollziehen, dass der
„Aufstieg zum Allgemeinen zugleich ein Fortlassen der konkreten Unterschiede bedeutet.“ So
sei man gezwungen, „sich entweder auf einen engen Gegenstandbereich zu beschränken oder
bei der Ausdehnung des Bereiches die Begriffe immer mehr zu verdünnen.“81 Damit kann
Aristoteles „gesetzlich und [...] begrifflich“ nur fassen, „was ausnahmslos geschieht“ und
ferner, „was häufig geschieht“; das Kriterium für Gesetzlichkeit ist die „Regelmäßigkeit,“
„mit der gleiche Vorgänge in der Natur vorkommen.“82 Im Vordergrund stehe der „stärkste
Grad des Allgemeinen,“83 „ausgeschlossen aus dem Kreise des begrifflich Fassbaren, nur
‚zufällig‘, ist das Einmalige, das Individuum als solches“84,85.

73
   K. Lewin, Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie. In:
Die Erkenntnis 1931, Bd. 1, S. 421-466. Zugleich: In C.-F. Graumann (Werk-Hrsg.) & A. Métraux (Hrsg.), Kurt
Lewin Werkausgabe: Band 1.Wissenschaftstheorie (S. 233–278). Stuttgart, Germany 1981: Klett- Cotta. (zit.
KLW 1)
74
   S. 272, Fußnote 3
75
   S. 234
76
   Ebd.
77
   S. 236
78
   ebd.
79
   S. 235f
80
   S. 236
81
   ebd.
82
   S. 237
83
   S. 238
84
   S. 237
Ines Langemeyer                             Kurt Lewin - Bert Brecht                              17

         Während die Begriffe der aristotelischen Physik „ursprünglich“ „auf die
‚Wirklichkeit‘ im speziellen Sinn der historisch-geographischen Gegebenheit“ bezogen
seien,86 wende die neue Physik dieses Verständnis von Empirie: „Es ist dasselbe Gesetz, das
den Lauf der Gestirne und das Fallen des Steines bestimmt.“87 Ein „funktionelleres Denken“
löse das begriffliche Raster der aristotelischen Klassen ab und operiere mit „konditional-
genetischen Begriffen“88.

         FÜR                                    ARISTOTELES                 GALILEI
1. ist das Regelmäßige                          ü                         ü
                                                ý gesetzlich              |
das Häufige                                     þ                         ý gesetzlich
                                                                          |
das Individuelle                                 zufällig                 þ
2. sind Kriterien der                  Regelmäßigkeit              besondere Kriterien sind
Gesetzlichkeit                         Häufigkeit                  unnötig
3. ist das, was historisch-            ein Ausdruck des Wesens der ein ‚Zufall‘ (nur historisch
geographisch gegebenen                 Sache                       bedingt)
Fällen gemeinsam ist
         Tabelle 189

Bei Aristoteles gehe die Begriffsbildung an den Problemen eines komplexen dynamischen
Geschehens vorbei.
               „Ein Hauptcharakteristikum der aristotelischen Dynamik ist der
               Umstand, dass das Geschehen mit Hilfe von Begriffen erklärt wird,
               die wir heute als spezifisch ‚biologisch‘ oder psychologisch
               empfinden: Jeder Gegenstand strebe, sofern er nicht durch andere
               Gegenstände daran gehindert wird, zu seiner Vollendung, zur
               Realisierung seines eigentlichen Wesens.“
Deshalb fassten die aristotelischen Begriffe die Zusammenhänge lediglich auf
eine Weise, dass
               „ganz generell die Ursache eines physikalischen Geschehens eine
               enge Verwandtschaft mit psychologischen ‚Trieben‘ [hat]: Der
               Gegenstand strebt auf ein bestimmtes Ziel zu; soweit es sich um
               Bewegungen handelt, tendiert er zu jenem Ort, der dem Gegenstand

85
   Vgl. Aristoteles, Die Poetik, Reclam,S. 28f/29f.
86
   S. 239
87
   S. 243
88
   S. 241
89
   S. 278
Ines Langemeyer                          Kurt Lewin - Bert Brecht                              18

                wesensmäßig zukommt. So strebt das Schwere nach unten, und zwar
                um so stärker, je schwerer es ist, das Leichte aber nach oben.“ 90
Die Dynamik des Geschehens ist hier nur durch einen einzigen Vektor darstellbar, während
bei der modernen Physik das „Zueinander mehrerer physikalischer Fakten“, d.h. die
„Beziehung des Gegenstandes zur Umgebung“ untersucht wird.91 Die Erkenntnismethode
darf die Einflüsse der „Situation,“ in denen sich der Gegenstand befindet, nicht mehr
ausschalten, sondern muss sie begrifflich genau erfassen. „Sie nimmt auf die Gesamtsituation
in ihrer vollen, konkreten Individualität Bezug, also auf das So-Sein der Situation in jedem
einzelnen Zeitmoment.“92 Experimente müssten deshalb einer ganz anderen Zielsetzung
unterworfen werden. Zur Theorieentwicklung sollten sie nicht mehr nur gleiche Vorgänge zu
reproduzieren versuchen. Das bloße Reproduzieren kann aus Lewins Sicht eine Theorie weder
bestätigen noch widerlegen. Stattdessen müssten Experimente dazu dienen, einen „‚reinen‘
Geschehenstypus“ zu produzieren, um Gesetzmäßigkeiten begrifflich „rekonstruieren“ zu
können.93 Dabei käme es darauf an, „solche Situationen herzustellen, dass sich dieser ‚reine‘
Geschehenstypus faktisch ergibt, beziehungsweise dass er begrifflich aus dem tatsächlichen
Geschehen rekonstruiert werden kann.“94 Wie häufig ein Geschehen empirisch vorkommt, ist
für diese Frage irrelevant. Nur das, was zwingend eintritt, könne gesetzmäßig sein. Letzteres
sei mit konditional-genetischen Begriffen zu fassen. Historisch-geographische Begriffe
könnten hinzugenommen werden, um ein Geschehen über seine nicht-gesetzmäßigen
Zusammenhänge hinaus zu erhellen.
            Psychologische Forschung könne entsprechend menschliches Handeln nur in Bezug
zum Kontext einer Situation untersuchen. Anders gesagt, sei die „Dynamik des Geschehens
[...] allemal zurückzuführen auf die Beziehung des konkreten Individuums zur konkreten
Umwelt und, soweit es sich um innere Kräfte handelt, auf das Zueinander der verschiedenen
funktionellen Systeme, die das Individuum ausmachen.“ 95
            Alle darin wirkenden Kräfte und „Geschehensdifferentiale“ wären für die
Theoriebildung bedeutsam. Denn es änderten sich nicht nur Kräfte innerhalb einer Situation,
sondern „mit dem Geschehen auch […] die Gesamtsituation“.96 Mit dieser Anlehnung an die
Gestaltpsychologie grenzt sich Lewin davon ab, Menschen über ein „Gesetz des
Durchschnittsverhalten“ erklären zu wollen oder sie als milieudeterminiert zu bezeichnen.97

90
   S. 258
91
   S. 259
92
   S. 264
93
   Ebd.
94
   Ebd.
95
   S. 270
96
   S. 271
97
   S. 268
Ines Langemeyer                           Kurt Lewin - Bert Brecht                                       19

Der psychologische Gesetzesbegriff ist im Begriff des Geschehenstypus zu verankern. Dazu
schlägt Lewin vor, Experimente zu wiederholen, wobei man sie, um den Geschehenstypus zu
bestimmen, systematisch variiert und die „Geschehensdifferenziale“ in den Blick nimmt.98
Wie er in Gesetz und Experiment in der Psychologie schreibt, seien eben nicht gleiche
Ergebnisse von Bedeutung sondern verschiedene Fälle,99 weil,
             „die Bestimmung eines empirischen Typus, zumal wenn es sich um
             einen konditional-genetischen Typus eines Dinges oder Geschehens
             handelt, nicht durch eine Wesensschau geschehen kann (auch nicht
             durch direkte Wahrnehmung), sondern durch eine Untersuchung der
             dynamisch konstituierenden Faktoren, die nur durch die reale
             Veränderung realer Situationen zu erreichen ist.“100
Auf diese Weise nimmt der Gesetzesbegriff die konditional-genetischen Zusammenhänge auf,
während die historisch-geographischen Bedingungen nur erhellen, warum z.B. ein
bestimmtes Geschehen in bestimmten Situationen häufig oder selten auftritt.101 In dieser
Schlussfolgerung vollzieht Lewin eine ähnliche Trennung von Ebenen, wie sie die Physik
seiner Zeit vornimmt.
        Da der Kontrollierbarkeit physikalischer Systeme in experimentellen Situationen
Grenzen gesetzt sind, muss die Wissenschaft einen Weg jenseits der direkten Wahrnehmung
einschlagen. Empirische Arbeiten müssen indirekt bzw. theoretisch verfahren, indem
planmäßige Eingriffe in ein komplexes System einem Ergebnis gegenübergestellt werden. Für
das Zusammenhangsdenken wird die Spekulation unentbehrlich.102 Die Beziehung zwischen
Theorieebene und Beweisebene ist weniger selbstverständlich und braucht einen eigenen
philosophischen Denkrahmen. In einem postum erschienen Aufsatz über Ernst Cassirers
Beitrag zur Wissenschaftsphilosophie nimmt Lewin dieses Problem erneut in den Blick:
        „In der Physik tritt auf der Grundlage einer zunehmenden engen gegenseitigen
        Abhängigkeit von Tatsachenfeststellungen und Theorie ein entsprechender Wandel
        ein.“103
Noch einmal Bezug nehmend auf Cassirers Schrift zu Substanzbegriff und Funktionsbegriff
von 1910 weist er auf die Notwendigkeit einer reflektierten Verknüpfung zwischen
theoretischer Arbeit und indirekter Methode hin:

98
   S. 263f
99
   Lewin, K., Gesetz und Experiment in der Psychologie, KLW 1, 1981 (original erschienen 1927), S. 287
100
    S. 291
101
    S. 288
102
    Uludag, K. a.a.O., S. 29.
103
    K. Lewin, Cassirers Wissenschaftsphilosophie und die Sozialwissenschaften, KLW 1, 1981 (original
erschienen 1949), S. 353
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