Informationen zu Bertolt Brecht - Dreigroschenheft
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Dreigroschenheft Informationen zu Bertolt Brecht 26. Jahrgang Heft1/2019 Stürmisches Ende der Silberpappel in Buckow (Foto) Schwierige Drucklegung der Svendborger Gedichte vorschau auf das Augsburger Brecht-Festival Brecht und die Räterepublik in Bayern
Sa 23.2. / 11 –14.00 Uhr / Stadtbücherei Augsburg Neue Lyrik für Städtebewohner*innen Mit: Nancy Hünger, Ulrich Koch, Kathrin Schmidt, Daniela Seel, Gestaltung: kw-neun.de Ulf Stolterfoht und Raphael Urweider Mehr unter www.brechtfestival.de MEDIENPARTNER:
Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 Brechts Svendborger Gedichte: Drucklegung Impressum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 mit Schwierigkeiten. . . . . . . . . . . . . . . 24 Hans Christian Nørregaard Buckow Brecht in Magas / Inguschetien . . . . . . . . . 31 Brechts „Alte Vettel“ ist gefallen. . . . . . . . . 3 Peter Krüger Margret Brademann Kunst brechtweigelhaus bekommt ein Besucherzentrum . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Brecht als Objekt „Entarteter Kunst“. . . . . . 29 Margret Brademann Klaus Baacke Festival Rezensionen Brechtfestival für Städtebewohner*innen 22.2.– Werkschöpfung, Verwertung, Erbrecht, 3.3.2019. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 gesellschaftliche Verantwortung. . . . . . . . 36 Tina Bühner „Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“ Ulrich Fischer Der Augsburger kurbelfertig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 War er nicht viel mehr – Antirevolutionär?. . .9 „Weills Dreigroschenprozess“ (mf) Brecht, die Räterepublik in Bayern, der Vom inszenierenden Lesen. . . . . . . . . . . 40 Kommunismus und die Revolution „Gegenstimmen. Eine Dramendidaktik“ Jürgen Hillesheim Florian Vaßen Galilei, musterhaft. . . . . . . . . . . . . . . . 42 Theater „Literarische Texte interpretieren: Lyrik – Prosa – Dra- „Verpiss dich!“. . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 ma“ (mf) Der Eklat von Chur oder Der neue V(R)-Effekt Jan Knopf Ja da muss man sich doch einfach festlesen …. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Muntere Dreigroschenoper in Darmstadt: „Brechts Berlin“ – randvoll mit Bildern, Infos und Pressespiegel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Erzählungen (mf) Glückwunsch an Regine Lutz (mf). . . . . . . 48 Kleinigkeit Brecht international BB liest Tucho . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Brecht-Tage Berlin 2019: Brecht in Russland Michael Friedrichs heute. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 10. bis 15. Februar 2019 Thomas Martin Dreigroschenheft 1/2019
Editorial Impressum Immerhin hat die Silberpappel in Buckow Dreigroschenheft ihren Brecht um 62 Jahre überlebt. Kann Informationen zu Bertolt Brecht man bei Bäumen von „sterblichen Über- Gegründet 1994 resten“ sprechen? In diesem Fall scheint das Herausgeber 1994-2009: Kurt Idrizovic angemessen. Margret Brademann hat ihr www.dreigroschenheft.de Ende dokumentiert. Das Augsburger Brecht-Festival „für Erscheint vierteljährlich zu Quartalsbeginn Einzelpreis: 7,50 € Städtebewohner*innen“ (22. Februar bis Jahresabonnement: 30,- € 3. März) lockt eine Menge wichtiger Künst ler*innen und Inszenierungen in die bis- Anschrift: weilen immer noch unterschätzte Lechstadt Wißner-Verlag GmbH & Co. KG – Tina Bühner verschafft uns einen Über- Im Tal 12, 86179 Augsburg Telefon: 0821-25989-0 blick. Und Thomas Martin informiert über www.wissner.com die Brecht-Tage Berlin (10.–15. Februar). redaktion@dreigroschenheft.de Jürgen Hillesheim, der für das Festival eine vertrieb@dreigroschenheft.de Ausstellung mit umfangreichem Katalog zum Thema Räterepublik und Brecht vor- Bankverbindung: Wißner-Verlag GmbH & Co. KG Stadtsparkasse Augsburg bereitet, wirft die Frage auf, ob Brecht nicht Swift-Code: AUGSDE77 eher als Antirevolutionär zu sehen sei. IBAN: DE15 7205 0000 0000 0282 41 Jan Knopf hat den Eklat um Samuel Schwarz bei seinem Chur-Aufenthalt miterlebt und Redaktionsleitung: Michael Friedrichs (mf) für unsere Leser interpretiert. Wissenschaftlicher Beirat: Dirk Heißerer, Tom Kuhn, Hans Christian Nørregaard spürt der kom- Joachim Lucchesi, Werner Wüthrich plizierten ersten Drucklegung von Brechts „Svendborger Gedichten“ im Detail nach. Autoren in dieser Ausgabe: Klaus Baacke, Margret Brade- Klaus Baacke hat entdeckt, dass das be- mann, Tina Bühner, Ulrich Fischer, Michael Friedrichs, rühmte Brecht-Porträt von Rudolf Schlich Jürgen Hillesheim, Jan Knopf, Peter Krüger, Thomas Martin, Hans Christian Nørregaard, Florian Vaßen ter, das seit 1960 im Münchner Lenbach- haus hängt (jetzt flankiert von dem ebenso Titelbild: Silberpappel in Buckow. Foto: Margret Brademann erstaunlichen Helene-Weigel-Porträt), Teil der „entarteten Kunst“ und zeitweise in der Druck: WirmachenDruck GmbH, Backnang Sammlung von Hildebrand Gurlitt war. ISSN: 0949-8028 Peter Krüger fördert seit Jahren Brecht in Inguschetien und berichtet von einer aktu- ellen Ausstellungseröffnung in Magas. Des weiteren haben wir wie immer Thea- Gefördert durch die Stadt Augsburg terberichte, Buchbesprechungen, Kleinig- keiten (z.B. über Brechts Anleihen bei Tu- cholsky). Gefördert durch den Lesen Sie wohl! Bert Brecht Kreis Michael Friedrichs Augsburg e.V. Dreigroschenheft 1/2019
Brechts „Alte Vettel“ ist gefallen Buckow Margret Brademann Die Atmosphäre des Brechtgartens in Buckow ist um ein Original ärmer geworden. Brechts letzte Silberpap- pel ist beim Sturm am Freitag, den 21. September 2018, umgestürzt. Wir sind froh, dass der gewaltige Baum sonst keinen Schaden angerichtet hat. Der jetzt umge- brochene Baum stand auf dem Nachbargrundstück, wo sich auch Brechts Arbeitszimmer mit Blick auf die bei- den Pappeln befand. Das war die Kulisse, die er schätzte. Sein ganzes Leben lang waren Bäume, besonders alte, große Bäume für ihn Gleichnisse für menschliche Ei- genschaften. Sein Wohlbefinden und damit auch seine Produktivität wurden von ihrer Anwesenheit stark be- einflusst. Als er die Wahl des Ortes Buckow als Schaf- Unwissende ! schrie ich fensort im Journal vom 14.2.1952 begründete, waren sie Schuldbewußt. sicher ausschlaggebend: „… finden auf schönem grund- stück am wasser des schermützelsees unter alten großen Laute bäumen ein altes, nicht unedel gebautes Häuschen …“ Später, im Herbst – Immerhin: Es gibt einen Setzling aus der Krone. Er Hausen in den Silberpappeln große muss noch ein paar Jahre „aufgepäppelt“ werden, dann Schwärme wird er an der alten Stelle eingepflanzt. von Krähen Aber den ganzen Sommer durch höre In den Buckower Elegien von 1953 ist dieser besondere ich Baum drei Mal ein lyrisches Bild. Ursprünglich waren Da die Gegend vogellos ist es zwei Silberpappeln; die andere musste bereits 2017 Nur Laute von Menschen rührend. gefällt werden. Ich bin’s zufrieden. ¶ Der Blumengarten Margret Brademann leitet das Am See, tief zwischen Tann und Silberpappel brechtweigelhaus in Buckow. Beschirmt von Mauer und Gesträuch ein Garten So weise angelegt mit monatlichen Blumen Daß er vom März bis zum Oktober blüht. … Böser Morgen Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit Heut eine alte Vettel. Der See Eine Lache Abwaschwasser, nicht rühren! Die Fuchsien unter dem Löwenmaul billig und eitel. Warum? Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich deutend Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren zerarbeitet und Sie waren gebrochen. Dreigroschenheft 1/2019
Brechtfestival für Städtebewohner*innen Festival 22.2.–3.3.2019 Tina Bühner Das Brechtfestival 2019 widmet nen ist ein Festival für Augs- sich dem Leben in der Groß- burg, über Augsburg, mit stadt. Literarische Bezugsgröße Augsburg(er*innen) und in ist Brechts Gedichtsammlung Augsburg. Im Titel des Fe- „Aus dem Lesebuch für Städ- stivals schwingt ein offener, tebewohner“ (1926/27). Aber pluralistischer, einladender auch andere Städtegedichte Ton mit – ein Vorbote auf ein Brechts, wie „Letzte Hoffnung“ abwechslungsreiches Kultur- oder „Vom armen B.B.“ haben Programm an über 20 Or- das Brechtfestival 2019 inspi- ten in der ganzen Stadt – mit riert. Brecht greift in ihnen die Erfahrungen 11 Theaterproduktionen, 6 Literatur- des modernen Menschen in den Städten auf. veranstaltungen, der Langen Brecht- Das Brechtfestival spürt diesem Lebens- nacht als popkulturellem Event (1.3.) und gefühl in der Gegenwart nach und begibt vielem mehr. Das diesjährige Thema tritt sich vom 22.2. bis 3.3.2019 auf die Spuren dabei ganz unterschiedlich in Erscheinung. der Kräfte, die das Antlitz der neuen Städte Die Stadt, sie wird besungen, bespielt und gestalten. Es fragt: Für wen ist diese Stadt? erforscht. Sie ist Bühne, Thema und Schau- Wer gestaltet sie? Wer kontrolliert sie? Wem platz. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und gehört sie? Wer soll mitbestimmen darüber, Zukunft werden unter die Lupe genommen, wie das urbane Leben der Zukunft aussieht? auf die Bühne und zur Sprache gebracht. Lebensbedingungen, Lebensgefühl und Das Brechtfestival für Städtebewohner*in das Zusammenleben unterschiedlichster Das Berliner Ensemble kommt mit „Auf der Straße“ (© Julian Röder) Dreigroschenheft 1/2019
Städtebewohner*innen spielen beim henden 20. Jahrhun- Festival Brechtfestival 2019 eine Rolle. derts, der den Blick auf die andere Seite Das Publikum darf sich auf aufregende der gesellschaftlichen Theatererlebnisse freuen – sowohl Gast- Schere richtet. „Un- spiele als auch Produktionen aus Augsburg. endlicher Spass“ von David Foster Wal- Zur Eröffnung am 22.2. ist das Berliner lace thematisiert den an seinem Wohlstand Ensemble mit der Recherche-Theater-Ar- und den Überforderungen der Gegenwart beit „Auf der Straße“ der Regisseurin Karen zugrunde gehenden Menschen der west- Breece zu Gast. Breece ging ausführlich der lichen (urbanen) Welt. Regisseur Thorsten Frage nach, was es bedeutet, in Deutschland Lensing hat das 1500 Seiten starke Portrait arm zu sein, und widmet sich dem Thema einer Erschöpfungsgesellschaft zu einem Obdachlosigkeit. Das Ergebnis ist eine mu- fesselnden Theaterabend mit Starbesetzung tige Produktion mit Schauspieler*innen verdichtet. des Ensembles und von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffenen Menschen, Das Staatstheater Augsburg ist erneut mit die ohne Voyeurismus und Tränendrüsen- einer Brecht-Premiere am Programm betei- druck nach gesellschaftspolitischen Klassi- ligt (23.2.). „Baal“ mit seiner entfesselten kern fragt – sozialem Miteinander und So- Dichterkunst, dem Wald und den Naturge- lidarität: „... ein kluger, ziemlich großartiger walten stellt einen Kontrapunkt zur kalten Theaterabend“, sagt Peter Laudenbach von und düsteren Stadtlyrik des „Lesebuchs“ der SZ. dar. Wir sind gespannt, wie Regisseurin Mareike Mikat den Klassiker neu interpre- Zum Finale des Brechtfestivals trifft am tiert. Das Junge Theater Augsburg arbeitet 3.3. mit den Grimme-Preisträgern Devid mit „Home is where the heart is“ die Striesow, Sebastian Blomberg, Jasna Fritzi deutsch-amerikanische Stadtgeschichte Bauer und Ursina Lardi u.a. ein prominent auf. In der Nachkriegszeit war Augsburg und hochkarätig besetztes Ensemble auf einer der größten US-amerikanischen Mili- einen der brillantesten Texte des ausge- tärstandorte in Deutschland. 20 Jahre nach „Antigone::Comeback“ erinnert an die legendäre Brecht-Inszenierung in Chur 1948 (© Raum + Zeit) Dreigroschenheft 1/2019
weiteren wichtigen Gesellschaftsanalytiker Festival und -kritiker des 20. Jahrhunderts: Rainer Werner Fassbinder. Unter der Leitung von Leif Eric Young geht es in der Neuin- szenierung von „Anarchie in Bayern“ um die gesellschaftliche Kraft von Bedrohungs- szenarien. Premiere ist am 28.2. Brecht hat seit früher Jugend mit kollektiven Arbeitsweisen experimentiert. Auch in sei- nen ästhetischen Schriften hat er über neue, bewegliche, theatrale Formen und Kollek- tiv-Ideen nachgedacht. Ganz bewusst wur- den deshalb zum Brechtfestival 2019 einige der erfolgreichsten Regie-Kollektive des deutschsprachigen Raums nach Augsburg eingeladen. Nicht nur in ihren Arbeitswei- sen, sondern auch in Inhalten und Ästhetik knüpfen sie an Brechts Arbeit an. „Theaterkunst ist heute viel mehr als der in einem abgedunkelten Zuschauerraum reservierte Sitzplatz, von dem aus man in eine Guckkasten-Bühne blickt, wo ‚die andcompany&Co zeigen ihr Stück „Colonia Digital“ Schauspieler wie in einem Aquarium he- (© Dorothea Tuch) rumschwimmen‘, wie Claus Peymann es einmal ausgedrückt hat. Beim Brechtfes tival 2019 begeben wir uns auf die Spu- Schließung der letzten US-Kaserne richtet ren von Brechts epischem Theater und das Bürgerbühnenstück den Blick auf das widmen uns als formalem Schwerpunkt Zusammenleben in der ehemaligen Garni- einem erweiterten Theaterbegriff. Dafür sonsstadt, Premiere ist am 22.2. haben wir herausragende Produktionen eingeladen, die Brechts Theatertheorie „Electronic City“ von Falk Richter spielt und seine Ästhetik fortführen und den in einem elektronischen Metropolis, einer theatralen und performativen Begriff auf globalen Stadt, die von der universalen interessante Weise bereichern“, sagt Fes Dienstleistungsindustrie beherrscht wird. tivalleiter Patrick Wengenroth. Am Sensemble Theater feiert die Inszenie- rung von Sebastian Seidel am 22.2. Premie- Das überwiegend weiblich besetzte Per- re. Eigens für das Brechtfestival richtet das formance Kollektiv She She Pop gehört zu Augsburger Ensemble Bluespots Produc- den internationalen Aushängeschildern des tions mit „Shitty City“ einen theatralen experimentellen Theaters aus Deutschland Parcours durch die Stadt Augsburg ein, der und feierte kürzlich sein 25jähriges Jubilä- die 10 Gedichte aus dem „Lesebuch“-Zyk um. In ihrer aktuellen Produktion „Orato- lus in Szene setzt. Zehn Tage lang wird die rium – Kollektive Andacht zu einem wohl- Stadt zum Spielort für Brechts Lyrik (22.2- gehüteten Geheimnis“ durchleuchten sie 3.3.). Auf Einladung des Brechtfestivals be- kritisch die Frage des (Privat-)Eigentums. fasst sich das Theter Ensemble mit einem „Oratorium“ ist von Brechts Lehrstücktheo- Dreigroschenheft 1/2019
rie ebenso inspiriert wie vom antiken Thea- Im Rahmen des Ly- Festival ter. Wer ist präsent, wer wird repräsentiert? rik-Tages „Von diesen Die Zuschauer sind aufgefordert, sich aktiv Städten wird blei- als Chor in das szenische Wechselspiel aus ben: der durch sie Rede und Gegenrede einzubringen. Der hindurchging, der Einzelne, die Gemeinschaft und die Wech- Wind!“ tragen sechs bedeutende zeitge- selwirkungen aus beidem sind formal und nössische Lyrikerinnen und Lyriker ihre inhaltlich ununterbrochen präsent und ste- eigenen Werke vor, die sich schwerpunkt- hen zur Debatte. (2.3./3.3.) mäßig mit dem Thema Stadt befassen, und setzen diese ins Verhältnis zu ausgewählten Gleiches gilt für die Produktion „Böse Häu- Gedichten aus dem „Lesebuch für Städtebe- ser“ von Turbo Pascal (24.2. und 25.2.), wohner“ von Brecht. Die Lesung mit Nancy einem theatralen Gedankenexperiment zu Hünger, Ulrich Koch, Kathrin Schmidt, Individuum und Gesellschaft. Rund 70 Zu- Daniela Seel, Ulf Stolterfoht und Ra- schauer bekommen per Bluetooth-Kopfhörer phael Urweider findet in zwei Sets in der von mehreren Performern unterschiedliche Stadtbibliothek statt. Inspiriert von Brechts Gedanken-Anordnungen und Mitmach- Städte-Gedichten präsentieren Björn Gög- aufforderungen direkt auf die Ohren. Wie ge, Felix Römer, Leticia Wahl und Jule We- gehen wir mit denen um, die Dinge anders ber beim Poetry-Slam am 26.2. ihre Texte, sehen? Inspiriert von Brechts „Mahagonny“ die Musiker Tom Jahn an den Tasten, Gi- haben Andcompany&Co. eine Performance risha Fernando am Bass und Stefan Brodte entwickelt, die die sozialistischen Anfänge an den Drums improvisieren live dazu. Der des Internets unter die Lupe nimmt. Wie Hamburger Journalist und Fernseh-Repor- konnte es dazu kommen, dass die Idee ei- ter Michel Abdollahi moderiert das poe- ner Kommunikation, die alle Menschen als tische Kräftemessen. gleichwertige Individuen vereint, sich in ihr Gegenteil verkehrte? „Colonia Digital – The Welche literarische Kraft steckt in der Aus- Empire feeds back!“ spielt an einem dysto- einandersetzung mit den hässlichen Seiten pischen Ort nach dem großen Datencrash. Ein Training für die schwindelerregende Komplexität der Gegenwart (27./28.2.) Der Regisseur Bernhard Mikeska arbei- tet unter dem Namen „Raum+Zeit“ im Kollektiv mit dem Autor Lothar Kittstein und der Dramaturgin Alexandra Alt- hoff. In ihrer Eins-zu-Eins-Performance „Antigone::Comeback“ schicken sie die Zuschauer*innen jeweils einzeln auf eine Zeitreise. Ausgestattet mit einer VR-Brille, werden sie Zeugen einer Antigone-Probe von Bertolt Brecht und Helene Weigel am Theater Chur im Jahr 1948. Die Konstruk- tion subjektiver Wahrnehmung und (ver- meintlicher) Realität ist auf faszinierende Weise in der theatralen Form enthalten und lädt – ganz im Geiste Brechts – zum „Unendlicher Spaß“, auf dem Bild: Devid Striesow, Diskurs ein. Ursina Lardi (© David Baltzer/Agentur Zenit) Dreigroschenheft 1/2019
Festival She She Pop kommt mit „Oratorium“ (© Benjamin Krieg) des Menschseins, wie Vereinzelung, ka- te, haben ihn sehr geprägt. In der biogra- putten Beziehungen, Armut, Erfolgsdruck phischen Lecture „Der Morgen riecht und Konsumzwang? Welche Deformati- immer nach Raubtieren“ folgt Michael onen erleiden Städtebewohner*innen durch Friedrichs Bertolt Brecht gemeinsam mit die sie umgebende Architektur? Wann sind Schauspielerin Ute Fiedler durch die Stra- vier Wände Refugium oder Gefängnis? Im ßen der Großstadt Berlin (2.3.). Rahmen der Lesung „Dystopia Urbana“ am 2.3. kommen die Autor*innen Dirk Viele weitere Veranstaltungen warten Bernemann („Asoziales Wohnen“), Julia auf die Besucherinnen und Besucher des von Lucadou („Die Hochhausspringerin“) „Brechtfestivals für Städtebewohner*innen“. und Johanna Maxl („Unser großes Album Mehr Infos zum gesamten Programm elektrischer Tage“) mit Festivalleiter Patrick gibt es unter www.brechtfestival.de. Die Wengenroth ins Gespräch. Programmzeitung gibt es u. a. in der Bür- gerinfo am Rathausplatz. Was muss man Keine Stadt ohne Disko. Der 1987 in Augs- gesehen haben? In unmittelbarer Nähe zu burg geborenen Schriftsteller, Dramatiker Brechts Geburtshaus gibt es eine Woche und Hörspielregisseur Michel Decar in- vor Festivalbeginn fundierte Einblicke ins szeniert auf Einladung des Brechtfestivals Programm aus erster Hand und in lockerer seinen gefeierten Debütroman „Tausend Atmosphäre beim „Brechtfestival-Talk deutsche Diskotheken“ als Live-Hörspiel für Städtebewohner*innen“ mit Festi- (24.2.). Brecht war überzeugter Städtebe- valleiter Patrick Wengenroth und Markus wohner und die Erfahrungen, die er nach Krapf, Redaktionsleiter neue szene: Freitag, Augsburg und München in Berlin sammel- 15.2.2019 um 20 Uhr in Brecht’s Bistro. ¶ Dreigroschenheft 1/2019
War er nicht viel mehr – Antirevolutionär? Der Augsburger Brecht, die Räterepublik in Bayern, der Kommunismus und die Revolution Jürgen Hillesheim Brecht war unbequem, hin und wieder Erscheinung traten: allen voran Thomas auch in der DDR. Dennoch herrschte Mann. Inzwischen herrschen kaum noch meist Einigkeit darüber, dass er, nach einer Zweifel an der Doppelbödigkeit und Ambi- „anarchischen“ Jugend, zum überzeugten valenz dieser Beiträge. Brecht bediente sich Kommunisten und einem exponierten des patriotischen Pathos, weil er unter allen Repräsentanten einer sozialistischen Ge- Umständen erstmals eigene Texte veröf- sellschaftsform wurde. Für sie zu kämpfen, fentlicht sehen wollte. Dem Krieg allerdings die Welt zu verändern, schuf er, in Theorie stand er indifferent gegenüber. Er literari- und Praxis, sein Episches Theater; so die sierte ihn auf einer zweiten Textebene, um Lehrmeinung vieler Jahre. Die Wirklichkeit so Distanz zu ihm zu finden, ihn zur Bühne sieht anders aus. Das zeigt die frühe Zeit, für seine Kunst zu machen. Seit 1916 aller- die oft nur als Phase angesehen wird, in dings stand er dem Krieg auch offen zuneh- der Brecht mehr den „Bürgerschreck“ mar- mend kritisch gegenüber, verursacht durch kierte als bedeutsame Werke zu schreiben. das über Jahre andauernde Leid, das Brecht Dabei entwickelte er aus seiner Wahrneh- auch in Augsburg nicht verborgen blieb. mung des Ersten Weltkriegs heraus und des Elends, das dieser brachte, ein Verständnis 1918 entstand die berühmte Legende vom der Revolution als Fortsetzung des Krieges toten Soldaten, in der er mit dem wilhelmi- und des Leides unter anderer ideologischer, nischen Kriegswahn abrechnete. Im „fünf- nun roter Flagge. Nachweisbar ist dies erst- ten Lenz“, so das Gedicht, würde man sogar mals in Zusammenhang mit der Rätere- die gefallenen Soldaten ausgraben, um sie volution, deren Auswirkungen Brecht in wieder an die Front zu schicken. Jener gro- Augsburg vor nun fast genau 100 Jahren tesk gestaltete „tote Soldat“ ist jedoch inspi- unmittelbar mitbekam. Immun gegenüber riert durch ein Brecht direkt betreffendes der Revolution blieb er, trotz aller Lippen- Einzelschicksal, das Caspar Nehers, seines bekenntnisse, bis zu seiner Zeit in der DDR. Augsburger Freundes und späteren be- Das zeigen Konstanten seines Werkes. rühmten Bühnenbildners. Dieser war, nach freiwilliger Meldung, knapp vier Jahre im Als der Krieg begann, war Brecht sechzehn Krieg, wurde verwundet, verschüttet, und Jahre alt. Schon längst wollte er ein großer ebenfalls wieder „ausgegraben“, um erneut Dichter werden. Erste literarische Versuche zu marschieren. Es ist der Missbrauch des waren in einer Schülerzeitschrift erschie- Individuums, der Brecht zu diesem Gedicht nen. Nun, ab 8. August 1914, hatte er als bewegte. Diese poetische Warnung an Ne- Autor Zugang zu gleich zwei Augsburger her, sich sobald wie möglich der lebensbe- Tageszeitungen. Kleinere Auftragsarbeiten drohlichen Situation zu entziehen, wuchs verfasste er, hauptsächlich Lyrik. Den of- sich aus zur virtuosen Generalabrechnung fenkundigen Nationalismus seiner Texte mit dem Wilhelminismus, die Bestandteil kaufte man ihm lange ab bzw. man sah ihn vieler Kabarettprogramme der Weimarer dem jungen Gymnasiasten nach, gerade Republik wurde. auch angesichts der Tatsache, in welcher Weise da andere etablierte Schriftsteller in Brecht selbst hatte sich vor einem Einsatz Dreigroschenheft 1/2019
an der Front erfolgreich drücken können. Der Augsburger Er erlebte das Ende des Krieges in Augs- burg als Militärkrankenwärter. Das war er auch noch für kurze Zeit, als in Berlin und München im November 1918 Republiken ausgerufen wurden. Sie inspirierten ihn zu seiner Revolutionskomödie Trommeln in der Nacht, deren erste Fassung, noch unter dem Titel Spartakus, in wenigen Wochen fertiggestellt war. Wie Caspar Neher war auch Andreas Kragler, der Protagonist, vier Jahre im Krieg. Nach seiner Heimkehr muss er feststellen, dass seine ehemalige Verlobte Anna, die Tochter eines wohlhabenden Ge- schäftsmanns, von einem anderen schwan- ger ist. Daher ist für den so entehrten Krag- ler kein Platz mehr in dieser Kriegsgewinn- lergesellschaft. Was wäre da konsequenter als sich den Räterevolutionären anzuschlie- ßen, die ihn anwerben wollen, und dabei zu helfen, diese Gesellschaft hinwegzufegen? Tut Kragler aber nicht. Anstatt wieder an eine Front zu marschieren, selbst wenn dies eine andere wäre, geht er am Schluss Brecht posiert mit von seinem Freund Otto Bezold 1918 in das „große, weiße Bett“ seiner Verlobten. entwendeten Totenschädeln: Tod, wo ist dein Stachel? Er nimmt sie zurück, mitsamt ihres unge- oder: Der doppelte Hamlet borenen Kindes, und wird ein angesehener Bürger, der für sich ausgesorgt haben wird. Wie dieser Krieg aussieht, zeigt der in glei- Der Zuschauer, der expressionistisches cher Zeit entstandene Gesang des Soldaten Aufbruchspathos erwartet, ist düpiert und der Roten Armee. Jener Soldat ist Täter und mit ihm die Revolutionäre. Opfer zugleich. Explizit wird die rote Fah- ne als „unmenschlich“ bezeichnet. Die, die Dass Brecht deren Aktionen tatsächlich als ihr folgen, haben „Tigergebisse“, sie bringen schlichte Fortsetzung des Krieges betrach- Leid, doch „niemals Freiheit“. Brandschat- tet, lässt sich philologisch nachweisen und zend, mordend und dabei sein Selbst ver- zwar eindeutig. In das Stück ist die Legende lierend, zieht der Soldat der „roten Armee“ vom toten Soldaten integriert. Sie wird ge- durch eine Vielzahl von Höllen, die an Dante sungen, als Kragler für die Räterevolution Alighieris Divina Commedia erinnern. Er geworben werden soll. Der Krieg sei, wie kommt an, „mit blutbefleckten, leeren Hän- gesagt, im „fünften Lenz“. Wenn man nach- den“ und einem „Herz, versehrt von Eis“ im rechnet, kommt man damit exakt auf das „Paradeis“ der kommunistischen Ideologie, Frühjahr 1919, die Zeit der Räteunruhen das die schlimmste aller Höllen ist. Es war in Bayern und des Spartakus-Aufstandes der kommunistische Politiker und spätere in Berlin. Die Revolutionäre führen also Kulturfunktionär Alexander Abusch, der Krieg, und der Einzelne tut gut daran, sich empört von Brechts Gedicht war und ihn fern zu halten, will er nicht unter die Räder nach dessen erstmaligem Erscheinen 1925 geraten. zur Rede stellte. Angesichts der Eindeutig- keit und Radikalität der Bilder des Gedichts 10 Dreigroschenheft 1/2019
gelang es Brecht nicht, sich überzeugend zu wurde, für zwei Nächte in seiner Mansarde Der Augsburger erklären. Er führte an, ja nicht die sowje- versteckte, bis er gefahrlos ins Ausland flie- tische rote Armee, nicht die Oktoberrevo- hen konnte. Brecht selbst allerdings blieb an lution gemeint zu haben, sondern die deut- diesen beiden Tagen seiner Mansarde fern. sche, die fast in Zusammenhang mit den Der Altruismus hatte seine Grenzen. Mit Aufständen um die Räterevolution entstan- großer Wahrscheinlichkeit wollte Brecht den wäre. Als ob diese weniger „rot“ gewe- Prem, mit dem er wenig zu tun hatte, ins sen wäre. Abusch war, aus seinem Blickwin- Exil verhelfen, damit er sich besser an des- kel, mit Recht entsetzt. sen Frau, mit der er bereits Jahre zuvor recht eng gewesen war, heranmachen konnte. Brecht selbst verhielt sich in Augsburg um Ostern 1919, als es zu räterevolutionären Paula Banholzer, die Mutter seines ersten Ausschreitungen kam, ähnlich wie im Er- Sohnes Frank, war zu Zeiten der Unruhen sten Weltkrieg, zu Zeiten des „Augusterleb- im Allgäu, um der Geburt entgegenzusehen; nisses“: Wieder war etwas los in Augsburg, sie hatte Augsburg auf Geheiß ihres Vaters Teile der Bevölkerung auf den Beinen, wie- verlassen müssen, weil der angesehene Arzt der beobachtete Brecht distanziert, disku- einen Skandal wegen des unehelichen Kin- tierte mit den Räterevolutionären, machte des fürchtete. An Banholzer schreibt Brecht sich wichtig, verschaffte sich über sie Publi- am 15. April 1919 und stilisiert sich zum kationsmöglichkeiten, ließ sich aber nicht „Bolschewisten“, der er nun geworden sei. vereinnahmen. Für die USPD-Zeitung Großen Einfluss habe er unter den Rätere- Volkswille konnte er, nach den revolutio- volutionären, und nicht zuletzt ihm sei es nären Unruhen, von Oktober 1919 bis Janu- zu verdanken, dass es in Augsburg nicht zu ar 1921, über zwanzig Theaterkritiken und größeren Gewalttätigkeiten käme. Liest man Essays schreiben. Provokant, radikal anti- einige Sätze weiter, erfährt man, dass Brecht bürgerlich waren seine Beiträge, in denen er mit den revolutionären Unruhen nicht viel seinen Vorstellungen von Kunst Ausdruck zu tun gehabt haben kann. Als Tage zu- verleihen und als scharfer Theaterkriti- vor die Situation in der Stadt bedrohlich ker in der Manier Alfred Kerrs erscheinen schien, verließ er nämlich das Haus nicht. wollte. Alles andere jedoch als revolutionär Angeblich ließ sein Vater ihn nicht gehen, sind diese Texte. Nicht eine einzige direkte aus Angst, dass dem Sohn etwas passieren politische Parole ist in ihnen zu finden. Al- könnte. Auch hatten sich die Augsburger lerdings führte eine dieser Besprechungen Räte schon am 13. April den Bedingungen zu einem Strafverfahren gegen Brecht, weil der Regierung Hofmann unterworfen, es er in einer seiner Kritiken eine Augsburger herrschte also weitgehend Ruhe. Schauspielerin beleidigt hatte. Dann wechselt Brecht das Thema, um, wie In Kontakt mit den Redakteuren des Volks- er schreibt, „zu Wichtigerem“ zu kommen. willen gelangte Brecht über Lilly Prem, die, Das war sein erstes großes Drama Baal, gemeinsam mit ihrem Mann Georg, in dessen Protagonist ein sensibles wie gleich- Augsburg zu den exponiertesten Rätere- zeitig brutales, übersteigertes Individuum volutionären zählte, Resolutionen verfasste ist, das in den Spuren von Nietzsches Za- und Agitation betrieb. An der jungen Frau rathustra wandelt; nichts weniger als ein war Brecht interessiert, ihrem Werben für „Antirevolutionär“ par excellence. Brecht die Revolution widersetzte er sich jedoch. tat zu dieser Zeit alles, um das Theaterstück Die einzige wirkliche Tat vollbrachte er endlich auf die Bühne zu bringen. nach der Niederkämpfung der Unruhen, indem er Georg Prem, nach dem gefahndet Brecht begann, sich in der Gesellschaft der Dreigroschenheft 1/2019 11
Weimarer Republik zu etablieren, mit viel Luxemburg aus etwa gleicher Zeit. Was Der Augsburger Geschick und moralischer Flexibilität; in bleibt, ist tiefste Resignation. gerade der Gesellschaft, die er wie kein an- derer mit den Mitteln seines Epischen The- Noch deutlicher ist Brechts Revolutionskri- aters analysierte und als veränderbar erwei- tik im Lehrstück Die Maßnahme (1930/31). sen wollte. Die Eigenschaften, die für dieses Als rigide marxistisch galt es stets, war aber Emporkommen notwendig waren, nannte auch bei Kommunisten höchst umstritten, er später in seinem Lyrikzyklus Aus dem die ihre Ideologie nicht in dieser Art rigide Lesebuch für Städtebewohner (1926/27): zuende gedacht und schon gar nicht vorge- Schläue, Abgeklärtheit und Empathielo- führt haben wollten. Ein „junger Genosse“ sigkeit; Eigenschaften, die Brecht selbst in- betreibt mit anderen in China verdeckte ternalisiert hatte. Ein erster großer Erfolg Agitation und wird, da er durch sein spon- war die Verleihung des Kleist-Preises 1922, tanes Mitgefühl und seine Disziplinlosig- den er unter anderem für Trommeln in der keit, die ihn zu altruistischen Taten hinreißt, Nacht erhalten hatte. Mit der Dreigroschen- von den anderen getötet. Denn er gefährdet oper hatte er es geschafft. Ihre Urauffüh- die revolutionäre Aktion. Ein Kontrollchor rung am 31. August 1928 war gleichbedeu- legitimiert die Ermordung im Interesse des tend mit Brechts internationalem Durch- Kommunismus. Brecht allerdings verdeut- bruch. Konsequent vermarktete er den licht auf einer durchgängig nachweisbaren Erfolg, verdiente Geld mit dieser Art von zweiten semantischen Ebene, dass sich hier letztlich kulinarischer Gesellschaftskritik, eine profane Passion vollzieht, ein Indivi- deren Musik Kurt Weill geschrieben hatte. duum ans Kreuz genagelt wird, künstlerisch Den hatte Brecht bei den Vertragsverhand- realisiert u.a. mit Zitaten aus der Musik der lungen übervorteilt. Er war nun tatsächlich Matthäus-Passion Bachs. Die Kontinuität „ganz oben“, ein „Städtebewohner“, dessen der revolutionskritischen Haltung Brechts Prototyp er mit Andreas Kragler geschaffen erweist sich dadurch, dass er abermals auf hatte. Material der Legende vom toten Soldaten zurückgreift. Die „Grablegung“ des „jungen Dass Brecht nicht ideologiefähig war und Genossen“ ruft die des „toten Soldaten“ auf; dies auch blieb, zeigte sich, trotz oberfläch- nur dass der „junge Genosse“ nicht aufer- licher Annäherung an den Kommunismus, stehen wird. Er ist Opfer der Revolution, auch in dieser Zeit: z.B. im Fatzer-Frag- sein Tod ein Skandalon. Sein Gesicht wird ment, das während mehrerer Arbeitspha- im Kalk zerstört, „ausgelöscht“. So wird sen zwischen 1926 und 1930 entstand. Zwar nachgeholt, dessen er sich zuvor erwehrt wird der im Krieg psychisch deformierte hatte, ein kommunistischer „Massemen- Protagonist Fatzer, der desertierte, als über- sch“, ein „leeres Blatt“ zu sein, „auf das die potenziertes Individuum und Ungeheuer Revolution ihre Anweisungen schreibt“. dargestellt, die immer wieder ins Spiel ge- brachte Revolution und die Gesellschaft, Im Exil sang Brecht etliche „Loblieder des für die sie steht, erscheint jedoch in glei- Kommunismus“, hinter deren Botschaften cher Weise als inhuman, weil in ihr das In- stand er nicht. Als er 1934 seine antifaschi- dividuum, das ihm je Eigene, zerstört wird. stische Sammlung Lieder, Gedicht, Chöre Der sozialistische „Massemensch“, so heißt veröffentlichte, in der gleichfalls die Legen- es, ist einer ohne Kopf, ohne Gesicht, damit de vom toten Soldaten enthalten ist, änderte wertlos, ausgeliefert der Manipulation und Brecht jenen die Revolution als Krieg ent- Instrumentalisierung durch andere. Ähn- larvenden „fünften Lenz“ in einen „vierten liches formulierte Brecht auch in einem nur Lenz“, um nun auf den „imperialistischen“ kleinen Fragment eines Stücks über Rosa Krieg zu deuten. Das verstand er unter „Ge- 12 Dreigroschenheft 1/2019
brauchswert“ von Dichtung, die nie „fertig“ brechtweigelhaus bekommt ein Der Augsburger sein dürfe und der aktuellen Situation an- Besucherzentrum passbar sein müsse. In der DDR machte er, der vielfach als Ketzer angesehen wurde, Margret Brademann oft keinen Hehl aus seinen Vorbehalten. In den Buckower Elegien lässt Brecht Stalin die „Musen prügeln“, und Kunst und Künstler erscheinen bildlich als schön anzuschau- ende Silberpappel, die im Garten der DDR zerdrückt wird. Brecht blieb in diesem Gar- ten, in dem ihm immerhin ein eigenes The- ater zur Verfügung gestellt wurde. Wie aber ging es mit Trommeln in der Nacht und Andreas Kragler weiter? Brecht lavierte wie immer, distanzierte sich von seinem Protagonisten, arbeitete das Drama mehr- mals um. Das antirevolutionäre Ende ließ er Das brechtweigelhaus bekommt ein Be- unberührt, bis zu seinem Tod, Kragler und sucherzentrum! Nach einem Architektur- sich selbst insofern wieder die Treue hal- wettbewerb wurde am 15.11. der Sieger- tend. Posthum allerdings wurde das Stück entwurf im Landratsamt des Landkreises im Umfeld des Berliner Ensembles bearbei- Märkisch-Oderland in Seelow gekürt. Der tet, mit Kommentaren versehen und so auf Neubau soll als eingeschossiger Holzkör- DDR-Linie gebracht. Brechts Witwe Helene per mit Lärchenholzschalung gebaut wer- Weigel gab dies als letztgültige Fassung aus, den. https://www.moz.de/artikel-ansicht/ die es aber nie auf die Bühne schaffte, von dg/0/1/1692629/ . Mehr Infos unter: http:// einer Lesung in München 1966 abgesehen. maerkisch-oderland.de/cms/front_content. Ein einziges Typoskript dieser Bearbeitung, php?idcat=835&idart=5692. Vorausgegan- das die Literaturfälschung dokumentiert, gen war eine längere Planungsphase, in der ist noch erhalten und im Besitz der Staats- unter Mitwirkung des Brandenburgischen und Stadtbibliothek Augsburg. Es ist eines Landesamtes für Denkmalpflege und der der Exponate der großen Ausstellung „… Akademie der Künste über die Bebaubar- vollends ganz zum Bolschewisten geworden keit des Künstlergartens beraten wurde. …? Die Räterepublik 1919 in der Wahrneh- Nach anfänglichen Vorbehalten kann ein mung Bertolt Brechts, die von 1. März bis bisher ungenutztes Areal im südöstlichen 30. April 2019 sein ambivalentes Verhältnis Teil des Grundstückes genutzt werden. Um zur Räterepublik und zur Revolution im das architektonisch wertvolle, denkmalge- Allgemeinen dokumentiert. ¶ schützte Atelierhaus (die sog. Eiserne Villa) den Besuchern vollständig zu öffnen, soll Prof. Dr. Prof. h.c. Jürgen Hillesheim leitet die der Museumsshop mit Eintrittskasse, Ar- Brecht-Forschungsstätte Augsburg beitsplätze sowie Depots für Archiv und Bi- Nachdruck mit freundlicher Genehmigung bliothek ausgelagert werden, die z. Z. einen aus: Frankfurter Allgemeine, 17.11.2018 Großteil des Atelierhauses für Gäste unzu- gänglich machen. Darüber hinaus wird ein Raum für Sonderausstellungen, Veranstal- tungen und Vorträge das Atelierhaus entla- Ausstellung in der Staats- und Stadtbibliothek Augs- burg. Es erscheint ein umfangreicher Katalog im sten. Der authentische Ort kann dann der Wißner-Verlag, ISBN 978-3-95786-196-2. reinen Besichtigung dienen. ¶ Dreigroschenheft 1/2019 13
„Verpiss dich!“ Theater Der Eklat von Chur oder Der neue V(R)-Effekt Jan Knopf In Zeiten der alltäglichen Prüderie ist der arme BB heutzutage mit seiner Radiothe- öffentliche Ton derb geworden; das scheint orie und den „mitspielenden“ Lehrstücken eine widersprüchliche Feststellung zu sein, die gängigen Shitstorm-Muster kritisch ab, ist aber (leider) wahr. Mann trägt zwar zum sozusagen von links außen, und verhilft Schwimmen lange, übers Knie reichende sich selbst zu neuer, ungeahnter Auferste- schlabbrige Pumphosen, darunter mög- hung im Recycling-Format. Statt Distribu- lichst noch die novembergraue Unterhose tion (zu Deutsch: Zerstreuung = bloße Un- von Calvin Klein und zieht sich beim Du- terhaltung) gibt es nun endlich die aktive schen nicht aus, hat aber eine große Schnau- Kommunikation (zu Deutsch: das Usen = ze, wenn es an das anonyme Auskotzen per das Mitmachen). Der Volksempfänger ist Facebook oder Twitter geht, „Shitstorm“ zur Gegensprechanlage geworden. Wir genannt. Da flutscht das ganze Arsenal von, werden endlich alle „sozial“, und die Demo- wie sagte man in uralten Zeiten, „nicht hof- kratie siegt, denn alle machen mit und kön- fähigen“ Beschimpfungen, wie „Alte Fotze“, nen folglich nicht fehlgehen. Zu Zeiten der „Motherfucker“, „Schwanzlutscher“ vom 68er-Revolte figurierte diese Argumentati- Wischmob der Smartphones. Parallel dazu on gegen die Schlagzeilen von BILD unter: steht im Öffentlich-Rechtlichen das salon- „Fresst Scheiße! Zehn Millionen Fliegen fähige „Arschloch“ als Lieblingswort un- können nicht irren.“ serer neuen Hofpoeten, der so genannten Kabarettisten von Dieter Nuhr über Torsten In der IT-Version heißt dies: Der alte V- Sträter bis zu Sebastian Puffpaff, für das Effekt geht über in die aktuelle Erkundung Maul der Satire und produziert Dünnpfiff. des „V(R)-Effektes“. Die „Immersion“ (zu Deutsch: das Untertauchen) reißt nicht nur Nichts Böses ahnend fuhr ich zum groß an- die 4. Wand (zum Publikum) nieder; es fal- gekündigten Festival „Brecht!/BB18“ in die len vielmehr alle Wände, und der Mensch seriöse Schweiz, genauer nach Graubün- gelangt endlich über die vernetzten Ap- den, in das uralte Städtchen Chur, das im parate zur unmittelbar individuellen Er- Herbst 2018 als „Camp der Zukunft“ Furore fahrung der grenzenlosen Bodenlosigkeit. machen sollte. Zu feiern war der 70. Jahres- Das nennt sich „Digital-Theater“, zelebriert tag der Inszenierung von Brechts „Die An- von der Truppe um Samuel Schwarz (Zü- tigone des Sophokles“ (in der Übersetzung rich), und öffnet seit wenigen Jahren auch Hölderlins). Noch mehr gepriesen werden im Theater radikal den Gegensprechkanal, sollte der (nicht ganz) neu entdeckte, aber den neuen Kult des „Theaters als Kritik“ umso gewichtigere Medien-Guru BB. Das oder auch des „Theaters 4.0“ oder „Enjoy neue Format der V(R)-Effekte (= Connec- Complexity“ (zu komplex zum „Umdeut- tion von Verfremdung und Virtual Reality) schen“). fegt über die Bühne und öffnet die Kommu- nikationsräume weit, weit: web 2.0 auf dem Es war das schönste Herbstwochenende Theater. seit Jahrhunderten. Die Veranstalter von „BB18!“ hatten bei ihrer Planung weder das Als Pionier der „social media“ sichert der tolle Wetter noch die noch tollere Schlager- 14 Dreigroschenheft 1/2019
Theater Der Schweizer Brechtexperte Werner Wüthrich (links) und Regisseur Claus Peymann mit der Churer Theaterdirek- torin Ute Haferburg (kurz vor dem Auftritt fotografiert von Martin Dreier) parade, „den größten Schweizer Kultanlass digitale Welt mit anspruchsvollen und des deutschen Schlagers“ (so die Werbung), kulturellen Inhalten füllten“ (so der neue beachtet. Chur wälzte sich in Flower Po- Dortmunder Regie-Star Kay Voges), dann wer, trug von der SBB verteilte rote Herz- vergäßen sie, danach zu fragen „was“ sie da chen-Sonnenbrillen, trällerte „Hossa Nova“ denn „füllten“. Keine Frage gilt den Vorga- und „Itsy Bitsy“, zog mit Guildo Horn und ben der Formate, den technischen Zwängen Dschinghis Khan durch die bunte, sonnen- der Apparate, die sich auf der Churer Büh- durchleuchtete Innenstadt, interessierte ne so ausbreiteten, dass für die Darsteller sich für die Zukunft nur mäßig und für den Kabelhüpfen statt Spielen angesagt war. BB überhaupt nicht. Sollen die Apparate funktionieren, set- Dann machte ich auch noch zusammen zen sie, noch bevor sie überhaupt in ac- mit Werner Wüthrich, dem Schweizer BB- tion kommen, radikale (und unbewusste) Experten, den Fehler, vor dem Auftritt des Anpassung, ständige Wiederholung und „Stargastes“ Claus Peymann die Pionierrol- unabsehbare Reproduktion voraus. In der le des armen BB für die, wie ich sie nann- Kriegsmetaphorik hieß das einmal: Trom- te, „asozialen Medien“ in Frage zu stellen. melfeuer. Die Selbst-Ermächtigung schlägt Nichts mit Kommunikation, totale Verein- um in die Entmachtung des Selbst. Heraus zelung sei längst Trumpf, so unser zarter kommen die neuen Medienzitterer, die ihre Versuch einer faktischen Kritik. Umwelt nicht mehr erkennen. Wenn die Vorreiter von Theater 4.0 mein- Diese Kardinalfrage auch nur anzusprechen ten – so führten Wüthrich und ich von der angesichts des leeren Zuschauerraums, an- Bühne herab im Zwiegespräch aus –, sie gesichts des auf seinen Auftritt wartenden könnten im Theater die „Selbstermäch- Peymann als ziemlich einsamen Zuhö- tigung“ wieder erlangen, indem sie „die rers, angestachelt womöglich durch den Dreigroschenheft 1/2019 15
bastelnd – seinen Gast vor und Theater versuchte, ihn mit einigen Fra- gen herauszulocken. Sein „An- liegen“ war (wie er es am 10. Oktober 2018 in der „Nachtkri- tik“ formulierte), die „Heroen des 20. Jahrhunderts“ zu schlei- fen, diejenigen, die den Jungen „seit langer Zeit jegliche Neue- rung des Theaters“ verbauten, den Garaus zu bereiten: zu de- monstrieren an Claus Peymann. Die Maxime also lautete nach „BB18“: „ins Nichts mit ihm“. Bis dahin freilich wussten wir alle noch nicht, weshalb Schwarz ausgerechnet Brechts „Verhör des Lukullus“ als Digital-The- ater-Hörspiel zum glorreichen Peymann und Samuel Schwarz (unscharfer Schnappschuss von Mar- Finale des „Camps der Zukunft“ tin Dreier, der hauptsächlich gerade filmte) angesetzt hatte. Nach meiner unmaßgeblichen Meinung han- delt das Stück davon, die großen Zwischenruf des zweiten Zuhörers, was Helden der Geschichte und ihre „Denkmä- wir, Wüthrich und ich, da ausführten, sei ler“ nicht nochmals dadurch zu rechtferti- „Schwachsinn“, ließ Samuel Schwarz einen gen, dass man – wie seit dem 1. Weltkrieg (germanischen) Kultfilm von Arne Vogel- eingeführt (als die toten Massen unüber- sang einspielen, der den gerade aufgeru- schaubar wurden) – nun auch dem „Unbe- fenen Schwachsinn prächtig in der Repro- kannten Soldaten“ (Singular!) ein Denkmal duktion der allbekannten Helden-Formate setzte. Vielmehr wären, so die Hoffnung bestätigte. Das wäre „natürlich“ alles iro- BBs, „alle“ danach zu befragen, ob sie etwas nisch und deshalb äußerst kritisch gemeint. Bleibendes, Nützliches, Brauchbares, Schö- Widerspruch war schon kaum mehr mög- nes für die Menschheit geleistet hätten. Da lich. Pause. könnte das Ergebnis niederschmetternd ausfallen. Die Pause fiel viel zu lang aus, weil die Apparate zu richten waren. Der Zuschau- An ihren Werken, an den Resultaten ihrer erraum „füllte“ sich nur sehr bedingt um „Arbeit und Mühe“, werdet ihr sie erken- weitere Interessenten, obwohl die „deutsche nen. So widmete der BB 1940, zur Zeit des Theaterlegende Claus Peymann“ ihren Auf- letzten „Aufstiegs“ Hitlers, dem „Unbe- tritt hatte. In der Zwischenzeit setzte sich kannten Feldherrn“ sein Denkmal, in Form bei Samuel Schwarz irgendwie der Vorsatz einer Reportage aus fernen, antiken Zeiten, durch, seinem VR-Theater einen – so sagt die eigentlich und endlich der Vergangen- man doch heute – „analogen“ Anstrich zu heit angehören sollten wie die Hauptfigur verpassen. Das angesagte Podiumsgespräch gleichermaßen. Auch der Kirschbaum, den beginnend stellte Schwarz – nervös, offen- Lukullus nach Europa brachte, kann ihn bar noch am weiteren Verlauf des Abends nicht retten. Der Kirschbaum ist ein Natur- 16 Dreigroschenheft 1/2019
produkt; er wächst von selbst und benötigt Schweizer Hallen (noch) buchstäblich „un- Theater keine Helden zum Überleben. Das Gegen- erhört“, aber nicht zu überhören. Schwarz teil gilt: Unglücklich das Land, das Helden stürmt hinter Peymann von links nach nötig hat. Also weg mit allen Helden. rechts über die Bühne, springt die Treppen herunter, eilt nach hinten durch den Zu- Irgendwie musste Schwarz da etwas miss- schauerraum zur Tür, haut, sich umschau- verstanden haben. end, wieder drauf, diesmal im Twitter-Ton: „Du bist ein dummer, blöder, chauvini- Denn er wollte offenbar die Chance nutzen, stischer Fick-Arsch!“, und schreit, den Tür- mit Peymann als unfreiwilligem Hauptdar- griff in der Hand, „Verpiss dich!“, und ver- steller eine psychologische Despoten-Studie pisst sich selbst (nach der Erläuterung des zu inszenieren. Und dieser gab ihm, wiede- Grimm’schen Wörterbuchs: „durch Urin- rum einen ganz anderen Zusammenhang lassen entfernen“). Die Tür schlägt hinter aufrufend, das Stichwort für die „Peripetie“, ihm krachend zu. die eigentlich erst im 3. Akt an der Reihe gewesen wäre: „Es hilft nur Gewalt, wo Ge- Allgemeine Ratlosigkeit. Peymann steht walt herrscht“. Peymann zitierte den legen- langsam auf, bewegt sich langsam von der dären Satz aus der „Heiligen Johanna der Bühne, geht langsam auf Ute Haferburg, die Schlachthöfe“, um Brecht mit Georg Büch- Theaterdirektorin, zu und beide verlassen ner in die Reihe derjenigen zu stellen, die langsam den Theatersaal. Allgemeine Ruhe den „Unbekannten“, den „Alls“, wie Brecht des Entsetzens und der Verwunderung. sie, den Jargon der Inhumanität aufgreifend, nannte, eine Stimme zu geben und die an- Auf der Bühne beginnen die verlassenen onyme Gewalt, der sie ausgesetzt sind, ans Schauspieler das Spiel vom „Ins Nichts mit Licht, wenigstens der Kunst, zu zerren: „Die ihm“, in VR-Verstärkung, ein Spiel, mit dem im Dunkeln sieht man nicht“. sie sich selbst widerlegen. Schade um den Aufwand. Wieder auf der Straße hören wir Und was macht Schwarz? Er fragt Peymann: noch die fernen Töne der Schlager aus den „Wie sieht es aus mit Ihrer eigenen Gewalt, Kneipen: die Pepitas trällern mit „Pep“ ein die Sie ausüben gegen Ihre Schauspieler?“ schwungvolles „La, la, la“ und „Balla, bal- la“. Spätestens jetzt wissen wir, der BB ist Peymann bleibt ruhig, formuliert, Schwarz endgültig out: er ist der unbekannte Poet ignorierend, ins Publikum: „Lassen Sie die geworden. So will es die Zeit der „sozialen se Spielchen, ich höre sofort auf zu reden, Medien“. wenn Sie mir so dumme Fragen stellen. Ich habe Sie heute kennengelernt, Sie sind Was von ihm bleibt? Der „volksläufige“ der große Rhetoriker. Geben Sie mir zehn Spruch anonymer Herkunft: „Erst kommt Minuten, dann können Sie mich tüchtig das Fressen und dann die Moral“. Übersetzt provozieren.“ Schwarz reagiert hektisch, in die heutigen Zeiten der Menschenfluten, springt auf, ruft in die (noch geschlossene) der niemand mehr „Herr“ wird (auch die Bühne: „Ins Nichts mit ihm, wir fangen an!“ „Herr*innen“ nicht): Wir gehen den fröh- Es folgt eine kurze Pause, die ziemlich lang lichen Zeiten eines nicht mehr nur verbalen erscheint. Peymann murmelt noch, so vor Kannibalismus entgegen und schmeißen sich hin: „Das ist doch pubertär.“ mit Menschen um uns, wie die Peachums mit ihrer Tochter, die sie auf den Strich Dann der Schwall. „Es“ bricht förmlich aus schicken, um ihre Geschäfte zu schmeißen. ihm heraus. Schwarz brüllt „Du Arschloch!“ Arme Schweiz. ¶ Das ginge ja noch hin; ist jedoch in diesen Dreigroschenheft 1/2019 17
Brecht-Tage Berlin 2019: Brecht in Russland heute Brecht International 10. bis 15. Februar 2019 Thomas Martin Die Brecht-Tage 2019 stellen sich dem Um- gang mit Brechts Werk in Russland: Welche Formen der Auseinandersetzung gibt es, welche Spuren hinterlässt diese Auseinan- dersetzung und welche Folgen zeitigt sie? In der derzeitigen kontaminierten Situation Russlands in der Weltpolitik bei zeitgleicher Stagnation im Inland hat Brechts Werk – das dramatische vor allem – neues Interesse von Künstlern und Wissenschaftlern erweckt. Brechts Literatur ist aktuell. Theaterkollekti- ve arbeiten sich an Brechts Stücken ab oder entwickeln auf der Basis von Brechts Tex- ten – Prosa und Essay – Inszenierungen im öffentlichen Raum. Die großen Stücke wie „Der gute Mensch von Sezuan“, „Der kau- kasische Kreidekreis“ oder Frühwerke wie „Trommeln in der Nacht“, „Im Dickicht“ und „Mann ist Mann“ kommen neu auf die Spielpläne der renommierten Theater. Die Lehrstücke – von denen nur „Die Maß- nahme“ und „Die Ausnahme und die Re- gel“ ins Russische übersetzt sind – und das „Fatzer“-Material sprechen überraschend Theaterschaffende und Studenten gleicher- maßen an. Es scheint, dass die Situation Grafik: © Irina Rastorgueva für einen neuen Umgang bzw. einen neuen Anlauf zur Rezeption Brechts gegeben ist. deutsche. Diesen ungehemmten Umgang Es kann davon ausgegangen werden, dass mit Brechts Werk und dessen Rezeption die Beschäftigung mit diesem Autor nicht wollen die Brecht-Tage vorstellen, untersu- nur zu neuen Erkenntnissen für die Bühne chen und kommentieren. Denn daran sind und die Literatur, sondern darüber hinaus Hoffnungen geknüpft: Die gegenwärtige auch zu einer erweiterten Denkhaltung, zu Unterkühlung des deutsch-russischen The- einer Inspiration für das politische Denken ateraustauschs könnte aufgewärmt werden, führt. Schließlich sind es die Umstände des die Brücke Brecht neue Zugänge eröffnen. täglichen Lebens, die den Ausschlag geben Die Brecht-Tage 2019 sind ein Versuch in für das neu erweckte Interesse an Brechts dieser Richtung. Literatur. Projektleitung: Thomas Martin Ort: Literaturforum im Brecht-Haus Der Status des Klassikers scheint russische Eintritt, wenn nicht anders angegeben: 5 €, Theaterleute weniger zu beeindrucken als erm. 3 € 18 Dreigroschenheft 1/2019
Programm Montag, 11.2. 2019, 16 und 20 Uhr Brecht International EINTRITT 8 €, erm. 5 € Sonntag, 10.2. 2019, 20 Uhr INSZENIERUNG GESPRÄCH MIT VIDEOEINSPIE- „Ohne Pass kein Staat“ LUNGEN FLÜCHTLINGSGESPRÄCHE, „der widerspruchsvolle, prozessuale cha- Produktion Festival of Arts rakter der zustände“: Kunst vor Gericht. „The Access Point“ St. Petersburg Kirill Serebrennikow, sein Theater und ACHTUNG: AUSSER HAUS die Folgen Veranstaltungsort: Haupthalle Ostbahnhof Olga Fedianina und Sergio Morabito im Ge- (zwei Vorstellungen, 16:00 + 20:00, in Russisch spräch mit Simultanübersetzung) Der Regisseur Kirill Serebrennikow steht seit 15 Regie: Konstantin Uchitel und Vladimir Kuz- Monaten unter Hausarrest, jüngst wurde dieser netsov bis Ende April 2019 verlängert. Der Prozess, der Mit: Maxim Fomin und Sergej Wolkow ihm wegen angeblicher Veruntreuung staatlicher Brechts Dialoge, 1940/41 im finnischen Exil Fördermittel gemacht wird, ist in vieler Hinsicht geschrieben, wurden während des Access Point ein Rätsel. Klar ist: Er stellt in der Serie von Summer Festival of Arts in Sankt Petersburg Kunstprozessen, die in Russland seit der Jahrtau- 2016 erstmals aufgeführt. Die Premiere war sendwende gegen Kunst, Künstler und Kuratoren zugleich die russische Erstaufführung. Die von geführt werden, eine neue Dimension dar. Er Brecht im Hauptbahnhof von Helsinki verortete trifft einen Künstler, der sich zivilgesellschaft- Situation wurde in den Finnländischen Bahn- lich zwar durchaus engagiert, seine Kunst aber hof von Sankt Petersburg verlegt, in Wartesäle, dezidiert nicht als Mittel zum politischen Zweck Cafés, auf Bahnsteige. Über Kopfhörer mit begreift. Umgekehrt ist seiner Kunst selbst eine den Stimmen der Darsteller verbunden, kann gesellschaftliche und politische Dimension zu- das Publikum die Gespräche der Emigranten gewachsen, welche die Macht in einem Ausmaß – des Physikers Ziffel und des Metallarbeiters eingreifen ließ, das bisher führenden Oppositi- Kalle – verfolgen. Die Zuschauer können die onspolitikern vorbehalten war. Art der „Verfolgung“ selbst wählen: den Schau- Die Dramaturgin und Journalistin Olga Fediani- spielern auf dem Fuß oder sich in der Menge na, der Dramaturg und Regisseur Sergio Mo- im Verkehr auflösend, Betrachter und Spieler rabito, die beide mit Serebrennikow gerabeitet zugleich sein. Eigene Bilder und die Bilder der haben, stellen Aspekte seines Theater-, Opern-, Darstellung überlagern sich, synchronisiert Film- und Ballettschaffens im Kontext von von Stimmen und Geräuschen, während die Brechts Theatertheorie und -praxis vor. Protagonisten/Flüchtlinge über Probleme des Serebrennikow hat bisher erst ein Mal Brecht Alltags, das Exil, die Politik, über die täglichen inszeniert, 2009 die „Dreigroschenoper“ am Schwierigkeiten diskutieren. Die Relevanz die- Moskauer Künstlertheater; seine „Müllerma- ser Dialoge für unsere Gegenwart ist – nicht schine“ (2015), die bei einem Gastspiel seines nur im Berufsverkehr von Sankt Petersburg Gogol-Zentrums auch in Berlin bereits zu sehen oder Berlin – bestechend und verstörend. war, erschloss der russischen Kulturszene das Schaffen Heiner Müllers, des wohl bedeutend- Dienstag, 12.2.2019, 20 Uhr sten Dramatikers in der Nachfolge Brechts. VORTRÄGE, DISKUSSION UND PUBLI- In einem zweiten Teil informieren und diskutie- KUMSGESPRÄCH ZUM VORTAG ren Fedianina und Morabito über Hintergründe „Eine zwiespältige Freundschaft“ und Verlauf des Prozessgeschehens – in der Publikumsgespräch Hoffnung, dass dieses zum Zeitpunkt der Veran- mit Konstantin Uchitel, Regisseur der staltung bereits Geschichte ist, und Kirill Sere- FLÜCHTLINGSGESPRÄCHE, brennikow wieder in Freiheit arbeiten kann. und Thomas Martin Dreigroschenheft 1/2019 19
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