Toxische Männlichkeit: Das gefährliche Schweigen der Männer - lysis

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Toxische Männlichkeit: Das gefährliche Schweigen der Männer - lysis
› Geschlechterpolitik
         dieStandard.at

Toxische Männlichkeit:
Das gefährliche
Schweigen der Männer
Große Jungs weinen nicht – dafür trinken sie mehr, sterben früher und
sind gewalttätiger als Frauen. Warum das mit gesellschaftlichen
Vorstellungen von Männlichkeit zu tun hat und was dagegen
unternommen werden kann

              DIAGNOSE: Noura Maan, Sandra Nigischer
                                                                              1816 POSTINGS
              22. Juli 2018, 08:00

              N        och immer denkt Christian Feiler an diesen traumatischen Moment
                       vor 25 Jahren zurück. Am Fenster im dritten Stock eines Wohnhauses
              tritt eine Frau mit einem kleinen Kind am Arm durch den Rauch, erinnert
              sich der Feuerwehrmann. Sie hat Verbrennungen dritten Grades, reagiert
              nicht auf Megaphonrufe, nimmt nichts mehr wahr. Noch bevor die
Toxische Männlichkeit: Das gefährliche Schweigen der Männer - lysis
Einsatzkräfte ein Sprungkissen errichten können, wirft die Mutter ihr Kind
                   aus dem Fenster. Danach springt sie. Helfer schaffen es noch, das Kind mit
                   bloßen Händen aufzufangen. Die Mutter knallt auf den Boden. Sie überlebt
                   schwerverletzt, das Kind erleidet einen Kieferbruch.

                   Feiler, damals junger Einsatzleiter, plagen Selbstzweifel: Hätte er vor Ort
                   andere Entscheidungen treffen müssen? "Ich war an einem Scheideweg",
                   beschreibt er die psychische Belastung. Weitermachen oder Job aufgeben?

                   Es war ein älterer Kollege, der ihm zuhört, den Einsatz noch einmal Schritt
                   für Schritt mit ihm bespricht, ihn in seinen getroffenen Entscheidungen
                   stützt. Heute arbeitet auch eine Psychologin in der Feuerwehrwache. Aber
                   nicht immer wird sie in Anspruch genommen, erzählt Feiler. "Es bringt
                   nichts, Kollegen Hilfe nahezulegen." Das Selbstbild des Mannes stehe dem
                   oft im Wege. "Ein Mann darf nicht weinen, nicht jammern, hat der Starke zu
                   sein. Mut spielt bei der Feuerwehr eine Rolle, der Retter zu sein. In uns steckt
                   das 'Wir schaffen das'-Syndrom."

                   Aber manchmal schaffen sie es nicht, sondern verdrängen bloß ihre Ängste.
                   Im schlimmsten Fall kann der versperrte Zugang zum eigenen Empfinden
                   zur Arbeitsunfähigkeit führen, erzählt Feiler. "Da bekommt man vielleicht
                   eine Veränderung eines Kollegen mit, er wird einsilbiger, zieht sich zurück."
                   Nach fast 30 Dienstjahren weiß Feiler eines: "Ich kann den Spruch 'Was uns
                   nicht umbringt, macht uns stärker' nicht mehr hören."

                   So viel vom neuen Mann auch die Rede ist, die alten Stereotype vom
                   unempfindlichen Haudegen sind immer noch mächtig. Das schadet nicht nur
                   den Männern, sondern der gesamten Gesellschaft. Die Unfähigkeit,
                   Erlebnisse und Konflikte aufzulösen, fördert Alkoholismus und Gewalt.

                   Keine Schande oder Schwäche
                   Frauen empfänden es hingegen seltener als Schwäche, sich an Therapeuten
                   oder Ärztinnen zu wenden, erklärt Psychiaterin und Gerichtsgutachterin
                   Sigrun Roßmanith. "Sie haben vielmehr den Weitblick zu wissen, es geht
                   ihnen dann besser." Einen Mann müsse sie zu Beginn fast beruhigen, dass es
                   keine Schande sei, psychische Probleme zu haben. "Männer sagen als Erstes:
                   Ich habe es nicht im Kopf", so Roßmanith. Sie würden ihr dann zustimmen,
                   wenn sie entgegnet: "Ich weiß, Sie haben es in der Seele." Ohne die
                   Stigmatisierung, gesellschaftlich als "verrückt" zu gelten, ließen sich
                   Probleme leichter artikulieren.

                   Die unterschiedliche Auseinandersetzung von Männern und Frauen mit den
                   eigenen Gefühlen und dem eigenen Körper lässt sich auch aus der
                   Österreichischen Gesundheitsbefragung ablesen: Fast doppelt so viele

                                        Frauen wie Männer geben an, unter Depressionen zu
Suizide 2017
                                        leiden. Dabei gibt es zumindest biologisch keine
                                        Begründung für ein geringeres Depressionsrisiko bei
      Frauen                            Männern. Psychiaterin Anne Maria Möller-Leimkühler
       21%
                                        stellt bei Männern ein eher körperlich-instrumentelles
               Total:                   Verständnis von Gesundheit fest, Missempfindungen
               1.224
                                        würden bagatellisiert werden. "Damit besteht die
                        Männer          Gefahr, dass psychische Störungen bei Männern eher
                         79%
                                        übersehen werden."

                                        Die Folgen dieser toxischen Männlichkeit können
verheerend sein: Statt sich Hilfe zu suchen, tendieren
   Quelle: Statistik Austria • Männer deutlich häufiger als Frauen dazu, auf Frust
                               oder Ausweglosigkeit mit Gewalt und Selbstschädigung
                               zu reagieren. Über 70 Prozent der Alkoholabhängigen in
Österreich sind männlich. Männer begehen fast viermal häufiger Suizid als
Frauen. Sie richten die Gewalt aber nicht nur gegen sich selbst, wie die
Kriminalitätsstatistik zeigt: Strafbare Handlungen gegen Leib und Leben
begehen Männer zehnmal häufiger als Frauen, jene gegen sexuelle Integrität
und Selbstbestimmung fast 60-mal häufiger als Frauen.

  Geschlechterunterschiede bei Verbrechen
  Strafbare Handlungen 2017...

            ...gegen Leib und Leben             ...gegen die sexuelle Integrität   andere strafbare Handlungen
                                                und Selbstbestimmung

  Männer        7.596                             1.169                            33.993

  Frauen        783                              20                                       5.488

Auch Terrorismus und Amokläufe sind stark männlich dominiert. Einer
Statistik von "Mother Jones" zufolge, in der alle Schusswaffenattentate in den
USA mit mehr als vier Toten seit 1982 analysiert wurden, bilden die größte
Tätergruppe: weiße Männer. Insgesamt wurden nur drei der insgesamt 101
Vorfälle von Frauen (mit-)verübt.

Dabei geht es oft um Frustration, Unzufriedenheit, sogenanntes "male
entitlement": Die Täter sehen sich im Recht, etwas zu erhalten, was ihnen
aber ihrer Ansicht nach verwehrt wird. Dabei kann es sich um Erfolg im Job
handeln – der "Amokfahrer von Münster" etwa hatte offenbar seinen
beruflichen Niedergang nicht verkraftet. Oder auch die vermeintlich
"verwehrte" Aufmerksamkeit von Frauen, die etwa der Amokfahrer von
Toronto im April oder der Schütze von Isla Vista 2014 beklagten.

Die Opfer der männlich dominierten Gewalt sind überdurchschnittlich oft
Frauen: Laut der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie
waren 2017 österreichweit 83 Prozent der gemeldeten Opfer häuslicher
Gewalt weiblich – während die Gewalt in 88 Prozent der Fälle von Männern
ausging. Seit 2012 wurden insgesamt 122 Frauen von Männern und sieben

Männer von Frauen innerhalb eines Nahe- oder Beziehungsverhältnisses
getötet. Dieses Jahr waren es bereits 16 Frauenmorde. Im Mai ermordeten
zwei Männer ihre Ex-Partnerinnen in Wien. Erst am Montag hat ein Mann in
der Obersteiermark seine Ex-Freundin mit Benzin übergossen und versucht,
sie anzuzünden.

  Todesopfer von Gewalt in Beziehungen
  Opfer von Tötungsdelikten in Beziehungen...

     ...von Männern an Frauen     ...von Frauen an Männern

  2012     17                                                                         2

  2013     22                                                                                             1

  2014     17                                                                         2

  2015     24

  2016     18                                                                               2

  2017     24
Quelle: Gewaltschutzzentren & Interventionsstellen Österreichs •

Was bedingt diese Geschlechterdifferenz? Christian Scambor vom Verein für
Männer- und Geschlechterthemen Steiermark sieht einen Zusammenhang
mit gesellschaftlichen Normen und Rollenbildern – und damit, wie
Jugendliche sozialisiert werden, "welche Werte und Verhaltensweise
verstärkt oder abgewertet werden". Bereits im Kindes- und Jugendalter finde
man(n) "keine geschlechtsneutrale Welt" vor, sie sei "mit vielen toxischen
Bildern ausgestattet", erklärt der Psychologe, der unter anderem in der
Gewaltarbeit tätig ist. Vorstellungen wie jene des "gewalttätigen, zornigen
Mannes, der rot sieht" seien nicht angeboren, sondern würden "von unserer
Kultur" vorgeschlagen und weitergegeben werden.

Positive Vorbilder fehlen
Auch Männerforscher Christoph May kritisiert die vorherrschenden Idole –
neben jenen in Film und Literatur auch emotional distanzierte Elternteile.
"Wir erleben Väter, die kaum Interesse für die Erziehungsarbeit aufbringen",
und Söhne, die nach wie vor dazu erzogen würden, ihre Gefühle zu
unterdrücken. "Von positiven, emotional integren Männerfiguren sind wir
weit entfernt", beklagt May. Auch für Gerichtsgutachterin Roßmanith
braucht es "gesunde Identifikationsfiguren", die sich nicht hinter
"männlichen" Fassaden verstecken. Aus ihrer Arbeit erzählt sie: "Die größten
Schläger auf der Straße sind, wenn man sie untersucht, hilflose Däumlinge.
Dahinter steckten 'Kindsmänner', die wie in der Sandkiste agieren, wenn
Kinder anderen eine Schaufel auf die Birne hauen. Ich verniedliche, aber im
Grunde geht es bei Gewalttaten um solche Konflikte."

Den Umgang mit Wut musste Florian S. erst lernen. 2017 eskaliert ein Streit
mit seiner Frau, er wird gewalttätig. Nach einer 14-tägigen Wegweisung
beschließt der 72-Jährige, ein Antigewalttraining bei der Männerberatung zu
machen, um Konflikte nie wieder so eskalieren zu lassen. Dort lernt der

Pensionist mit Aggression umzugehen: Er trainiert,
anderen zuzuhören, Situationen zu beobachten und
nicht sofort zu bewerten. Die Haupterkenntnis nach
einem Jahr? "Dass ich mich selbst hinterfrage und die
Schuld nicht zuerst bei anderen suche. Ich weiß nun,
dass ich Situationen meist selbst klären, neutralisieren
oder verbessern kann", schildert er seine als befreiend
empfundene Emanzipation.

Tausende nicht betreut                                                      "Wir erleben Väter, die       foto: marisa vranjes
                                                                            kaum Interesse für die
                                                                            Erziehungsarbeit aufbringen", kritisiert
Florian S. hat sich freiwillig an die Männerberatung                        Männerforscher May. Positive, emotional
gewandt, viele Männer kommen gar nicht so weit. In                          integre Vorbilder wie hier fehlen.

Wien gibt es etwa 4.000 Wegweisungen im Jahr, "aber
nur rund fünf Prozent davon docken bei uns an", erklärt Alexander Haydn
von der Männerberatung Wien. Eine langjährige Forderung des Vereins ist
daher, Gefährder proaktiv kontaktieren zu können, was derzeit aus
Datenschutzgründen nicht möglich ist. Im "großteils fortschrittlichen"
Gewaltschutzgesetz liege der Fokus auf Opfer- und Kinderschutz, die
Täterarbeit fehle aber, kritisiert Haydn. Diese Säule müsse "etabliert und auf
eine vernünftige Budgetierung gestellt werden".
Die zur Illustration verwendeten Fotos sind Teil einer Serie über männliche Stereotype, an der die in Wien lebende Fotografin   foto: pamela rußmann
Pamela Rußmann mit dem Musiker Julian Joy arbeitet. Ende des Jahres wird die Serie in einer Ausstellung zu sehen sein.

                       Die türkis-blaue Regierung setzt allerdings auf härtere Strafen, das
                       Innenministerium stoppt zugleich die Teilnahme von Polizisten an den
                       sogenannten Marac-Konferenzen, bei denen Hochrisikogewaltfälle evaluiert
                       wurden. Schon vergangenen Herbst wurde vom Innenressort entschieden,
                       die Bezahlung von Expertinnen bei Polizeiausbildungsseminaren über Gewalt
                       in der Familie einzustellen sowie diese Seminare insgesamt von 16 auf zwölf
                       Stunden zu kürzen.

                       Gewalt als "globales Problem"
                       Zudem wird Rhetorik verwendet, die Gewalt als importiertes Problem
                       darstellt: So behauptete etwa FPÖ-Frauensprecherin Elisabeth Schmidt
                       vergangene Woche, dass gewalttätige Übergriffe meist von Tätern aus dem
                       "Zuwanderermilieu" begangen würden. Gewaltschutzexperten betonen
                       allerdings, dass Gewalt sich quer durch alle Milieus und soziale Schichten

                       zieht. Es handle sich um "ein globales Problem", heißt es dazu etwa im
                       Tätigkeitsbericht der Wiener Interventionsstelle, "das in allen Ländern,
                       Kulturen und Religionen existiert".

                       Männerberater Haydn räumt aber ein, dass man einen Fokus auf "verlorene
                       Generationen" legen müsse, etwa junge Menschen, die seit Jahren nur Krieg
                       und Gewalt erlebt hätten. Für solche Fälle riefen Männerberatungsstellen
                       und NGOs "Men Talks" ins Leben, wo es "ein Stück weit um "Nachbeeltern"
                       ginge, erklärt Haydn. Themen des Dialogprogramms waren etwa Gesetze,
                       Gleichstellung oder Sexualität. Im Mai wurde die Förderung dafür allerdings
                       gestrichen, sagt Haydn. "Weil der Schwerpunkt in der Frage auf
                       Rückführungen liegt."

                       Ein anderes Projekt, das gesunde Vorbilder schaffen soll, ist bis Ende 2018
                       finanziert: Bei "Heroes" durchlaufen junge Männer aus sogenannten
                       "ehrkulturellen Milieus" eine Ausbildung, in der sie für Gleichberechtigung
                       sensibilisiert werden. Danach reden sie selbst in Schulen über Ehre, Gewalt
                       oder Unterdrückung.

                       Neue, gesunde Geschlechterbilder
                       Psychiaterin Roßmanith sieht in der Erziehung, aber auch bei den
                       Massenmedien Hebel, um neue Geschlechterbilder zuzulassen.
                       Veränderungen habe es aber teilweise schon gegeben, fügt Männerberater
                       Haydn hinzu. Er beobachte, dass Männer "früher und teilweise bei
                       geringeren Gewaltformen" zur Beratung kommen. Allerdings liegt das seiner
                       Ansicht nach weniger an den Männern selbst, sondern an den Frauen, die
                       sich immer weniger gefallen lassen würden. Hier schließt May an: Nicht
zuletzt durch die MeToo-Debatte sei das Tabu, offen kritisch über
                              Männlichkeit zu sprechen, weiter aufgebrochen worden. So gesehen wäre
                              gerade jetzt ein guter Zeitpunkt, um ein "positives, selbstkritisches und
                              feministisches Männerbild" zu propagieren, das einen gesunden Umgang mit
                              Gefühlen umfasst. (Noura Maan, Sandra Nigischer, 22.7.2018)

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                              Links

                                   Männerberatung Wien
                                   Verein für Männer- und Geschlechterthemen Steiermark
                                   HEROES Steiermark – Gegen Unterdrückung im Namen der Ehre
                                   Tätigkeitsberichte der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie
                                   Statistik Austria: Kriminalitätsstatistik 2017
                                   Statistik Austria: Todesursachen 2017
                                   "Mother Jones"-Statistik zu den Schusswaffenattentaten in den USA

                              Titelbild: Getty Images / Lorado

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