Brechts Adaptionen der Psychologie Kurt Lewins und ihre Weiterentwicklung fürs epische Theater - Lehr-Lernforschung
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Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 1 Brechts Adaptionen der Psychologie Kurt Lewins und ihre Weiterentwicklung fürs epische Theater Erschienen in: Theodor Rippey (Hg.). Das Brecht Jahrbuch 41, S. 219-246 Für die Entwicklung des nicht-aristotelischen, epischen Theaters suchte Brecht bekanntlich Vorbilder aus der Wissenschaft. Der Feldbegriff zog dabei seine Aufmerksamkeit auf sich. Aber nicht nur von der Physik, die seit Faraday magnetische Felder und Feldkräfte erforschte und die sich zugleich vom Atom als einst unteilbares kleinstes Teilchen verabschiedete, ließ sich Brecht anregen, sondern auch vom Psychologen Kurt Lewin. Damit rezipierte und verarbeitete Brecht seit etwa Ende der 1930er Jahre auch einen phänomenologisch und gestaltpsychologisch fundierten Feldbegriff. Die Tatsache der Lewin-Rezeption ist in Sautters Aufsatz zu Brechts logischem Empirismus (1995) aufgearbeitet. Dennoch wurde bislang nicht hinreichend geprüft, inwieweit Lewin als Quelle tatsächlich fungierte und welche Potenziale Brecht damit nicht nur für das Theater eröffnete. Letztlich könnte auch eine an Lewin anschließende Psychologie davon profitieren. 1. Einleitung Die „dialektische Dramatik“ komme, vermerkte Brecht um die Jahreswende 1930/31, „ohne Psychologie“ und „ohne Individuum“ aus und würde, „betont episch, die Zustände in Prozesse auf[lösen]“.1 Künstlerische Darstellungen, die wie die früheren Bildhauer „das ‚Wesentliche‘, ‚Ewige‘, ‚Endgültige‘, kurz, ‚die Seele‘ ihrer Modelle zu gestalten“ versuchen2, gehören für Brecht zu den „falschen Abbildungen des gesellschaftlichen Lebens“.3 Für das epische Theater gilt daher das experimentelle und kritisch-prüfende Vorgehen der Naturwissenschaften als Vorbild. Auf der Bühne sollen im „experimentellen Theater“ die gesellschaftlichen Verhältnisse so eingefangen werden, dass sie wie Forschungsgegenstände zu erkenn- und veränderbaren Dingen werden. Der Anti- Psychologismus, wie er im eingangs Zitierten propagiert wird, erscheint dabei als folgerichtiger Schritt. Dennoch beschäftigt sich Brecht, um „eine Art wissenschaftliche Haltung“4 beim Zuschauer zu wecken, mit psychologischen Fragen. Dass er die Psychologie dabei nicht vollständig zu zerlegen, sondern sogar neu zu denken versucht, zeigt beispielsweise folgende Notiz in seinem Arbeitsjournal aus dem Jahr 1941: „Die Krise der Dramatik ist sehr tief. Es kommt darauf an, reiche, komplexe, sich entwickelnde Figuren zu schaffen – ohne introspektive Psychologie.“5 1 B. Brecht, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Berlin-Weimar-Frankfurt/M 1989 ff., (im Folgenden zit. BFA), BFA 21, S. 439 2 BFA 22.1, S. 573 (1939/49) 3 Brecht, Bertolt. Kleines Organon für das Theater: mit einem Nachtrag zum Kleinem Organon. Suhrkamp, 1960, S. 25. 4 BFA 21, 440 5 BFA 27, Arbeitsjournal, 21.4.41
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 2 Nicht Auflösung, sondern Komplexität und ein genaueres Verständnis für Entwicklungszusammenhänge interessieren ihn. Nicht Psychologie per se, sondern introspektive Psychologie erscheint als Problem. Obwohl manche Bemerkungen, wie die bereits zitierten, darauf hindeuten, finden wir bei Brecht aber auch keinen Verfechter einer objektivistischen Psychologie. Noch im gleichen Zuge wie er die psychologische Methode der Einfühlung zurückweist, kritisiert er auch den Behaviorismus. Er liest ihn als Symptom kapitalistischer Verhältnisse: „Die gewöhnlichen behavioristischen Bilder sind sehr flach und verwischt (wenn sie nicht die Klarheit des Schemas F haben). Auch wenn man nicht nur die biologischen, sondern auch die sozialen Reflexe sammelt, kommen selten konkrete Figuren heraus. So wie der K[apitalismus] die Kollektivisierung der Menschen durch Depravation und Entindividualisierung besorgt und wie zuerst vom K[apitalismus] selber eine Art ‚Gemeineigentum an nichts’ geschaffen wird, so spiegelt die behavioristische Psychologie zunächst nur die Gleichgültigkeit der Gesellschaft am Individuum ab, von dem nur gewisse Reflexe Wichtigkeit haben, da ja das Individuum nur Objekt ist.“6 Einer Auflösung des Individuums in Prozesse redet Brecht also keineswegs das Wort. Seine psychologisch bedeutsame Problemstellung ist der Einzelne im Verhältnis zur Masse durch die Art der „Kollektivisierung“ als „Depravation“ und „Entindividualisierung“ im Kapitalismus. Sie berührt die Prozesse der Enteignung an Gemeineigentum und die Vermassung der Menschen als Lohnabhängige. Damit wirft er die bedeutsame Frage auf, was die psychologische Grundlage für eine andere Art der Gesellschaftlichkeit des Menschen wäre. Der in kapitalistischen Verhältnissen entstehende Objektstatus des Individuums changiert für Brecht zwischen gesellschaftlicher Gleichgültigkeit und einer Wichtigkeit, bei der – wie er an anderer Stelle sagt – der „Kapitalismus […] allen Fleiß, alles Ingenium, alles Planen, alle Grausamkeit, alle Tüchtigkeit in die Produktion des Sumpfes“ stecke.7 Der gemeinte Objektstatus ist damit einer, in der die Subjektivität nicht ausgeschaltet, sondern instrumentalisiert und produktiv angewendet wird. Brecht erkennt also die Herrschaftsfunktionalität der Psychologie. Aber er konfrontiert diese Wissenschaft, wie gesagt, nicht nur mit einer destruktiven Form der Kritik. Es ist unter anderem die Psychologie seines Zeitgenossen Kurt Lewin (1890-1947), die er in den 1930er Jahren konstruktiv aufgreift. Ihre Bedeutung für die dialektische Dramatik erscheint zwar schon dadurch marginal, als sie in Brechts Schriften kaum erwähnt wird. Dennoch lässt sich zeigen, dass die Überschneidungen zwischen dem lewinschen und dem brechtschen Denkens 6 BFA 27, Arbeitsjournal, 21.4.41 7 BFA 22.2, S. 536 (1939/40)
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 3 nicht unwesentlich sind, trifft der psychologische Feldbegriff, den Lewin entwickelt, auch bei Brecht das Anliegen, „verbesserte Darstellungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen“ und ein neues Verständnis für die darin zum Tragen kommende ‚nicht- aristotelische‘ Kausalität zu erringen.8 Welchen Einfluss Lewins psychologische und wissenschaftstheoretische Überlegungen im Einzelnen hatten, lässt sich allerdings nicht mit Exaktheit ermitteln, was schon mit dem Tatbestand der Rezeption beginnt. Nur in einem Fall ist sicher, dass Brecht eine Schrift von Lewin kannte. Um das Jahr 1937, auf seiner Reise nach New York, findet man bei ihm einen Hinweis. In Die Auswahl der einzelnen Elemente9 nimmt er Bezug auf die frühe Schrift Kriegslandschaft („Psychologie des Schlachtfeldes“) von 1917. In dieser reflektiert Lewin seine Erfahrungen als Leutnant in der Feldartillerie – er meldete sich 1914 als Freiwilliger.10 Seine zunächst phänomenologische Beschreibung des Schlachtfeldes wird ein Grundstein für die Psychologie, die er in Berlin in den 1920er und Anfang der 30er Jahren entwickelt. In seiner Beschreibung der Kriegslandschaft von 1917 wird die wahrnehmungspsychologische Interpretation der Situation an der Front bedeutsam: „Sie [die Landschaft, I.L.] erstreckt sich, verhältnismäßig unabhängig von den durch die besondere Geländeform bedingten Sichtverhältnissen, weit über den Raum hinaus, den nach optischen Gesetzen die Netzhaut, selbst sukzessiv, widerspiegeln kann; und diese Ausdehnung, -- das ist wesentlich für die Friedenslandschaft -- geht nach allen Richtungen gleicherweise ins Unendliche […]. Die Landschaft ist rund, ohne vorne und hinten.“ -- „Nähert man sich jedoch der Frontzone, so gilt die Ausdehnung ins Unendliche nicht mehr unbedingt. Nach der Frontseite hin scheint die Gegend irgendwo aufzuhören; die Landschaft ist begrenzt. Die Begrenztheit der Gegend tritt beim Anmarsch zur Front bereits beträchtliche Zeit vor dem Sichtbarwerden der Stellung ein.“11 Lewin beschreibt hier die Landschaft im Sinne der phänomenologischen Vorgehensweise seines Lehrers Carl Stumpfs12 und führt zugleich eine Reihe von Überlegungen ein, die für seine Feldtheorie bedeutsam werden. Eine psychologische Situation, so argumentiert er 8 BFA 22.2, S. 387 (1938/39) 9 BFA 22.1, 251ff. 10 Kurt Lewin (1890-1947) studiert ab 1910 in Berlin Philosophie (bei Alois Riehl und Ernst Cassirer) und später Psychologie. Er promoviert bei Carl Stumpf. 1921 wird er Assistent, dann Privatdozent und 1927 Professor am Psychologischen Institut in Berlin. Von 1926-34 sind bei Lewin Handlungen und Affekte Gegenstand seiner Arbeit. Nachdem er 1932 bereits in den USA eine Gastprofessur angenommen hat, bemüht er sich 1933 als Migrant um weitere Anstellungen an dortigen Universitäten. In der Emigration werden Gruppen und ihre Dynamiken zum zentralen Forschungsgebiet. Erst hier spricht Lewin explizit von seiner Theorie als Feldtheorie. 11 K. Lewin (1917), Kurt Lewin Werke (zit. KLW), Band 4, Werkausgabe hg. v. C.-F. Graumann, Stuttgart: Klett 1980, S. 316. 12 H. Lück, Einführung in die „Schriften zur angewandten Psychologie“ Kurt Lewins, Kohlhammer 2009, S. 9
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 4 später, sei immer durch Begrenzungen, Stellungen und Bewegungen im Feld gekennzeichnet. Sie zu untersuchen, bedeute zu verstehen, wodurch in ihr als ganze bestimmte Spannungen entstehen, die Menschen zu Handlungen bewegen.13 Eine verallgemeinernde Erklärung menschlichen Verhaltens ist also bereits in der Kriegslandschaft angelegt. Das Schlachtfeld wird zu einem Bild für einen psychologischen Feldbegriff, der später durch Anleihen aus dem Magnetismus und dem topologischen Vektorraum aus der Mathematik ergänzt, aber von einer Art Physikalismus scharf abgegrenzt wird. 1937 notiert Brecht zu Lewins früher Schrift: „Die Psychologie sagt uns, dass je nach dem Gebrauch, den die Menschen von einem Ort machen, ein anderer Augenschein entsteht.“ 14 Den Nachweis (ohne genaue Publikationsangabe) erbringt er in einer Fußnote handschriftlich, vermutlich beim Zusammenkleben der einzelnen mit der Schreibmaschine getippter Abschnitte. Abbildung 1: Brechts Handschrift befindet sich unter der mit Schreibmaschine getippten Zeile (eigene Aufnahme).15 Brechts Notiz zeugt dabei von einer wahrnehmungspsychologischen Reflexion, die über Lewins Beschreibung hinausgeht. Sie enthält die praxisphilosophische Idee, das Denken „als 13 In dem Aufsatz „Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie“ nimmt er Anleihen aus der Malerei, um den Begriff der Situation zu erklären: „Die Roller der ‚Situation‘ [...] lässt sich vielleicht am besten durch Hinweis auf gewisse Wandlungen der Malerei wiedergeben. In der mittelalterlichen Malerei gibt es zunächst überhaupt keine Umgebung, sondern nur einen ungegenständlichen (z.B. goldenen) Hintergrund. Auch wenn dann allmählich eine ‚Umgebung‘ auftritt, besteht sie vielfach nur darin, dass neben der einen Person noch andere Personen und Gegenstände auf dem Bilde dargestellt sind. So kommt es bestenfalls zu einem Ensemble von Einzelpersonen, aber jede behält im Grunde doch eine selbständige Existenz. Erst später wird der Raum selbst malerisch existent; es entsteht eine Gesamtsituation. Zugleich wird diese Situation als Ganzes beherrschend und das Einzelne ist das, was es ist – man denke etwa an Rembrandts Gruppenbilder -, sofern es überhaupt noch al Einzelnes bestehen bleibt, nur in und durch die Gesamtsituation.“ (KLW 1, S. 269) 14 BFA 22.1, S. 251. 15 Ich danke Jan Knopf für die Einsicht ins Brecht-Archiv in der Arbeitsstelle Bertolt Brecht in Karlsruhe.
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 5 soziales Verhalten“ zu lesen, d.h. nach dem „Zweck, den es für den Denkenden und für den, für den gedacht wird, erfüllt“.16 Die Rezeption einer zweiten Quelle, der Aufsatz Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie,17 der im ersten Heft der Zeitschrift „Die Erkenntnis“ (hrsg. seit 1930 von Rudolf Carnap und Hans Reichenbach) erscheint, wird von Ulrich Sautter18 vermutet: „Dass Brecht Lewins Ideen zur Kenntnis nahm, scheint kaum bezweifelt werden zu können.“19 Sicher ist dies allerdings nicht, da sich das entsprechende Heft nicht im Brecht-Archiv befindet. Hier ist vom ersten Band nur Heft 2-4 (in einem Heft) mit den Seiten 89 bis 339 vorhanden.20 Eine Ankündigung des Artikels ist auf der Umschlagseite eines Heftes aus dem Nachlass zu lesen. Der Titel dürfte mindestens Brechts Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben. Das Interesse für das situative Wie des Erkennens als kritisches Welt- und Selbstverhältnis verbindet die Arbeiten von Brecht und Lewin. Beide greifen die damaligen wissenschaftstheoretischen Fragen auf, die vor dem Hintergrund technisch verfeinerter Methoden und neuer Erkenntnisgegenstände in der Physik virulent geworden waren: Lewin stellt vor allem in Schriften wie Gesetz und Experiment in der Psychologie (1927) und im bereits genannten Aufsatz zum Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie (1930/31) die Weichen in seiner Disziplin für einen Paradigmenwechsel, um Gesetzmäßiges im menschlichen Verhalten neu zu verstehen und die strikte Teilung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden. Er führt dazu unter anderem den Begriff des Geschehenstypus’ ein und sucht eine Verbindung zwischen phänomenologischen und mathematisierenden Verfahren. Brecht nimmt etwa zur selben Zeit Fragen der modernen Physik auf, um mit ihnen Probleme des Theaters zu artikulieren: Gesellschaftliche Prozesse und Widersprüche, Bewegungen der Massen, das Verhalten der atomisierten Einzelnen und ihre Beziehungen in den kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnissen sollen zu Erfahrungs- und Lerngegenständen werden, obwohl sie sich unmittelbar der Anschaulichkeit und der Darstellbarkeit entziehen.21 Zwar soll das „Theater im wissenschaftlichen Zeitalter“22 an einem Geschehen nicht Gesetzmäßiges, sondern das historisch Bedeutsame deutlich 16 BFA 21, S. 424 (1930/31) 17 Der Text entstand auf der Grundlage eines Vortrags, den Lewin am 4.2.1930 in Berlin gehalten hatte. 18 U. Sautter, Brechts logischer Empirismus, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 4, 1995, 687-709. 19 S. 701 20 Für die Auskunft danke ich vom Brecht-Archiv Helgrid Streidt und für den Hinweis Robert Cohen. 21 J. Knopf, Bild des gesellschaftlich Verborgenen in den Dramen Brechts. In: Brecht-Journal. Hg. v. J.K.. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, S. 121-142 22 Brecht, Bertolt. Kleines Organon für das Theater: mit einem Nachtrag zum Kleinem Organon. Suhrkamp, 1960, S. 25.
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 6 machen.23 Aber Brecht arbeitet – ähnlich wie die Physik in der Quantenmechanik – daran, die gesellschaftlichen Verhältnisse modellhaft bzw. theorieförmig auf die Bühne zu bringen, da mit der Entstehung kapitalistischer Produktionsverhältnisse das „Unrecht völlig aus dem Gesichtsfeld verschwunden“ und damit der persönlichen Erfahrung unzugänglich geworden ist.24 Die Modelle sollen die Zuschauer zugleich zum eigenständigen Denken und zu neuen, kritischen und experimentellen Aneignungsformen herausfordern.25 Es geht Brecht um eine Form der Erkenntnis, die über die bloße Empirie hinausgeht – daher auch die Anweisung des Philosophen an die Schauspieler: „Wenn du fertig bist, sollte dein Zuschauer mehr gesehen haben als ein Augenzeuge des ursprünglichen Vorgangs.“26 Und: „Wenn du zeigst: es ist so, so zeige es auf eine Art, dass der Zuschauer sagt: ist es denn so?“27 Wie der Naturwissenschaftler nach einem Experiment mehr sieht als vorher, insofern er z.B. ein Problem schärfer oder differenzierter erkennt, so soll also auch das Theater – als Ort für Versuche28 – die Wahrnehmungsfähigkeit zunächst der Schauspieler und dann der Zuschauer verändern. Im Messingkauf erklärt der Philosoph entsprechend: „Die Wissenschaft sucht auf allen Gebieten nach Möglichkeiten zu Experimenten oder plastischen Darstellungen der Probleme. Man macht Modelle, welche die Bewegungen der Gestirne zeigen, mit listigen Apparaturen zeigt man das Verhalten der Gase. Man experimentiert auch an Menschen, jedoch sind hier die Möglichkeiten der Demonstration sehr beschränkt. Mein Gedanke war es nun, eure Kunst der Nachahmung von Menschen für solche Demonstrationen zu verwenden. Man könnte Vorfälle aus dem gesellschaftlichen Zusammenleben der Menschen, welche der Erklärung bedürftig sind, nachahmen, so dass man diesen plastischen Vorführungen gegenüber zu gewissen praktisch verwertbaren Kenntnissen kommen könnte.“29 Die Erkenntnis, um die es Brecht geht, ist damit wie in der Forschung vor allem eine vorläufige, eine in Arbeit begriffene, an die praktisch weiter angesetzt werden. Sie erweist 23 BFA 22.1, S. 54: „Alle Typen, die ich schaffe, sind kollektive. Nicht umsonst halte ich es instinktiv für nötig, alle ihre Situationen historisch aufzufassen. Selbst über Geschehnisse meiner Zeit setze ich Jahreszahlen. Ich fixiere also die Zeit, in der dieser Typ auftritt. Ich gebe also diese Situationen preis, soweit sie nicht durch ihn geschaffen werden. Ich halte für historisch, was er sagt.“ 24 BFA 21, S. 437 (1930/31) 25 Vgl. BFA 22.2, S. 721: „Nicht nur gelöste Probleme stellt das Theater dem Zuschauer vor, sondern auch ungelöste. Wenn man sich gegen eine Verwirrung der Beschreibung wendet, entscheidet man sich nicht gegen eine Beschreibung der Verwirrung.“ (Der Philosoph im Messingkauf) Vgl. BFA 21, S. 440: „Der moderne Zuschauer, so wurde vorausgesetzt, wünscht nicht, irgendeiner Suggestion willenlos zu erliegen und, indem er in alle möglichen Affektzustände hineingerissen wird, seinen Verstand zu verlieren. Er wünscht nicht, bevormundet und vergewaltigt zu werden, sondern er will einfach menschliches Material vorgeworfen bekommen, um es selber zu ordnen. Deshalb liebt er es auch, den Menschen in Situationen zu sehen, die nicht so ohne weiteres klar sind, deshalb braucht er weder logische Begründungen noch psychologische Motivierungen des alten Theaters.“ 26 GW 16, S. 582 27 BFA 21, S. 390 (1930/31) 28 J. Knopf, Bertolt Brecht, Reclam 2000, S. 36f. 29 BFA 22.2, S. 715 (B17)
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 7 sich gerade dadurch als nützlich, weil sie dazu antreibt, in weiteren Versuchen über das Bestehende hinauszudenken, und so im Sinne der Wissenschaft prognostisch denken zu können. So erklärt der Philosoph im Messingkauf: „Ihr müsst wissen, mich verzehrt eine unersättliche Neugier, die Menschen angehend; ich kann nicht genug von ihnen sehen und hören. Ich will immer wissen, wie ihre Unternehmungen zustande kommen und ausgehen, und ich bin darauf aus, einige Gesetzlichkeiten darin zu erkennen, die mich instand setzen könnten, Voraussagen zu machen.“30 1931 plante Brecht einen „Marxistischen Klub“ für „marxistische Studien“ zu gründen. Ob er jemals tagte, ist nicht überliefert.31 Zum Kreis eingeladen werden sollte vermutlich auch Kurt Lewin. Brecht stellte handschriftlich eine Liste zusammen, auf der der Name – allerdings nicht ganz leserlich – auftaucht. In Schreibmaschinenschrift übertragen findet man auf einem anderen Dokument den Namen „Karl Lewin“.32 Als Referatsthemen wurden u.a. „Das Weltbild der bürgerlichen Physik“ und der „Behaviorismus(Psychologie)“ festgehalten.33 Persönlich haben Brecht und Lewin sich wohl erst in der Emigration kennengelernt. In New York, im Frühjahr 1943, notiert Brecht mit einem ironisch-abschätzigen Unterton: „Neue Bekanntschaft: Kurt Lewin, der in Iowa unter Scouts und Arbeitern ‚Führerbenehmen‘ ausbildet und mich einlädt, interessiert an dem ‚Bösen Baal dem asozialen‘“34 – ein unvollendetes Lehrstück-Projekt. Beide waren allerdings schon in Berlin mit Karl Korsch befreundet.35 Lewin kennt ihn seit Studienzeiten.3637 Im Folgenden gehe ich der Frage nach, inwieweit Brecht und Lewin mit dem Feldbegriff an einem ähnlichen Problem arbeiten, wenn auch auf recht unterschiedlichen Gebieten, und inwiefern sich dabei der Einfluss der Diskussionen in der Physik und der Philosophie ihrer Zeit bemerkbar macht. Damit zeige ich, inwiefern Lewins psychologischer Feldbegriff für Brecht eine andere Bedeutung hat als der der Physik. Des Weiteren gehe ich Spuren nach, die darauf hindeuten, dass Brecht auch von Lewins Schrift zum Übergang der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie Kenntnis nahm. Hierbei werden auch über Lewin hinausführende Gedankengänge herausgearbeitet, die über 30 BFA 22.2, S. 780 31 E. Wizisla, Benjamin und Brecht. Die Geschichte einer Freundschaft, Suhrkamp 2004, S. 81 32 S. 325f 33 S. 327 34 BFA 27, Arbeitsjournal, S. 150 35 U. Sautter, Brechts logischer Empirismus, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 4, 1995, 701. 36 Lewin verfasst zusammen mit Karl Korsch den Vortrag Mathematic Construct in Psychology and Sociology für den 5. Internationalen Kongress der Einheitswissenschaft, veröff. 1939. BFA 27, S. 456 37 Korsch, K., Gesamtausgabe Bd. 8, Briefe 1908-1939, Amsterdam, S. 365. Anders als in der Korsch-Ausgabe wir in der BFA angegeben, dass Lewin „der Berliner Gruppe der Gesellschaft für empirische Philosophie nahe[stehe] und […] dort 1930 die Bekanntschaft mit Karl Korsch“ gemacht habe. BFA 27, S. 456
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 8 die „Einzelpsyche“ hinaus den Weg für eine Psychologie kollektiver Lern- und Veränderungsprozesse bereiten. 2. Der Kontext der 1930er Jahre Die positivistischen Strömungen des Logischen Empirismus (Hans Reichenbach, Rudolf Carnap, Otto Neurath u.a.) sind sowohl für Brecht383940 als auch für Lewin41 wichtige Bezugspunkte. Für letzteren ist vor allem die Idee einer Einheitswissenschaft, das heißt die Überwindung des „radikalen Zweischnitts zwischen Natur- und Geisteswissenschaften“ bedeutsam.42 Darüber hinaus hat die Schule der Gestalttheorie (Wolfgang Köhler, Max Wertheimer u.a.) Einfluss auf seine Arbeiten. Lewins Werke werden ihr teilweise zugerechnet, obwohl sie sich weit über den Rahmen der Untersuchung von Gestaltgesetzen hinaus bewegen. Gemeinsame Bezugspunkte für Brecht und Lewin sind um 1930 in der Physik die Entdeckungen der Quantenmechanik (Max Planck, Werner Heisenberg, Nils Bohr u.a.) und der Relativitätstheorie (Albert Einstein). Max Planck veröffentlicht 1900 die Forschungsarbeit, wonach die Energie von elektromagnetischer Strahlung von Atomen nicht gleichmäßig, sondern in Sprüngen (Quanten) freigegeben oder aufgenommen wird -- das nach ihm benannte Plancksche Wirkungsquantum. Ein physikalisches System kann demnach bei einer gegebenen harmonischen Schwingung Energie nur in diskreten Beträgen, in einem ganzzahligen Vielfachen des Schwingungsquants, aufnehmen oder abgeben. Der Begriff des Quantenobjekts vereint dabei Eigenschaften, die sich im Paradigma der bisherigen Physik gegenseitig ausschlossen. Er überwirft sich mit dem Grundbegriff der Materie der klassischen Physik. Das Atom, das einst Unteilbare, wird teilbar. 1913 entwickelt Nils Bohr sein Atommodell, in dem Elektronen in Schalen um den Atomkern kreisen. Mit Hilfe neuer Apparaturen werden Beobachtungen an Elektronen möglich. 1927 wird das berühmte Doppelspaltexperiment durchgeführt, in welchem sich erklärungsbedürftige Inferenzmuster zeigen, da etwas entweder nur Teilchen oder nur Welle, aber nicht beides gleichzeitig sein konnte. Die Quantentheorie wird Katalysator für eine philosophische Wende. 38 Vgl. W. Hecht (Hg.), Brecht 73; Berlin 1973 39 U. Sautter, Brechts logischer Empirismus, Deutsche Zeitschrift für Philosophie, H. 4, 1995, 687-709. 40 Uludag, K., Brechts Übertragungen aus den physikalischen Theorien, Institut für kritische Theorie (Hrsg.), Brecht – Eisler – Marcuse. 100 Jahre. Hamburg: Argument 1999, S. 21-32 41 Vgl. Anmerkungen teils von Lewin teils vom Herausgeber, Alexandre Métraux, zu Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie in der Werkausgabe zur Wissenschaftstheorie, KLW 1, S. 273-278 42 Ebd., S. 272
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 9 Aber schon davor stellte der Feldbegriff in der Physik mechanische, an materiellen Eigenschaften ansetzende Erklärungen in Frage. Michael Faraday macht 1845 Beobachtungen von polarisiertem Licht unter magnetischem Einfluss und benutzt zur Beschreibung den Begriff des „Magnetfeldes“. 1852 beschreibt er in dem Aufsatz Über den physikalischen Charakter der magnetischen Kraftlinien, wie das Magnetfeld ganz anders als das Gravitationsfeld Kraftlinien hätte, die vergrößert, verkleinert und abgelenkt werden könnten und zwar in Abhängigkeit zum jeweiligen Medium. Er folgert, dass es Ursachen außerhalb der materiellen Eigenschaften des untersuchten Gegenstands geben müsse. Dazu müsste man elektromagnetische Wirkungen aber auch in einem perfekten Vakuum untersuchen.43 Da ihm dafür die Möglichkeiten fehlen, schließt er auf veränderbare Eigenschaften des „Äthers“, die das Verhalten der Lichtstrahlen bestimmen würden. Seine Äthertheorie rekurriert damit immer noch auf mechanische Eigenschaften eines Mediums als etwas Ursächliches. Der Feldbegriff blieb so mit der Verknüpfung des Äthers vom Raumbegriff kaum unterscheidbar. Erst durch die Arbeiten von Planck zur Wärmestrahlung rückte er an den modernen Systembegriff heran.44. Die allgemeine Relativitätstheorie Einsteins schafft den Durchbruch, den Raum in Abhängigkeit der Bewegung der Materie zu denken. Die Annahme von Feldeigenschaften, welche sich durch die Beziehung zwischen den Feldelementen ergeben, befördert eine systemtheoretische Begriffsbildung. Der Feldbegriff steht damit für eine höhere Ordnung, die es theoretisch durch die spezifischen Relationen und nicht mehr allein durch die Elemente und ihre Wesenseigenschaften zu bestimmen gilt. Werner Heisenbergs Unschärferelation (1927) formuliert die Einsicht, dass sich exakte Messungen des Orts und des Impulses bei einem Elektron zur gleichen Zeit ausschließen. Der Zusammenhang erklärt sich nach Heisenberg aus den Eigenschaften eines Quants – oder anders gesagt, aus der Schwierigkeit, dass sich die räumliche Position eines Elektrons nur messen lässt, wenn man es mit Licht bestrahlt, damit also die Schwingung des Elektrons beeinflusst. Weil sich der Ort des Elektrons umso genauer bestimmen lässt, je kürzer die Wellenlänge des Lichts ist, schlussfolgert er, habe jeder Messvorgang Auswirkungen auf die Bewegung des Elektrons. Heisenberg vermutet, dass die Unschärfe der Messung unüberwindbar sei, weil mit kürzeren Lichtwellen auch der Rückstoß, mit dem ein abgelenktes Photon auf das Elektron wirkt, größer würde, so dass mit größerer Präzision der Ortsbestimmung sich zugleich die Genauigkeit der Geschwindigkeitsbestimmung verringere. Allerdings ist aus heutiger Sicht die Annahme einer direkten Beziehung zwischen dem 43 M. Faraday, On the Physical Character of the Lines of Magnetic Force, Philosophical Magazine and Journal of Science, Vol. 3, No. 20, June 1852, pp. 401-427
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 10 Messvorgang und der Ungenauigkeit fragwürdig.45 Der indirekte Weg der Erkenntnis, der aufgrund der Art der Forschungsgegenstände auf Apparaturen und theoretisches Denken zurückgreifen muss, stellt sich erneut als Problem einer unerreichbaren Unabhängigkeit von Messprozedur und des zu vermessenden Systems dar. 2.1 Adaptionen bei Brecht Die Unschärfe, dass „das Untersuchte [...] durch die Untersuchung verändert“ wird,46 interpretiert Brecht nicht als Unzulänglichkeit der Wissenschaft oder der Methoden, sondern wendet sie als Bestätigung der philosophischen Einsicht, dass „man die Dinge erkennen [kann], indem man sie ändert.“47 Die Unschärferelation wird zu einer Formel für das Entwicklungsverhältnis von praktischem und gedanklichem Handeln. Sie ist in Brechts Schriften ein wiederkehrendes Denkbild. So fragt der Philosoph im Messingkauf: „Die Physiker sagen uns, dass ihnen bei der Untersuchung der kleinsten Stoffteilchen plötzlich ein Verdacht gekommen sei, das Untersuchte sei durch die Untersuchung verändert worden. Zu den Bewegungen, welche sie unter den Mikroskopen beobachten, kommen Bewegungen, welche durch die Mikroskope verursacht sind. Andrerseits werden auch die Instrumente wahrscheinlich durch die Objekte, auf die sie eingestellt werden, verändert. Das geschieht, wenn Instrumente beobachten, was geschieht erst, wenn Menschen beobachten?“48 Das Augenmerk auf die Lern- und Handlungsfähigkeit der Subjekte legend spielt Brecht auch bei der Bestimmung des „eingreifenden Denkens“ auf Heisenberg an: Zu wählen seien „solchen Definitionen, die die Handhabung des definierten Feldes gestatten“: „Unter den determinierenden Faktoren tritt immer das Verhalten des Definierenden auf.“49 Damit stellt Brecht wie auch Lewins phänomenologische Reflexion der Kriegslandschaft die Subjekt- und Praxisabhängigkeit des jeweiligen Feldverständnisses in den Vordergrund. Auch die Vorstellungen von einem physikalischen Feld bzw. Raum, der nicht mehr absolut, sondern relativ zu den in ihm befindlichen Elementen existiert, wird von Brecht aufgegriffen: 44 http://www.physikdidaktik.uni-karlsruhe.de/altlast/14.pdf 45 Die Unschärfebeziehung ist mittlerweile in der Physik anders interpretiert worden. Experimente, mit denen die Messungenauigkeit aus der Differenz einer schwachen und einer normalen Messung berechnet werden konnten, zeigten, dass die Unschärfe nicht so auftritt, wie Heisenberg sie angenommen hatte. Die Unschärfe bleibt als Tatsache dabei erhalten, wird aber nicht länger in erster Linie auf die Störung des Elektrons durch ein willkürlich darauf gerichtetes Photon zurückgeführt. R. Scharf, Der große Heisenberg irrte, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Beilage: Naturwissenschaft, 17.11.12. Online verfügbar: http://www.faz.net/aktuell/wissen/physik- chemie/quantenphysik-der-grosse-heisenberg-irrte-11959435.html . 46 BFA 22.2, S. 730 47 BFA 21, S. 425 48 BFA 22.2, S. 730 49 GW 20, S. 168
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 11 „Die Relativitätsphysiker machen die Eigenschaften des Raums abhängig von der Verteilung der Materie. Ich bin unfähig, solche Sätze zu lesen, ohne an so was wie ‚soziale Räume‘ zu denken.“50 Aus dem methodisch-technisch unüberwindbaren Problem der Unschärfe resultieren seinerzeit auch wissenschaftstheoretische Überlegungen, wie man bei Untersuchungen mit vielen gleichzeitig wirkenden Gesetzmäßigkeiten umzugehen hat. Angesichts sich komplex überlagernder und wechselwirkender Naturgesetzmäßigkeiten, bei welchen sich nicht mehr im Einzelnen untersuchen lässt, was Ursache und was Wirkung war, wird als Lösung eine lineare und absolute Vorstellung von Kausalität zugunsten einer strukturalen und statistischen aufgegeben. Brechts Me-Ti greift diese Frage auf und rückt die Indetermination bei quantenphysikalischen Experimenten in die Nähe der Eigensinnigkeit menschlichen Verhaltens: „Eben jetzt stellt die Physik fest, dass die kleinsten Körper unberechenbar sind, ihre Bewegungen sind nicht vorauszusagen. Sie erscheinen wie Individuen, mit eigenem freien Willen begabt. Ihre Bewegungen sind nur deshalb schwer oder nicht vorauszusagen, weil für uns zu viele Determinierungen bestehen, nicht etwa gar keine.“51 Brecht erkennt, dass zur Lösung dieses Problems der Feldbegriff relevant ist. Die Annahme eines Feldes ist aber nicht Selbstzweck. Die Eigenschaften eines Feldes müssen dazu dienen, Einzelfälle erklären zu können. Ihre Erklärung bleibt allerdings vage, im Rahmen ‚statistischer Kausalität‘:52 „‚Die Welt ist ausdeterminiert‘ ist ein leerer Satz, da er nicht für die Menschen gilt.“ -- „Die Fragestellung Determinismus o d e r Indeterminismus ist völlig hoffnungslos. Wenn alles, was geschieht, determiniert ist, sind die Ketten der Determinierungen unendlich, und unendliche Ketten können wir nicht überblicken. So ist also ein völliges Ausdeterminieren unmöglich.“53 Brecht folgt sozusagen dem „Skandal der Quantenmechanik“, „dass trotz vollständiger Bekanntheit des Systems nur Wahrscheinlichkeiten voraussagbar sind“54, und hebt hervor: „Die Wahrscheinlichkeitskausalität der Physiker erlaubt jedenfalls gewisse Aussagen auch bei unregelmäßigen und komplexen Ereignissen.“55 50 BFA 27, Arbeitsjournal, 7.1.42 51 GW 12, S. 568 52 vgl. W.F. Haug, Philosophieren mit Brecht und Gramsci, Hamburg 1996, S. 54 53 BFA, AJ 23.3.42 54 Uludag, K. a.a.O., S. 28 55 BFA 27, AJ, 23.03.42
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 12 Brecht inspiriert der Rekurs auf Wahrscheinlichkeiten, weil sie ihm für die Dramatik nützlich erscheinen. Die Neigung des Alltagsverstands und des pseudowissenschaftlichen Denkens, das sichtbare Verhalten von Menschen verdoppelnd aus ihrem jeweilig angenommenen inneren Wesen zu erklären, soll dadurch irritiert und überwunden werden. Brecht hofft, im Zuschauer ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass „nicht nur die Verhältnisse zwischen den Menschen […] zu Prozessen“ wurden, sondern auch „der Mensch selber“.56 Aber er wendet sich zugleich gegen die Affirmation dieser Auflösung des Menschen in Prozesse und macht genau hieran die Unzulänglichkeit der Psychologie fest: „Das Unteilbare, das Individuum, in seine Bestandteile zerfallend, erzeugte die Psychologie, die den Bestandteilen nachging, natürlich ohne sie wieder zu einem Individuum zusammenzubringen.“57 Auf die Psychologie Kurt Lewins trifft diese Kritik jedoch nicht zu. In welcher Weise sie Brecht nachweisbar und möglicherweise inspirierte, verdient daher herausgearbeitet zu werden. 3. Der Feldbegriff – seine Bedeutung in der lewinschen Psychologie und im brechtschen Theater 3.1 Bezüge zur Gestalttheorie bei Lewin Bei Wertheimer fasst der Feldbegriff Strukturierungen des Sehfeldes.58 Beispielsweise erscheine „ein homogenes Feld“ wie eine weiße Fläche „als Ganzfeld, es setzt einer ‚Trennung‘, ‚Zerreißung‘, ‚Unterbrechung‘ Widerstand entgegen.“ Erst die Diskontinuität einer Figur-Grund-Beziehung erzeuge Aufmerksamkeit für etwas: „Aufmerksamkeitsverteilung, Fixation usw. bedingen sich unter natürlichen Verhältnissen in der Regel sekundär von den Konstellationsverhältnissen im Ganzen her, wieder in erster Linie von der ‚Hauptverteilung‘ in großen Zügen her. […] Künstlich erzielte Verschiebung des Aufmerksamkeitsbereiches setzt unter Umständen andere, neue Feldbedingungen.“59 Mit diesem Feldbegriff lassen sich so verallgemeinernd Anordnungen von Elementen dahin untersuchen, ob sie zu einer Figur- bzw. Gestaltwahrnehmung führen. Lewin arbeitet an ähnlichen wahrnehmungspsychologischen Fragen, wenn er z.B. von Dingen spricht, die „Aufforderungscharakter“ hätten. Damit meint er, dass sich Dinge im 56 BFA 21, 320 57 BFA 21, S. 435 (1930/31) 58 Wertheimer, M., Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt, Psychologische Forschung, 4. Jg., H. 1, 1923, 301-350; S. 347ff. 59 Ebd.
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 13 Gesichtsfeld eines Menschen selten neutral, sondern mal als interessant, mal als abstoßend für jemanden darstellen. Der Begriff ist sowohl ein phänomenologischer im Sinne einer konkret beschreibenden Erfahrungskategorie als auch ein theoretisierender, indem er auf die Relation zwischen situativ wahrgenommener Brauchbarkeit und Interessantheit eines Gegenstands abhebt. Lewin interpretiert diese Relation dabei nicht nur wahrnehmungs-, sondern auch verhaltenspsychologisch als eine spezifische Beziehung zwischen Person und Umwelt. Die Veränderung im Verhalten wie der Umschlag in einer Handlung, die zunächst attraktiv erschien, hin zur Sättigung und Übersättigung, wonach eine Handlung, häufig in einer hochemotionalen Weise, unter- oder sogar ganz abgebrochen wird, ist Thema seiner Forschung Ende der 1920er Jahre. Seinen Feldbegriff wird er später im Hinblick auf solche spontanen Bewertungsmustern konstruieren und diese mit Begriffen der Physik, den Vektoren und den Valenzen, belegen. Sie stehen dabei im Dienste des „Grundsatzes der konkreten Ursachen“, das heißt, dass „nur existierende Fakten das Verhalten beeinflussen“ können. Abgelehnt werden damit Vorstellungen der „älteren Assoziationstheorie“, die „die Frage: ‚Warum verhält sich eine Person auf die und die Weise?‘ häufig mit dem Hinweis auf ein ähnliches Verhalten in der onto- oder phylogenetischen Vergangenheit der betreffenden Person“ beantwortet.60 Lewin sucht so eine strikte Trennung zwischen historischen und topologischen Erklärungsansätzen hervorzuheben und definiert den letzteren durch das Postulat, dass „nur der gegenwärtige Zustand der Person ihr gegenwärtiges Verhalten beeinflusst“ und somit nur die genaue Erforschung der „spezifischen dynamischen Eigenschaften des dann gegenwärtigen Lebensraums“ Rückschlüsse auf Gesetzmäßigkeiten erlaubten.61 Solche Überlegungen überträgt er schließlich auf das psychologische Gebiet der Gruppendynamik. Einem Brief von Korsch aus dem Jahre 1937 ist zu entnehmen, wie er Lewin von gestalttheoretischen Theoremen bei der Analyse dynamischer Einheiten, d.h. der dynamischen Beziehungen in Gruppen, abrät. Er weist ihn auf Ungenauigkeiten in seiner Argumentation hin, dass Lewin zwar einerseits von „dynamischen Einheiten verschiedenen Grades“ als „gestalten of greater or less unity“ spricht, dann aber die Gradunterschiede in Abhängigkeit der Art der Kommunikation nicht genauer berücksichtigen würde: „Von der Art des communicating process hängt nicht nur der degree, sondern auch die Existenz der communication ab.“62 Man erkennt hier die systemtheoretische Grundproblematik, ob sich die Einheit bzw. das aus Elemente entstehende Gebilde eines Ganzen dominant als Struktur 60 K. Lewin, Psychoanalyse und Topologische Psychologie (1936), In: Schriften zur Angewandten Psychologie, hg. v. H. Lück, Krammer 2009, S. 123f. 61 S. 125 62 S. 632ff. Der Brief an Kurt und Gertrud Lewin ist in Seattle geschrieben und auf den 3.5.1937 datiert.
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 14 (Gestalt/System) oder als Prozess (Kommunikation) herleiten lässt. Korsch weist auf die Wechselwirkung zwischen beidem hin. Erst wenn strukturell betrachtet zwei Elemente mit einander verkoppelt sind, können sich Grade der Einheitlichkeit eines Ganzen unterscheiden. Für eine Theorie gesellschaftlicher Widersprüche ist dies bedeutsam. Korsch wendet ferner ein, dass „für Deine ‚gestalten of greater or less unity’ [...] in keiner Weise mehr die Definition“ passe, „dass ‚a change of one part results in a change in all other parts“. Dieses ‚all‘ wirke „unverifizierbar, mystisch“ und widerspräche seiner „Unterscheidung der Grade von dynamic unity“.63 Im Gestaltbegriff scheinen damit zwei Erkenntnisperspektiven zu konfligieren: Einerseits geht es um dynamische Veränderungen, mit denen erklärt wird, wie sich eine Einheit als Gestalt (als Ganzes) formiert, aber auch wieder (partiell) auflösen können (Perspektive der Emergenz); andererseits soll wiederum die Einheit die Stärke von Abhängigkeiten oder Beziehungen in einem Feld und die daraus folgenden Prozesse erklären (Perspektive der systemischen Folgen). Das ‚Unverifizierbare‘ wäre demnach, der Struktur eines Feldes als Ganzes Macht zuzusprechen, die allen in ihr enthaltenen Elementen gegenüber determinierend ist (Strukturdeterminismus). Der Gedanke eines ausdeterminierten Systems ist hierin angelegt. Er widerspricht der Einsicht, dass Dynamiken auch ein bestimmtes System, in dem sie gründen, sprengen und überschreiten können.64 In Lewins Aufsatz zum „Übergang von der aristotelischen zu galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie“ tritt die von Korsch hervorgehobene Problematik noch nicht in Erscheinung. Er behandelt die Kausalitätsproblematik aus psychologischer Sicht und stellt zunächst einmal die Weichen für ein nicht-aristotelisches Kausalitätsverständnis. Sofern Brecht über Korsch oder über die Ankündigung auf einer Rückseite der Zeitschrift von Lewins Beitrag erfuhr, dürfte dieser, wie gesagt, bei ihm Interesse geweckt haben. 3.2 Der erste Band der „Erkenntnis“ und Lewins Beitrag Zunächst ein paar Informationen zu der damals unter neuem Titel erscheinenden Zeitschrift:65 In derselben Ausgabe betont Reichenbach, dass es Aufgabe der Wissenschaft sei, insbesondere der Philosophie, „wissenschaftliche Entdeckungen mit der Welt des täglichen Lebens zu einem einheitlichen Weltbild zusammenzufügen.“66 Denn wenn „die Philosophen 63 S. 633 64 Langemeyer, Ines, Das Wissen der Achtsamkeit. Kooperative Kompetenz in komplexen Arbeitsprozessen. Münster: Waxmann 2015. 65 Der frühere Titel war „Annalen der Philosophie“. 66 Reichenbach schreibt zur Programmatik der Zeitschrift:
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 15 Entdeckungen wie die relativistische Zeitlehre, die nicht-euklidischen Raumformen, die quantenmechanische Begrenzung des Kausalitätsgedankens Arbeitshypothesen oder Fiktionen genannte haben, so haben sie damit [einen] Grenzstrich gezogen“, wodurch die „Wissenschaft ein Sonderdasein“ erhalte.67 Zwischen Empirismus und Theorieentwicklung klaffe die philosophische Aufgabe, Verbindungen zu schaffen, die nicht rein spekulativer Natur sind. Carnap erklärt vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit einer Einheitswissenschaft. „Hier liegt […] die Quelle [einer] unglücklichen Spaltung, und der wissenschaftlich Ungeschulte wird sie bei aller Tapferkeit seines Lernbedürfnisses nicht überbrücken, wenn nicht von Seiten der Philosophie her zuvor der Weg zur Einheit aufgezeigt worden ist.“68 In Wege der wissenschaftlichen Weltauffassung69 bestimmt Otto Neurath als deren „Grundeinsichten“, dass „zwischen den verschiedenen Wissenschaftsgebieten nur praktische und keine prinzipiellen Grenzen bestehen.“70 Der Logische Empirismus lehnt – in Carnaps, Hahns und Neuraths Worten – die „dunklen Fernen und unergründlichen Tiefen“ der metaphysischen Wesensschau ab.71 Carnaps Anliegen in seinem Beitrag Die alte und die neue Logik ist es, die „Prädikatenlogik“ zu einer „Logik der Relationen“ zu erweitern, weil erstere nur eine Ursache anzugeben vermag.72 „Unsere Zeitschrift will keine Lehrmeinungen, keine ausgedachten Systeme, keine Begriffsbildung; sie will Erkenntnis. Die ‚Erkenntnis’ ist eine Zeitschrift für wissenschaftliche Philosophie. Sie ist nicht festgelegt auf die Methoden eines philosophischen Systems, sie sieht Philosophie nicht in einem Eigenrecht der Vernunft gegründet, welche unabhängig von den Fachwissenschaften Erkenntnisse allgemein verpflichtender Art aufrichten könnte, sondern sie will Philosophie nach den Methoden der Einzelwissenschaften treiben, ohne das Vorurteil einer übergreifenden Erkenntnis a priori allein aus der Fragestellung konkreter Probleme heraus. Die Form der Zeitschrift ist der gegebene Ausdruck für eine solche Philosophie, in der es Einzelprobleme unabhängig vom Rahmen eines Systems zu lösen gibt und in der Erkenntnisse von vielen zum Bau einer Gesamtwissenschaft zusammengetragen werden - der es um ‚Erkenntnis‘ zu tun ist in dem gleichen Sinn wie jeder Fachwissenschaft. Rudolf Carnap / Hans Reichenbach (Hrsg.), Die Erkenntnis, Band I, Leipzig 1930-31, zugleich "Annalen der Philosophie", Bd. 9, S. 50 67 S. 50 68 S. 50f. 69 Im Heft aus dem Nachlassbestand finden sich zu Neuraths Artikel Anstreichungen und Kommentare von Brecht. 70 S. 313f 71 Carnap, Hahn, Neurath, Wissenschaftliche Weltauffassung: Der Wiener Kreis 1929, S. 15 72 Carnaps Anliegen korrespondiert mit Lewins Forderung nach Funktionsbegriffen und mit Brechts Interesse für die Überwindung einer eindimensionalen Vorstellung Kausalität – in der Prädikatenlogik wie folgt beschrieben: „Wenn jeder Satz einem Subjekt ein Prädikat zuschreibt, so kann es im Grunde nur ein Subjekt geben, das Absolute; und jeder Sachverhalt muss darin bestehen, dass dem Absoluten ein gewisses Prädikat zukommt.« (1930/31, 18, zit. nach Ulrich Sautter 1995, S. 698f).
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 16 Lewin greift dasselbe Problem in der Psychologie auf, so der Herausgebers des ersten Bandes der Kurt Lewin Werkausgabe Alexandre Métraux:73 Der Begriff der Einheitswissenschaft solle für Lewin „mehr besagen […] als die sicherlich richtige Behauptung, dass alle Wissenschaften gleichermaßen aus ‚begrifflichem‘ Material bestehen“, vielmehr gehe es um die Aufhebung des „radikalen Zweischnitts in Natur- und Geisteswissenschaften“.74 Lewin rückt dazu „Fragen der Dynamik“75 in den Mittelpunkt, die die „massiven Unterschiede der Denkweise“ in der Physik Galileis und Aristoteles’ zutage treten lassen.76 Er sieht den Mangel der aristotelischen Physik darin, dass sie einem Gegenstand per Klassifikation ein Wesen zuordnet und darüber „sein Verhalten in positiver und negativer Hinsicht“ erklärt.77 Aristoteles‘ „Klassifikationen bewegten sich häufig in Gegensatzpaaren (wie warm und kalt, feucht und trocken) und trügen einen ‚absoluten‘, starren Charakter.“78 Seine Begriffe seien „anthropomorphe,“ „unexakte“ Veranschaulichungen und implizieren Werte: während den Himmelskörpern vollendete Kreisbewegungen zukämen, sei die ‚irdische‘ Welt „ihrem Wesen nach minderer Art.“79 Statt der absoluten Gegensätze findet Lewin bei der moderne Physik fließende Übergänge, denn „an die Stelle von ‚Substanzbegriffen‘ treten ‚Funktionsbegriffe‘.“80 Die aristotelischen Substanzbegriffe würden eine Abstraktion der Art vollziehen, dass der „Aufstieg zum Allgemeinen zugleich ein Fortlassen der konkreten Unterschiede bedeutet.“ So sei man gezwungen, „sich entweder auf einen engen Gegenstandbereich zu beschränken oder bei der Ausdehnung des Bereiches die Begriffe immer mehr zu verdünnen.“81 Damit kann Aristoteles „gesetzlich und [...] begrifflich“ nur fassen, „was ausnahmslos geschieht“ und ferner, „was häufig geschieht“; das Kriterium für Gesetzlichkeit ist die „Regelmäßigkeit,“ „mit der gleiche Vorgänge in der Natur vorkommen.“82 Im Vordergrund stehe der „stärkste Grad des Allgemeinen,“83 „ausgeschlossen aus dem Kreise des begrifflich Fassbaren, nur ‚zufällig‘, ist das Einmalige, das Individuum als solches“84,85. 73 K. Lewin, Der Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise in Biologie und Psychologie. In: Die Erkenntnis 1931, Bd. 1, S. 421-466. Zugleich: In C.-F. Graumann (Werk-Hrsg.) & A. Métraux (Hrsg.), Kurt Lewin Werkausgabe: Band 1.Wissenschaftstheorie (S. 233–278). Stuttgart, Germany 1981: Klett- Cotta. (zit. KLW 1) 74 S. 272, Fußnote 3 75 S. 234 76 Ebd. 77 S. 236 78 ebd. 79 S. 235f 80 S. 236 81 ebd. 82 S. 237 83 S. 238 84 S. 237
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 17 Während die Begriffe der aristotelischen Physik „ursprünglich“ „auf die ‚Wirklichkeit‘ im speziellen Sinn der historisch-geographischen Gegebenheit“ bezogen seien,86 wende die neue Physik dieses Verständnis von Empirie: „Es ist dasselbe Gesetz, das den Lauf der Gestirne und das Fallen des Steines bestimmt.“87 Ein „funktionelleres Denken“ löse das begriffliche Raster der aristotelischen Klassen ab und operiere mit „konditional- genetischen Begriffen“88. FÜR ARISTOTELES GALILEI 1. ist das Regelmäßige ü ü ý gesetzlich | das Häufige þ ý gesetzlich | das Individuelle zufällig þ 2. sind Kriterien der Regelmäßigkeit besondere Kriterien sind Gesetzlichkeit Häufigkeit unnötig 3. ist das, was historisch- ein Ausdruck des Wesens der ein ‚Zufall‘ (nur historisch geographisch gegebenen Sache bedingt) Fällen gemeinsam ist Tabelle 189 Bei Aristoteles gehe die Begriffsbildung an den Problemen eines komplexen dynamischen Geschehens vorbei. „Ein Hauptcharakteristikum der aristotelischen Dynamik ist der Umstand, dass das Geschehen mit Hilfe von Begriffen erklärt wird, die wir heute als spezifisch ‚biologisch‘ oder psychologisch empfinden: Jeder Gegenstand strebe, sofern er nicht durch andere Gegenstände daran gehindert wird, zu seiner Vollendung, zur Realisierung seines eigentlichen Wesens.“ Deshalb fassten die aristotelischen Begriffe die Zusammenhänge lediglich auf eine Weise, dass „ganz generell die Ursache eines physikalischen Geschehens eine enge Verwandtschaft mit psychologischen ‚Trieben‘ [hat]: Der Gegenstand strebt auf ein bestimmtes Ziel zu; soweit es sich um Bewegungen handelt, tendiert er zu jenem Ort, der dem Gegenstand 85 Vgl. Aristoteles, Die Poetik, Reclam,S. 28f/29f. 86 S. 239 87 S. 243 88 S. 241 89 S. 278
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 18 wesensmäßig zukommt. So strebt das Schwere nach unten, und zwar um so stärker, je schwerer es ist, das Leichte aber nach oben.“ 90 Die Dynamik des Geschehens ist hier nur durch einen einzigen Vektor darstellbar, während bei der modernen Physik das „Zueinander mehrerer physikalischer Fakten“, d.h. die „Beziehung des Gegenstandes zur Umgebung“ untersucht wird.91 Die Erkenntnismethode darf die Einflüsse der „Situation,“ in denen sich der Gegenstand befindet, nicht mehr ausschalten, sondern muss sie begrifflich genau erfassen. „Sie nimmt auf die Gesamtsituation in ihrer vollen, konkreten Individualität Bezug, also auf das So-Sein der Situation in jedem einzelnen Zeitmoment.“92 Experimente müssten deshalb einer ganz anderen Zielsetzung unterworfen werden. Zur Theorieentwicklung sollten sie nicht mehr nur gleiche Vorgänge zu reproduzieren versuchen. Das bloße Reproduzieren kann aus Lewins Sicht eine Theorie weder bestätigen noch widerlegen. Stattdessen müssten Experimente dazu dienen, einen „‚reinen‘ Geschehenstypus“ zu produzieren, um Gesetzmäßigkeiten begrifflich „rekonstruieren“ zu können.93 Dabei käme es darauf an, „solche Situationen herzustellen, dass sich dieser ‚reine‘ Geschehenstypus faktisch ergibt, beziehungsweise dass er begrifflich aus dem tatsächlichen Geschehen rekonstruiert werden kann.“94 Wie häufig ein Geschehen empirisch vorkommt, ist für diese Frage irrelevant. Nur das, was zwingend eintritt, könne gesetzmäßig sein. Letzteres sei mit konditional-genetischen Begriffen zu fassen. Historisch-geographische Begriffe könnten hinzugenommen werden, um ein Geschehen über seine nicht-gesetzmäßigen Zusammenhänge hinaus zu erhellen. Psychologische Forschung könne entsprechend menschliches Handeln nur in Bezug zum Kontext einer Situation untersuchen. Anders gesagt, sei die „Dynamik des Geschehens [...] allemal zurückzuführen auf die Beziehung des konkreten Individuums zur konkreten Umwelt und, soweit es sich um innere Kräfte handelt, auf das Zueinander der verschiedenen funktionellen Systeme, die das Individuum ausmachen.“ 95 Alle darin wirkenden Kräfte und „Geschehensdifferentiale“ wären für die Theoriebildung bedeutsam. Denn es änderten sich nicht nur Kräfte innerhalb einer Situation, sondern „mit dem Geschehen auch […] die Gesamtsituation“.96 Mit dieser Anlehnung an die Gestaltpsychologie grenzt sich Lewin davon ab, Menschen über ein „Gesetz des Durchschnittsverhalten“ erklären zu wollen oder sie als milieudeterminiert zu bezeichnen.97 90 S. 258 91 S. 259 92 S. 264 93 Ebd. 94 Ebd. 95 S. 270 96 S. 271 97 S. 268
Ines Langemeyer Kurt Lewin - Bert Brecht 19 Der psychologische Gesetzesbegriff ist im Begriff des Geschehenstypus zu verankern. Dazu schlägt Lewin vor, Experimente zu wiederholen, wobei man sie, um den Geschehenstypus zu bestimmen, systematisch variiert und die „Geschehensdifferenziale“ in den Blick nimmt.98 Wie er in Gesetz und Experiment in der Psychologie schreibt, seien eben nicht gleiche Ergebnisse von Bedeutung sondern verschiedene Fälle,99 weil, „die Bestimmung eines empirischen Typus, zumal wenn es sich um einen konditional-genetischen Typus eines Dinges oder Geschehens handelt, nicht durch eine Wesensschau geschehen kann (auch nicht durch direkte Wahrnehmung), sondern durch eine Untersuchung der dynamisch konstituierenden Faktoren, die nur durch die reale Veränderung realer Situationen zu erreichen ist.“100 Auf diese Weise nimmt der Gesetzesbegriff die konditional-genetischen Zusammenhänge auf, während die historisch-geographischen Bedingungen nur erhellen, warum z.B. ein bestimmtes Geschehen in bestimmten Situationen häufig oder selten auftritt.101 In dieser Schlussfolgerung vollzieht Lewin eine ähnliche Trennung von Ebenen, wie sie die Physik seiner Zeit vornimmt. Da der Kontrollierbarkeit physikalischer Systeme in experimentellen Situationen Grenzen gesetzt sind, muss die Wissenschaft einen Weg jenseits der direkten Wahrnehmung einschlagen. Empirische Arbeiten müssen indirekt bzw. theoretisch verfahren, indem planmäßige Eingriffe in ein komplexes System einem Ergebnis gegenübergestellt werden. Für das Zusammenhangsdenken wird die Spekulation unentbehrlich.102 Die Beziehung zwischen Theorieebene und Beweisebene ist weniger selbstverständlich und braucht einen eigenen philosophischen Denkrahmen. In einem postum erschienen Aufsatz über Ernst Cassirers Beitrag zur Wissenschaftsphilosophie nimmt Lewin dieses Problem erneut in den Blick: „In der Physik tritt auf der Grundlage einer zunehmenden engen gegenseitigen Abhängigkeit von Tatsachenfeststellungen und Theorie ein entsprechender Wandel ein.“103 Noch einmal Bezug nehmend auf Cassirers Schrift zu Substanzbegriff und Funktionsbegriff von 1910 weist er auf die Notwendigkeit einer reflektierten Verknüpfung zwischen theoretischer Arbeit und indirekter Methode hin: 98 S. 263f 99 Lewin, K., Gesetz und Experiment in der Psychologie, KLW 1, 1981 (original erschienen 1927), S. 287 100 S. 291 101 S. 288 102 Uludag, K. a.a.O., S. 29. 103 K. Lewin, Cassirers Wissenschaftsphilosophie und die Sozialwissenschaften, KLW 1, 1981 (original erschienen 1949), S. 353
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