Informationen zu Bertolt Brecht - Dreigroschenheft

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Informationen zu Bertolt Brecht - Dreigroschenheft
Dreigroschenheft
      Informationen zu Bertolt Brecht

26. Jahrgang                                   Heft1/2019

Stürmisches Ende der Silberpappel in Buckow (Foto)
Schwierige Drucklegung der Svendborger Gedichte
vorschau auf das Augsburger Brecht-Festival
Brecht und die Räterepublik in Bayern
Informationen zu Bertolt Brecht - Dreigroschenheft
Sa 23.2. / 11 –14.00 Uhr / Stadtbücherei Augsburg
Neue Lyrik für Städtebewohner*innen
Mit: Nancy Hünger, Ulrich Koch, Kathrin Schmidt, Daniela Seel,
                                                                   Gestaltung: kw-neun.de

Ulf Stolterfoht und Raphael Urweider
Mehr unter www.brechtfestival.de
                                                  MEDIENPARTNER:
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Inhalt

Editorial .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 2     Brechts Svendborger Gedichte: Drucklegung
Impressum.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 2         mit Schwierigkeiten.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 24
                                                                                        Hans Christian Nørregaard
Buckow                                                                           Brecht in Magas / Inguschetien .  .  .  .  .  .  .  .  . 31
Brechts „Alte Vettel“ ist gefallen.  .  .  .  .  .  .  .  . 3                           Peter Krüger
       Margret Brademann
                                                                                 Kunst
brechtweigelhaus bekommt ein
Besucherzentrum .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 13                Brecht als Objekt „Entarteter Kunst“.  .  .  .  .  . 29
       Margret Brademann                                                                Klaus Baacke

Festival                                                                         Rezensionen

Brechtfestival für Städtebewohner*innen 22.2.–                                   Werkschöpfung, Verwertung, Erbrecht,
3.3.2019.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 4    gesellschaftliche Verantwortung.  .  .  .  .  .  .  . 36
       Tina Bühner                                                               „Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“
                                                                                     Ulrich Fischer
Der Augsburger                                                                   kurbelfertig? .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 39
War er nicht viel mehr – Antirevolutionär?. . .9                                 „Weills Dreigroschenprozess“ (mf)
Brecht, die Räterepublik in Bayern, der                                          Vom inszenierenden Lesen.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 40
Kommunismus und die Revolution                                                   „Gegenstimmen. Eine Dramendidaktik“
     Jürgen Hillesheim                                                                Florian Vaßen

                                                                                 Galilei, musterhaft.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 42
Theater
                                                                                 „Literarische Texte interpretieren: Lyrik – Prosa – Dra-
„Verpiss dich!“.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 14           ma“ (mf)
Der Eklat von Chur oder Der neue V(R)-Effekt
     Jan Knopf                                                                   Ja da muss man sich doch einfach
                                                                                 festlesen ….  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 44
Muntere Dreigroschenoper in Darmstadt:                                           „Brechts Berlin“ – randvoll mit Bildern, Infos und
Pressespiegel.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 34          Erzählungen (mf)
Glückwunsch an Regine Lutz (mf). .  .  .  .  .  . 48
                                                                                 Kleinigkeit
Brecht international
                                                                                 BB liest Tucho .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 46
Brecht-Tage Berlin 2019: Brecht in Russland                                             Michael Friedrichs
heute.  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  . 18
10. bis 15. Februar 2019
      Thomas Martin

Dreigroschenheft 1/2019
Informationen zu Bertolt Brecht - Dreigroschenheft
Editorial                                                                              Impressum

Immerhin hat die Silberpappel in Buckow          Dreigroschenheft
ihren Brecht um 62 Jahre überlebt. Kann          Informationen zu Bertolt Brecht
man bei Bäumen von „sterblichen Über-
                                                 Gegründet 1994
resten“ sprechen? In diesem Fall scheint das     Herausgeber 1994-2009: Kurt Idrizovic
angemessen. Margret Brademann hat ihr            www.dreigroschenheft.de
Ende dokumentiert.
Das Augsburger Brecht-Festival „für              Erscheint vierteljährlich zu Quartalsbeginn
                                                 Einzelpreis: 7,50 €
Städ­tebewohner*innen“ (22. Februar bis          Jahresabonnement: 30,- €
3. März) lockt eine Menge wichtiger Künst­
ler*innen und Inszenierungen in die bis-         Anschrift:
weilen immer noch unterschätzte Lechstadt        Wißner-Verlag GmbH & Co. KG
– Tina Bühner verschafft uns einen Über-         Im Tal 12, 86179 Augsburg
                                                 Telefon: 0821-25989-0
blick. Und Thomas Martin informiert über         www.wissner.com
die Brecht-Tage Berlin (10.–15. Februar).        redaktion@dreigroschenheft.de
Jürgen Hillesheim, der für das Festival eine     vertrieb@dreigroschenheft.de
Ausstellung mit umfangreichem Katalog
zum Thema Räterepublik und Brecht vor-           Bankverbindung: Wißner-Verlag GmbH & Co. KG
                                                 Stadtsparkasse Augsburg
bereitet, wirft die Frage auf, ob Brecht nicht   Swift-Code: AUGSDE77
eher als Antirevolutionär zu sehen sei.          IBAN: DE15 7205 0000 0000 0282 41
 Jan Knopf hat den Eklat um Samuel Schwarz
bei seinem Chur-Aufenthalt miterlebt und         Redaktionsleitung: Michael Friedrichs (mf)
für unsere Leser interpretiert.
                                                 Wissenschaftlicher Beirat: Dirk Heißerer, Tom Kuhn,
Hans Christian Nørregaard spürt der kom-         Joachim Lucchesi, Werner Wüthrich
plizierten ersten Drucklegung von Brechts
„Svendborger Gedichten“ im Detail nach.          Autoren in dieser Ausgabe: Klaus Baacke, Margret Brade-
Klaus Baacke hat entdeckt, dass das be-          mann, Tina Bühner, Ulrich Fischer, Michael Friedrichs,
rühmte Brecht-Porträt von Rudolf Schlich­        Jürgen Hillesheim, Jan Knopf, Peter Krüger, Thomas Martin,
                                                 Hans Christian Nørregaard, Florian Vaßen
ter, das seit 1960 im Münchner Lenbach-
haus hängt (jetzt flankiert von dem ebenso       Titelbild: Silberpappel in Buckow. Foto: Margret Brademann
erstaunlichen Helene-Weigel-Porträt), Teil
der „entarteten Kunst“ und zeitweise in der      Druck: WirmachenDruck GmbH, Backnang
Sammlung von Hildebrand Gurlitt war.
                                                 ISSN: 0949-8028
Peter Krüger fördert seit Jahren Brecht in
Inguschetien und berichtet von einer aktu-
ellen Ausstellungseröffnung in Magas.
Des weiteren haben wir wie immer Thea-                                                Gefördert durch die
                                                                                      Stadt Augsburg
terberichte, Buchbesprechungen, Kleinig-
keiten (z.B. über Brechts Anleihen bei Tu-
cholsky).                                                                             Gefördert durch den
Lesen Sie wohl!                                                                       Bert Brecht Kreis
                           Michael Friedrichs                                         Augsburg e.V.

                                                                             Dreigroschenheft 1/2019
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Brechts „Alte Vettel“ ist gefallen

                                                                                                 Buckow
    Margret Brademann

Die Atmosphäre des Brechtgartens in Buckow ist um
ein Original ärmer geworden. Brechts letzte Silberpap-
pel ist beim Sturm am Freitag, den 21. September 2018,
umgestürzt. Wir sind froh, dass der gewaltige Baum
sonst keinen Schaden angerichtet hat. Der jetzt umge-
brochene Baum stand auf dem Nachbargrundstück, wo
sich auch Brechts Arbeitszimmer mit Blick auf die bei-
den Pappeln befand. Das war die Kulisse, die er schätzte.
Sein ganzes Leben lang waren Bäume, besonders alte,
große Bäume für ihn Gleichnisse für menschliche Ei-
genschaften. Sein Wohlbefinden und damit auch seine
Produktivität wurden von ihrer Anwesenheit stark be-
einflusst. Als er die Wahl des Ortes Buckow als Schaf-      Unwissende ! schrie ich
fensort im Journal vom 14.2.1952 begründete, waren sie      Schuldbewußt.
sicher ausschlaggebend: „… finden auf schönem grund-
stück am wasser des schermützelsees unter alten großen      Laute
bäumen ein altes, nicht unedel gebautes Häuschen …“         Später, im Herbst
– Immerhin: Es gibt einen Setzling aus der Krone. Er        Hausen in den Silberpappeln große
muss noch ein paar Jahre „aufgepäppelt“ werden, dann        Schwärme
wird er an der alten Stelle eingepflanzt.                     von Krähen
                                                            Aber den ganzen Sommer durch höre
In den Buckower Elegien von 1953 ist dieser besondere       ich
Baum drei Mal ein lyrisches Bild. Ursprünglich waren        Da die Gegend vogellos ist
es zwei Silberpappeln; die andere musste bereits 2017       Nur Laute von Menschen rührend.
gefällt werden.                                             Ich bin’s zufrieden. ¶

Der Blumengarten                                              Margret Brademann leitet das
Am See, tief zwischen Tann und Silberpappel                   brechtweigelhaus in Buckow.
Beschirmt von Mauer und Gesträuch ein Garten
So weise angelegt mit monatlichen Blumen
Daß er vom März bis zum Oktober blüht.
…
Böser Morgen
Die Silberpappel, eine ortsbekannte Schönheit
Heut eine alte Vettel. Der See
Eine Lache Abwaschwasser, nicht rühren!
Die Fuchsien unter dem Löwenmaul billig und
  eitel.
Warum?
Heut nacht im Traum sah ich Finger, auf mich
  deutend
Wie auf einen Aussätzigen. Sie waren
  zerarbeitet und
Sie waren gebrochen.

Dreigroschenheft 1/2019                                                                     
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Brechtfestival für Städtebewohner*innen
Festival

           22.2.–3.3.2019
                Tina Bühner

           Das Brechtfestival 2019 widmet                                       nen ist ein Festival für Augs-
           sich dem Leben in der Groß-                                          burg, über Augsburg, mit
           stadt. Literarische Bezugsgröße                                      Augsburg(er*innen) und in
           ist Brechts Gedichtsammlung                                          Augsburg. Im Titel des Fe-
           „Aus dem Lesebuch für Städ-                                          stivals schwingt ein offener,
           tebewohner“ (1926/27). Aber                                          pluralistischer,   einladender
           auch andere Städtegedichte                                           Ton mit – ein Vorbote auf ein
           Brechts, wie „Letzte Hoffnung“                                       abwechslungsreiches Kultur-
           oder „Vom armen B.B.“ haben                                          Programm an über 20 Or-
           das Brechtfestival 2019 inspi-                                       ten in der ganzen Stadt – mit
           riert. Brecht greift in ihnen die Erfahrungen           11 Theaterproduktionen, 6 Literatur-
           des modernen Menschen in den Städten auf.               veranstaltungen, der Langen Brecht-
           Das Brechtfestival spürt diesem Lebens-                 nacht als popkulturellem Event (1.3.) und
           gefühl in der Gegenwart nach und begibt                 vielem mehr. Das diesjährige Thema tritt
           sich vom 22.2. bis 3.3.2019 auf die Spuren              dabei ganz unterschiedlich in Erscheinung.
           der Kräfte, die das Antlitz der neuen Städte            Die Stadt, sie wird besungen, bespielt und
           gestalten. Es fragt: Für wen ist diese Stadt?           erforscht. Sie ist Bühne, Thema und Schau-
           Wer gestaltet sie? Wer kontrolliert sie? Wem            platz. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und
           gehört sie? Wer soll mitbestimmen darüber,              Zukunft werden unter die Lupe genommen,
           wie das urbane Leben der Zukunft aussieht?              auf die Bühne und zur Sprache gebracht.
                                                                   Lebensbedingungen, Lebensgefühl und
           Das Brechtfestival für Städtebewoh­ner*in­              das Zusammenleben unterschiedlichster

           Das Berliner Ensemble kommt mit „Auf der Straße“ (© Julian Röder)

                                                                                      Dreigroschenheft 1/2019
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Städtebewohner*innen       spielen            beim      henden 20. Jahrhun-

                                                                                                       Festival
Brechtfestival 2019 eine Rolle.                         derts, der den Blick
                                                        auf die andere Seite
Das Publikum darf sich auf aufregende                   der gesellschaftlichen
Theatererlebnisse freuen – sowohl Gast-                 Schere richtet. „Un-
spiele als auch Produktionen aus Augsburg.              endlicher Spass“ von David Foster Wal-
Zur Eröffnung am 22.2. ist das Berliner                 lace thematisiert den an seinem Wohlstand
Ensemble mit der Recherche-Theater-Ar-                  und den Überforderungen der Gegenwart
beit „Auf der Straße“ der Regisseurin Karen             zugrunde gehenden Menschen der west-
Breece zu Gast. Breece ging ausführlich der             lichen (urbanen) Welt. Regisseur Thorsten
Frage nach, was es bedeutet, in Deutschland             Lensing hat das 1500 Seiten starke Portrait
arm zu sein, und widmet sich dem Thema                  einer Erschöpfungsgesellschaft zu einem
Obdachlosigkeit. Das Ergebnis ist eine mu-              fesselnden Theaterabend mit Starbesetzung
tige Produktion mit Schauspieler*innen                  verdichtet.
des Ensembles und von Wohnungs- und
Obdachlosigkeit betroffenen Menschen,                   Das Staatstheater Augsburg ist erneut mit
die ohne Voyeurismus und Tränendrüsen-                  einer Brecht-Premiere am Programm betei-
druck nach gesellschaftspolitischen Klassi-             ligt (23.2.). „Baal“ mit seiner entfesselten
kern fragt – sozialem Miteinander und So-               Dichterkunst, dem Wald und den Naturge-
lidarität: „... ein kluger, ziemlich großartiger        walten stellt einen Kontrapunkt zur kalten
Theaterabend“, sagt Peter Laudenbach von                und düsteren Stadtlyrik des „Lesebuchs“
der SZ.                                                 dar. Wir sind gespannt, wie Regisseurin
                                                        Mareike Mikat den Klassiker neu interpre-
Zum Finale des Brechtfestivals trifft am                tiert. Das Junge Theater Augsburg arbeitet
3.3. mit den Grimme-Preisträgern Devid                  mit „Home is where the heart is“ die
Striesow, Sebastian Blomberg, Jasna Fritzi              deutsch-amerikanische       Stadtgeschichte
Bauer und Ursina Lardi u.a. ein prominent               auf. In der Nachkriegszeit war Augsburg
und hochkarätig besetztes Ensemble auf                  einer der größten US-amerikanischen Mili-
einen der brillantesten Texte des ausge-                tärstandorte in Deutschland. 20 Jahre nach

„Antigone::Comeback“ erinnert an die legendäre Brecht-Inszenierung in Chur 1948 (© Raum + Zeit)

Dreigroschenheft 1/2019                                                                           
Informationen zu Bertolt Brecht - Dreigroschenheft
weiteren wichtigen Gesellschaftsanalytiker
Festival

                                                              und -kritiker des 20. Jahrhunderts: Rainer
                                                              Werner Fassbinder. Unter der Leitung
                                                              von Leif Eric Young geht es in der Neuin-
                                                              szenierung von „Anarchie in Bayern“ um
                                                              die gesellschaftliche Kraft von Bedrohungs-
                                                              szenarien. Premiere ist am 28.2.

                                                              Brecht hat seit früher Jugend mit kollektiven
                                                              Arbeitsweisen experimentiert. Auch in sei-
                                                              nen ästhetischen Schriften hat er über neue,
                                                              bewegliche, theatrale Formen und Kollek-
                                                              tiv-Ideen nachgedacht. Ganz bewusst wur-
                                                              den deshalb zum Brechtfestival 2019 einige
                                                              der erfolgreichsten Regie-Kollektive des
                                                              deutschsprachigen Raums nach Augsburg
                                                              eingeladen. Nicht nur in ihren Arbeitswei-
                                                              sen, sondern auch in Inhalten und Ästhetik
                                                              knüpfen sie an Brechts Arbeit an.

                                                               „Theaterkunst ist heute viel mehr als der
                                                               in einem abgedunkelten Zuschauerraum
                                                               reservierte Sitzplatz, von dem aus man in
                                                               eine Guckkasten-Bühne blickt, wo ‚die
           andcompany&Co zeigen ihr Stück „Colonia Digital“    Schauspieler wie in einem Aquarium he-
           (© Dorothea Tuch)                                   rumschwimmen‘, wie Claus Peymann es
                                                               einmal ausgedrückt hat. Beim Brechtfes­
                                                               tival 2019 begeben wir uns auf die Spu-
           Schließung der letzten US-Kaserne richtet           ren von Brechts epischem Theater und
           das Bürgerbühnenstück den Blick auf das             widmen uns als formalem Schwerpunkt
           Zusammenleben in der ehemaligen Garni-              einem erweiterten Theaterbegriff. Dafür
           sonsstadt, Premiere ist am 22.2.                    haben wir herausragende Produktionen
                                                               eingeladen, die Brechts Theatertheorie
           „Electronic City“ von Falk Richter spielt           und seine Ästhetik fortführen und den
           in einem elektronischen Metropolis, einer           theatralen und performativen Begriff auf
           globalen Stadt, die von der universalen             interessante Weise bereichern“, sagt Fes­
           Dienstleistungsindustrie beherrscht wird.           tivalleiter Patrick Wengenroth.
           Am Sensemble Theater feiert die Inszenie-
           rung von Sebastian Seidel am 22.2. Premie-         Das überwiegend weiblich besetzte Per-
           re. Eigens für das Brechtfestival richtet das      formance Kollektiv She She Pop gehört zu
           Augsburger Ensemble Bluespots Produc-              den internationalen Aushängeschildern des
           tions mit „Shitty City“ einen theatralen           experimentellen Theaters aus Deutschland
           Parcours durch die Stadt Augsburg ein, der         und feierte kürzlich sein 25jähriges Jubilä-
           die 10 Gedichte aus dem „Lesebuch“-Zyk­            um. In ihrer aktuellen Produktion „Orato-
           lus in Szene setzt. Zehn Tage lang wird die        rium – Kollektive Andacht zu einem wohl-
           Stadt zum Spielort für Brechts Lyrik (22.2-        gehüteten Geheimnis“ durchleuchten sie
           3.3.). Auf Einladung des Brechtfestivals be-       kritisch die Frage des (Privat-)Eigentums.
           fasst sich das Theter Ensemble mit einem           „Oratorium“ ist von Brechts Lehrstücktheo-

                                                                                  Dreigroschenheft 1/2019
Informationen zu Bertolt Brecht - Dreigroschenheft
rie ebenso inspiriert wie vom antiken Thea-     Im Rahmen des Ly-

                                                                                                        Festival
ter. Wer ist präsent, wer wird repräsentiert?   rik-Tages „Von diesen
Die Zuschauer sind aufgefordert, sich aktiv     Städten wird blei-
als Chor in das szenische Wechselspiel aus      ben: der durch sie
Rede und Gegenrede einzubringen. Der            hindurchging,       der
Einzelne, die Gemeinschaft und die Wech-        Wind!“ tragen sechs bedeutende zeitge-
selwirkungen aus beidem sind formal und         nössische Lyrikerinnen und Lyriker ihre
inhaltlich ununterbrochen präsent und ste-      eigenen Werke vor, die sich schwerpunkt-
hen zur Debatte. (2.3./3.3.)                    mäßig mit dem Thema Stadt befassen, und
                                                setzen diese ins Verhältnis zu ausgewählten
Gleiches gilt für die Produktion „Böse Häu-     Gedichten aus dem „Lesebuch für Städtebe-
ser“ von Turbo Pascal (24.2. und 25.2.),        wohner“ von Brecht. Die Lesung mit Nancy
einem theatralen Gedankenexperiment zu          Hünger, Ulrich Koch, Kathrin Schmidt,
Individuum und Gesellschaft. Rund 70 Zu-        Daniela Seel, Ulf Stolterfoht und Ra-
schauer bekommen per Bluetooth-Kopfhörer        phael Urweider findet in zwei Sets in der
von mehreren Performern unterschiedliche        Stadtbibliothek statt. Inspiriert von Brechts
Gedanken-Anordnungen und Mitmach-               Städte-Gedichten präsentieren Björn Gög-
aufforderungen direkt auf die Ohren. Wie        ge, Felix Römer, Leticia Wahl und Jule We-
gehen wir mit denen um, die Dinge anders        ber beim Poetry-Slam am 26.2. ihre Texte,
sehen? Inspiriert von Brechts „Mahagonny“       die Musiker Tom Jahn an den Tasten, Gi-
haben Andcompany&Co. eine Performance           risha Fernando am Bass und Stefan Brodte
entwickelt, die die sozia­listischen Anfänge    an den Drums improvisieren live dazu. Der
des Internets unter die Lupe nimmt. Wie         Hamburger Journalist und Fernseh-Repor-
konnte es dazu kommen, dass die Idee ei-        ter Michel Abdollahi moderiert das poe-
ner Kommunikation, die alle Menschen als        tische Kräftemessen.
gleichwertige Individuen vereint, sich in ihr
Gegenteil verkehrte? „Colonia Digital – The     Welche literarische Kraft steckt in der Aus-
Empire feeds back!“ spielt an einem dysto-      einandersetzung mit den hässlichen Seiten
pischen Ort nach dem großen Datencrash.
Ein Training für die schwindelerregende
Komplexität der Gegenwart (27./28.2.)

Der Regisseur Bernhard Mikeska arbei-
tet unter dem Namen „Raum+Zeit“ im
Kollektiv mit dem Autor Lothar Kittstein
und der Dramaturgin Alexandra Alt-
hoff. In ihrer Eins-zu-Eins-Performance
„Antigone::Comeback“ schicken sie die
Zuschauer*innen jeweils einzeln auf eine
Zeitreise. Ausgestattet mit einer VR-Brille,
werden sie Zeugen einer Antigone-Probe
von Bertolt Brecht und Helene Weigel am
Theater Chur im Jahr 1948. Die Konstruk-
tion subjektiver Wahrnehmung und (ver-
meintlicher) Realität ist auf faszinierende
Weise in der theatralen Form enthalten
und lädt – ganz im Geiste Brechts – zum         „Unendlicher Spaß“, auf dem Bild: Devid Striesow,
Diskurs ein.                                    Ursina Lardi (© David Baltzer/Agentur Zenit)

Dreigroschenheft 1/2019                                                                            
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Festival

           She She Pop kommt mit „Oratorium“ (© Benjamin Krieg)

           des Menschseins, wie Vereinzelung, ka-                 te, haben ihn sehr geprägt. In der biogra-
           putten Beziehungen, Armut, Erfolgsdruck                phischen Lecture „Der Morgen riecht
           und Konsumzwang? Welche Deformati-                     immer nach Raubtieren“ folgt Michael
           onen erleiden Städtebewohner*innen durch               Friedrichs Bertolt Brecht gemeinsam mit
           die sie umgebende Architektur? Wann sind               Schauspielerin Ute Fiedler durch die Stra-
           vier Wände Refugium oder Gefängnis? Im                 ßen der Großstadt Berlin (2.3.).
           Rahmen der Lesung „Dystopia Urbana“
           am 2.3. kommen die Autor*innen Dirk                    Viele weitere Veranstaltungen warten
           Bernemann („Asoziales Wohnen“), Julia                  auf die Besucherinnen und Besucher des
           von Lucadou („Die Hochhausspringerin“)                 „Brechtfestivals für Städtebewohner*innen“.
           und Johanna Maxl („Unser großes Album                  Mehr Infos zum gesamten Programm
           elektrischer Tage“) mit Festivalleiter Patrick         gibt es unter www.brechtfestival.de. Die
           Wengenroth ins Gespräch.                               Programmzeitung gibt es u. a. in der Bür-
                                                                  gerinfo am Rathausplatz. Was muss man
           Keine Stadt ohne Disko. Der 1987 in Augs-              gesehen haben? In unmittelbarer Nähe zu
           burg geborenen Schriftsteller, Dramatiker              Brechts Geburtshaus gibt es eine Woche
           und Hörspielregisseur Michel Decar in-                 vor Festivalbeginn fundierte Einblicke ins
           szeniert auf Einladung des Brechtfestivals             Programm aus erster Hand und in lockerer
           seinen gefeierten Debütroman „Tausend                  Atmosphäre beim „Brechtfestival-Talk
           deutsche Diskotheken“ als Live-Hörspiel                für Städtebewohner*innen“ mit Festi-
           (24.2.). Brecht war überzeugter Städtebe-              valleiter Patrick Wengenroth und Markus
           wohner und die Erfahrungen, die er nach                Krapf, Redaktionsleiter neue szene: Freitag,
           Augsburg und München in Berlin sammel-                 15.2.2019 um 20 Uhr in Brecht’s Bistro. ¶

                                                                                     Dreigroschenheft 1/2019
War er nicht viel mehr – Antirevolutionär?

                                                                                                 Der Augsburger
Brecht, die Räterepublik in Bayern, der Kommunismus und die Revolution
    Jürgen Hillesheim

Brecht war unbequem, hin und wieder            Erscheinung traten: allen voran Thomas
auch in der DDR. Dennoch herrschte             Mann. Inzwischen herrschen kaum noch
meist Einigkeit darüber, dass er, nach einer   Zweifel an der Doppelbödigkeit und Ambi-
„anarchischen“ Jugend, zum überzeugten         valenz dieser Beiträge. Brecht bediente sich
Kommunisten und einem exponierten              des patriotischen Pathos, weil er unter allen
Repräsentanten einer sozialistischen Ge-       Umständen erstmals eigene Texte veröf-
sellschaftsform wurde. Für sie zu kämpfen,     fentlicht sehen wollte. Dem Krieg allerdings
die Welt zu verändern, schuf er, in Theorie    stand er indifferent gegenüber. Er literari-
und Praxis, sein Episches Theater; so die      sierte ihn auf einer zweiten Textebene, um
Lehrmeinung vieler Jahre. Die Wirklichkeit     so Distanz zu ihm zu finden, ihn zur Bühne
sieht anders aus. Das zeigt die frühe Zeit,    für seine Kunst zu machen. Seit 1916 aller-
die oft nur als Phase angesehen wird, in       dings stand er dem Krieg auch offen zuneh-
der Brecht mehr den „Bürgerschreck“ mar-       mend kritisch gegenüber, verursacht durch
kierte als bedeutsame Werke zu schreiben.      das über Jahre andauernde Leid, das Brecht
Dabei entwickelte er aus seiner Wahrneh-       auch in Augsburg nicht verborgen blieb.
mung des Ersten Weltkriegs heraus und des
Elends, das dieser brachte, ein Verständnis    1918 entstand die berühmte Legende vom
der Revolution als Fortsetzung des Krieges     toten Soldaten, in der er mit dem wilhelmi-
und des Leides unter anderer ideologischer,    nischen Kriegswahn abrechnete. Im „fünf-
nun roter Flagge. Nachweisbar ist dies erst-   ten Lenz“, so das Gedicht, würde man sogar
mals in Zusammenhang mit der Rätere-           die gefallenen Soldaten ausgraben, um sie
volution, deren Auswirkungen Brecht in         wieder an die Front zu schicken. Jener gro-
Augsburg vor nun fast genau 100 Jahren         tesk gestaltete „tote Soldat“ ist jedoch inspi-
unmittelbar mitbekam. Immun gegenüber          riert durch ein Brecht direkt betreffendes
der Revolution blieb er, trotz aller Lippen-   Einzelschicksal, das Caspar Nehers, seines
bekenntnisse, bis zu seiner Zeit in der DDR.   Augsburger Freundes und späteren be-
Das zeigen Konstanten seines Werkes.           rühmten Bühnenbildners. Dieser war, nach
                                               freiwilliger Meldung, knapp vier Jahre im
Als der Krieg begann, war Brecht sechzehn      Krieg, wurde verwundet, verschüttet, und
Jahre alt. Schon längst wollte er ein großer   ebenfalls wieder „ausgegraben“, um erneut
Dichter werden. Erste literarische Versuche    zu marschieren. Es ist der Missbrauch des
waren in einer Schülerzeitschrift erschie-     Individuums, der Brecht zu diesem Gedicht
nen. Nun, ab 8. August 1914, hatte er als      bewegte. Diese poetische Warnung an Ne-
Autor Zugang zu gleich zwei Augsburger         her, sich sobald wie möglich der lebensbe-
Tageszeitungen. Kleinere Auftragsarbeiten      drohlichen Situation zu entziehen, wuchs
verfasste er, hauptsächlich Lyrik. Den of-     sich aus zur virtuosen Generalabrechnung
fenkundigen Nationalismus seiner Texte         mit dem Wilhelminismus, die Bestandteil
kaufte man ihm lange ab bzw. man sah ihn       vieler Kabarettprogramme der Weimarer
dem jungen Gymnasiasten nach, gerade           Republik wurde.
auch angesichts der Tatsache, in welcher
Weise da andere etablierte Schriftsteller in   Brecht selbst hatte sich vor einem Einsatz

Dreigroschenheft 1/2019
an der Front erfolgreich drücken können.
Der Augsburger

                 Er erlebte das Ende des Krieges in Augs-
                 burg als Militärkrankenwärter. Das war er
                 auch noch für kurze Zeit, als in Berlin und
                 München im November 1918 Republiken
                 ausgerufen wurden. Sie inspirierten ihn zu
                 seiner Revolutionskomödie Trommeln in
                 der Nacht, deren erste Fassung, noch unter
                 dem Titel Spartakus, in wenigen Wochen
                 fertiggestellt war. Wie Caspar Neher war
                 auch Andreas Kragler, der Protagonist, vier
                 Jahre im Krieg. Nach seiner Heimkehr muss
                 er feststellen, dass seine ehemalige Verlobte
                 Anna, die Tochter eines wohlhabenden Ge-
                 schäftsmanns, von einem anderen schwan-
                 ger ist. Daher ist für den so entehrten Krag-
                 ler kein Platz mehr in dieser Kriegsgewinn-
                 lergesellschaft. Was wäre da konsequenter
                 als sich den Räterevolutionären anzuschlie-
                 ßen, die ihn anwerben wollen, und dabei zu
                 helfen, diese Gesellschaft hinwegzufegen?
                 Tut Kragler aber nicht. Anstatt wieder an
                 eine Front zu marschieren, selbst wenn
                 dies eine andere wäre, geht er am Schluss       Brecht posiert mit von seinem Freund Otto Bezold 1918
                 in das „große, weiße Bett“ seiner Verlobten.    entwendeten Totenschädeln: Tod, wo ist dein Stachel?
                 Er nimmt sie zurück, mitsamt ihres unge-        oder: Der doppelte Hamlet
                 borenen Kindes, und wird ein angesehener
                 Bürger, der für sich ausgesorgt haben wird.     Wie dieser Krieg aussieht, zeigt der in glei-
                 Der Zuschauer, der expressionistisches          cher Zeit entstandene Gesang des Soldaten
                 Aufbruchspathos erwartet, ist düpiert und       der Roten Armee. Jener Soldat ist Täter und
                 mit ihm die Revolutionäre.                      Opfer zugleich. Explizit wird die rote Fah-
                                                                 ne als „unmenschlich“ bezeichnet. Die, die
                 Dass Brecht deren Aktionen tatsächlich als      ihr folgen, haben „Tigergebisse“, sie bringen
                 schlichte Fortsetzung des Krieges betrach-      Leid, doch „niemals Freiheit“. Brandschat-
                 tet, lässt sich philologisch nachweisen und     zend, mordend und dabei sein Selbst ver-
                 zwar eindeutig. In das Stück ist die Legende    lierend, zieht der Soldat der „roten Armee“
                 vom toten Soldaten integriert. Sie wird ge-     durch eine Vielzahl von Höllen, die an Dante
                 sungen, als Kragler für die Räterevolution      Alighieris Divina Commedia erinnern. Er
                 geworben werden soll. Der Krieg sei, wie        kommt an, „mit blutbefleckten, leeren Hän-
                 gesagt, im „fünften Lenz“. Wenn man nach-       den“ und einem „Herz, versehrt von Eis“ im
                 rechnet, kommt man damit exakt auf das          „Paradeis“ der kommunistischen Ideologie,
                 Frühjahr 1919, die Zeit der Räteunruhen         das die schlimmste aller Höllen ist. Es war
                 in Bayern und des Spartakus-Aufstandes          der kommunistische Politiker und spätere
                 in Berlin. Die Revolutionäre führen also        Kulturfunktionär Alexander Abusch, der
                 Krieg, und der Einzelne tut gut daran, sich     empört von Brechts Gedicht war und ihn
                 fern zu halten, will er nicht unter die Räder   nach dessen erstmaligem Erscheinen 1925
                 geraten.                                        zur Rede stellte. Angesichts der Eindeutig-
                                                                 keit und Radikalität der Bilder des Gedichts

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gelang es Brecht nicht, sich überzeugend zu      wurde, für zwei Nächte in seiner Mansarde

                                                                                                  Der Augsburger
erklären. Er führte an, ja nicht die sowje-      versteckte, bis er gefahrlos ins Ausland flie-
tische rote Armee, nicht die Oktoberrevo-        hen konnte. Brecht selbst allerdings blieb an
lution gemeint zu haben, sondern die deut-       diesen beiden Tagen seiner Mansarde fern.
sche, die fast in Zusammenhang mit den           Der Altruismus hatte seine Grenzen. Mit
Aufständen um die Räterevolution entstan-        großer Wahrscheinlichkeit wollte Brecht
den wäre. Als ob diese weniger „rot“ gewe-       Prem, mit dem er wenig zu tun hatte, ins
sen wäre. Abusch war, aus seinem Blickwin-       Exil verhelfen, damit er sich besser an des-
kel, mit Recht entsetzt.                         sen Frau, mit der er bereits Jahre zuvor recht
                                                 eng gewesen war, heranmachen konnte.
Brecht selbst verhielt sich in Augsburg um
Ostern 1919, als es zu räterevolutionären        Paula Banholzer, die Mutter seines ersten
Ausschreitungen kam, ähnlich wie im Er-          Sohnes Frank, war zu Zeiten der Unruhen
sten Weltkrieg, zu Zeiten des „Augusterleb-      im Allgäu, um der Geburt entgegenzusehen;
nisses“: Wieder war etwas los in Augsburg,       sie hatte Augsburg auf Geheiß ihres Vaters
Teile der Bevölkerung auf den Beinen, wie-       verlassen müssen, weil der angesehene Arzt
der beobachtete Brecht distanziert, disku-       einen Skandal wegen des unehelichen Kin-
tierte mit den Räterevolutionären, machte        des fürchtete. An Banholzer schreibt Brecht
sich wichtig, verschaffte sich über sie Publi-   am 15. April 1919 und stilisiert sich zum
kationsmöglichkeiten, ließ sich aber nicht       „Bolschewisten“, der er nun geworden sei.
vereinnahmen. Für die USPD-Zeitung               Großen Einfluss habe er unter den Rätere-
Volkswille konnte er, nach den revolutio-        volutionären, und nicht zuletzt ihm sei es
nären Unruhen, von Oktober 1919 bis Janu-        zu verdanken, dass es in Augsburg nicht zu
ar 1921, über zwanzig Theaterkritiken und        größeren Gewalttätigkeiten käme. Liest man
Essays schreiben. Provokant, radikal anti-       einige Sätze weiter, erfährt man, dass Brecht
bürgerlich waren seine Beiträge, in denen er     mit den revolutionären Unruhen nicht viel
seinen Vorstellungen von Kunst Ausdruck          zu tun gehabt haben kann. Als Tage zu-
verleihen und als scharfer Theaterkriti-         vor die Situation in der Stadt bedrohlich
ker in der Manier Alfred Kerrs erscheinen        schien, verließ er nämlich das Haus nicht.
wollte. Alles andere jedoch als revolutionär     Angeblich ließ sein Vater ihn nicht gehen,
sind diese Texte. Nicht eine einzige direkte     aus Angst, dass dem Sohn etwas passieren
politische Parole ist in ihnen zu finden. Al-    könnte. Auch hatten sich die Augsburger
lerdings führte eine dieser Besprechungen        Räte schon am 13. April den Bedingungen
zu einem Strafverfahren gegen Brecht, weil       der Regierung Hofmann unterworfen, es
er in einer seiner Kritiken eine Augsburger      herrschte also weitgehend Ruhe.
Schauspielerin beleidigt hatte.
                                                 Dann wechselt Brecht das Thema, um, wie
In Kontakt mit den Redakteuren des Volks-        er schreibt, „zu Wichtigerem“ zu kommen.
willen gelangte Brecht über Lilly Prem, die,     Das war sein erstes großes Drama Baal,
gemeinsam mit ihrem Mann Georg, in               dessen Protagonist ein sensibles wie gleich-
Augsburg zu den exponiertesten Rätere-           zeitig brutales, übersteigertes Individuum
volutionären zählte, Resolutionen verfasste      ist, das in den Spuren von Nietzsches Za-
und Agitation betrieb. An der jungen Frau        rathustra wandelt; nichts weniger als ein
war Brecht interessiert, ihrem Werben für        „Antirevolutionär“ par excellence. Brecht
die Revolution widersetzte er sich jedoch.       tat zu dieser Zeit alles, um das Theaterstück
Die einzige wirkliche Tat vollbrachte er         endlich auf die Bühne zu bringen.
nach der Niederkämpfung der Unruhen,
indem er Georg Prem, nach dem gefahndet          Brecht begann, sich in der Gesellschaft der

Dreigroschenheft 1/2019                                                                     11
Weimarer Republik zu etablieren, mit viel        Luxemburg aus etwa gleicher Zeit. Was
Der Augsburger

                 Geschick und moralischer Flexibilität; in        bleibt, ist tiefste Resignation.
                 gerade der Gesellschaft, die er wie kein an-
                 derer mit den Mitteln seines Epischen The-       Noch deutlicher ist Brechts Revolutionskri-
                 aters analysierte und als veränderbar erwei-     tik im Lehrstück Die Maßnahme (1930/31).
                 sen wollte. Die Eigenschaften, die für dieses    Als rigide marxistisch galt es stets, war aber
                 Emporkommen notwendig waren, nannte              auch bei Kommunisten höchst umstritten,
                 er später in seinem Lyrikzyklus Aus dem          die ihre Ideologie nicht in dieser Art rigide
                 Lesebuch für Städtebewohner (1926/27):           zuende gedacht und schon gar nicht vorge-
                 Schläue, Abgeklärtheit und Empathielo-           führt haben wollten. Ein „junger Genosse“
                 sigkeit; Eigenschaften, die Brecht selbst in-    betreibt mit anderen in China verdeckte
                 ternalisiert hatte. Ein erster großer Erfolg     Agitation und wird, da er durch sein spon-
                 war die Verleihung des Kleist-Preises 1922,      tanes Mitgefühl und seine Disziplinlosig-
                 den er unter anderem für Trommeln in der         keit, die ihn zu altruistischen Taten hinreißt,
                 Nacht erhalten hatte. Mit der Dreigroschen-      von den anderen getötet. Denn er gefährdet
                 oper hatte er es geschafft. Ihre Urauffüh-       die revolutionäre Aktion. Ein Kontrollchor
                 rung am 31. August 1928 war gleichbedeu-         legitimiert die Ermordung im Interesse des
                 tend mit Brechts internationalem Durch-          Kommunismus. Brecht allerdings verdeut-
                 bruch. Konsequent vermarktete er den             licht auf einer durchgängig nachweisbaren
                 Erfolg, verdiente Geld mit dieser Art von        zweiten semantischen Ebene, dass sich hier
                 letztlich kulinarischer Gesellschaftskritik,     eine profane Passion vollzieht, ein Indivi-
                 deren Musik Kurt Weill geschrieben hatte.        duum ans Kreuz genagelt wird, künstlerisch
                 Den hatte Brecht bei den Vertragsverhand-        realisiert u.a. mit Zitaten aus der Musik der
                 lungen übervorteilt. Er war nun tatsächlich      Matthäus-Passion Bachs. Die Kontinuität
                 „ganz oben“, ein „Städtebewohner“, dessen        der revolutionskritischen Haltung Brechts
                 Prototyp er mit Andreas Kragler geschaffen       erweist sich dadurch, dass er abermals auf
                 hatte.                                           Material der Legende vom toten Soldaten
                                                                  zurückgreift. Die „Grablegung“ des „jungen
                 Dass Brecht nicht ideologiefähig war und         Genossen“ ruft die des „toten Soldaten“ auf;
                 dies auch blieb, zeigte sich, trotz oberfläch-   nur dass der „junge Genosse“ nicht aufer-
                 licher Annäherung an den Kommunismus,            stehen wird. Er ist Opfer der Revolution,
                 auch in dieser Zeit: z.B. im Fatzer-Frag-        sein Tod ein Skandalon. Sein Gesicht wird
                 ment, das während mehrerer Arbeitspha-           im Kalk zerstört, „ausgelöscht“. So wird
                 sen zwischen 1926 und 1930 entstand. Zwar        nachgeholt, dessen er sich zuvor erwehrt
                 wird der im Krieg psychisch deformierte          hatte, ein kommunistischer „Massemen-
                 Protagonist Fatzer, der desertierte, als über-   sch“, ein „leeres Blatt“ zu sein, „auf das die
                 potenziertes Individuum und Ungeheuer            Revolution ihre Anweisungen schreibt“.
                 dargestellt, die immer wieder ins Spiel ge-
                 brachte Revolution und die Gesellschaft,         Im Exil sang Brecht etliche „Loblieder des
                 für die sie steht, erscheint jedoch in glei-     Kommunismus“, hinter deren Botschaften
                 cher Weise als inhuman, weil in ihr das In-      stand er nicht. Als er 1934 seine antifaschi-
                 dividuum, das ihm je Eigene, zerstört wird.      stische Sammlung Lieder, Gedicht, Chöre
                 Der sozialistische „Massemensch“, so heißt       veröffentlichte, in der gleichfalls die Legen-
                 es, ist einer ohne Kopf, ohne Gesicht, damit     de vom toten Soldaten enthalten ist, änderte
                 wertlos, ausgeliefert der Manipulation und       Brecht jenen die Revolution als Krieg ent-
                 Instrumentalisierung durch andere. Ähn-          larvenden „fünften Lenz“ in einen „vierten
                 liches formulierte Brecht auch in einem nur      Lenz“, um nun auf den „imperialistischen“
                 kleinen Fragment eines Stücks über Rosa          Krieg zu deuten. Das verstand er unter „Ge-

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brauchswert“ von Dichtung, die nie „fertig“               brechtweigelhaus bekommt ein

                                                                                                          Der Augsburger
sein dürfe und der aktuellen Situation an-                Besucherzentrum
passbar sein müsse. In der DDR machte er,
der vielfach als Ketzer angesehen wurde,                      Margret Brademann
oft keinen Hehl aus seinen Vorbehalten. In
den Buckower Elegien lässt Brecht Stalin die
„Musen prügeln“, und Kunst und Künstler
erscheinen bildlich als schön anzuschau-
ende Silberpappel, die im Garten der DDR
zerdrückt wird. Brecht blieb in diesem Gar-
ten, in dem ihm immerhin ein eigenes The-
ater zur Verfügung gestellt wurde.

Wie aber ging es mit Trommeln in der Nacht
und Andreas Kragler weiter? Brecht lavierte
wie immer, distanzierte sich von seinem
Protagonisten, arbeitete das Drama mehr-
mals um. Das antirevolutionäre Ende ließ er               Das brechtweigelhaus bekommt ein Be-
unberührt, bis zu seinem Tod, Kragler und                 sucherzentrum! Nach einem Architektur-
sich selbst insofern wieder die Treue hal-                wettbewerb wurde am 15.11. der Sieger-
tend. Posthum allerdings wurde das Stück                  entwurf im Landratsamt des Landkreises
im Umfeld des Berliner Ensembles bearbei-                 Märkisch-Oderland in Seelow gekürt. Der
tet, mit Kommentaren versehen und so auf                  Neubau soll als eingeschossiger Holzkör-
DDR-Linie gebracht. Brechts Witwe Helene                  per mit Lärchenholzschalung gebaut wer-
Weigel gab dies als letztgültige Fassung aus,             den. https://www.moz.de/artikel-ansicht/
die es aber nie auf die Bühne schaffte, von               dg/0/1/1692629/ . Mehr Infos unter: http://
einer Lesung in München 1966 abgesehen.                   maerkisch-oderland.de/cms/front_content.
Ein einziges Typoskript dieser Bearbeitung,               php?idcat=835&idart=5692. Vorausgegan-
das die Literaturfälschung dokumentiert,                  gen war eine längere Planungsphase, in der
ist noch erhalten und im Besitz der Staats-               unter Mitwirkung des Brandenburgischen
und Stadtbibliothek Augsburg. Es ist eines                Landesamtes für Denkmalpflege und der
der Exponate der großen Ausstellung „…                    Akademie der Künste über die Bebaubar-
vollends ganz zum Bolschewisten geworden                  keit des Künstlergartens beraten wurde.
…? Die Räterepublik 1919 in der Wahrneh-                  Nach anfänglichen Vorbehalten kann ein
mung Bertolt Brechts, die von 1. März bis                bisher ungenutztes Areal im südöstlichen
30. April 2019 sein ambivalentes Verhältnis               Teil des Grundstückes genutzt werden. Um
zur Räterepublik und zur Revolution im                    das architektonisch wertvolle, denkmalge-
Allgemeinen dokumentiert. ¶                               schützte Atelierhaus (die sog. Eiserne Villa)
                                                          den Besuchern vollständig zu öffnen, soll
  Prof. Dr. Prof. h.c. Jürgen Hillesheim leitet die       der Museumsshop mit Eintrittskasse, Ar-
  Brecht-Forschungsstätte Augs­burg                       beitsplätze sowie Depots für Archiv und Bi-
  Nachdruck mit freundlicher Genehmigung                  bliothek ausgelagert werden, die z. Z. einen
  aus: Frankfurter Allgemeine, 17.11.2018                 Großteil des Atelierhauses für Gäste unzu-
                                                          gänglich machen. Darüber hinaus wird ein
                                                          Raum für Sonderausstellungen, Veranstal-
                                                          tungen und Vorträge das Atelierhaus entla-
	 Ausstellung in der Staats- und Stadtbibliothek Augs-
   burg. Es erscheint ein umfangreicher Katalog im        sten. Der authentische Ort kann dann der
   Wißner-Verlag, ISBN 978-3-95786-196-2.                 reinen Besichtigung dienen. ¶

Dreigroschenheft 1/2019                                                                             13
„Verpiss dich!“
Theater

          Der Eklat von Chur oder Der neue V(R)-Effekt
                Jan Knopf

          In Zeiten der alltäglichen Prüderie ist der    arme BB heutzutage mit seiner Radiothe-
          öffentliche Ton derb geworden; das scheint     orie und den „mitspielenden“ Lehrstücken
          eine widersprüchliche Feststellung zu sein,    die gängigen Shitstorm-Muster kritisch ab,
          ist aber (leider) wahr. Mann trägt zwar zum    sozusagen von links außen, und verhilft
          Schwimmen lange, übers Knie reichende          sich selbst zu neuer, ungeahnter Auferste-
          schlabbrige Pumphosen, darunter mög-           hung im Recycling-Format. Statt Distribu-
          lichst noch die novembergraue Unterhose        tion (zu Deutsch: Zerstreuung = bloße Un-
          von Calvin Klein und zieht sich beim Du-       terhaltung) gibt es nun endlich die aktive
          schen nicht aus, hat aber eine große Schnau-   Kommunikation (zu Deutsch: das Usen =
          ze, wenn es an das anonyme Auskotzen per       das Mitmachen). Der Volksempfänger ist
          Facebook oder Twitter geht, „Shitstorm“        zur Gegensprechanlage geworden. Wir
          genannt. Da flutscht das ganze Arsenal von,    werden endlich alle „sozial“, und die Demo-
          wie sagte man in uralten Zeiten, „nicht hof-   kratie siegt, denn alle machen mit und kön-
          fähigen“ Beschimpfungen, wie „Alte Fotze“,     nen folglich nicht fehlgehen. Zu Zeiten der
          „Motherfucker“, „Schwanzlutscher“ vom          68er-Revolte figurierte diese Argumentati-
          Wischmob der Smartphones. Parallel dazu        on gegen die Schlagzeilen von BILD unter:
          steht im Öffentlich-Rechtlichen das salon-     „Fresst Scheiße! Zehn Millionen Fliegen
          fähige „Arschloch“ als Lieblingswort un-       können nicht irren.“
          serer neuen Hofpoeten, der so genannten
          Kabarettisten von Dieter Nuhr über Torsten     In der IT-Version heißt dies: Der alte V-
          Sträter bis zu Sebastian Puffpaff, für das     Effekt geht über in die aktuelle Erkundung
          Maul der Satire und produziert Dünnpfiff.      des „V(R)-Effektes“. Die „Immersion“ (zu
                                                         Deutsch: das Untertauchen) reißt nicht nur
          Nichts Böses ahnend fuhr ich zum groß an-      die 4. Wand (zum Publikum) nieder; es fal-
          gekündigten Festival „Brecht!/BB18“ in die     len vielmehr alle Wände, und der Mensch
          seriöse Schweiz, genauer nach Graubün-         gelangt endlich über die vernetzten Ap-
          den, in das uralte Städtchen Chur, das im      parate zur unmittelbar individuellen Er-
          Herbst 2018 als „Camp der Zukunft“ Furore      fahrung der grenzenlosen Bodenlosigkeit.
          machen sollte. Zu feiern war der 70. Jahres-   Das nennt sich „Digital-Theater“, zelebriert
          tag der Inszenierung von Brechts „Die An-      von der Truppe um Samuel Schwarz (Zü-
          tigone des Sophokles“ (in der Übersetzung      rich), und öffnet seit wenigen Jahren auch
          Hölderlins). Noch mehr gepriesen werden        im Theater radikal den Gegensprechkanal,
          sollte der (nicht ganz) neu entdeckte, aber    den neuen Kult des „Theaters als Kritik“
          umso gewichtigere Medien-Guru BB. Das          oder auch des „Theaters 4.0“ oder „Enjoy
          neue Format der V(R)-Effekte (= Connec-        Complexity“ (zu komplex zum „Umdeut-
          tion von Verfremdung und Virtual Reality)      schen“).
          fegt über die Bühne und öffnet die Kommu-
          nikationsräume weit, weit: web 2.0 auf dem     Es war das schönste Herbstwochenende
          Theater.                                       seit Jahrhunderten. Die Veranstalter von
                                                         „BB18!“ hatten bei ihrer Planung weder das
          Als Pionier der „social media“ sichert der     tolle Wetter noch die noch tollere Schlager-

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Theater
Der Schweizer Brechtexperte Werner Wüthrich (links) und Regisseur Claus Peymann mit der Churer Theaterdirek-
torin Ute Haferburg (kurz vor dem Auftritt fotografiert von Martin Dreier)

parade, „den größten Schweizer Kultanlass                digitale Welt mit anspruchsvollen und
des deutschen Schlagers“ (so die Werbung),               kulturellen Inhalten füllten“ (so der neue
beachtet. Chur wälzte sich in Flower Po-                 Dortmunder Regie-Star Kay Voges), dann
wer, trug von der SBB verteilte rote Herz-               vergäßen sie, danach zu fragen „was“ sie da
chen-Sonnenbrillen, trällerte „Hossa Nova“               denn „füllten“. Keine Frage gilt den Vorga-
und „Itsy Bitsy“, zog mit Guildo Horn und                ben der Formate, den technischen Zwängen
Dschinghis Khan durch die bunte, sonnen-                 der Apparate, die sich auf der Churer Büh-
durchleuchtete Innenstadt, interessierte                 ne so ausbreiteten, dass für die Darsteller
sich für die Zukunft nur mäßig und für den               Kabelhüpfen statt Spielen angesagt war.
BB überhaupt nicht.
                                                         Sollen die Apparate funktionieren, set-
Dann machte ich auch noch zusammen                       zen sie, noch bevor sie überhaupt in ac-
mit Werner Wüthrich, dem Schweizer BB-                   tion kommen, radikale (und unbewusste)
Experten, den Fehler, vor dem Auftritt des               Anpassung, ständige Wiederholung und
„Stargastes“ Claus Peymann die Pionierrol-               unabsehbare Reproduktion voraus. In der
le des armen BB für die, wie ich sie nann-               Kriegsmetaphorik hieß das einmal: Trom-
te, „asozialen Medien“ in Frage zu stellen.              melfeuer. Die Selbst-Ermächtigung schlägt
Nichts mit Kommunikation, totale Verein-                 um in die Entmachtung des Selbst. Heraus
zelung sei längst Trumpf, so unser zarter                kommen die neuen Medienzitterer, die ihre
Versuch einer faktischen Kritik.                         Umwelt nicht mehr erkennen.

Wenn die Vorreiter von Theater 4.0 mein-                 Diese Kardinalfrage auch nur anzusprechen
ten – so führten Wüthrich und ich von der                angesichts des leeren Zuschauerraums, an-
Bühne herab im Zwiegespräch aus –, sie                   gesichts des auf seinen Auftritt wartenden
könnten im Theater die „Selbstermäch-                    Peymann als ziemlich einsamen Zuhö-
tigung“ wieder erlangen, indem sie „die                  rers, angestachelt womöglich durch den

Dreigroschenheft 1/2019                                                                                   15
bastelnd – seinen Gast vor und
Theater

                                                                        versuchte, ihn mit einigen Fra-
                                                                        gen herauszulocken. Sein „An-
                                                                        liegen“ war (wie er es am 10.
                                                                        Oktober 2018 in der „Nachtkri-
                                                                        tik“ formulierte), die „Heroen
                                                                        des 20. Jahrhunderts“ zu schlei-
                                                                        fen, diejenigen, die den Jungen
                                                                        „seit langer Zeit jegliche Neue-
                                                                        rung des Theaters“ verbauten,
                                                                        den Garaus zu bereiten: zu de-
                                                                        monstrieren an Claus Peymann.
                                                                        Die Maxime also lautete nach
                                                                        „BB18“: „ins Nichts mit ihm“.

                                                                           Bis dahin freilich wussten wir
                                                                           alle noch nicht, weshalb Schwarz
                                                                           ausgerechnet Brechts „Verhör
                                                                           des Lukullus“ als Digital-The-
                                                                           ater-Hörspiel zum glorreichen
          Peymann und Samuel Schwarz (unscharfer Schnappschuss von Mar-
                                                                           Finale des „Camps der Zukunft“
          tin Dreier, der hauptsächlich gerade filmte)                     angesetzt hatte. Nach meiner
                                                                           unmaßgeblichen Meinung han-
                                                                           delt das Stück davon, die großen
          Zwischenruf des zweiten Zuhörers, was Helden der Geschichte und ihre „Denkmä-
          wir, Wüthrich und ich, da ausführten, sei ler“ nicht nochmals dadurch zu rechtferti-
          „Schwachsinn“, ließ Samuel Schwarz einen gen, dass man – wie seit dem 1. Weltkrieg
          (germanischen) Kultfilm von Arne Vogel- eingeführt (als die toten Massen unüber-
          sang einspielen, der den gerade aufgeru- schaubar wurden) – nun auch dem „Unbe-
          fenen Schwachsinn prächtig in der Repro- kannten Soldaten“ (Singular!) ein Denkmal
          duktion der allbekannten Helden-Formate setzte. Vielmehr wären, so die Hoffnung
          bestätigte. Das wäre „natürlich“ alles iro- BBs, „alle“ danach zu befragen, ob sie etwas
          nisch und deshalb äußerst kritisch gemeint. Bleibendes, Nützliches, Brauchbares, Schö-
          Widerspruch war schon kaum mehr mög- nes für die Menschheit geleistet hätten. Da
          lich. Pause.                                          könnte das Ergebnis niederschmetternd
                                                                ausfallen.
          Die Pause fiel viel zu lang aus, weil die
          Apparate zu richten waren. Der Zuschau- An ihren Werken, an den Resultaten ihrer
          erraum „füllte“ sich nur sehr bedingt um „Arbeit und Mühe“, werdet ihr sie erken-
          weitere Interessenten, obwohl die „deutsche nen. So widmete der BB 1940, zur Zeit des
          Theaterlegende Claus Peymann“ ihren Auf- letzten „Aufstiegs“ Hitlers, dem „Unbe-
          tritt hatte. In der Zwischenzeit setzte sich kannten Feldherrn“ sein Denkmal, in Form
          bei Samuel Schwarz irgendwie der Vorsatz einer Reportage aus fernen, antiken Zeiten,
          durch, seinem VR-Theater einen – so sagt die eigentlich und endlich der Vergangen-
          man doch heute – „analogen“ Anstrich zu heit angehören sollten wie die Hauptfigur
          verpassen. Das angesagte Podiumsgespräch gleichermaßen. Auch der Kirschbaum, den
          beginnend stellte Schwarz – nervös, offen- Lukullus nach Europa brachte, kann ihn
          bar noch am weiteren Verlauf des Abends nicht retten. Der Kirschbaum ist ein Natur-

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produkt; er wächst von selbst und benötigt      Schweizer Hallen (noch) buchstäblich „un-

                                                                                               Theater
keine Helden zum Überleben. Das Gegen-          erhört“, aber nicht zu überhören. Schwarz
teil gilt: Unglücklich das Land, das Helden     stürmt hinter Peymann von links nach
nötig hat. Also weg mit allen Helden.           rechts über die Bühne, springt die Treppen
                                                herunter, eilt nach hinten durch den Zu-
Irgendwie musste Schwarz da etwas miss-         schauerraum zur Tür, haut, sich umschau-
verstanden haben.                               end, wieder drauf, diesmal im Twitter-Ton:
                                                „Du bist ein dummer, blöder, chauvini-
Denn er wollte offenbar die Chance nutzen,      stischer Fick-Arsch!“, und schreit, den Tür-
mit Peymann als unfreiwilligem Hauptdar-        griff in der Hand, „Verpiss dich!“, und ver-
steller eine psychologische Despoten-Studie     pisst sich selbst (nach der Erläuterung des
zu inszenieren. Und dieser gab ihm, wiede-      Grimm’schen Wörterbuchs: „durch Urin-
rum einen ganz anderen Zusammenhang             lassen entfernen“). Die Tür schlägt hinter
aufrufend, das Stichwort für die „Peripetie“,   ihm krachend zu.
die eigentlich erst im 3. Akt an der Reihe
gewesen wäre: „Es hilft nur Gewalt, wo Ge-      Allgemeine Ratlosigkeit. Peymann steht
walt herrscht“. Peymann zitierte den legen-     langsam auf, bewegt sich langsam von der
dären Satz aus der „Heiligen Johanna der        Bühne, geht langsam auf Ute Haferburg, die
Schlachthöfe“, um Brecht mit Georg Büch-        Theaterdirektorin, zu und beide verlassen
ner in die Reihe derjenigen zu stellen, die     langsam den Theatersaal. Allgemeine Ruhe
den „Unbekannten“, den „Alls“, wie Brecht       des Entsetzens und der Verwunderung.
sie, den Jargon der Inhumanität aufgreifend,
nannte, eine Stimme zu geben und die an-        Auf der Bühne beginnen die verlassenen
onyme Gewalt, der sie ausgesetzt sind, ans      Schauspieler das Spiel vom „Ins Nichts mit
Licht, wenigstens der Kunst, zu zerren: „Die    ihm“, in VR-Verstärkung, ein Spiel, mit dem
im Dunkeln sieht man nicht“.                    sie sich selbst widerlegen. Schade um den
                                                Aufwand. Wieder auf der Straße hören wir
Und was macht Schwarz? Er fragt Peymann:        noch die fernen Töne der Schlager aus den
„Wie sieht es aus mit Ihrer eigenen Gewalt,     Kneipen: die Pepitas trällern mit „Pep“ ein
die Sie ausüben gegen Ihre Schauspieler?“       schwungvolles „La, la, la“ und „Balla, bal-
                                                la“. Spätestens jetzt wissen wir, der BB ist
Peymann bleibt ruhig, formuliert, Schwarz       endgültig out: er ist der unbekannte Poet
ignorierend, ins Publikum: „Lassen Sie die­     geworden. So will es die Zeit der „sozialen
se Spielchen, ich höre sofort auf zu reden,     Medien“.
wenn Sie mir so dumme Fragen stellen.
Ich habe Sie heute kennengelernt, Sie sind      Was von ihm bleibt? Der „volksläufige“
der große Rhetoriker. Geben Sie mir zehn        Spruch anonymer Herkunft: „Erst kommt
Minuten, dann können Sie mich tüchtig           das Fressen und dann die Moral“. Übersetzt
provozieren.“ Schwarz reagiert hektisch,        in die heutigen Zeiten der Menschenfluten,
springt auf, ruft in die (noch geschlossene)    der niemand mehr „Herr“ wird (auch die
Bühne: „Ins Nichts mit ihm, wir fangen an!“     „Herr*innen“ nicht): Wir gehen den fröh-
Es folgt eine kurze Pause, die ziemlich lang    lichen Zeiten eines nicht mehr nur verbalen
erscheint. Peymann murmelt noch, so vor         Kannibalismus entgegen und schmeißen
sich hin: „Das ist doch pubertär.“              mit Menschen um uns, wie die Peachums
                                                mit ihrer Tochter, die sie auf den Strich
Dann der Schwall. „Es“ bricht förmlich aus      schicken, um ihre Geschäfte zu schmeißen.
ihm heraus. Schwarz brüllt „Du Arschloch!“      Arme Schweiz. ¶
Das ginge ja noch hin; ist jedoch in diesen

Dreigroschenheft 1/2019                                                                  17
Brecht-Tage Berlin 2019: Brecht in Russland heute
Brecht International

                       10. bis 15. Februar 2019
                             Thomas Martin

                       Die Brecht-Tage 2019 stellen sich dem Um-
                       gang mit Brechts Werk in Russland: Welche
                       Formen der Auseinandersetzung gibt es,
                       welche Spuren hinterlässt diese Auseinan-
                       dersetzung und welche Folgen zeitigt sie?
                       In der derzeitigen kontaminierten Situation
                       Russlands in der Weltpolitik bei zeitgleicher
                       Stagnation im Inland hat Brechts Werk – das
                       dramatische vor allem – neues Interesse von
                       Künstlern und Wissenschaftlern erweckt.
                       Brechts Literatur ist aktuell. Theaterkollekti-
                       ve arbeiten sich an Brechts Stücken ab oder
                       entwickeln auf der Basis von Brechts Tex-
                       ten – Prosa und Essay – Inszenierungen im
                       öffentlichen Raum. Die großen Stücke wie
                       „Der gute Mensch von Sezuan“, „Der kau-
                       kasische Kreidekreis“ oder Frühwerke wie
                       „Trommeln in der Nacht“, „Im Dickicht“
                       und „Mann ist Mann“ kommen neu auf die
                       Spielpläne der renommierten Theater. Die
                       Lehrstücke – von denen nur „Die Maß-
                       nahme“ und „Die Ausnahme und die Re-
                       gel“ ins Russische übersetzt sind – und das
                       „Fatzer“-Material sprechen überraschend
                       Theaterschaffende und Studenten gleicher-
                       maßen an. Es scheint, dass die Situation          Grafik: © Irina Rastorgueva
                       für einen neuen Umgang bzw. einen neuen
                       Anlauf zur Rezeption Brechts gegeben ist.         deutsche. Diesen ungehemmten Umgang
                       Es kann davon ausgegangen werden, dass            mit Brechts Werk und dessen Rezeption
                       die Beschäftigung mit diesem Autor nicht          wollen die Brecht-Tage vorstellen, untersu-
                       nur zu neuen Erkenntnissen für die Bühne          chen und kommentieren. Denn daran sind
                       und die Literatur, sondern darüber hinaus         Hoffnungen geknüpft: Die gegenwärtige
                       auch zu einer erweiterten Denkhaltung, zu         Unterkühlung des deutsch-russischen The-
                       einer Inspiration für das politische Denken       ateraustauschs könnte aufgewärmt werden,
                       führt. Schließlich sind es die Umstände des       die Brücke Brecht neue Zugänge eröffnen.
                       täglichen Lebens, die den Ausschlag geben         Die Brecht-Tage 2019 sind ein Versuch in
                       für das neu erweckte Interesse an Brechts         dieser Richtung.
                       Literatur.                                        Projektleitung: Thomas Martin
                                                                         Ort: Literaturforum im Brecht-Haus
                       Der Status des Klassikers scheint russische       Eintritt, wenn nicht anders angegeben: 5 €,
                       Theaterleute weniger zu beeindrucken als          erm. 3 €

                       18                                                                         Dreigroschenheft 1/2019
Programm                                             Montag, 11.2. 2019, 16 und 20 Uhr

                                                                                                          Brecht International
                                                     EINTRITT 8 €, erm. 5 €
Sonntag, 10.2. 2019, 20 Uhr                          INSZENIERUNG
GESPRÄCH MIT VIDEOEINSPIE-                           „Ohne Pass kein Staat“
LUNGEN                                               FLÜCHTLINGSGESPRÄCHE,
„der widerspruchsvolle, prozessuale cha-             Produktion Festival of Arts
rakter der zustände“: Kunst vor Gericht.             „The Access Point“ St. Petersburg
Kirill Serebrennikow, sein Theater und               ACHTUNG: AUSSER HAUS
die Folgen                                           Veranstaltungsort: Haupthalle Ostbahnhof
Olga Fedianina und Sergio Morabito im Ge-            (zwei Vorstellungen, 16:00 + 20:00, in Russisch
spräch                                               mit Simultanübersetzung)
Der Regisseur Kirill Serebrennikow steht seit 15     Regie: Konstantin Uchitel und Vladimir Kuz-
Monaten unter Hausarrest, jüngst wurde dieser        netsov
bis Ende April 2019 verlängert. Der Prozess, der     Mit: Maxim Fomin und Sergej Wolkow
ihm wegen angeblicher Veruntreuung staatlicher       Brechts Dialoge, 1940/41 im finnischen Exil
Fördermittel gemacht wird, ist in vieler Hinsicht    geschrieben, wurden während des Access Point
ein Rätsel. Klar ist: Er stellt in der Serie von     Summer Festival of Arts in Sankt Petersburg
Kunstprozessen, die in Russland seit der Jahrtau-    2016 erstmals aufgeführt. Die Premiere war
sendwende gegen Kunst, Künstler und Kuratoren        zugleich die russische Erstaufführung. Die von
geführt werden, eine neue Dimension dar. Er          Brecht im Hauptbahnhof von Helsinki verortete
trifft einen Künstler, der sich zivilgesellschaft-   Situation wurde in den Finnländischen Bahn-
lich zwar durchaus engagiert, seine Kunst aber       hof von Sankt Petersburg verlegt, in Wartesäle,
dezidiert nicht als Mittel zum politischen Zweck     Cafés, auf Bahnsteige. Über Kopfhörer mit
begreift. Umgekehrt ist seiner Kunst selbst eine     den Stimmen der Darsteller verbunden, kann
gesellschaftliche und politische Dimension zu-       das Publikum die Gespräche der Emigranten
gewachsen, welche die Macht in einem Ausmaß          – des Physikers Ziffel und des Metallarbeiters
eingreifen ließ, das bisher führenden Oppositi-      Kalle – verfolgen. Die Zuschauer können die
onspolitikern vorbehalten war.                       Art der „Verfolgung“ selbst wählen: den Schau-
Die Dramaturgin und Journalistin Olga Fediani-       spielern auf dem Fuß oder sich in der Menge
na, der Dramaturg und Regisseur Sergio Mo-           im Verkehr auflösend, Betrachter und Spieler
rabito, die beide mit Serebrennikow gerabeitet       zugleich sein. Eigene Bilder und die Bilder der
haben, stellen Aspekte seines Theater-, Opern-,      Darstellung überlagern sich, synchronisiert
Film- und Ballettschaffens im Kontext von            von Stimmen und Geräuschen, während die
Brechts Theatertheorie und -praxis vor.              Protagonisten/Flüchtlinge über Probleme des
Serebrennikow hat bisher erst ein Mal Brecht         Alltags, das Exil, die Politik, über die täglichen
inszeniert, 2009 die „Dreigroschenoper“ am           Schwierigkeiten diskutieren. Die Relevanz die-
Moskauer Künstlertheater; seine „Müllerma-           ser Dialoge für unsere Gegenwart ist – nicht
schine“ (2015), die bei einem Gastspiel seines       nur im Berufsverkehr von Sankt Petersburg
Gogol-Zentrums auch in Berlin bereits zu sehen       oder Berlin – bestechend und verstörend.
war, erschloss der russischen Kulturszene das
Schaffen Heiner Müllers, des wohl bedeutend-         Dienstag, 12.2.2019, 20 Uhr
sten Dramatikers in der Nachfolge Brechts.           VORTRÄGE, DISKUSSION UND PUBLI-
In einem zweiten Teil informieren und diskutie-      KUMSGESPRÄCH ZUM VORTAG
ren Fedianina und Morabito über Hintergründe         „Eine zwiespältige Freundschaft“
und Verlauf des Prozessgeschehens – in der           Publikumsgespräch
Hoffnung, dass dieses zum Zeitpunkt der Veran-       mit Konstantin Uchitel, Regisseur der
staltung bereits Geschichte ist, und Kirill Sere-    FLÜCHTLINGSGESPRÄCHE,
brennikow wieder in Freiheit arbeiten kann.          und Thomas Martin

Dreigroschenheft 1/2019                                                                             19
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