Ukraine-Krieg: Tödlicher Jahrestag

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Ukraine-Krieg: Tödlicher Jahrestag
Spezial

                                                                                                                   Ukraine-Krieg:
                                                                                                                   Tödlicher
                                                                                                                   Jahrestag
                                                                                                                   Am 24. Februar jährt sich der Angriffskrieg
                                                                                                                   Russlands gegen die Ukraine. Seither ist
                                                                                                                   Ärzte ohne Grenzen im Kriegsgebiet
                                                                                                                   überall dort im Einsatz, wo Hilfe
                                                                                                                   gebraucht wird. Das reicht von der
                                                                                                                   Evakuierung Kriegsverletzter per Zug bis
                                                                                                                   hin zur Betreuung chronisch Kranker.

                                                                                                                   von Tankred Stöbe

                                                                                                                   S
                                                                                                                            o überraschend der Krieg in der Ukraine aus-
                                                                                                                            brach, müssen wir nun den Jahrestag dieses
                                                                                                                            leidvollen und tödlichen Konfliktes anerkennen,
                                                                                                                            ohne eine tröstliche Perspektive für sein Ende
                                                                                                                   zu kennen. Dabei sollten wir nicht vergessen, dass der
                                                                                                                   Konflikt nicht erst am 24. Februar 2022 begann, sondern
                                                                                                                   neun Jahre früher, mit der Annexion der Krim. Alle direkt
                                                                                                                   Beteiligten machen sich wenige Illusionen über seine
                                                                                                                   Grausamkeit. Allen Mitarbeitenden von Ärzte ohne Gren-
                                                                                                                   zen (Médecins Sans Frontières, MSF) werden vor der
                                                                                                                   Ausreise die Risiken klar kommuniziert. Zudem durch-
                                                                                                                   laufen wir ein CBRN-Training. Das Kürzel steht für

                                                                          Helfen, wo Lücken
                                                                            sichtbar werden

                                                                 Um verletzte oder schwer kranke
                                                                       Patientinnen und Patienten
                                                                  evakuieren zu können, hat Ärzte
                                                                            ohne Grenzen (MSF) in
                                                                          Zusammenarbeit mit der
                                                                   ukrainischen Staatsbahn einen
                                                                Zug in ein rollendes Krankenhaus
                                                                   umgewandelt. Eine der größten
                                                                  Nöte sind die unzähligen Kriegs-
                                                              verletzungen. Der 27-jährige Soldat
                                                            Timofej war im Sommer nahe Cherson
                                                                    auf eine Mine getreten, wie er
                                                                    Dr. Tankred Stöbe (r.) von MSF
                                                             schilderte. Er verlor sein linkes Bein,
                                                                das rechte wurde schwer verletzt.

                                                                                       Fotos: Ärzte ohne Grenzen

16   Rheinisches Ärzteblatt / Heft 2 / 2023   Rheinisches Ärzteblatt / Heft 2 / 2023                                                                                     17
Ukraine-Krieg: Tödlicher Jahrestag
Spezial

                                 ­Chemical-Biological-Radiological-Nuclear Emergency             Behandlungsbetten immer die Hälfte freizuhalten, weil
                                  und ist neu für MSF, aber angemessen für den Kontext.          sie nun täglich 50 bis 70 frisch Verletzte aufnehmen
                                  Per Online-Modul wird kurz durch die verschiedenen             müssen, je zur Hälfte Zivilisten und Soldaten. Nach einer
                                  Gefahren-Szenarien geführt und was im Katastrophenfall         chirurgischen Erstversorgung werden die Patienten nach
                                  zu tun wäre. Danach bekommen alle einen Rucksack               wenigen Tagen ins Landesinnere verlegt.
                                  ausgehändigt mit Schutzkittel, Gasmaske und Notfall-                Im Distriktkrankenhaus der Stadt sind 100 nieren-
                                  medikamenten, diesen müssen wir immer mit uns tragen.          kranke Patienten auf ihre regelmäßige Dialyse ange­
                                      In der Ukraine geht es auf Straßen und Schienen            wiesen, die einzige Klinik im großen Umfeld, die diese
                                  ­weiter, der Luftverkehr wurde kriegsbedingt längst ein-       l­ebens­erhaltende Therapie anbietet. Fast täglich errei-
                                   gestellt. Ende August 2022 fahre ich erstmals in den Süden    chen verzweifelte Zivilisten das Büro von MSF, die es
                                                                                                 gerade noch geschafft haben, aus ihren Dörfern heraus-
            Tausende                                                                             zukommen, die in der Kampfzone eingeschlossen sind,
       Menschen mit                                                                              direkt zwischen den Feindeslinien. Dort müssen die
      Amputationen                                                                               ­übrigen Dorfbewohner ausharren, manche, weil sie nicht
             bedürfen                                                                             fliehen können, andere, weil sie nicht wollen. Aber sie
     dringender und                                                                               haben keinen Strom mehr, kein Wasser, keine Nahrungs-
        umfassender                                                                               mittel und keine Medikamente. Die Geflüchteten zeigen
      Unterstützung.                                                                              uns Listen mit Medikamenten, die sie dringend benötigen.
  Neben der Kriegs-                                                                               Es hat sich herumgesprochen, dass wir Hilfe anbieten.
       chirurgie sind
             das früh­-                                                                          100.000 Tote und Verletzte
  re­habilitatorische
   Maßnahmen und                                                                                       Die wirkliche Dimension dieses Krieges zu erfassen,
eine psychologische                                                                              ist nicht möglich. Die humanitäre Situation ist ange-
        Behandlung.                                                                              spannt: jeweils rund sieben Millionen Menschen sind
      Foto: Ärzte ohne Grenzen                                                                   nach Angaben des Amtes der Vereinten Nationen für
                                                                                                 die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten
                                                                                                 (OCHA) innerhalb der Ukraine vertrieben oder über die
                                                                                                 Landesgrenzen geflohen. Die Gesamtzahl der offiziell
                                                                                                 bestätigten Kriegsopfer gibt die Wirklichkeit nicht wie-
                                                                                                 der, seriöse Schätzungen gehen von 100.000 Toten und
                                                                                                 Verletzten aus, auf beiden Konfliktseiten.
                                                                                                       Das ukrainische Gesundheitssystem kann die drän-
                                                                                                 gendsten kriegschirurgischen Herausforderungen bis-
                                                                                                 her einigermaßen bewältigen. Allerdings gibt es Eng-
                                                                                                 pässe. Mit Kriegsbeginn am 24. Februar sind die Zahlen
                                 des Landes, zur Front bringt mich der Nachtzug. Morgens         der COVID-19-Erkrankungen auf null gefallen. Aber
                                 erreiche ich die Hafenstadt Odessa, von dort geht es mit        nicht, weil die Pandemie plötzlich zu Ende ging, son-
                                 dem Auto zu unserem Team in Mykolajiw. Nach der Be-             dern weil die Testungen um 90 Prozent zurückgingen.
                                 grüßung müssen wir wegen Raketenalarm gleich in den             In Kiew nehmen im Spätsommer 2022 die COVID-19-­Fälle
                                 Schutzbunker. Anders als in der Hauptstadt hören wir            in den Krankenhäusern wieder zu. Aber auch andere
                                 hier erst die Einschläge und dann die Sirenen, die Flug-        Infektionskrankheiten wie Hepatitis, HIV und Tuber-
                                 dauer ist einfach zu kurz. Tag und Nacht begleitet uns          kulose sowie chronischen Erkrankungen werden nicht
                                 nun das tiefe Grollen der Bombeneinschläge, meist sind          mehr ausreichend behandelt.
                                 sie weiter entfernt. Von den 500.000 Menschen haben                   MSF versucht, überall dort zu unterstützen, wo
                                 fast die Hälfte die Stadt verlassen, die Schulen, die Univer­   ­Lücken sichtbar werden, und unsere Hilfe gebraucht
                                 sität und die Krankenhäuser wurden bombardiert, alle             wird. Mit hunderten mobilen Klinik-Einsätzen nahe der
                                 Bildungseinrichtungen sind geschlossen. Das Stadtbild            ­Frontlinie oder während der ersten Monate in den
                                 prägen wenige, meist alte Menschen, aber keine Kinder.            U-Bahn-Schächten in Charkiw. Vor allem die Behand-
                                     Der Klinikdirektor eines Notfallkrankenhauses in              lung c­ hronischer Erkrankungen und psychosozialer
                                 Mykolajiw berichtet mir, dass in den vergangenen 200              Beschwerden kommt zu kurz.
                                 Kriegstagen nur vier ohne Angriffe auf die Stadt ver-                 In Zusammenarbeit mit der ukrainischen Staatsbahn
                                 gangen seien. Dann zeigt er mir das Krankenhaus, das            haben wir einen medizinischen Zug auf den Weg ge-
                                 durch einen Bombenangriff am 1. August schwer be-                 bracht, der verletzten Patienten in westlichen Landes-
                                 schädigt wurde. Das passt ins Bild. Die Weltgesundheits-          teilen die notwendige Behandlung ermöglicht. MSF
                                 organisation (WHO) verzeichnet im Durchschnitt täglich            baute dafür Personenwagen zu medizinischen Abteilen
                                 mehr als zwei Angriffe auf das Gesundheitswesen und               um. Dieser große Eisenbahnkrankenwagen ermöglicht
                                 als Folge Dutzende Verletzte und Tote. In der Klinik in           es den Ärzten und Pflegenden, auch schwerkranke
                                 Mykolajiw versuchen sie, von ihren verbleibenden 340              ­Patienten, die Sauerstoff oder eine intensivmedizinische

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Ukraine-Krieg: Tödlicher Jahrestag
Spezial

Behandlung benötigen, unterwegs zu versorgen. Somit         Das Schlimmste: Er durfte nicht schreien
können Krankenhäuser in oder nahe der aktiven Kriegs-
gebiete Betten freimachen, um neue Verwundete auf­              Einer dieser Patienten ist Timofej, ein 27-jähriger
zunehmen. Seit Beginn des Projekts am 31. März 2022         ­ oldat, der gut englisch spricht und mir gerne und offen
                                                            S
konnte der medizinische Evakuierungszug in 80 Fahrten       Auskunft gibt. Er war Ende Juni in der Nähe von Cherson
über 2.600 Kranke transportieren, davon sind 43 Prozent     an einem Flusslauf unterwegs, als er kurz vor Mitter­-
akute Trauma- und zehn Prozent Intensiv-Patienten.          nacht auf eine Landmine trat. Zuerst empfand er keinen
    Unser Team besteht aus 800 ukrainischen und inter-      Schmerz, sackte aber zusammen. Wegen der Dunkelheit
nationalen Mitarbeitenden. Ein weiteres Projekt haben       konnte er das Ausmaß seiner Verletzung nicht erkennen,
wir seit Juni in enger Zusammenarbeit mit dem Ministe-      aber seine Unterschenkel nicht mehr spüren. Dann schos-
rium für Sozialpolitik begonnen, um demente, behin-         sen die Schmerzen ein und er merkte, wie er Blut verlor
derte und bettlägerige Menschen aus ihren spezialisier-     und schnell etwas tun musste, um nicht zu verbluten.
ten Institutionen zu evakuieren. Diese liegen in der Nähe   Timofej hatte Tourniquets zum Abbinden von Glied­
der Frontlinie, daher besteht eine direkte und unmittel-    maßen im Rucksack, aber weil auch seine Hände verletzt
bare Bedrohung durch Granatenbeschuss oder das Fort-        waren, konnte er sie nicht anlegen. Ein Kamerad half
schreiten der Bodenkämpfe. Hinzu kommen der Mangel          ihm, dann musste er stundenlang warten, bis er geborgen
an Strom, Heizung, Wasser- und Lebensmittelversor-          wurde. Das Schlimmste war für ihn, so berichtet er mir,
gung, die durch den Krieg und den Winter bedingt sind.      dass er nicht schreien durfte. Das hätte die feindlichen
Vor einer Evakuierung der Betroffenen im Donbass und        Truppen auf sie aufmerksam gemacht. Später lehnte er
in der Region Saporischschja führen wir eine indivi­        Schmerzmittel ab, weil er sein Bewusstsein nicht ver-
duelle medizi­nische und psychiatrische Untersuchung        lieren wollte. Der junge Mann verlor sein linkes Bein, das
durch, einschließlich der Einwilligungsfähigkeit. Dies      rechte wurde schwer verletzt. Dennoch erinnert er sich
ist eine komplexe Herausforderung, da diese Menschen        an jede Sekunde, seit er auf die Mine trat.
auf den meist zweitägigen Transport gut vorbereitet und         Ein anderer Patient ist Anatolie, der zunächst unver-
beim Wechsel der Unterkunft auch psychologisch unter-       letzt wirkt. Er ist 32 Jahre alt. Die letzten sechs Monate
stützt werden müssen. Nach einem festgelegten medi-         war er pausenlos an der Front, von seiner 120-köpfigen
zinischen Protokoll werden die Patienten mit einem          Truppe haben nur 13 überlebt, zudem verlor er zwei
Krankenwagen zu unserem medizinischen Zug gebracht,         Brüder und vier Onkel und viele seiner Freunde. Wann
der sie dann in westukrainische Regionen transportiert.     und wie genau er verletzt wurde, daran kann er sich
Mit Ambulanzfahrzeugen werden sie anschließend in           nicht erinnern, sein Rücken zeigt Narben von Splitter-
Pflegeeinrichtungen gebracht, wo wir sie einen weiteren     verletzungen. Schlimmer als diese sind seine furcht-
Monat lang betreuen. Über 120 dieser Evakuationen           baren Schmerzen am gesamten Körper, er kann nicht
­haben wir bisher durchgeführt.                             mehr schlafen. Auch unsere Physiotherapeuten sind
                                                            ratlos, jede kleinste Berührung tut ihm weh, die mit den
Frühe Physiotherapie für Amputierte                         äußeren Verletzungen nicht erklärbar sind. Hier drücken
                                                            sich vor allem die seelischen Traumatisierungen aus.
    Eine der größten Nöte sind die unzähligen Kriegs-           Seit Oktober beschädigen unzählige Bombenan­griffe
verletzungen, tausende Menschen mit Amputationen            die ukrainische Infrastruktur massiv, die Strom- und
bedürfen dringender und umfassender Unterstützung.          Wärmeversorgung bricht vielerorts zusammen und er-
Neben der Kriegschirurgie sind das frührehabilitatori-      schwert das Überleben der Menschen im Winter. Das
sche Maßnahmen und eine psychologische Behand-              gilt auch für die Krankenhäuser, die auf Generatoren
lung. Eine moderne Physiotherapie wurde in der              angewiesen sind, die überall fehlen.
­Ukraine zwar 2015 eingeführt, aber erst in diesem Jahr         Mitte November erreichten MSF-Teams als erste die
 umgesetzt. Bisher war es üblich, die Patienten nach        von ukrainischen Truppen zurückeroberte Stadt
 mehrwöchigen chirurgischen Behandlungen in Sana-           ­Cherson und konnten innerhalb einer Woche über 600
 torien zu verlegen, wo sie dann weitere Wochen statio-      medizinische Konsultationen durchführen, besonders
 när mit Hydrotherapie, Elektrostimulation und Mas­          Menschen mit chronischen Erkrankungen sind betrof-
 sagen ein standardisiertes Programm absolvierten.           fen. Und weil auch die Psychiatrische Klinik schwer
    MSF arbeitet inzwischen mit zwei großen Kliniken         getroffen und von der Energieversorgung abgeschnitten
 in Kiew und Winnyzja zusammen, nachdem wir zuvor            wurde, half MSF, die 400 Kranken in Bussen und mit
 monatelang Kontakte geknüpft und Vertrauen aufge-           der Bahn in Einrichtungen entfernt von der Frontlinie
 baut haben. Unser Ansatz ist, nach wissenschaftlichen       zu evakuieren.
 Erkenntnissen ab der zweiten Woche nach Akuttrauma             Anatolie und Timofej haben ihre schweren Verlet-
 mit frühen und mit speziell angepassten individuellen       zungen überlebt, wenn auch knapp. Für die künftigen
 Behandlungen Patienten gemäß ihrer Verletzungsmus-          Opfer dieses Krieges bleibt nur die Hoffnung, dass ir-
 ter zu helfen, inklusive Vor- und Nachbereitung bei         gendwann Frieden möglich wird. Und auch wenn ein
 Prothesenversorgung. Mittlerweile konnten unsere            Ende dieses grausamen Krieges nicht abzusehen ist,
 Teams über siebenhundert Sitzungen durchführen, mit         die Hoffnungen auf eine Friedenslösung sollten nicht
 guten Ergebnissen.                                          begraben werden.

                                     
Rheinisches Ärzteblatt / Heft 2 / 2023                                                                                        19
Ukraine-Krieg: Tödlicher Jahrestag Ukraine-Krieg: Tödlicher Jahrestag
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