Die Prinzessin und der Pjär - Materialien zur Uraufführung Ein Theaterstück von Milena Baisch für Menschen ab 8 Jahren
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Materialien zur Uraufführung Die Prinzessin und der Pjär Ein Theaterstück von Milena Baisch für Menschen ab 8 Jahren
»Die Prinzessin und der Pjär« Liebe Leserin, lieber Leser, zu jedem Halbjahreszeugnis erscheinen Berichte über verstörte, gefährdete Schüler in den Medien, zu jedem Schuljahresbeginn über Schwierigkeiten der Schulanfänger. Der Theater-‐ autor Lutz Hübner beschreibt in seinem Stück ‚Frau Müller muss weg’ einen eskalierenden Elternabend im Übergang von Grund-‐ auf Oberschule. Dies gestaltet er höchst komödiantisch, kommentiert aber: „Alle ungelösten Probleme der Gesellschaft werden in die Schule durchge-‐ reicht.“ Milena Baisch hat nun die Geschichte aus Kinderperspektive geschrieben: Wie fühlt es sich an, wenn man immer schlechte Noten hat, wenn man sieht, wie die Anderen alles gleich verstehen und man selbst nicht mitkommt. Kann wiederum ständiges Lob auch Druck aus-‐ üben? Die Eltern von Lisasophie und Pierre wollen sicher das Beste für ihr Kind, aber kann das Kind dem gerecht werden? Und was ist, wenn nicht? Wann darf Pierre einfach Pierre sein oder Lisasophie einfach spielen? Wir haben weiterführende Texte für Sie zusammengestellt zur Sicht auf Kindheit, zum Verhal-‐ ten Erwachsener in der Beziehung zu Kindern und zum gesellschaftsrelevanten Aspekt dieser Fragen. Wie wir das ‚Lernen’ definieren, wie wir Bildungsangebote gestalten wird mitentschei-‐ den über die Frage, wohin sich unsere Gemeinschaft entwickelt. Um mit Gruppen von Kindern und/ oder Erwachsenen einen Vorstellungsbesuch vorzuberei-‐ ten oder zu reflektieren finden Sie außerdem theaterpädagogische Spielangebote. Viel Freude beim Lesen und Ausprobieren! Laura Klatt Kirstin Hess Theaterpädagogin Dramaturgin 2
»Die Prinzessin und der Pjär« Inhaltsverzeichnis Vorwort Besetzung der Uraufführung 6 Rund ums Stück 7 Kapitel 1: KINDHEIT 8 Bespaßt, verwöhnt und übersehen: Das Kind Felicitas Römer 11 Wie man ein Kind lieben soll Janusz Korczak 12 Sich seiner selbst bewusst werden Jesper Juul 13 Mensch und Bildung Vanessa-‐Isabelle Reinwand 14 Kapitel 2: ERWACHSENE 15 Eure Kinder sind nicht eure Kinder Khalil Gibran 17 Arme Superkinder Felicitas Römer 18 Müssen nur wollen Wir sind Helden 19 Über die Wurzeln von Wut und Hass Götz Eisenberg 20 Kapitel 3: GESELLSCHAFT 21 Vision einer demokratischen Revolution Hans-‐Joachim Maaz 23 Warum Bildung wichtig ist Max Fuchs 24 Kleine Menschen, große Not Felicitas Römer 26 Die Schule überleben Dieter Baacke 27 Sechs Milliarden Wege zum Glück Stefan Klein 28 Kapitel 4: SPIELERISCHE ANREGUNGEN 28 Fragen zum Stück 31 Spiele und Übungen zum Stück • Einstieg 32 • Hauptteil 35 • Abschluss 36 Die Klage – Ernst Jandl 37 Literaturverzeichnis 38 Dank/Impressum 39 4
»Die Prinzessin und der Pjär« Besetzung der Uraufführung Prinzessin und der Pjär Ein Theaterstück von Milena Baisch für Menschen ab 8 Jahren Ausgezeichnet mit dem Berliner Kindertheaterpreis 2013, dem Autorenwettbewerb von GRIPS und GASAG. Alessa Kordeck Lisasophie Roland Wolf Pierre Regie Grete Pagan Musik David Pagan Bühne und Kostüm Lena Hinz Dramaturgie Kirstin Hess Theaterpädagogik Laura Klatt Regieassistenz Janina Reinsbach Licht Klaus Reinke Ton Lennart Bogade, Merlin Rothe Bühnenbau Mark Eichelbaum, Moses Wachsmann Requisite Oliver Rose, Tobias Schmidt Schneiderei Anne Rennekamp, Sabine Winge Maske Sedija Husak, Sarah-‐Jane Ruhnow Aufführungsrechte Verlag der Autoren GmbH & Co KG, Frankfurt Premiere 06.10.2013 5
»Die Prinzessin und der Pjär« Rund ums Stück Zum Stück Lisasophie und Pierre gehen in die gleiche Grundschulklasse, was nicht heißt, dass sie sich deswegen mögen. Bei Lisasophie läuft scheinbar alles rund, sie schreibt sehr gute Noten, spielt hervorragend Geige und gilt generell als Musterkind. Pierre ist das genaue Gegenteil, nichts klappt bei ihm, selbst Nachhilfe, Logopädie und Ergotherapie verhelfen ihm nicht zu besseren Noten. Eben hat er auch noch eine entscheidende Mathe-‐Arbeit vergeigt. Ausgerechnet diese beiden werden versehentlich im Mädchenklo der Schule eingeschlossen! In dieser Situation erkennen sie, dass sie beide auf ihre Weise unter dem Druck, den Wünschen von Schule und Eltern gerecht zu werden leiden. Über Streit, Spiel und allmählicher Annähe-‐ rung erkennen sie, dass sie mehr Gemeinsamkeiten haben als gedacht und das es gut tut zu spüren, dass man mit seinen Gedanken, Gefühlen und Ängsten, nicht alleine ist... Die preisgekrönte Kinderbuchautorin Milena Baisch hatte sehr klar vor Augen, worüber sie ihr erstes Theaterstück für Kinder schreiben wollte: über Leistungsdruck in der Schule -‐ und zwar aus der Perspektive von Kindern! Während des Schreibworkshops im Rahmen des "berliner kindertheaterpreises", dem Nachwuchs-‐Autorenwettbewerb von GRIPS und GASAG, schloss sie sich mit zwei Schauspielern und einer Dramaturgin in der Toilette des Podewils ein und im-‐ provisierte mutig drauf los. Auf Basis des Erlebten schrieb sie ein Theaterstück -‐ und gewann prompt mit "Die Prinzessin und der Pjär" den berliner kindertheaterpreis 2013! Und das nicht nur wegen des ungewöhnlichen Schauplatzes. „Milena Baisch erzählt ein ernstes Thema ganz leicht, dennoch voller Spannung, mit viel Situationskomik und mit Hilfe schneller, pointierter Dialoge. Nicht ‚Warten auf Godot’. Sondern ‚Warten auf dem Klo’.“, begründete die Preisjury. Zur Autorin Die 1976 in Wuppertal geborene Milena Baisch studierte „Drehbuch“ an der Deutschen Film-‐ und Fernsehakademie Berlin (dffb) und lebt hier als freie Autorin. Neben Drehbüchern hat sie Kinderbücher und einen Jugendroman veröffentlicht. Für ihren Kinderroman "Anton taucht ab" erhielt sie den Deutschen Jugendliteraturpreis, ihre Hörspielfassung des Romans wurde mit dem "Deutschen Kinderhörspielpreis" ausgezeichnet. „Die Prinzessin und der Pjär“ ist ihr erstes Theaterstück. Zur Regisseurin: Grete Pagan ist 1983 in Stuttgart geboren. Sie assistierte drei Jahre am Jungen Ensemble Stutt-‐ gart bevor sie ihr Regiestudium an der Theaterakademie in Hamburg aufnahm, dass sie 2012 abschloß. Ihre Bachelorarbeit war die Ensembleproduktion „Und woher weiß ich, wer ich bin?“, ein Theaterabend über Gedächtnis und Identität, in Kooperation mit Kampnagel Hamburg. Sie wurde mit ihren Arbeiten zur Young Actors Week, Salzburg und dem Kaltstart-‐Festival Ham-‐ burg, sowie zum Kiezstürmer! Festival Hamburg eingeladen. Sie inszeniert am Jungen Schau-‐ spielhaus Hamburg, dem Jungen Ensemble Stuttgart und dem moks Bremen. Mit ihrem Team, der Bühnen-‐ und Kostümbildnerin Lena Hinz und dem Musiker David Pagan, arbeitet sie zum ersten Mal am GRIPS Theater. 6
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»Die Prinzessin und der Pjär« Kapitel 1: Kindheit Ro- lan d Wol f, Ales sa Kor dec k Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen. 8 Theodor W. Adorno
»Die Prinzessin und der Pjär« Aus Szene 4 LISASOPHIE Du kriegst sicher noch eine Chance. Wenn du dich gut im Unterricht beteiligst. Vielleicht kannst du eine extra Aufgabe machen. Was basteln... PIERRE Es sind jetzt einfach zu viele Fünfen! Lisasophie glotzt ihn fasziniert an. LISASOPHIE Oh my God. Sitzenbleiben. PIERRE Wollen wir mal was anderes machen? LISASOPHIE Dann kommst du in eine neue Klasse. PIERRE Vielleicht was spielen oder so? Ich sehe was, was du nicht siehst und das ist ... grün. LISASOPHIE Die Wand? PIERRE Mist. LISASOPHIE Lag es wirklich nur an der einen Mathearbeit? Vielleicht kannst du sie nochmal schreiben. PIERRE Schiffe versenken? Tic Tac Toe? Was ist? LISASOPHIE Nix. PIERRE Wir spielen einfach ... wir sind eingesperrt. LISASOPHIE Was? PIERRE Ja, von Cyberrittern. Die haben uns mit einem Raumschiff entführt und in diesen Turm gesperrt. LISASOPHIE Nein, danke. PIERRE Du bist die Prinzessin. Du sitzt am Fenster und spielst traurige Lieder auf deiner Leier. Schade, dass wir nicht in unser Klassenzimmer können, da liegen ja noch die Kostüme. LISASOPHIE Bist du dann wieder der Bär? PIERRE Heute nicht. LISASOPHIE Das passt aber so gut, wegen der großen Füße. PIERRE Ich bin ein Ritter. Nee, ein Retter! 9
»Die Prinzessin und der Pjär« Bei der Geburt verfügt unser Gehirn über 100 Milliarden Neuronen, das sind so viele Nervenzellen, wie unsere Milchstraße Sterne hat. Hartmut Kasten, Frühpädagoge, Entwicklungspsychologe, Familienforscher Bespaßt, verwöhnt und übersehen: Das Kind Von Felicitas Römer Dass das Kind ein zwar unreifes, aber den-‐ tertitel des Bestsellers „Kinderjahre“ von noch vollwertiges und stets zu respektieren-‐ Remo Largo aus dem Jahr 1999. Die darin des Wesen ist, halten wir heute für einiger-‐ beschriebene Grundannahme: Der Erwach-‐ maßen selbstverständlich. Dabei sind unsere sene habe sich in seinem Erziehungsverhal-‐ Vorstellungen vom Kind als Person mit eige-‐ ten an den individuellen Bedürfnissen und nen Rechten sehr neu. Immerhin entschieden dem Entwicklungstempo des jeweiligen Kin-‐ deutsche Gerichte erst 1968, dass die Artikel des zu orientieren. Das Kind wird nicht mehr 1 und 2 des Grundgesetzes, die da lauten: als Knetmasse betrachtet, die der Erwachse-‐ „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, ne nach Belieben formen kann. Oder als lee-‐ „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung res Gefäß, das wir mit Wissen und Weishei-‐ seiner Persönlichkeit“, und „Jeder hat das ten zu füllen hätten. Erst wenn wir das Indi-‐ Recht auf ein Leben und körperliche Unver-‐ viduelle, das Einzigartige des Kindes berück-‐ sehrtheit“, uneingeschränkt auch für Kinder sichtigen – so die neue Maxime –, können wir gelten. Ein allgemeines Züchtigungsverbot dem Kind das geben, was es für seine Ent-‐ konnte in Deutschland sogar erst 1998(!) wicklung braucht. In diesem Sinne sind alle durchgesetzt werden [...]. verallgemeinernden Erziehungstipps nutz-‐ Das Kind wird nunmehr als Individuum be-‐ los. So formuliert der Psychiater Wilhelm trachtet, das ernst genommen, in seiner Inte-‐ Rotthaus einleuchtend: „Es gibt [...] keine grität geschützt und respektiert werden »richtige« oder »falsche« Erziehung. Es gibt muss. Das erscheint als Ausdruck einer fort-‐ [...] jedoch die aufmerksame Erzieherin, die schreitenden Individualisierung der post-‐ das Kind sensibel beobachtet und ihre modernen Gesellschaft logisch und richtig. Wahrnehmungen dieses einen, in seiner Art Und weil wir eine veränderte Vorstellung einzigartigen Kindes zum Ausgangspunkt vom Kind haben, haben sich auch unsere ihrer erzieherischen Beeinflussungsversuche Erziehungsvorstellungen verändert. „Die macht.“ Individualität des Kindes als erzieherische Aus: Römer, Felicitas. Arme Superkinder. Herausforderung“ lautet dann auch der Un-‐ Weinheim / Basel, 2011 10
»Die Prinzessin und der Pjär« Wie man ein Kind lieben soll von Janusz Korczak • Wie, wann, wieviel – warum? 3. Das Recht des Kindes, so zu sein, wie es ist. Ich ahne viele Fragen, die auf eine Antwort Man muss die Kinder kennen, um bei der warten, Zweifel, die Erklärung suchen. Gewährung dieser Rechte möglichst wenig Und ich antworte: Ich weiß nicht. falsch zu machen. Irrtümer müssen sein. […] Seien wir nicht ängstlich: das Kind wird sie • Ein gutes Kind. mit erstaunlicher Wachsamkeit korrigieren, Man soll sich davor hüten, gut mit bequem zu wenn wir seine unschätzbaren Fähigkeiten verwechseln. Es weint kaum, weckt uns in und mächtigen Abwehrkräfte nicht schwä-‐ der Nacht nicht auf, ist zutraulich, heiter – chen. also gutartig. Es ist bösartig – launisch, […] schreit ohne sichtbaren Grund, löst bei der • Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind Mutter mehr verdrießliche als liebevolle entreißen, entziehen wir es dem Leben; um Empfindungen aus. Unabhängig von ihrem seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht Befinden sind Neugeborene von ihren ererb-‐ richtig leben. Selbst in der verderblichen ten Eigenschaften her mehr oder weniger Atmosphäre lähmenden Wartens auf das, geduldig. […] was kommen soll, aufgewachsen, eilen wir Das eine ist verschlafen, bewegt sich träge, ständig einer Zukunft voller Wunder entge-‐ saugt langsam, schreit ohne lebendige Span-‐ gen. Träge wie wir sind, wollen wir das nung, ohne deutlich spürbaren Affekt. Schöne nicht heute und hier suchen, um uns Das andere ist reizbar, von lebhaften Bewe-‐ zum würdigen Empfang des morgigen Tages gungen, leichtem Schlaf, es saugt heftig und zu rüsten: Sondern das Morgen selbst soll schreit, bis es bläulich anläuft. […] uns neuen Aufschwung bringen. Bedeutet Die ganze moderne Pädagogik trachtet da-‐ denn jenes: „Ach, wenn es doch schon laufen nach, bequeme Kinder heranzubilden, sie und sprechen könnte“ etwas anderes als strebt konsequent und Schritt für Schritt hysterisches Warten? danach, alles einzuschläfern, zu unterdrüc-‐ Es wird laufen, es wird sich an den harten ken und auszumerzen, was Willen und Frei-‐ Kanten von Eichenholzstühlen stoßen. Es heit des Kindes ausmacht, seine Seelenstär-‐ wird sprechen, es wird mit seiner Sprache ke, die Kraft seines Verlangens und seiner das Stroh des grauen Alltags dreschen. War-‐ Absichten. Artig, gehorsam, gut, bequem, um sollte denn das „Heute“ des Kindes aber ohne einen Gedanken daran, dass es schlechter und wertloser als sein „Morgen“ innerlich unfrei und lebensuntüchtig sein sein? Wenn es um die Mühen geht – das wird. Morgen wird noch mehr davon bringen. […] Und wenn dieses Morgen endlich da ist, war-‐ • Achtung! Entweder wir verständigen uns ten wir erneut; denn die grundsätzliche Mei-‐ jetzt, oder wir trennen uns für immer. Jeder nung, das Kind sei noch nichts, sondern es Gedanke, der sich heimlich davonstehlen und werde erst etwas, es wisse noch nichts, son-‐ verbergen will, jedes sich selbst überlassene, dern es werde erst etwas wissen, es könne ungebundene Gefühl sollte zur Ordnung ge-‐ noch nichts, sondern werde erst etwas kön-‐ rufen und durch den gebietenden Willen nen, zwingt uns ja zu ständigem Warten. gezügelt werden. Die Hälfte der Menschheit ist nicht im vollen Ich fordere die Magna Charta Libertatis, als Sinne existent; ihr Leben ist ein Geschwätz, ein Grundgesetz für das Kind. Vielleicht gibt ihre Bestrebungen sind naiv, ihre Gefühle es noch andere – aber diese drei Grundrech-‐ vergänglich, ihre Ansichten lächerlich. Kin-‐ te habe ich herausgefunden: der unterscheiden sich von den Erwachse-‐ 1. Das Recht des Kindes auf seinen Tod, nen; es fehlt etwas in ihrem Leben, und doch 2. Das Recht des Kindes auf den heutigen ist in ihrem Dasein ein unbestimmbares Tag. „Mehr“ als in unserem, aber dieses von unse-‐ 11
»Die Prinzessin und der Pjär« rem Dasein unterschiedene Leben ist Wirk-‐ Aus: Korcazk, Janusz. Hg. Heimpel / Roos. „Das Kind in der Familie“ in „Wie man ein Kind lieben soll“.Göttingen, 1987 lichkeit, nicht Vorausschau. Sich seiner selbst bewusst werden Von Jesper Juul Was ist denn nur mit der Aggression gesche-‐ persönlichen oder sozialen Beziehungen hen? Warum ist sie zum Tabu geworden? geführt. Um ein gesundes Selbstwertgefühl Meine Antwort: Allein die Tatsache, dass wir zu entwickeln, muss ein Kind sich wertvoll uns unsere Emotionen sowie unsere inneren für seine Eltern fühlen und folglich ihrer Zu-‐ und äußeren Reaktionsmuster bewusstma-‐ neigung und Liebe wert sein‘. Ausgehend chen und sie akzeptieren, stattet uns mit davon entwickelt sich das Selbstwertgefühl dem Selbstwertgefühl aus, das wir brauchen, auf zwei Ebenen: einer quantitativen und um ja oder nein zu sagen, wenn es für unsere einer qualitativen. Die quantitative Entwick-‐ geistige Gesundheit und unser soziales lung vollzieht sich täglich im Minutentakt: Wohlergehen angemessen und notwendig Während sich das Kind selbst kennenlernt, ist. Kinder lernen zunächst nicht mittels Un-‐ sein Potential, seine Begrenzungen, Gedan-‐ terweisung, sondern durch Erfahrung. Wie ken, Gefühle und Reaktionen entdeckt und echte Wissenschaftler, so lernen auch Kin-‐ erfasst. Diese Entwicklung bestimmt uns, der: Sie denken sich eine Theorie aus, testen solange wir leben, solange wir uns entfalten sie mit Hilfe von Experimenten und lernen und verwandeln; das Maß an Selbsterkennt-‐ von ihrem Scheitern genauso viel wie von nis vergrößert sich immer mehr. Entschei-‐ ihren Erfolgen. So verhält es sich, wenn Kin-‐ dend bleibt sich seines Selbst stets bewusst der versuchen, auf den Stuhl zu klettern oder zu sein. Klavier zu spielen, wenn ein Jugendlicher der Die qualitative Ebene hängt fast gänzlich beste Fußballspieler werden will oder ver-‐ vom verbalen und nonverbalen Feedback ab, liebt ist, wenn er Sex hat oder lernt, die im-‐ das Eltern, andere wichtige Erwachsene oder pulsive Aggression in kreatives und kon-‐ Geschwister (in dieser Reihenfolge) dem struktives Verhalten zu verwandeln. Kind zuteilwerden lassen. Es tut mit leid, wenn ich den enttäuschen So kommt es, dass kritische Eltern und Leh-‐ muss, der meint, sein Kind müsse all das lei-‐ rer in einem Circulus vitiosus (Teufelskreis) sten, bevor es fünf Jahre alt ist. Das Kind landen, wo sie dauernd frustriert und wü-‐ braucht dafür eine ganze Kindheit, unter der tend sind, da sie alles zigmal wiederholen Voraussetzung, es erhält liebevolle, empathi-‐ müssen, und Kinder sich dabei immer sche Feedbacks und ist von Eltern umgeben, schlecht, dumm und keines Respekts würdig die sich zumindest einigermaßen ihres per-‐ empfinden. Der andere Grund ist die allge-‐ sönlichen Werts und ihrer Grenzen bewusst mein bekannte, emotionale Reaktion aller sind. Kinder: Wenn meine Eltern nicht glücklich Gibt es wirklich nur diesen einen Weg? – sind, muss etwas mit mir – mit dem, der ich Nein, es gibt noch einen anderen. Wir kön-‐ bin – nicht in Ordnung sein. nen strenge moralische und /oder religiöse Dieser Mechanismus ist in jedem Kind zu Regeln für Kinder aufstellen, die sogar kör-‐ jeder Zeit aktiv. Deshalb hängt das Selbst-‐ perliche Züchtigung vorsehen, und wir kön-‐ wertgefühl eines Kindes und seine geistige nen mit sozialem Ausschluss drohen, um wie soziale Gesundheit fast ausschließlich möglichst effektiv zu sein. Dies ist in kleinen, vom Feedback seiner Eltern ab. Das ist so – abgesonderten Gruppen noch immer mög-‐ egal, in welchem emotionalen Zustand das lich, doch immer seltener in der Welt, in der Kind ist, ob es glücklich, enthusiastisch, spie-‐ Kinder heute aufwachsen – in einer Welt, in lerisch, traurig, unglücklich, leidend oder der es den strengen moralischen Konsens eben wütend und aggressiv ist. der Gesellschaft nicht mehr gibt. Diesen, hier Während es aufwächst, geht ein Kind durch bloß gestreiften Weg schließe ich von meiner Myriaden von Lernprozessen hindurch. In Betrachtung aus, denn er hat noch nie zu den ersten Jahren führen diese Prozesse individuellem Wohlergehen und wertvollen meist zu Frustration – einem Cocktail von 12
»Die Prinzessin und der Pjär« Traurigkeit und Wut. Wird dem Kind Zeit Wenn dies nämlich geschieht – im Moment gegönnt, sowie Akzeptanz zuteil, lernt es, die geschieht es viel zu oft, landen wir bei einem beiden Gefühle zu unterscheiden und zu in-‐ ethischen Problem, das die Vitalität und Le-‐ tegrieren. Mit acht bis zehn Jahren wird es benslust jener einschränkt, die Opfer sind, wissen, wie es über seine Begrenzungen und das wiederum wirkt sich negativ auf die traurig sein und wie es seine Wut in zielori-‐ Fähigkeit aus, gesund zu sein und zu bleiben. entierte Ambition verwandeln kann. Ähnlich Die Moral ist eine Ansammlung von persönli-‐ wird es lernen, wie man sich anderen Kin-‐ chen Glaubenssätzen und Werten, die das dern auf unterschiedliche Weise nähert, und Verhalten jedes Einzelnen in einer Instituti-‐ in der Folge entwickelt sich seine soziale on bestimmen – damit kommt die Beleg-‐ Kompetenz. Diese Lernprozesse prägen sich schaft jeder pädagogischen Einrichtung klar. in sein Gehirn ein und werden zu Verhal-‐ Das ist nicht nur unvermeidbar, sondern tensmustern, die dazu beitragen, dass das auch eine gute Sache, solange jeder Einzelne Kind ein gesundes Selbstwertgefühl entwic-‐ ermutigt wird, gleichzeitig seine persönli-‐ kelt. Ein gesundes Selbstwertgefühl kann als chen Grenzen zu bestimmen und zu vertre-‐ ein besonnenes, nuancenreiches und bejahen- ten. Hierhin liegt der Schlüssel zum Umgang des Selbstbild definiert werden – es ist der mit jeder Art aggressiven Verhaltens, zum Schlüssel zur geistigen Gesundheit und zu Schutz der individuellen Integrität und zur einem starken psychosozialen Immunsy-‐ Hilfestellung für den Aggressor, der auf diese stem. Das soll nicht heißen, dass ich die Mo-‐ Weise lernt, seine Aggressionen zu integrie-‐ ral als einen wichtigen Teil unserer Gesell-‐ ren. schaft ablehne, sondern bloß das Recht von Aus: Juul, Jesper. Aggression. Frankfurt, 2012 Therapeuten, Sozialarbeitern, Erziehern, Lehrern und Pädagogen, ihre beruflichen Erkenntnisse zu missachten und sie durch eine private Moral zu ersetzen – ungeachtet dessen, wie akzeptiert diese Moral sein mag. Mensch und Bildung Von Vanessa–Isabelle Reinwand Bildung findet [...] nicht im „luftleeren“ Raum dungspraxis notwendigerweise an den le-‐ statt: Sie steht immer im Spannungsfeld zwi-‐ benslangen und biografischen Erfahrungen schen individuellen Gestaltungswünschen ihrer Akteure orientieren muss, aber auch und gesellschaftlichen Macht-‐ und Herr-‐ Potential zur Veränderung und zum Über-‐ schaftsverhältnissen. Dieses Spannungsfeld schreiten von gewohnten Sicht-‐ und Hand-‐ entsteht notwendigerweise aus der doppel-‐ lungsweisen bieten sollte, um individuelle ten Bezüglichkeit von Kultur und Bildung: Entwicklung und damit Bildung zu ermögli-‐ Der Mensch wird durch Kultur, durch die chen. Dabei geht es nicht nur um kognitive symbolische Form [...] und die Bearbeitung und intellektuelle Möglichkeiten, sondern dieser gebildet, bringt aber dadurch selbst Bildungsprozesse sind immer leibgebunden immer wieder neu Kultur hervor und gestal-‐ und sinnes-‐ bzw. wahrnehmungsbasiert. tet diese. Enkulturation, also Verinner-‐ Bildung, besonders Kulturelle Bildung, lichung von Kultur, formt damit in ganz spe-‐ kommt durch dieses implizite, intuitive, ima-‐ zifischer Weise den Menschen und bestimmt ginative und inkorporierte Körperwissen die weiteren Vorraussetzungen und indivi-‐ erst vollständig zum Ausdruck. Das Erlebnis duell erkennbaren Möglichkeiten seiner Bil-‐ ästhetischer Erfahrungen stellt daher ein dungs-‐ und Reflexionstätigkeit. Das heißt, Grundprinzip Kultureller Bildung dar, denn dass sich eine gelingende kulturelle Bil-‐ es ermöglicht eine Differenzerfahrung, einen 13
»Die Prinzessin und der Pjär« anderen und auch verfremdenden Blick auf sönlichkeit zu bilden: Bildung als Transfor-‐ die Welt, einen Perspektivwechsel, der wie-‐ mation. derum einlädt, sich zu reiben, umzusortie-‐ Aus: Bockhorst, Reinwand, Zacharias (Hrsg.). Handbuch Kulturelle Bildung. München, 2012 ren, neu zu strukturieren, sich und seine Umwelt zu formen und dabei die eigene Per-‐ Kapitel 2: Erwachsene 33 Das Kind wird nicht erst zum Menschen, es ist schon einer! 14 Janusz Korczak Alessa Kordeck
»Die Prinzessin und der Pjär« Aus Szene 9 PIERRE Aber du bist die Prinzessin. Und zu Weihnachten kriegen Oma und Opa eine CD mit deinem Geigespielen. LISASOPHIE Ja, und? Sie freuen sich darüber. PIERRE Weil sie stolz sind auf dich. LISASOPHIE Genau. Das ist nicht angeben. Das ist stolz sein. PIERRE Mein Onkel ist auch stolz auf sein Auto. LISASOPHIE Was soll das heißen? PIERRE Nix. LISASOPHIE Hee! Was soll das heißen? Willst du damit sagen, dass ich wie ein Auto bin? PIERRE Du bist die Prinzessin. LISASOPHIE Das war ein Theaterstück! PIERRE Ist ja nicht schlimm, wenn die Eltern stolz auf einen sind. LISASOPHIE Aber ich bin keine Angebersache! Meine Eltern sind keine Angeber. PIERRE Dann ist mein Onkel auch keiner. LISASOPHIE Meine Eltern, die lieben mich nämlich! PIERRE Meine lieben mich auch. LISASOPHIE Meine würden alles für mich tun. PIERRE Meine auch! LISASOPHIE Meine lieben mich, egal wie bescheuert ich bin. Oder wie hässlich. Das ist ganz egal. PIERRE Egal, wie hässlich? LISASOPHIE Sogar, wenn ich aussehen würde wie Gollum. Sie zieht Fratzen. 15
»Die Prinzessin und der Pjär« Eure Kinder sind nicht eure Kinder Von Khalil Gibran Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch, Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht. Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken, Denn sie haben ihre eigenen Gedanken. Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen, Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen. Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen. Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern. Ihr seid die Bogen, von denen eure Kinder als lebende Pfeile ausgeschickt werden. Der Schütze sieht das Ziel auf dem Pfad der Unendlichkeit, und er spannt euch mit seiner Macht, damit seine Pfeile schnell und weit fliegen. Laßt euren Bogen von der Hand des Schützen auf Freude gerichtet sein; Denn so wie er den Pfeil liebt, der fliegt, so liebt er auch den Bogen, der fest ist. Aus: Gibran, Khalil. Der Prophet. München, 2002 539 oder 586 (falls nicht in Kap 1) 16 Roland Wolf, Alessa Kordeck
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