Ukraine im Nato-Russland-Spannungsfeld - Einleitung - Stiftung ...
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NR. 11 FEBRUAR 2022 Einleitung Ukraine im Nato-Russland-Spannungsfeld Sicherheitsvereinbarungen und Rüstungskontrolle müssen wiederbelebt werden Wolfgang Richter Mit grenznahen Manövern demonstriert Moskau seine Fähigkeit, im Donbas offen militärisch zu intervenieren. Es beschuldigt Kiew, die Lage dort zu eskalieren, und den Westen, die Ukraine durch einseitige Parteinahme darin zu bestärken. Doch im Westen wird geargwöhnt, Russland plane eine großangelegte Invasion der Ukraine. Dies hat der Kreml dementiert. Mitte Dezember 2021 hat er mit zwei Vertragsentwür- fen verdeutlicht, worum es ihm geht, nämlich eine weitere Ausdehnung der Nato nach Osten zu verhindern und dafür eine verbindliche Zusicherung zu erhalten. Dabei be- ruft er sich auf die Nato-Russland-Vereinbarungen der 1990er Jahre. Moskau befürch- tet, dass vor allem ein Nato-Beitritt der Ukraine das strategische Gleichgewicht mit den USA gefährden würde. Die USA und die Nato signalisieren Dialogbereitschaft in Fragen der Rüstungskontrolle, sind aber nicht bereit, die Prinzipien der europäischen Sicherheitsordnung zu revidieren. Ob Moskau dies akzeptiert, bleibt abzuwarten. Jedenfalls sollte der neue Dialog als Chance aufgegriffen werden, um die Lage zu deeskalieren und die militärische Berechenbarkeit durch Rüstungskontrolle wieder- herzustellen, ohne Prinzipien preiszugeben. Am 17. Dezember 2021 hat Moskau zwei Truppen zurückzieht, die nach dem Mai Vertragsentwürfe vorgelegt, um die Fort- 1997 in Osteuropa stationiert wurden. setzung der Nato-Erweiterung nach Osten Dabei beruft sich Moskau auf die Nato- zu stoppen. Zugleich will es verhindern, Russland-Grundakte von 1997. dass das Bündnis Truppen an den Grenzen Die Vorschläge wurden im Januar 2022 Russlands stationiert oder in europäischen sowohl bilateral mit den USA in Genf als Staaten weitreichende Raketen aufstellt, die auch multilateral im Nato-Russland-Rat und Russland bedrohen könnten. Dazu fordert in der OSZE diskutiert. Der Westen wies Moskau, dass die Nato ihre Gipfelerklärung russische Forderungen nach einem Ende von 2008 zurücknimmt, in der sie der Ukra- der Nato-Erweiterung zurück und verlang- ine und Georgien den Beitritt zur Allianz te, Moskau solle seine Truppen von den in Aussicht gestellt hat. Sie solle vielmehr Grenzen zur Ukraine abziehen. Viele Ver- rechtsverbindlich erklären, dass sie auf jede bündete aber zeigten sich offen dafür, künftige Erweiterung – besonders im den Dialog fortzusetzen und die Rüstungs- postsowjetischen Raum – verzichtet und kontrolle wiederzubeleben.
Militärische Optionen Russlands Die ukrainischen Streitkräfte sind heute weitaus kampfbereiter als 2014. Damals Wie schon im Frühjahr 2021 führt Moskau waren es nicht materielle Ausstattungs- seit zwei Monaten Manöver östlich der Ukra- lücken der nominell drittstärksten Armee ine durch. Seit 2015 sind dort drei Motori- Europas, welche die Abwehrbereitschaft sierte (Mot) Schützendivisionen dauerhaft hemmten, sondern ihre mangelnde Kampf- stationiert: in Jelnja bei Smolensk (250 km moral. Etwa zwei Drittel der ukrainischen nordöstlich der Ukraine), Bogutschar Land- und Seestreitkräfte auf der Krim sind (50 km östlich des Donbas) und Nowotscher- zur russischen Schwarzmeerflotte überge- kassk (150 km südöstlich des Donbas). Sie laufen, obwohl sie vor Ort überlegen waren. sind zwei Armeestäben in Woronesch und Als die neue Kiewer Führung eine »Anti- in Rostow am Don unterstellt. Zusammen terroroperation« gegen die prorussischen verfügen sie über etwa 47.000 Soldaten, Rebellen im Donbas begann, konnte sie nur 650 Kampfpanzer und 950 Schützenpanzer 6.000 Soldaten aufbieten. Sie musste sich (siehe SWP-Aktuell 39/2021). vor allem auf leicht bewaffnete Freiwilligen- Zu den Einheiten der Schwarzmeerflotte verbände stützen. auf der Krim gehören auch das 22. Armee- Mittlerweile sind Kiews Streitkräfte auf korps in Simferopol und die 810. Marine- gut 250.000 aktive Soldaten und über infanteriebrigade in Sewastopol. Insgesamt 900.000 Reservisten angewachsen. Die Nato sind also rund 75.000 russische Soldaten hilft, die Führungsfähigkeit zu verbessern; ständig in einer Distanz von 50 bis 250 km die USA stellten Aufklärungsergebnisse, zur Ukraine stationiert. Artillerieradargeräte und – wie auch Groß- Zusätzlich üben derzeit Truppenteile aus britannien – Panzerabwehrraketensysteme Süd- und Zentralrussland auf Schießplätzen bereit. Von der Türkei erhielt Kiew Bayrak- in einer Entfernung von 50–170 km zur tar-TB2-Kampfdrohnen. Beim Sieg Aserbaid- ukrainischen Grenze. Einige Verbände schans über armenische Truppen in Berg- befinden sich auch in Feldlagern näher am Karabach im Herbst 2020 hatten sich Droh- Donbas. Nach westlichen Schätzungen nen dieses Typs als militärische Schlüssel- beträgt die russische Truppenstärke im Um- fähigkeit erwiesen. Kiew setzte sie im Som- kreis der Ukraine etwa 100.000. mer 2021 wirksam gegen Separatisten ein. Am 26. Dezember 2021 gab Moskau eine Kanada, Großbritannien, Polen, Litauen und Reduzierung um 10.000 Soldaten bekannt. die USA haben 470 Ausbilder in der west- Nicht bestätigt haben sich damit Voraus- ukrainischen Region Lemberg stationiert. sagen von US-Geheimdiensten, Moskau Moskau ist mit 900.000 aktiven Soldaten, werde seine Truppenstärke bis Januar 2022 3.300 Kampfpanzern (Kiew: 1.000) und auf etwa 175.000 anheben, um eine Invasion 1.330 Kampfflugzeugen (Kiew: 125) zwar der Ukraine zu beginnen. Allerdings ist die der Ukraine deutlich überlegen, doch für russische Übungsserie noch nicht beendet. die subregionale Bewertung ist der Vergleich Eine gemeinsame Übung russischer und nicht aussagekräftig. Russland verfügt über belarussischer Truppen wird im Februar die größte Landfläche und die zweitlängsten 2022 in Belarus stattfinden. Grenzen weltweit. Mit etwa 280.000 Heeres- Moskau unterstellt, Kiew wolle den Kon- soldaten muss es mehrere strategische Rich- flikt gewaltsam lösen. In diesem Fall wäre tungen abdecken, von der Arktis bis zum Russland mit den derzeit verfügbaren Kräf- Schwarzen Meer, vom Kaukasus bis Zentral- ten in der Lage, die prorussischen Rebellen asien und von der Ostsee bis zum Pazifik. im Donbas zu unterstützen, aber nicht, die Gleichwohl muss Moskau im Konfliktfall ukrainische Armee mit einem großangeleg- die Peripherie mit Reserven aus anderen ten Angriff zu zerschlagen. Dazu wären er- Landesteilen verstärken. Seine Fähigkeit hebliche Verstärkungen nötig, die per Bahn zu parallelen Operationen an mehreren aus Zentralrussland herangeführt werden Fronten ist begrenzt. Zwar kann es leichte müssten. Luftlandekräfte schnell im Lufttransport SWP-Aktuell 11 Februar 2022 2
verlegen. Für hochintensive Operationen Strategische Ziele Moskaus aber braucht Moskau gepanzerte Verbände und umfangreiche Logistik, die mit der Vor allem durch die Nato-Erweiterung nach Eisenbahn transportiert werden müssen. Osten sieht Russland seine Sicherheit be- Regionale Kräftekonzentrationen schwächen droht. Dass dabei der Ukraine eine Schlüssel- die Truppenpräsenz an anderer Stelle. rolle zukommt, hat Moskau bereits 2014 Bedrohungsanalysen sollten daher nicht auf demonstriert. Bei der Annexion der Krim operative Optionen in einer Subregion ver- ging es weniger um den »Schutz russischer engt werden, sondern auch die strategischen Landsleute« als vielmehr darum, die Basen Implikationen berücksichtigen. der Schwarzmeerflotte zu sichern. Im Ein großangelegter Angriff Moskaus auf Donbas dagegen stärkt der Kreml zwar die die Ukraine wäre trotz der deutlichen russi- Rebellen, hält aber am Minsker Abkommen schen Luftüberlegenheit mit hohen militä- fest. Moskau nahm an, die siegreiche rischen und politischen Risiken verbunden. Maidan-Bewegung werde den raschen Bei- Nach acht Kriegsjahren ist der nationale tritt der Ukraine zur Nato anstreben – ein Selbstbehauptungswille der Ukrainer ge- Ziel, das inzwischen Verfassungsrang hat. wachsen, zumal die russlandaffinen Teile Moskau ist dabei auf die Nato-Führungs- der Bevölkerung überwiegend auf der Krim macht USA fixiert. Mit ihr hält Russland und im Donbas leben. Die ukrainischen ein nuklearstrategisches Gleichgewicht, das Streitkräfte sind kampferfahren und mora- auf der gegenseitigen gesicherten Vernich- lisch gefestigter als 2014. Der Kreml müsste tungsfähigkeit beruht. Sie ist in bilateralen daher mit hochintensiven Gefechten, Gue- Rüstungskontrollverträgen verankert, zu- rillaoperationen und großen Verlusten rech- letzt im New-Start-Vertrag, den beide Seiten nen. Die Frage nach der politischen Ver- im Februar 2021 um fünf Jahre verlängert antwortung für einen Krieg unter »Bruder- haben. Er begrenzt die Zahl jener Atom- völkern« birgt innenpolitische Sprengkraft. waffen und Träger mit interkontinentaler Außenpolitisch müsste sich die russische Reichweite, mit denen Ziele in den Hoheits- Führung auf weltweite Isolierung, scharfe gebieten der beiden potentiellen Gegner Sanktionen und weitere Stationierung von vom eigenen Territorium oder von U-Booten Nato-Truppen an Russlands Grenzen gefasst aus bedroht werden können. Das verein- machen. Mehr europäische Nachbarn Russ- barte Gleichgewicht soll die nukleare Zweit- lands würden sich bedroht sehen und Schutz schlagfähigkeit beider Seiten garantieren in der Nato suchen. Moskau würde das und so vor einem strategischen Nuklear- Gegenteil dessen erreichen, was es anstrebt, angriff (»Erstschlag«) abschrecken. nämlich die eigene Sicherheit vor einem Die vereinbarte »strategische Stabilität« weiteren Vordringen der Nato zu schützen. ist durch jüngere Entwicklungen gefährdet. Auch US-Geheimdienste halten unter- Dazu zählen neue Trägersysteme, die nicht dessen eine begrenzte russische Operation vom New-Start-Vertrag geregelt werden, im Donbas für wahrscheinlicher als eine weitreichende konventionelle Präzisions- großangelegte Invasion. Sie warnen nun und Hyperschallwaffen, strategische Rake- vor russischen »false flag«-Operationen, die tenabwehr und Antisatellitenwaffen. Beide den Vorwand für ein offenes Eingreifen Seiten befürchten, dass die kombinierte Russlands im Donbas liefern sollen. Moskau Anwendung dieses Potentials die nukleare weist dies energisch zurück und befürchtet Zweitschlagfähigkeit unterminieren und weiterhin eine ukrainische Militäropera- einen entwaffnenden Erstschlag ermögli- tion, mit der Kiew den Donbas unter seine chen könnte. Dies wird in den bilateralen Kontrolle bringen wolle. Der Westen habe Gesprächen über die strategische Stabilität Kiew durch politische Parteinahme, Aus- erörtert. bildungshilfe und Waffenlieferungen dazu Aus Washingtons Sicht haben zudem ermutigt. die wachsenden nuklearen Fähigkeiten Chinas das strategische Gleichgewicht und SWP-Aktuell 11 Februar 2022 3
die regionale Balance im ostasiatisch-pazi- von Konflikten, die Achtung der Souverä- fischen Raum verändert. Sie stellen die »er- nität und der territorialen Integrität der weiterte Abschreckung« der USA, die ihren Staaten, die Nichteinmischung in deren ostasiatischen Verbündeten zugute kommt, innere Angelegenheiten und die Unverletz- in Frage. Washington will Peking daher in lichkeit der Grenzen sowie das Bekenntnis die Rüstungskontrolle einbinden. zum Selbstbestimmungsrecht der Völker. Da die USA weit entfernt vom Konflikt- Nach dem Kalten Krieg und der Vereini- schauplatz Europa liegen, sieht sich Moskau gung Deutschlands verständigten sich die im Nachteil, das heißt mit zusätzlichen KSZE-Staaten 1990 auf die Charta von Paris Sicherheitsrisiken in Europa konfrontiert. als Grundlage einer neuen europäischen Dazu zählen die Atomwaffen Frankreichs Sicherheitsordnung. Dort bekannten sie und Großbritanniens sowie die Stationie- sich zu gemeinsamen politischen Normen, rung substrategischer Nuklearwaffen der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und USA in Europa und konventioneller Kräfte zur umfassenden Sicherheitskooperation. der Nato an den Grenzen Russlands. Die Mitglieder der Nato und des damaligen Außerdem befürchtet Moskau eine Warschauer Paktes versprachen, sich künf- künftige Bedrohung durch neue US-Mittel- tig nicht mehr als Gegner zu betrachten, streckenwaffen in Europa. Sie könnten stra- sondern die Sicherheitspartnerschaft für ein tegische Ziele im europäischen Russland er- gemeinsames Europa zu suchen. reichen, sollten Washington und die Nato- Im Zwei-plus-Vier-Vertrag vom 12. Sep- Partner sich zur Stationierung entschließen. tember 1990 wurde vereinbart, dass die Die Nato-Erweiterung hat weitere Statio- Vereinigung Deutschlands nicht zu einem nierungsräume in Mittel- und Osteuropa ge- geopolitischen Nullsummenspiel führen schaffen. Für den Kreml ist die Nato daher solle. Daher verpflichtete sich Deutschland, in erster Linie ein Instrument der USA, um keine Atomwaffen und keine ausländischen geopolitische Interessen zum Nachteil der Truppen in Berlin und den neuen Bundes- Sicherheit Russlands durchzusetzen. Zu die- ländern zu stationieren, aus denen sowje- sem Zweck habe der Westen frühere Verein- tische (russische) Truppen abziehen wür- barungen gebrochen. Dies will Moskau nun den. Es fand also keine militärische Ost- mit neuen Vertragsentwürfen revidieren. verschiebung der Nato statt. Das russische Der Westen bewertet die Entwürfe als Militär verließ Deutschland vereinbarungs- Versuch Moskaus, die europäische Sicher- gemäß bis 1994 und darüber hinaus auch heitsordnung zu ändern. Er hält dem das Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und Recht der Staaten entgegen, ihre Bündnisse die baltischen Staaten. frei zu wählen. Allerdings sind die euro- Um die historische Wende zu erreichen, päischen Sicherheitsvereinbarungen kom- kam der Rüstungskontrolle eine Schlüssel- plexer. Sie binden auch Allianzen. rolle zu. Sie gewährleistete die Achtung der gegenseitigen Sicherheitsinteressen durch ein Netz verflochtener Rüstungskontroll- Europäische Sicherheitsordnung verträge. Schon 1987 schrieben die USA und die Sowjetunion im bilateralen Vertrag In der Schlussakte der Konferenz über über Intermediate- and Shorter-Range Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Nuclear Forces (INF-Vertrag) fest, auf land- (KSZE-Schlussakte) haben sich 1975 alle gestützte Mittelstreckenraketen und Staaten der Nato, des damaligen Warschau- Marschflugkörper mit einer Reichweite er Paktes und der neutralen und blockfrei- zwischen 500 und 5.500 km zu verzichten. en Staaten Europas auf Prinzipien geeinigt, Bis 1991 wurden vertragsgemäß alle etwa wie völkerrechtliche Verpflichtungen unter 2.700 Mittelstreckensysteme zerstört. den Bedingungen des Kalten Krieges in Auf Basis einer informellen Abstimmung Europa umzusetzen sind. Dazu gehören der reduzierten Russland und die USA zudem Gewaltverzicht und die friedliche Beilegung einen großen Teil ihrer taktischen Atom- SWP-Aktuell 11 Februar 2022 4
waffen. Russland zog sie vollständig aus permanente Stationierung substantieller den Stationierungsländern ab; die USA Kampftruppen« vornehmen. Zudem stellte beließen einen Rest in Nato-Europa, um die Nato fest, sie habe keinen Grund, keine dessen »nukleare Teilhabe« zu sichern. Absicht und keinen Plan, Atomwaffen in Mit dem multilateralen Vertrag über den Beitrittsländern zu dislozieren oder dies Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE- logistisch vorzubereiten. Vertrag) von 1990 verpflichteten sich die Diese Vereinbarungen überlagerten Mitgliedstaaten der Nato und des damaligen mündliche Äußerungen des amerikanischen Warschauer Paktes, ein militärisches Gleich- Außenministers James Baker und des gewicht auf niedrigerem Niveau herzustellen deutschen Außenministers Hans-Dietrich und die kollektiven Fähigkeiten zu einem Genscher von 1990, laut denen die Nato regionalen Überraschungsangriff oder zur nicht beabsichtige, sich nach der deutschen großangelegten Aggression zu eliminieren. Vereinigung weiter Richtung Osten auszu- Bis 1996 wurden fast 60.000 Großwaffen- dehnen. Diese Bekundungen spiegelten die systeme abgebaut. Damit waren die Redu- Lage zur Zeit des Zwei-plus-Vier-Vertrags zierungsverpflichtungen bereits weitgehend wider, als das Ende des Warschauer Paktes erfüllt. Die Hauptlast trug dabei wiederum und der Sowjetunion noch nicht absehbar Russland, gefolgt von Deutschland. war. Russland stimmte der ersten Nato- Der KSE-Vertrag war erst 1992 in Kraft Erweiterung von 1999 unter den Bedingun- getreten, nachdem sich der Warschauer Pakt gen zu, die in der Nato-Russland-Grundakte und die Sowjetunion aufgelöst hatten. Doch von 1997 festgeschrieben worden waren. auch aus Moskauer Sicht hatte er weiterhin Trotz der Verstimmung wegen des Koso- strategische Bedeutung für die Stabilität vokrieges der Nato gegen Serbien wurden Europas, weil er die Nato auf ihren Besitz- diese Vereinbarungen zunächst umgesetzt. stand von 1990 begrenzte und ihre geo- Nach kurzer Unterbrechung erörterte der graphische Distanz zu Russland absicherte. Ständige Gemeinsame Rat der Nato-Staaten Das änderte sich erst nach dem Abzug und Russlands ein breites Themenfeld im der russischen Truppen aus Deutschland, gemeinsamen Sicherheitsinteresse. Bei der als die Nato begann, über Beitrittsperspek- Umsetzung der Dayton-Abkommen zur tiven für Polen, Tschechien, die Slowakei Rüstungskontrolle im früheren Jugoslawien und Ungarn zu verhandeln. Moskau sah arbeiteten die beiden Seiten zusammen. darin zunächst einen Bruch früherer Ver- Beim Istanbuler OSZE-Gipfeltreffen 1999 einbarungen und befürchtete die Rückkehr unterzeichneten die KSE-Vertragsstaaten das zur geopolitischen Rivalität. Die Nato de- KSE-Anpassungsabkommen (AKSE). Parallel mentierte dies, unterstrich die Bedeutung dazu verabschiedeten alle OSZE-Teilnehmer- einer stabilen politischen Verankerung der staaten die »Europäische Sicherheitscharta«. vier Beitrittskandidaten und bot Moskau Darin bekennen sie sich erneut zum Ziel, Zusicherungen an, dass die militärische einen gemeinsamen Raum gleicher und Zurückhaltung gewahrt bleiben würde. unteilbarer Sicherheit zu schaffen. Kein In der Nato-Russland-Grundakte vom Mai Staat und keine Organisation könne eine 1997 verpflichteten sich die Bündnispartner vorrangige Verantwortung für die Bewah- und Russland, ihre Sicherheitskooperation rung der europäischen Sicherheit bean- zu vertiefen, die OSZE als gemeinsame spruchen oder besondere Einflusszonen Sicherheitsorganisation zu stärken und den geltend machen. Gleichwohl habe jeder KSE-Vertrag an die neue geopolitische Staat das Recht, einem Bündnis beizutreten Lage anzupassen. Das obsolete militärische oder neutral zu bleiben. Allerdings sollen Blockgleichgewicht sollte durch nationale die Staaten ihre gegenseitigen Sicherheits- und territoriale Obergrenzen für jeden Ver- interessen respektieren und ihre Sicherheit tragsstaat abgelöst werden. Sie würden nicht zu Lasten anderer Staaten stärken. auch die Zahl stationierter Truppen begren- Rüstungskontrolle und Vertrauens- zen. Die Nato werde »keine zusätzliche bildende Maßnahmen seien Kernelemente, SWP-Aktuell 11 Februar 2022 5
um Sicherheit und Stabilität im OSZE-Raum rechtsgültigen Rüstungskontrollregeln zu gewährleisten. Ihr »Eckpfeiler« sei der unterliegen. KSE-Vertrag. Seine Anpassung werde dem Ferner verhinderten die USA, dass die Wandel der Rahmenbedingungen Rech- Zusage, keine zusätzlichen »substantiellen nung tragen, den Vertragsbeitritt weiterer Kampftruppen« dauerhaft zu stationieren, europäischer Staaten ermöglichen und so gemeinsam mit Russland definiert wurde. zur Verbesserung der militärischen Stabili- Dies wäre aber schon deshalb wichtig, weil tät in Europa beitragen. Moskau wirft der Russland gleichlautende Verpflichtungen Nato vor, sie habe sich nach Osten erwei- für die Grenzräume zu den baltischen Staa- tert, ohne die Vereinbarungen einzuhalten. ten, Polen und Finnland eingegangen ist. Stattdessen schufen die USA 2007 eine ständige Militärpräsenz am Schwarzen Meer, Erosion der Vereinbarungen ohne dies vorher im Bündnis oder im Nato- Russland-Rat zu erörtern. Ihre »rotierenden« Das KSE-Anpassungsabkommen ist nicht Kampftruppen in Rumänien und Bulgarien in Kraft getreten, obwohl Russland es 2004 bezeichneten die USA als »nicht substanti- ratifiziert hat. Im Bündnis blockierten die ell«. Beide Staaten gehören aber zum »Flan- USA die Ratifizierung des AKSE, nachdem kengebiet der östlichen Gruppe« der KSE-Ver- George W. Bush 2001 sein Amt als Präsident tragsstaaten, für die besondere Begrenzun- angetreten hatte. Er wollte den Abzug ver- gen und Konsultationspflichten gelten. bliebener russischer Stationierungstruppen Russland hat daraufhin die eigenen aus Georgien und der Republik Moldau Flankenbegrenzungen, welche den Umfang erreichen, um den Nato-Beitritt der Ukraine russischer Truppen im Hohen Norden und und Georgiens vorzubereiten. im Kaukasus limitieren, für obsolet erklärt. Die USA begründeten dies mit bilatera- Schon seit 2002 hatte Moskau argwöhnisch len Zusatzvereinbarungen Russlands mit auf die Entwicklung der georgisch-amerika- Georgien sowie mit der OSZE, die während nischen Militärkooperation (Train and Equip des OSZE-Gipfels in Istanbul den KSE-Ver- Program) geblickt, mit der eine US-Militär- tragsstaaten zur Kenntnis gegeben und in präsenz an der instabilen russischen Kauka- der KSE-Schlussakte zusammengefasst wur- susgrenze eingerichtet wurde. Hatte Mos- den. In der Nato bestand jedoch kein Kon- kau noch 1996 Sanktionen gegen das Sepa- sens darüber, ob die Abzugsverpflichtungen ratistenregime in Abchasien veranlasst, auch für russische Peacekeeper in den Kon- begann es nun, die von Georgien abtrünni- fliktgebieten Abchasien und Transnistrien gen Republiken informell zu stützen. galten, da sie über Mandate der UN und der Den Austritt der USA aus dem Vertrag OSZE verfügten. Auch als Russland 2002 über die Begrenzung strategischer Raketen- zunächst alle KSE-relevanten Waffensyste- abwehrsysteme (ABM-Vertrag) 2002 wertete me aus Transnistrien und 2007 alle Statio- Moskau als Gefahr für die strategische nierungstruppen aus Georgien abgezogen Stabilität. Sie verschärfte sich, als die USA hatte, änderte sich die amerikanische Hal- 2007 mit Polen und Tschechien bilateral tung zum AKSE nicht. Deutschland teilte vereinbarten, dort Raketenabwehrsysteme diese Auffassung zwar nicht, wollte aber zu stationieren. Washingtons Begründung, die Bündnissolidarität nicht brechen. der iranischen Bedrohung begegnen zu Obwohl der AKSE wegen der Blockade müssen, zog Moskau in Zweifel. durch die USA nicht in Kraft getreten war, Den Angriff der USA gegen den Irak 2003 traten der Nato ab 2004 Staaten bei, die dem kritisierte Moskau als Völkerrechtsbruch. KSE-Vertragsregime nicht angehören. So Zwar gab es in der Nato keinen Konsens für entstanden an Russlands Grenzen, nämlich den Krieg, doch Washington konnte sich auf in den baltischen Staaten, potentielle Sta- eine »Koalition der Willigen« stützen, die tionierungsräume der Allianz, die keinen vor allem aus den neuen osteuropäischen Verbündeten bestand. Schon 1999 hatte SWP-Aktuell 11 Februar 2022 6
Moskau den Krieg der Nato gegen Serbien der Westen als illegale Änderung von Gren- als illegalen Angriffskrieg und Verletzung zen durch Gewalt und als Verletzung der des Gewaltverbots gebrandmarkt. Souveränität Georgiens. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz Mit Moskaus völkerrechtswidriger Anne- im Februar 2007 kritisierte Präsident Putin xion der Krim und seiner Unterstützung für diese Entwicklung als Bruch der Vereinba- die Rebellen im Donbas erreichte die Erosion rungen von 1997 und 1999 und unterstellte der europäischen Sicherheitsordnung ihren den USA, sie betreibe Geopolitik zum Nach- Kulminationspunkt. Begonnen hatte sie teil Russlands. Ende 2007 suspendierte er aber schon 2002 mit dem wachsenden Kon- den KSE-Vertrag, dessen Gleichgewichts- fliktpotential zwischen Washington und konzept obsolet geworden war. Moskau. Daran hatte die Geopolitik von Als westliche Staaten die im Februar 2008 Präsident George W. Bush beträchtlichen ausgerufene Unabhängigkeit Kosovos an- Anteil. Sein Nachfolger Barack Obama erkannten, wurden erstmals seit der Charta vermochte nicht, dies zu heilen, trotz der von Paris Grenzen in Europa nach vorheri- Teilerfolge seiner »Reset«-Politik. ger Gewaltanwendung und ohne Zustim- mung des Sicherheitsrates verändert. Mos- kau reagierte, indem es seine informellen Verhandlungslösungen Beziehungen zu Abchasien und Südossetien aufwertete. Deren politischer Status wurde Die Erosion der Sicherheitsvereinbarungen seit den Kriegen 1990–1994 unter Leitung für Europa weist auf eine tiefere Wurzel der UN und der OSZE verhandelt. des Ukraine-Konflikts hin. Es geht Moskau Als Bruchpunkt in den Beziehungen der um die strategische Parität mit den USA Nato zu Russland erwies sich ihr Bukarester und darum, geopolitische Nachteile zu ver- Beschluss vom April 2008, der Ukraine und hindern, die sich aus der Nato-Erweiterung Georgien den Bündnisbeitritt in Aussicht zu ergeben könnten. Vor allem ein Nato-Beitritt stellen. Mit Unterstützung osteuropäischer der Ukraine würde traditionelle Bindungen Staaten wollte Präsident George W. Bush zu prorussischen Volksteilen im Osten des dieses Ziel zügig erreichen, aber Deutsch- Landes zerreißen, weitere Stationierungs- land und Frankreich verhinderten einen räume der Nato in unmittelbarer Nähe rus- konkreten Beitrittsplan. Sie bezweifelten, sischer Kernregionen schaffen und die US- dass die innenpolitischen Verhältnisse der Militärpräsenz in der Schwarzmeerregion Kandidaten den Nato-Standards entsprä- bis zum Don ausweiten. Moskau sieht sein chen. Auch befürchteten sie eine Destabili- Vorgehen wie das der USA in der Kuba- sierung der Ukraine, da die Bevölkerungs- Krise von 1962 legitimiert, um strategische mehrheit den Bündnisbeitritt ablehnte. Zu- Sicherheitsinteressen zu schützen. dem mahnten sie, »rote Linien« Moskaus Diesem Zweck dienen auch die russischen nicht zu überschreiten, um die regionale Vertragsentwürfe vom Dezember 2021. Stabilität und die Sicherheit Europas und Moskau will neue Nato-Beitritte verhindern, der Allianz nicht zu gefährden. die es der Allianz und vor allem den USA Gleichwohl fühlte sich der georgische erlauben, weitere Stationierungsräume an Präsident Saakaschwili durch seine strate- Russlands Grenzen zu schaffen. Auch ver- gische Partnerschaft mit den USA ermutigt, langt Moskau Zusicherungen, dass die Nato am 7. August 2008 ossetische Milizen und auf grenznahe Truppenstationierungen und russische Peacekeeper in der südossetischen die Dislozierung von Raketen und Atom- Stadt Zchinwali anzugreifen. Der russische waffen in Schlagdistanz verzichtet. Moskau Gegenschlag vertrieb die georgische Armee ist dabei auf das strategische Gleichgewicht aus Südossetien und eröffnete eine zweite mit den USA fixiert. Die geopolitische Asym- Front in Abchasien. Dass Moskau nach dem metrie zwischen der Insellage der USA und Waffenstillstand die beiden abtrünnigen der Zentrallage Russlands im eurasischen Regionen als »Staaten« anerkannte, wertete Kontinent stellt jedoch Verhandlungen vor SWP-Aktuell 11 Februar 2022 7
politische und konzeptionelle Herausforde- gegangen ist. Gerade ihre nukleare Dimen- rungen. Dass der Kreml die Sicherheitsinter- sion und die Führungsrolle der USA legen essen seiner europäischen Nachbarn dem ihr besondere Verantwortung für die strate- eigenen Sicherheitsbedürfnis unterordnet, gische Stabilität in Europa auf. ist aus europäischer Sicht nicht akzeptabel. Zu diesem Zweck wäre es sinnvoll, ein Somit stellt sich die Frage, wie die Prinzi- Moratorium für die Stationierung neuer pien der europäischen Sicherheitsordnung INF-Waffen in Europa zu vereinbaren, so- so umgesetzt werden können, dass sowohl fern die Verifikation der Reichweite stritti- die Sicherheit Russlands als auch die seiner ger Systeme sichergestellt werden kann. Nachbarn und deren Recht auf freie Bünd- Die Nato-Russland-Grundakte rechtfertigt © Stiftung Wissenschaft niswahl gewahrt werden können. Dies ist in nicht Moskaus Forderung, aus den Nato- und Politik, 2022 den Jahren 1990–1999 gelungen, indem Beitrittsländern all jene Truppen abzuzie- Alle Rechte vorbehalten Stationierungsbegrenzungen für die Beitritts- hen, die nach dem Mai 1997 dort stationiert länder vereinbart wurden. Doch die Sicher- wurden. Vielmehr sollte die Formel »Ver- Das Aktuell gibt die Auf- heitsgarantien wurden nicht umgesetzt. So zicht auf die ›zusätzliche dauerhafte Statio- fassung des Autors wieder. wurde weder die Rüstungskontrolle ange- nierung substantieller Kampftruppen‹« nun In der Online-Version dieser passt noch die OSZE als Zentrum der euro- einvernehmlich definiert und die rezipro- Publikation sind Verweise päischen Sicherheitsordnung gestärkt. ken Verpflichtungen Russlands eingefordert auf SWP-Schriften und Die russischen Vertragsvorschläge legen werden. wichtige Quellen anklickbar. daher zwei Verhandlungskomplexe nahe, Moskaus Forderung an die USA, taktische SWP-Aktuells werden intern die sich in ihrer politischen Qualität grund- Atomwaffen aus Europa abzuziehen, ist ein einem Begutachtungsverfah- sätzlich unterscheiden: Eine Revision ver- Thema für ein New-Start-Folgeabkommen. ren, einem Faktencheck und einbarter Prinzipien der europäischen In der Grundakte hat die Nato zugesagt, sol- einem Lektorat unterzogen. Sicherheitsordnung, etwa der freien Bünd- che Waffen nicht nach Osten zu verlegen. Weitere Informationen niswahl, ist nicht konsensfähig. Allerdings Nicht nur in Moskaus, sondern auch im zur Qualitätssicherung der sind auch reziproke Sicherheitsgarantien, westlichen Interesse liegen die russischen SWP finden Sie auf der SWP- Website unter https://www. vor allem durch Rüstungskontrolle, Teil der Vorschläge, ein konventionelles Stabilitäts- swp-berlin.org/ueber-uns/ vereinbarten Sicherheitsordnung. Daher regime einzurichten, Zwischenfälle auf und qualitaetssicherung/ sind Stationierungsbegrenzungen durchaus über der Hohen See zu vermeiden sowie verhandelbar, sofern sie keine Zonen min- Übungen in Grenzräumen nur noch bis zur SWP derer Sicherheit schaffen. maximalen Größenordnung einer Heeres- Stiftung Wissenschaft und Politik Unrealistisch ist hingegen Moskaus brigade zuzulassen und zu verifizieren. Sie Deutsches Institut für Forderung, die Allianz solle ihre Erklärung sollten im Detail verhandelt werden. Wash- Internationale Politik und von 2008 zurücknehmen, mit der sie der ington und Moskau könnten die militäri- Sicherheit Ukraine und Georgien einen Nato-Beitritt in sche Transparenz stärken, wenn sie zum Aussicht stellte. Die Bündnispartner könn- Open-Skies-Vertrag zurückkehrten. Ludwigkirchplatz 3–4 ten aber feststellen, dass seither de facto ein Das Minsk-II-Abkommen bleibt ein zen- 10719 Berlin Telefon +49 30 880 07-0 Beitrittsmoratorium gilt und dass es auf traler Baustein dafür, den Ukraine-Konflikt Fax +49 30 880 07-100 absehbare Zeit weiterbestehen wird, weil zu beenden. Vor allem müssen dessen stra- www.swp-berlin.org die Beitrittskriterien – politische Reife der tegische Ursachen eingehegt werden, um swp@swp-berlin.org Kandidaten, Zuwachs an Sicherheit für das die europäische Stabilität wiederherzustel- Bündnis und Konsens dort – nicht erfüllt len. Dazu ist ein strategischer Interessen- ISSN (Print) 1611-6364 ISSN (Online) 2747-5018 werden. Die Allianz kann indes nicht garan- ausgleich zwischen den USA, der Nato und doi: 10.18449/2022A11 tieren, dass sich diese Lage nie ändern wird. Russland erforderlich. Um die Eskalation zu Gleichwohl begründet das Recht auf freie stoppen, muss die Rüstungskontrolle wie- Bündniswahl kein Recht auf einen Nato- derbelebt werden. Scheitert dies, könnten Beitritt, denn die Allianz unterliegt beson- zusätzliche Stationierungen und Manöver deren Verpflichtungen, die sie im Rahmen an den Nato-Russland-Kontaktlinien in des strategischen Interessenausgleichs ein- Osteuropa die Lage weiter destabilisieren. Oberst a.D. Wolfgang Richter ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. SWP-Aktuell 11 Februar 2022 8
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