Peer Steinbrück Daniel Friedrich Sturm

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Peer Steinbrück Daniel Friedrich Sturm
Daniel Friedrich Sturm

Peer Steinbrück

   Der
Kandidat

                         _
                         Biografie
Inhalt

Vorwort  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .       7

I. Hamburg, Oldenburg und Kiel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                            9

II. Bonn und Düsseldorf  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                  39

III. Kiel  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    69

IV. An Rhein und Weser  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  105

V. Wülfrath und Washington  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  181

VI. Berlin  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  247

VII. Fasziniert und fassungslos  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  299

Dank  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     309
Interviews mit Peer Steinbrück  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                       311
Literatur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .      315
Personenverzeichnis  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                316
Organisator

In seinen 15 Jahren in Bonn und Düsseldorf ist aus Peer Steinbrück kein
Rheinländer geworden. Er mag diesen liberalen, oft lärmenden und
meist fröhlichen Menschenschlag zwar, versteht sich aber weiterhin als
Norddeutscher. Regelmäßig reist er mit seiner Familie nach Schleswig-
Holstein oder Hamburg. So ist er seinem Freund Ekkehard Wienholtz
dankbar, dass der ihn Anfang 1990 für einen Karriereposten im Norden
vorschlägt. »Im Jahre 1990 berieten wir im kleinen Freundeskreis über
die Besetzung der Staatssekretärsstelle im Umweltministerium«, berich-
tet Wienholtz heute: »Hier brachte meine Frau Peer als Kandidaten ins
Gespräch.« Wienholtz, damals Staatssekretär im schleswig-holsteini-
schen Innenministerium, und Steinbrück kennen sich aus der gemein-
samen Zeit im Bundesforschungsministerium. Wienholtz schlägt der
Regierungsspitze Steinbrück vor. Stefan Pelny, Chef der Kieler Staats-
kanzlei, trägt den Vorschlag mit. Pelny war einst im Kanzleramt tätig
und hatte dort sporadisch mit Steinbrück zu tun. Jetzt macht er sich bei
Ministerpräsident Björn Engholm für Steinbrück stark. Den zuständigen
Umweltminister konsultiert er nicht.
   Für Steinbrück sind die Kieler Perspektiven hoch attraktiv. Er kann
auf Anhieb eine Karrierestufe, nämlich die des Abteilungsleiters, über-
springen. Als ihm Ministerpräsident Engholm die Funktion des Staats-
sekretärs offiziell anbietet, sagt er zu. Am 1. Juni 1990 soll er seine Stelle
antreten. Engholm bittet Steinbrück, er möge nun mit Umweltminister
Berndt Heydemann reden und diesem das Gefühl geben, dass er die
Auswahl eigenständig treffe. Der habilitierte Biologe ist ein überzeugter
Umweltschützer und gilt als einer der Erfinder der Ökologischen Küs-
tenforschung. Zwei Jahrzehnte lang war er Direktor am Biologiezentrum
der Universität Kiel, bevor ihn Engholm 1988 zum Minister ernannte.
   Steinbrück trifft seinen künftigen Minister und ist entsetzt. Während
des etwa vierstündigen Gespräches redet vor allem Heydemann. Stein-
brück beziffert die Gesprächsanteile auf 95 zu 5 Prozent. Er fragt sich,

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wie er mit einem Minister zusammenarbeiten soll, der kein rechtes Inte-
resse an seinem Staatssekretär aufzubringen scheint. Für Steinbrück ist
Heydemann ein ökologischer Visionär und Missionar; solche Menschen
sind ihm suspekt. Als Steinbrück seiner Frau von dem »Gespräch« be-
richtet, drängt sie ihn, das Angebot auszuschlagen. »Da gehst du nicht
hin. Der ist doch egomanisch«, sagt Gertrud Steinbrück. Ihr Mann hält
dagegen. Die gesamte Umgebung Engholms rechne bereits mit ihm, und
außerdem könne er eine Offerte als Staatssekretär nicht einfach ableh-
nen. Also ziehen die Steinbrücks nach Kiel.
   Zunächst bricht Peer Steinbrück alleine in den Norden auf, ein gutes
halbes Jahr später folgen ihm seine Frau und die drei Kinder. Die Familie
kauft in Kronshagen, einer 12 000-Einwohner-Gemeinde, gelegen am
westlichen Stadtrand von Kiel, eine alte Kapitänsvilla. Gertrud Stein-
brück lässt sich als Lehrerin beurlauben. Katharina, Anne und Johan-
nes Steinbrück erleben in der Schule eine sehr distanzierte, eben nord-
deutsche Atmosphäre; Neuankömmlinge werden hier nicht mit offenen
Armen empfangen. In Bonn fühlten sie sich wohler. Der politische Im-
migrant Peer Steinbrück aber verweist fröhlich auf seine norddeutschen
Wurzeln. »Wir freuen uns auf das Leben an der Küste«, verkündet er,
berichtet von seinem Studium in Kiel und weiteren schleswig-holsteini-
schen Prägungen: »Ich habe in Travemünde meinen Keuchhusten aus-
kuriert, in der Schlei bei Arnis das Schwimmen gelernt und auf Föhr zum
ersten Mal ein Mädchen geküsst.«
   Steinbrück gilt in Kiel als einer, der landespolitische Strukturen und
Niederungen kennt. Auf solche Profis ist die neue Landesregierung ange-
wiesen. Fast vier Jahrzehnte lang hat die CDU in Schleswig-Holstein re-
giert. Auf die Barschel-Affäre folgte 1988 für die SPD – mit 54,8 Prozent
der Stimmen – ein grandioser Wahlsieg Engholms. Der intellektuelle
und kulturell beflissene Engholm, aus Willy Brandts Heimatstadt Lübeck
stammend, gilt eher als Schöngeist denn als Arbeiterführer. Er wird rasch
zu einem Hoffnungsträger der SPD , auch auf Bundesebene.
   Engholm hat ein ungewöhnliches Kabinett gebildet, seine Stellver-
treterin und vier der zehn Landesminister sind Frauen. Er hat das erste
Frauenministerium in Deutschland geschaffen, einen parteilosen Mi-
nister berufen und einen Generaldirektor der Europäischen Kommission
nach Kiel geholt. Der neue Ministerpräsident symbolisiert, erst recht im

72 III. Kiel
Vergleich mit dem Machtmenschen Uwe Barschel, eine neue politische
Kultur. Ihm ist es gelungen, selbst Landwirte und den wertkonservativen
Mittelstand des Bundeslandes für sich und damit die SPD zu gewinnen.
Engholm gilt nicht als Parteimann, er hat in der SPD keine Ämter inne.
Vor seinem Wechsel in die Landespolitik war er von 1969 bis 1983 Abge-
ordneter im Bundestag. Für eine kurze Zeit diente er 1981/82 als Bundes-
bildungsminister unter Helmut Schmidt. Auch das macht ihn zu einem
Mann der politischen Mitte.
   Steinbrück ist von Engholm angetan, nicht nur, weil der ihm eine un-
gewöhnliche Karriere ermöglicht. Er sieht in dem Freigeist aus Lübeck
einen überdurchschnittlich klugen Regierungschef, der souverän und
unabhängig agiert: Engholm verfolgt weiterhin seine künstlerischen und
literarischen Interessen, er nimmt sich schon mal einen halben Tag frei,
um Ausstellungen zu besichtigen. Steinbrück bewundert das. Es gibt
Engholm in seinen Augen eine positive Leichtigkeit, hinter der er ein
großes Maß an innerer Unabhängigkeit vermutet.
   Es herrscht also Aufbruchsstimmung, als Steinbrück in Schleswig-
Holstein ankommt. Nach der jahrzehntelangen autoritären und zuletzt
reichlich verkrusteten CDU -Herrschaft scheint eine innovative, kreative
und fantasiereiche Regierung ans Werk zu gehen. Die Stimmung in
Engholms Kabinett ist freundlich. Während der Kabinettssitzungen, die
dienstags um 10 Uhr beginnen und meist etwa vier Stunden dauern, sind
abweichende Meinungen erlaubt. Die Staatssekretäre nehmen teil, auch
das ist ungewöhnlich und wäre etwa in Nordrhein-Westfalen undenkbar.
Ministerpräsident, Minister und Staatssekretäre duzen sich auch in die-
sem offiziellen Rahmen, zwischendurch wird stets ein Imbiss gereicht.
Die Umgangsformen in der Staatskanzlei gelten als zivil, mancher Mit-
arbeiter empfindet dies nach den aufreibenden Jahren unter Barschel
als Befreiung. Engholm initiiert eine »Denkfabrik«, in der Persönlich-
keiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft gemeinsam Ide-
en jenseits der Tagespolitik entwickeln. Es ist der Versuch, Politik ganz
anders zu gestalten, ausgetretene Pfade zu verlassen, Transparenz zu
schaffen und durch einen Austausch unter Gleichen neue Ideen zu pro-
duzieren. Für eine Weile funktioniert das. Später zeigen sich Friktionen
und Schwierigkeiten dieses diskursiven politischen Führungsstils. Erst
einmal aber sollen die Minister in jeder Woche einen Termin außerhalb

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ihres Ressorts wahrnehmen, bittet Engholm. Von Bonn aus blicken viele
politische Beobachter mit Spannung auf das Kieler Experiment.
   Fast ein Vierteljahrhundert später sitzt Björn Engholm im Winter-
garten seiner Lübecker Wohnung. Ihn umgeben allerlei Kunstdrucke
und Gemälde. Engholm ist gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt, mit
seiner Ehefrau Barbara war er auf der griechischen Insel Karpathos. Er
wirkt agil, die Jahre haben ihm wenig anhaben können. Er reicht einen
Pfälzer Riesling, raucht Zigarillo und erzählt von seiner Laudatio, die
er tags darauf auf Armin Müller-Stahl halten wird. Über seine erste
Begegnung mit Steinbrück sagt er: »Ich hatte gleich den Eindruck: Der
ist handfest und direkt.« Steinbrück sei sich »seiner bewusst« gewesen
und habe das Angebot sogleich angenommen. Der damalige Umwelt-
minister Heydemann habe große Visionen gehabt und »stets über den
Landeshorizont hinaus gedacht«, sagt Engholm: »Und Steinbrück war
der ideale Mann, um das Ministerium zu organisieren und den Minister
ab und zu auf dem Boden zu halten.« Johannes Rau, sagt Engholm, habe
auf sein Angebot an Steinbrück gereizt reagiert, da er ihn nicht zuvor um
Genehmigung gebeten habe. Über diese »leicht royale Art« wundert sich
Engholm bis heute.
   Das Umweltministerium trägt zum ökologischen Image der ohnehin
linken schleswig-holsteinischen Sozialdemokratie erheblich bei. Ihr ge-
lingt es ähnlich wie der SPD in Nordrhein-Westfalen und im Saarland,
die Grünen klein zu halten. Diese ziehen erst im Jahre 1996 in den Kieler
Landtag ein – anderthalb Jahrzehnte später als in Baden-Württemberg
etwa. Für die Grünen ist Umweltminister Heydemann eine Reizfigur.
Sie stellen zwar seinen ökologischen Impetus nicht infrage und schätzen
die Fachkompetenz dieses Entdeckers, Erfinders und Erforschers. Viele
Grüne aber halten den Minister bei den großen Konfliktthemen wie
dem Autobahnbau oder der Elbvertiefung für einflusslos. Heydemann
konzentriere sich zu sehr auf die fachlich ökologischen Themen, kri-
tisieren sie. Uferrandstreifenprogramme und philosophische Diskurse
über die Ökologie, monieren sie, reichten aber für einen Minister nicht
aus. Während sich die Naturschutzverbände mit Heydemann stets gut
verständigen und er diese so an die SPD bindet, sehen die radikalen
Ökologen in Heydemann einen umweltpolitischen Beschwichtigungs-
therapeuten.

74 III. Kiel
In der SPD wiederum spotten viele über den »etwas idealistischen
Umweltminister«. Böse Zungen sprechen von einem »Öko-Terroristen«.
So fachkundig Heydemann ist und so wenig es ihm an Überzeugungen
mangelt, so schwer fällt es ihm, sein Ministerium und dessen rund
300 Mitarbeiter zu führen. In der Behörde herrscht organisatorisches
Chaos. Die Abstimmung mit den anderen Ministerien funktioniert
nicht. Engholm ist entschlossen, Heydemann zu halten, weiß jedoch um
dessen Defizite. Der Ministerpräsident und sein nicht eben biegsamer
Umweltminister tragen daher einige Konflikte aus. In Engholms Augen
neigt Heydemann zu Regelungswut und hängt zu vielen nicht umsetz-
baren Ideen an. Der bisherige Staatssekretär sah sich nicht mehr in der
Lage, dem Minister Paroli zu bieten und das Haus zu ordnen. Deshalb
gab er auf. Deshalb musste Engholm einen Nachfolger suchen.
   Da kommt ein Mann wie Steinbrück gerade richtig. Der nämlich ist
nicht nur nüchtern und pragmatisch, sondern erfahren im Umgang
mit Apparaten, er besitzt administrative Fähigkeiten und kann ein Mi-
nisterium – notfalls mit harter Hand – managen. Steinbrück kündigt im
Jahre 1990 an, er wolle in Kiel seine »administrativen Erfahrungen ein-
bringen«. Den Grund seiner Berufung also mag Steinbrück erst gar nicht
verbrämen. So schön und gut Heydemanns Konzepte sind, so sehr will
Engholm, dass dessen Mitarbeiter im Umweltministerium gehört und
geführt werden. Ohne eine funktionierende und motivierte Verwaltung
kann ein Minister wenig umsetzen. Insoweit wird Steinbrück eine Stütze
Heydemanns. Der neue Staatssekretär soll die Konflikte zwischen Um-
welt- und Wirtschaftspolitik systematisch lösen. Schnell macht in Kiel
die Runde, Steinbrück sei im Gegensatz zu seinem Minister ein Anhän-
ger der Müllverbrennung, was er nur halbherzig zurückweist (»Ich bin
kein Pyromane«). Er zeigt sich geradezu demütig, indem er ankündigt:
»Ich höre erst einmal zu und rede viel mit meinem Minister.« Weite
Teile der nach wie vor links gestrickten Landespartei und ihrer Fraktion
betrachten Berufung und Start des Technokraten Steinbrück reserviert.
Dem Landesvorstand der SPD gehört Steinbrück nicht an. Ist er dort
oder im Landesausschuss zu Gast, macht er stets deutlich, dass er wegen
eines bestimmten Themas, aufgrund einer speziellen Sache, erschienen
ist. »Einige Parteifreunde dachten ihm hier die Rolle des Angeklagten zu.
Er selbst schien sich auch nicht sonderlich wohlgefühlt zu haben. Dies

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