Vernetzte Sicherheit und Rekolonialisierung - Christoph Marischka

Die Seite wird erstellt Hans Herrmann
 
WEITER LESEN
Vernetzte Sicherheit und Rekolonialisierung - Christoph Marischka
Christoph Marischka
 Nr. 15, Juni 2018
                                                                                                                                                              Vernetzte Sicherheit
                                                                                                                                                              und Rekolonialisierung
                                                                                                                                                              Die EU-Missionen und die Militarisierung
                                                                                                                                                              Nordafrikas und des Sahels
Informationen zu Politik und Gesellschaft
                                                   Nachrichten, Berichte und Analysen aus dem Europäischen Parlament. Herausgegeben von Sabine Lösing, MEP.

                                                                                                                                                                                          Vereinte Europäische Linke • Nordische Grüne Linke
                                                                                                                                                                                                               FRAKTION IM EUROPÄISCHEN PARLAMENT

                                                                                                                                                                                                               www.guengl.eu
Vernetzte Sicherheit und Rekolonialisierung - Christoph Marischka
Sabine Lösing, MEP

 Europäisches Parlament
 Sabine Lösing, MEP
 Rue Wiertz WIB 03M023
 1047 Brussels
 Belgien

 Telefon: +32 2284 7894
 Fax: +32 2284 9894
 Email: sabine.loesing@europarl.europa.eu
 Mitarbeiterinnen: Ota Jaksch, Anne Labinski

 Lokalbüros:

 Europabüro Sabine Lösing
 Goseriede 8
 30159 Hannover

 Telefon: +49 511 4500 8852
 Email: hannover@sabine-loesing.de
 Mitarbeiter: Daniel Josten, Michael Kuhlendahl

 Europabüro Sabine Lösing
 Lange Geismarstraße 2
 37073 Göttingen

 Telefon: +49 551 5076 6823
 Email: europabuero-loesing@web.de
 Mitarbeiter: Fritz Hellmer

 www.sabine-loesing.de

Titel: MINUSMA Peacekeeper Patrols Airstrip in Kidal, Northern Mali (UN Photo/Marco Dormino)
Vernetzte Sicherheit und Rekolonialisierung - Christoph Marischka
Vereinte Europäische Linke • Nordische Grüne Linke
                     FRAKTION IM EUROPÄISCHEN PARLAMENT

                     www.guengl.eu

Vernetzte Sicherheit und Rekolonialisierung
Die EU-Missionen und die Militarisierung
Nordafrikas und des Sahels
Herausgeber der Broschüre sind Sabine Lösing, MEP
und die Fraktion GUE/NGL im Europäischen Parlament.
Redaktionelle Bearbeitung erfolgte durch:
Informationsstelle Militarisierung e.V.,
Hechinger Straße 203,
72072 Tübingen,
www.imi-online.de
Erscheinungsdatum: Juni 2018 (Layout: Daniel Josten)
1. Auflage: 1.000
Vernetzte Sicherheit und Rekolonialisierung - Christoph Marischka
Inhalt

Vorwort ................................................................................................................................................................................................ 5

1. Einleitung: Ein Füllhorn der Instrumente .................................................................................................................................... 6

2. Eine kurze Geschichte der Militarisierung des Sahels............................................................................................................... 7

3. Die EU in Nordafrika....................................................................................................................................................................... 8
3.1. Stunde Null in Libyen..............................................................................................................................................................................8
3.2. Tunesien: Neoliberale Zurichtung und Krieg gegen den Terror..............................................................................................................10
3.3. Algerien und Marokko: konkurrierende Aufrüstung in eigener Regie....................................................................................................12
3.4. Regionale Vernetzung und Einflusssphären..........................................................................................................................................13

4. Die EU und die G5-Sahel..............................................................................................................................................................16
4.1. Diagnose: Schwache Staatlichkeit........................................................................................................................................................16
4.2. Die Sahel-Strategie des neu gegründeten EAD.....................................................................................................................................16
4.3. Unified Protector und Serval: Interventionen als Türöffner...................................................................................................................17
4.4. Krieg in Mali und darüber hinaus..........................................................................................................................................................19
4.5. Die G5-Sahel als Einsatzraum und Strategie der Rekolonialisierung.....................................................................................................20

5. EU-Missionen in der Region.........................................................................................................................................................23
5.1. Von EUFOR zu EUCAP und EUTM..........................................................................................................................................................23
5.2. Das Netzwerk der EU-Missionen...........................................................................................................................................................24
5.2.1. EUNAVFOR MED................................................................................................................................................................................24
5.2.2. EUBAM Libya.....................................................................................................................................................................................25
5.2.3. EUCAP Sahel Niger............................................................................................................................................................................26
5.2.4. EUCAP Sahel Mali und EUSTAMS......................................................................................................................................................27
5.2.5. EUTM Mali.........................................................................................................................................................................................28

6. Rekolonialisierung im Teufelskreis der Aufrüstung..................................................................................................................30

4
Vernetzte Sicherheit und Rekolonialisierung - Christoph Marischka
Vorwort
Ohne den Libyenkrieg von 2011 und die             rorismus in der Sahelzone und in Westafrika
französische Intervention 2013 in Mali wäre       ein Drama. Fatal ist es jedoch wenn diese
die EU heute nicht dasselbe politische Gebil-     Entwicklung lediglich als Legitimierung
de, das sie ist. Mittlerweile verfügt die EU in   eines militarisierten Politikansatzes dient,
Nord- und Westafrika über ein Netzwerk von        ohne dem komplexen Bedingungsgefüge des
Militärbasen und diplomatischen Missionen,        Terrorismus Rechnung zu tragen.
über die sie tief in die Politikgestaltung
der betreffenden Staaten eingreift. Dies          Die vorliegende Studie unternimmt den
bildet sich auch im Institutionengefüge des       Versuch einer kritischen Reflexion des
Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD)           Politikfeldes „state building“ der EU. Sie
ab, der kurz vor dem Libyenkrieg seine            orientiert sich an den fünf „zivilen“ und
Arbeit aufnahm und mit der im März 2011           militärischen Missionen vor der Küste und
veröffentlichten Sahel-Strategie erstmals         in Libyen, in Mali und in Niger. Es zeigt sich,
mit einem regionalen Gesamtansatz in              dass die Eskalation der Konfliktlagen und
Erscheinung trat. Regelmäßig bereisen             auch die regionale Ausweitung EUropäischer
seitdem Vertreter*innen des EAD die Region        Polizei- und Militärmissionen nicht einfach
zwischen Tunis, Bamako und Niamey. Fast           Folgen einer schlechten Umsetzung der
täglich besprechen Diplomat*innen und             Missionen sind, sondern sowohl in der Eu-
Bürokrat*innen der EU Gesetzesvorhaben            ropäischen Sicherheitsstrategie von 2003,
der dortigen Regierungen, Operationspläne         in der Sahel-Strategie von 2011 und der
und die Programmierung von Finanzmitteln          EU-Globalstrategie von 2016 angelegt sind.
mit Bezug auf Nordafrika und den Sahel.           Die Dynamik westlicher interessengeleiteter
                                                  Interventionen, die auf den Sicherheitssek-
Evaluierungen des Engagements in die-             tor fokussiert sind, und die Eskalation nega-
sen Regionen haben zumeist das Maß der            tiver Entwicklungen wird auf den folgenden
Umsetzung des „vernetzten Ansatzes“ im            Seiten umfangreich dargestellt.
Fokus. Damit sind die Abstimmung und              Die vorliegende Studie unternimmt den
das Ineinandergreifen der außenpolitischen        Versuch einer kritischen Reflexion des
Instrumente sowohl der Union als auch             Politikfeldes „state building“ der EU. Sie
ihrer Mitgliedstaaten gemeint. Das gilt von       orientiert sich an den fünf „zivilen“ und
Maßnahmen der humanitären Hilfe, der              militärischen Missionen vor der Küste und
Entwicklungszusammenarbeit bis hin zu             in Libyen, in Mali und in Niger. Es zeigt sich,
Polizei- und Militärmissionen. Obwohl als         dass die Eskalation der Konfliktlagen und
Ziele all dieser Interventionen die vielfältige   auch die regionale Ausweitung EUropäischer
Stabilisierung und die Verbesserung der           Polizei- und Militärmissionen nicht einfach
wirtschaftlichen Entwicklung der entspre-         Folgen einer schlechten Umsetzung der
chenden Länder definiert sind, werden             Missionen sind, sondern sowohl in der Eu-
mögliche negative Auswirkungen auf diese          ropäischen Sicherheitsstrategie von 2003,
Entwicklungen nicht in Erwägung gezogen,          in der Sahel-Strategie von 2011 und der
oder tatsächlich erfolgte negative Entwick-       EU-Globalstrategie von 2016 angelegt sind.
lungen nicht in die Evaluierung einbezogen.       Die Dynamik westlicher interessengeleiteter
Solch eine negative Entwicklung ist auch die      Interventionen, die auf den Sicherheitssek-
Verstärkung autoritärer Führungsstile durch       tor fokussiert sind, und die Eskalation nega-
die zunehmende Militarisierung der Region.        tiver Entwicklungen wird auf den folgenden
In der Tat ist die fatale Entwicklung des Ter-    Seiten umfangreich dargestellt.

                                                                                                    5
Vernetzte Sicherheit und Rekolonialisierung - Christoph Marischka
1. Einleitung: Ein Füllhorn der Instrumente
Unter dem Titel „Migrationsprofiteure?“          reicht. In wenigen Regionen kommen die           – die negativen Folgen oder zumindest
hat die regierungsnahe deutsche Stiftung         verschiedenen Instrumente dieses „vernetz-       die Wirkungslosigkeit der sicherheitszen-
­Wissenschaft und Politik (SWP) im März          ten Ansatzes“ so fokussiert zum Einsatz,         trierten Ansätze deutlich werden, ist eine
 2018 einen kleinen Sammelband zur „exter-       wie gegenwärtig in Nordafrika und der sog.       Trendwende gegenwärtig unwahrscheinlich.
 nen Migrationspolitik [der EU] in afrikani-     G5-Sahel-Region (Mauretanien, Mali, Niger,       Denn es zeigt sich, dass die Instrumente
 schen Staaten“ und deren Auswirkungen           Burkina Faso, Tschad). Die 2011 veröffent-       der EU-Außenpolitik nicht nur parallel zur
 auf „autoritäre Regime“ veröffentlicht.1 Hin-   lichte Sahel-Strategie der EU formuliert das     Eskalation in der Region entwickelt wurden,
 sichtlich der Vielzahl „migrationspolitischer   gemeinsame Ziel dieser Politiken unter den       sondern den sicherheitszentrierten Ansatz
 Kooperationsinstrumente der EU“ wird be-        Schlagwörtern „Sicherheit und Entwick-           geradezu in sich tragen. Obwohl sich ein
 reits in der Einleitung von einem „Füllhorn“    lung“ und stellt bereits einleitend klar, dass   Großteil der EU-Maßnahmen unter dem
 gesprochen, „das sich über afrikanische         Sicherheit die Vorbedingung für Entwick-         Begriff des Staatsaufbaus subsumieren
 Staaten ergießt.“ Die Frage „ob und inwie-      lung sei. Ebenfalls klar wird, dass unter        lassen, führen sie in der Praxis eher zum
 fern gerade autoritäre Herrscher von dieser     Sicherheit v.a. auch die Sicherheit Europas      Gegenteil: zur Fragmentierung und Auf-
 Zusammenarbeit profitieren“, wird dabei         und ökonomische Interessen zu verstehen          lösung staatlicher Souveränität und zu
 erfrischend klar beantwortet. So zeige „ein     sind.                                            Formen einer komplexen, kleinteiligen
 Blick in die afrikanischen Partnerländer,                                                        Rekolonialisierung.
 dass die dortigen Eliten die europäischen       Zu Frieden und Stabilität hat die massive
 Angebote häufig zu ihrem eigenen Vorteil        Aufrüstung der Region jedenfalls bislang         1.   Anne Koch, Annette Weber, Isabelle
 zu nutzen wissen“ und „Machterhaltungs-         – erwartungsgemäß – nicht beigetragen.                Werenfels (Hg.): Migrationsprofiteure?
 interessen und Legitimationsstrategien der      Ende April 2018 wird von wechselseitigen              Autoritäre Staaten in Afrika und das
 Eliten ... für die Reaktion auf Kooperations-   Massakern im Osten Malis berichtet,                   europäische Migrationsmanagement,
 angebote eine prägende Rolle“ spielen.          jenseits der Grenze zu Niger sind einige              SWP-Studie 3 (April 2018).
 In diesem Zusammenhang wird auch darauf         Monate zuvor vier US-Spezialkräfte in einen
 hingewiesen, dass ich sich „Mittel oder         Hinterhalt geraten und in stundenlangen
 Überwachungstechnologien, die eigentlich        Gefechten gefallen. Schon davor hatte
 zum Aufbau migrationspolitischer Kapazi-        die UN-Truppe MINUSMA weitgehend die
 täten gedacht sind, [auch] zu repressiven       Kontrolle­über das (geografische) Zentrum
 Zwecken missbrauchen“ lassen.                   Malis verloren und ihre Nachschubwege
                                                 zunehmend in den Niger verlegt. Auch
Was hier allein für die externe Migrations-      Burkina Faso, dessen Militär gelegentlich
politik festgestellt wird, lässt sich jedoch     ­gemeinsame Operationen mit der mali-
auf weitere Bereiche des EU-Außenhan-             schen Armee durchführt, bei denen Zivi-
delns verallgemeinern und erhält dort noch        listen misshandelt und getötet wurden, ist
eine ganz andere Brisanz. Denn auch wenn          zunehmend Ziel von Attacken und Terroran-
die „Bekämpfung der illegalen Migration“          schlägen.
oder die „Bekämpfung von Fluchtursa-
chen“ gegenwärtig fast in jedem außen-           Deshalb werden im Folgenden die auf
politischen Dokument als Ziel aufgeführt         „Staatsaufbau“ und „Sicherheitssektor-
werden, bildet das Politikfeld Migration         reformen“ zielenden Komponenten der
nur einen Teil inhaltlich und methodisch         EU-Außenpolitik in der Sahel-Region und
vergleichbarer Maßnahmen der EU ab, die          Nordafrika dargestellt. Der räumliche
auf die „Reform des Sicherheitssektors“          Schwerpunkt der Darstellung wird dabei
in Drittstaaten hinauslaufen. Auch die           von fünf GSVP-Missionen abgesteckt: die
EU-Strategie zur ­Terrorismusbekämpfung          Mission EUNAVFOR Med vor der libyschen
und die nach wie vor im Aufbau befindliche       Küste und EUBAM Libya, die gegenwär-
EU-Verteidigungs-politik, die europäische        tig von Tunesien aus operiert, die beiden
Entwicklungszusammenarbeit und sogar             „Kapazitätsaufbau-Missionen“ EUCAP
die humanitäre Hilfe haben sich Ziele wie        Sahel Niger und EUCAP Sahel Mali sowie
„verbessertes Grenzmanagement“ und den           die militärische Ausbildungsmission EUTM
„Kapazitätsaufbau“ in den juristischen,          Mali, die zukünftig auf die Nachbarstaaten,
nachrichtendienstlichen, (grenz-)polizei-        die sog. G5-Sahel ausgeweitet werden
lichen und militärischen Strukturen von          soll. Die erklärten Prinzipien der „vernetz-
Drittstaaten gesetzt. Zusammen ergeben           ten S­ icherheit“ und der Regionalisierung
sie ein Spektrum außenpolitischen Han-           machen es jedoch notwendig, dabei auch
delns, das von der Bekämpfung der Jugend-        andere Akteure und Staaten zumindest am
arbeitslosigkeit und der humanitären Hilfe       Rande einzubeziehen.
für Flüchtlinge über den Aufbau geheim-
dienstlicher Netzwerke und biometrischer         Obwohl die Warnungen vor einer weiteren
Datenbanken bis hin zu Ausbildungsmissi-         Versicherheitlichung bzw. Militarisierung
onen am Rande von Bürgerkriegsszenarien          der Region zunehmen und – je nach Lesart

6
Vernetzte Sicherheit und Rekolonialisierung - Christoph Marischka
2. Eine kurze Geschichte der Militarisierung des Sahels
In den vergangenen fünfzehn Jahren rückte       afrikanischen Binnengrenzen beikommen zu        nischen Union (AU) standen, de facto aber
die Sahelregion zwischen der afrikanischen      müssen. Da gerade in der Sahelregion die        von Frankreich geführt und der EU bezahlt
Westküste (Westsahara, Mauretanien,             Grenzen jedoch oft sehr abstrakter Natur        wurden (AFISMA). Deutschland übernahm
Senegal) und dem Sudan im Osten Afrikas         sind und durch periphere Gebiete verlaufen,     vom Senegal aus die Luftbetankung der
zunehmend in den Fokus westlicher Si-           in denen die jeweiligen Staaten nach westli-    französischen Kampfflugzeuge und die
cherheitspolitik und Strategie. Den Anfang      chen Maßstäben keine ausreichende Kont-         Truppentransporte der afrikanischen Ver-
machten die USA, die nach den Anschlägen        rolle ausüben, galt es letztlich, die betref-   bündeten, die EU beschloss eine Ausbil-
vom 11. September 2001 auch hier den            fenden Staaten umfassend zu reformieren         dungsmission für die malischen Streitkräfte
„Krieg gegen den Terror“ implementierten        bzw. von Grund auf neu zu strukturieren.        nahe der Hauptstadt Bamako (EUTM Mali).
und mit ihrer Pan-Sahel-Initiative (PSI) ihr
militärisches Engagement in Afrika erstmals     Startschuss hierfür war der NATO-Krieg          Bereits kurz nach der Einrichtung der
nach dem Debakel in Somalia während der         gegen Libyen 2011 und die damit einher-         EUTM Mali im Frühjahr 2013 wurde eine
frühen 1990er Jahren wieder ausweiteten.        gehende Destabilisierung der gesamten           weitere EU-Mission zur Unterstützung
Doch auch für die im Entstehen begriffene       Region. Während Libyen bombardiert              der Grenzsicherung (EUBAM) in Libyen
Sicherheits- und Verteidigungspolitik der       wurde, finanzierte die EU aus ihrem             beschlossen, die sich jedoch zunächst
EU gewann die Region an Bedeutung und           „Instrument für Stabilität“ ein Programm        lange darauf beschränkte, Kontakte mit
entwickelte sich zunehmend zu einem Ex-         „zur Wiederherstellung einer effektiven         libyschen Milizen und ihrer politischen
perimentierfeld neuer außenpolitischer Ins-     Präsenz und Autorität des Staates“ im           Führung aufzunehmen. Weitere EU-Mis-
trumente. Triebfeder war dabei v.a. die Mig-    Norden Malis.2 Dort wurden Polizei- und         sionen zum Aufbau „ziviler“ Sicherheits-
rationspolitik und der vorverlagerte „Schutz    Militärstützpunkte sowie Gefängnisse            kräfte (Gendarmerie, Polizei) wurden in
der Außengrenzen“, die den europäischen
Zugriff auf die Region intensivierten.

2004 wurden die Europäische Grenz-
schutzagentur Frontex und das AENEAS-
Programm „zur finanziellen und techni-
schen Unterstützung von Drittstaaten im
Bereich Migration und Asyl“ ins Leben
gerufen. Ihre Aktivitäten ermöglichten es
den rapide wachsenden Institutionen der
EU-Außen- und Sicherheitspolitik, diplo-
matische Kontakte mit den Regierungen
vor Ort aufzubauen und dort wissenschaft-
liche, zivilgesellschaftliche, polizeiliche,
geheimdienstliche und militärische Akteure
miteinander zu vernetzen. Zugleich wurden
diese Netzwerke mit den in Brüssel und
anderen europäischen Hauptstädten
erarbeiteten Problemdefinitionen und
„Lösungsansätzen“ vertraut gemacht. Ein
weiteres Ergebnis dieser Aktivitäten war ein    Militärinterventionen und -missionen im Sahel
Wissen über Migration, das diese primär         errichtet. Tuareg-Gruppen, die traditionell     Mali und Niger eingerichtet. Zur Versor-
in „Strömen“ und „Transitrouten“ konzepti-      grenzüberschreitend zwischen Mali, Niger        gung ihrer Truppen in Mali baute auch die
onalisiert, die es bereits weit jenseits der    und Libyen siedelten und Handel trieben,        Bundeswehr einen Luftwaffenstützpunkt
Außengrenzen zu unterbrechen gelte.             verloren damit zugleich eine Schutzmacht        im benachbarten Niger auf. Im August
                                                in Libyen und ihre Autonomie im Norden          2014 wurde die französische Anti-Terror-
Die autoritär geführten nordafrikanischen       Malis. Sie organisierten sich als „Nationale    Operation Serval in Barkhane umbenannt
Staaten Marokko, Algerien, Tunesien und         Bewegung für die Befreiung des Azawad“          und auf die gesamte Region (Mauretanien,
Ägypten ließen sich recht schnell davon         (MNLA) und zogen mit Waffen aus dem             Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad)
überzeugen, die Durchreise von Drittstaa-       libyschen Krieg über den Norden des Niger       ausgedehnt. Die entsprechenden afrikani-
tenangehörigen und auch die Ausreise            nach Mali, wo sie die neu errichteten Stütz-    schen Staaten hatten – unter Vermittlung
eigener Staatsbürger*innen weitgehend           punkte der malischen Armee angriffen.           Frankreichs und der EU – zuvor unter dem
und durch tw. tödliche Maßnahmen zu             Daraufhin putschte im Süden die malische        Namen G5-Sahel eine Sicherheitskoopera-
unterbinden. Dass die lebensgefährlichen        Armee und Islamisten übernahmen die             tion vereinbart, die u.a. den Aufbau einer
Überfahrten übers Mittelmeer zwischen           Kontrolle in den Städten im Norden. Anfang      multinationalen und grenzüberschreiten-
2006 und 2011 fast nur noch von Libyen          2013 folgte eine massive Intervention der       den Eingreiftruppe (FC-G5S) beinhaltete,
ausgingen, darunter jedoch so gut wie           französischen Armee (Operation Serval),         die überwiegend von der EU finanziert
keine libyschen Staatsangehörige waren,         die schnell von Truppen anderer afrika-         wird und zumindest zunächst ebenfalls de
verstärkte die Wahrnehmung, dem Problem         nischer Staaten unterstützt wurde, die          facto unter französischer Führung agiert.
der „illegalen Migration“ durch Kontrolle der   offiziell unter dem Kommando der Afrika-

                                                                                                                                           7
Vernetzte Sicherheit und Rekolonialisierung - Christoph Marischka
EU sind auch die USA umfangreich in der
                                                                                             Region aktiv, veranstalten jährlich grenz-
                                                                                             überschreitende Großmanöver zur Terroris-
                                                                                             musbekämpfung, haben umfangreich in den
                                                                                             Ausbau der Geheimdienste vor Ort inves-
                                                                                             tiert und unterhalten Beratungs- und Aus-
                                                                                             bildungsmissionen in den meisten Staaten
                                                                                             der Region. Gegenwärtig sind etwa 800 bis
                                                                                             1.000 US-Militärs im Niger stationiert, die
                                                                                             meisten von ihnen angeblich zum Aufbau
                                                                                             einer Drohnenbasis bei Agadez, tatsächlich
                                                                                             jedoch wurde u.a. bei Gefechten im Okto-
                                                                                             ber 2017 im Westen des Landes, bei denen
                                                                                             vier US-Soldaten fielen, klar, dass die USA
                                                                                             auch an Kampfeinsätzen und Patrouillen be-
                                                                                             teiligt sind. Neben den USA unterhält auch
                                                                                             Frankreich in der Großregion zahlreiche
                                                                                             Drohnenbasen. Auch Deutschland hat in
                                                                                             Gao im Norden Malis den Flughafen ausge-
                                                                                             baut und dort Aufklärungsdrohnen vom Typ
                                                                                             Heron I stationiert. Mittlerweile sprechen
Niederländischer Soldat der MINUSMA (Niederländisches Verteidigungsministerium)
                                                                                             auch regierungsnahe Thinktanks von einer
Die formal afrikanisch geführte Mission        der G5-Truppe zunächst auf zusätzlichen       „Militarisierung“ der Region und verglei-
AFISMA war bereits Mitte 2013 in die           Stützpunkten in Mali und zukünftig auch       chen die „schnelle Ausweitung internationa-
UN-Mission MINUSMA überführt worden,           in den Nachbarstaaten zu übernehmen.          ler Truppenpräsenz“ mit einem „Verkehrs-
an der sich u.a. 1.000 deutsche Soldaten                                                     stau“.3 Dass damit wesentliche Elemente
– insbesondere im Bereich der Aufklärung       Somit ist in der Region ein engmaschiges      der Dekolonialisierung rückgängig gemacht
und der medizinischen Evakuierung – betei-     Netz von Militärbasen und EU-Missionen        werden und neue geopolitische Konflikte
ligen. Da es sich bei der G5-Eingreiftruppe    unter unterschiedlichen, aber überlappen-     vorprogrammiert sind, liegt auf der Hand.
v.a. um Kampfeinheiten handelt, ist diese      den Mandaten entstanden, zwischen denen
neben der finanziellen auch von techni-        sich eine grenzüberschreitende militäri-
scher und logistischer Unterstützung durch     sche Logistik entspinnt. Mit der Operation
Barkhane und MINUSMA abhängig. So              Barkhane und den G5-Sahel hat Frankreich
sollen Pioniereinheiten der MINUSMA den        die Staaten auf dem Gebiet seiner ehema-
Aufbau der Stützpunkte der FC-G5S in Mali      ligen Kolonien bzw. in seiner klassischen     2.   Europäische Kommission: 2011
unterstützen und die MINUSMA Logistik          Einflusssphäre neu zusammengefasst, tw.            Annual Report on the Instrument for
und Verwundetentransport für die G5-           die Kontrolle über deren Truppen übernom-          Stability (COM(2012) 405 final).
Truppe übernehmen, die außerhalb Malis         men und sich eine grenzüberschreitende        3.   Jennifer G. Cooke, Boris Toucas:
wesentlich auf die Stützpunkte der franzö-     militärische Mobilität in der gesamten             Understanding the G5 Sahel Joint Force
sischen Barkhane abgestützt ist. Auch die      Region verschafft, wobei es auch auf die           - Fighting Terror, Building Regional
EU-Ausbildungsmission EUTM Mali wurde          Stützpunkte der EU und der MINUSMA                 Security?, Center for Strategic and
dahingehend ausgeweitet, die Ausbildung        zurückgreift. Neben Frankreich bzw. der            International Studies (CSIS) 2017.

3. Die EU in Nordafrika

3.1. Stunde Null in Libyen                     diplomatischen Verbindungen zur amtie-        einer Zivilgesellschaft zu unterstützen“.5
                                               renden Regierung gekappt worden waren,        Dem Verbindungsbüro wurden Experten
Obwohl im Frühjahr 2011 unter den EU-          entsandte die EU-Kommission zunächst          für den Grenzschutz beigestellt und dem
Mitgliedsstaaten kein Konsens über eine        „Zivilschutzteams“ ins „befreite“ Bengasi,    Übergangsrat 30 Mio. Euro für seinen un-
militärische Intervention zum Sturz Gadda-     wo die damalige EU-Außenbeauftragte           mittelbaren Stabilisierungsbedarf und den
fis bestand, hat der Europäische Rat bereits   Catherine Ashton am 22. Mai ein Verbin-       Kapazitätsaufbau zugesagt. Sobald auch
am 11. März – eine Woche vor Beginn der        dungsbüro der EU zu den aufständischen        die Hauptstadt Tripolis von den NATO-Ver-
Luftangriffe – der libyschen Regierung unter   Kräften des Nationalen Übergangsrates         bündeten erobert wurde, baute die EU auch
Gadaffi jede Legitimität abgesprochen          einweihte, der von Frankreich und Italien     hier ein Verbindungsbüro auf, das noch vor
und stattdessen den sechs Tage zuvor           bereits offiziell als Regierung anerkannt     Ende des Jahres 2011 zu einer der ersten
gegründeten Nationalen Übergangsrat als        worden war. Ziel der Zusammenarbeit           Delegationen des neu geschaffenen Europä-
primären Gesprächspartner anerkannt.4          sei es, das „aufkeimende demokratische        ischen Auswärtigen Dienstes ausgebaut
Bereits am 28. Februar hatte der Rat           Libyen beim Grenzmanagement, der Reform       wurde. Noch bevor Gaddafi im Oktober von
Sanktionen gegen das Regime verhängt           des Sicherheitssektors, der Wirtschaft, der   den Aufständischen getötet wurde und der
und am 10. März verschärft. Nachdem die        Gesundheit, der Bildung und beim Aufbau       NATO-Einsatz endete, gab die EU auf der

8
Vernetzte Sicherheit und Rekolonialisierung - Christoph Marischka
Pariser Konferenz am 1. September 2011            Milizen übernommen. Die Behörden und           fensoldaten begonnen und zwei Offizieren
die eingefrorenen Konten zugunsten des            Ministerien wären noch nicht in der Lage,      ein einjähriges Stipendium am Verteidi-
Nationalen Übergangsrates frei. Zugleich          ihre Funktionen zu erfüllen und der Weg        gungskolleg finanziert; Malta hatte bereits
wurde dort unter den internationalen Akteu-       zum Aufbau einer verfassungsgebenden           im März 2012 ein mobiles Ausbildungsteam
ren eine Arbeitsteilung vereinbart. Dem-          Versammlung war noch unklar. Ein „mit          nach Libyen geschickt, um den Aufbau
nach übernahm die EU die Verantwortung            internationaler Hilfe erstellter“ Entwurf      einer libyschen Küstenwache anzustoßen
beim Wiederaufbau im Bereich der Medien,          für eine Verteidigungsstrategie läge zwar      und für diese zahlreiche Kurse durchge-
der Zivilgesellschaft und des Grenzmanage-        bereits vor, sei jedoch noch nicht beschlos-   führt; Großbritannien hatte den Aufbau
ments, wofür sie zunächst weitere 50 Mio.         sen worden. 240.000 „Freiheitskämpfer“         des libyschen Verteidigungsministeriums
Euro bereitstellte und wiederum Experten-         erhofften sich nun „Belohnung“ u.a.            mit einem Beratungsteam unterstützt.
teams ins Land entsandte.6 Internationaler        durch die Integration in den Sicherheits-      Am umfangreichsten werden jedoch die
Währungsfonds und Weltbank sollten sich           sektor, dessen Personal nach dem Sturz         italienischen Maßnahmen dargestellt, dar-
um den öffentlichen Haushalt und den              Gaddafi in großer Zahl geflohen sei.8          unter die bereits erfolgte Lieferung von 20
wirtschaftlichen Wiederaufbau bemühen             Ungeachtet der vielen offenen Fragen listet    Schützenpanzern Puma und Uniformen im
und die UN-Mission vor Ort (UNSMIL) um            der Operationsplan auch eine geradezu          Wert von 500.000€ und umfangreiche Aus-
den sozialen und den Sicherheitssektor.           unübersehbare Zahl bilateraler Maßnahmen       bildungsprogramme durch die Carabinieri
Unmittelbar nach dem Beginn der NATO-             der EU-Mitgliedsstaaten auf, die bereits       (für insg. 540 Kräfte) und das italienische
Intervention waren auch die militärischen         erfolgt waren oder kurz vor der Umsetzung      Heer (ca. 150) sowie in kleinerem Umfang
Strukturen der EU im Hinblick auf Libyen          standen. Die Aufstellung umfasst gut 30        durch die Luftwaffe und die Marine. Im
aktiv geworden. Bereits am 24. März billigte      Seiten und nennt u.a. 18 maltesische, elf      Verantwortungsbereich des Innenministeri-
der Rat ein Krisenmanagement-Konzept und          französische, sieben britische und fünf        ums hatte Italien bereits sieben Lehrgänge
beschloss am 1. April eine entsprechende          deutsche Projekte. Frankreich hatte u.a.       mit über 100 Teilnehmenden – u.a. zu
EU-Militärmission (EUFOR Libya) mitsamt           einen Experten des Verteidigungsminis-         gefälschten Papieren und Grenzschutzope-
Hauptquartier, Befehlskette und einem Bud-        teriums in das Kommando der libyschen          rationen – durchgeführt. Jenseits der EU-
get in Höhe von 7,9 Mio. Euro für zunächst        Marine entsandt, mit der Ausbildung von 72     Mitgliedstaaten werden Kurse der Türkei für
vier Monate. Inhalt der Mission sollte die        libyschen Minentauchern und 30 Luftwaf-        über 900 libysche Sicherheitskräfte, neun
logistische Unterstützung humanitärer Hilfe
sein, es war jedoch auch im Gespräch,
eine der sog. Battlegroups nach Libyen
zu entsenden. Mit Ägypten und Tunesien
waren bereits Verhandlungen wegen der
Stationierung von Truppen aufgenommen
worden. Zwar war die Mission damit bereits
formal beschlossen, ihr Zustandekommen
wurde jedoch von einer entsprechenden
Anfrage des Amts zur Koordinierung hu-
manitärer Angelegenheiten der UN (OCHA)
abhängig gemacht, die nicht erfolgte.7

Nach dem Ende der NATO-Intervention
konzentrierte die EU ihr Engagement auf
den Aufbau eines „Integrierten Grenzma-
nagements“ und entsandte hierzu zunächst
von Anfang März bis Ende Juni Erkun-
dungsmissionen nach Libyen, welche die
Situation an den Grenzen und Ansatzpunkte
für Unterstützung durch die EU erfassen
sollten. Hierauf aufbauend wurde eine „Be-
darfsanalyse“ für den Grenzschutz erstellt,
jedoch wegen der unklaren Lage zunächst
nicht weiter entwickelt. Weitere entspre-
chende Missionen folgten im November
2012 und im März 2013. Auf der Grund-
lage dieser Erkenntnisse wurde im April
2013 der Operationsplan für eine „zivile“
EU-Mission zum Aufbau des Grenzmanage-
ments in Libyen (EUBAM Libya) entworfen.
Darin wird u.a. festgestellt, dass Libyen
nach dem Sturz des alten Regimes sowohl
strukturell, als auch territorial und hinsicht-
lich seiner Bevölkerung „fragmentiert“ sei.
Die Aufgaben der Sicherheitskräfte hätten

                                                                                                                                          9
Vernetzte Sicherheit und Rekolonialisierung - Christoph Marischka
Kurse der Vereinigten Arabischen Emirate       und politischen Körperschaften … transak-       internationale Investitionen zu begünsti-
und nicht näher ausgeführte Ausbildungs-       tional und transitional“ und die Regierung      gen, zu deren finanzieller Unterstützung
und Ausrüstungsmaßnahmen Katars und            habe bislang keine Liste an bewaffneten         umfassende Subventionsprogramme
Jordaniens benannt. Auch die USA hatten        Gruppen vorgelegt, die ihrer Kontrolle          aufgelegt und zugänglich gemacht werden.
sich zunächst umfangreich in die Grenz-        unterstehen. Entsprechend wird auch die
sicherung eingebracht, ihre offiziellen        Ausbildung der libyschen Küstenwache im         Das zivilgesellschaftliche Engagement zielt
Programme jedoch nach dem Anschlag auf         Rahmen der EU-Marinemission EUNAVFOR            zwar oberflächlich auf Themen wie Inklusi-
die Botschaft in Bengasi am 11. September      MED seit Mitte 2016 angesprochen. Die           on und Menschen- bzw. insbesondere Frau-
2012 jedoch weitgehend eingestellt.9           entsprechenden Kräfte seien nicht als der       enrechte, trägt aber de facto wesentlich zur
                                               Regierung unterstehend registriert und ihr      Marginalisierung religiöser Kräfte bei, die
Das war der Stand Anfang 2013. Obwohl          zugeordnete Kräfte seien für „lebensgefähr-     bei den ersten freien Wahlen nach der Re-
bereits hier eingestanden wurde, dass sich     liche“ Übergriffe, Menschrechtsverletzun-       volution (knapp) die meisten Stimmen auf
die Situation auf einigen Ebenen seit dem      gen und den Transfer aufgegriffener Mig-        sich vereinigen konnten, 2014 jedoch u.a.
Krieg sogar verschlechtert habe, wirkt         rantinnen in Zwangsarbeit verantwortlich.10     auf internationalen Druck aus der Regierung
die damalige Situationsbeschreibung aus                                                        ausschieden. Seitdem verschärft sich eine
heutiger Sicht geradezu optimistisch. In       3.2. Tunesien: Neoliberale Zurichtung           dramatische Polarisierung des politischen
den folgenden Monaten setzte das ein, was      und Krieg gegen den Terror                      Lagers: säkulare Organisationen, die tradi-
auch als „zweiter libyscher Bürgerkrieg“                                                       tionell Widerstand gegen Privatisierungen
bezeichnet wird: Der im Grunde bis heute       Anders als in Libyen haben in Tunesien seit     und neoliberale Reformen geleistet haben,
anhaltende Konflikt zwischen konkurrieren-     dem Umsturz 2010/2011 wiederholt freie          rücken in der Distanzierung von religiösen
den Regierungen und mit diesen verbunde-       Wahlen stattgefunden und sich ein funk-         Strömungen näher an die neoliberalen
nen Milizenverbänden. EUBAM Libya wurde        tionierendes politisches System etabliert.      Kräfte, während der Widerstand gegen die
2013 zwar tatsächlich beschlossen, aber        Trotzdem ist auch hier die zukünftige           international geforderten Reformen von den
aufgrund der schlechten Sicherheitslage        Ausrichtung der Politik keineswegs aus-         in der staatlichen Politik zunehmend margi-
deutlich verkleinert nach Tunesien ver-        gemacht: Die Forderungen der zunächst           nalisierten religiösen Kräften monopolisiert
legt. 2015 begann die EU-Marinemission         erfolgreichen Revolution sind weiterhin         wird, die stets im Verdacht stehen, Terro-
EUNAVFOR MED vor der libyschen Küste, in       lebendig, es existieren handlungsfähige         rismus zu befördern oder zu unterstützen.
deren Rahmen seit 2016 auch die liby-          Gewerkschaftsverbände und es bestehen
sche Küstenwache ausgebildet wird. Das         weiterhin starke Vorbehalte u.a. gegen          Neben der ökonomischen und zivilge-
UN-Expertenkomitee zur Überwachung             Privatisierungen. Die Arbeitslosigkeit und      sellschaftlichen Einflussnahme der EU
des Sanktionsregimes gegen Libyen fasst        auch Armut in den peripheren Regionen ist       verankert sie in der Zusammenarbeit
in seinem Abschlussbericht vom Juli 2017       weiterhin hoch und führt immer wieder zu        mit Tunesien jedoch auch die Themen
zusammen, dass „weiterhin regelmäßig           Protesten und Blockaden, geringe Staats-        Migration und Terrorismusbekämpfung,
Waffen auf illegalem Wege von und nach         einnahmen und Verschuldung beschränken          wobei sich der Austritt der religiösen
Libyen transportiert werden“ und dass          jedoch die Spielräume der Politik.11 Auch       Ennahda-Partei aus der Regierung und zwei
„das Material, das nach Libyen gelangt,        hier versucht die EU das Land an sich zu        spektakuläre Anschläge auf ein Museum
technisch zunehmend anspruchsvoll“ sei.        binden und dessen Politik nach eigenen          und ein Hotel (März und Juni 2015) als
Gemeint ist damit v.a. die Lieferung von       Vorstellungen auszurichten. Im Gegensatz        wirksame Katalysatoren erwiesen.13
Kampfhubschraubern und Flugzeugen:             zu Libyen setzt die sie hierbei v.a. auf mak-
„Mindestens zwei der bewaffneten Gruppen       roökonomischer und zivilgesellschaftlicher      Als wesentliche Errungenschaft der Revo-
verfügen über wachsende Luftstreitkräf-        Ebene an. So berichtet die Europäische          lution von 2011 wird anerkannt, dass die
te, die bei Angriffen auf andere Gruppen       Kommission in ihrem Factsheet über die          berüchtigte Abteilung für Staatssicherheit
und gegeneinander eingesetzt werden“.          Beziehungen zwischen der EU und Tunesi-         als Schaltstelle der Geheimdienste und
So wurde u.a. die „Libyan National Army“,      en, dass sie das Land zwischen 2011 und         Polizeibehörden aufgelöst wurde und das
die nicht der international anerkannten        2017 mit etwa 3,5 Mrd. Euro unterstützt         Militär nicht in innere Angelegenheiten
Regierung untersteht, von den Vereinigten      habe.12 Allerdings handelt es sich dabei zu     eingreifen sollte. Sehr bald jedoch wurde
Arabischen Emiraten mit „für die Aufstands-    einem großen Teil um Kredite, die die Schul-    von westlicher Seite ein Mangel an ge-
bekämpfung und den Grenzschutz umge-           denkrise des Landes tendenziell verschär-       heimdienstlichen Strukturen und effizien-
rüsteten“ Flugzeugen aus den USA und           fen. Die Bewilligung weiterer Kredite ist an    ter Vernetzung der Sicherheitsbehörden
Kampfhubschraubern aus Belarus beliefert.      wirtschaftspolitische Reformen gebunden,        beklagt und eine stärkere Rolle des Militärs
Bei dem Absturz eines dieser Hubschrauber      die wiederum das Potential für Proteste         in der Inneren Sicherheit eingefordert. So
habe sich herausgestellt, dass sich fran-      erhöhen. Als eines von sieben Ländern           ging die International Crisis Group bereits
zösische Spezialkräfte an Bord befanden.       beteiligt sich Tunesien am „Compact for         Ende 2013 davon aus, dass es „essentiell“
Insgesamt habe „die externe Unterstützung      Africa“, einem im Rahmen der deutschen          sei, eine nationale Behörde zu schaffen, die
für bewaffnete Gruppen in Form direkter        G20-Präsidentschaft ausgearbeiteten             nachrichtendienstliche Tätigkeiten und auf
Beihilfe, Ausbildung und technischer Unter-    Programm, bei dem Expert*innen u.a.             die Terrorbekämpfung ausgerichtete Kräfte
stützung … zugenommen“. Zwar erlaube das       der Weltbank und des Internationalen            in einer gemeinsamen Struktur vereint,
Sanktionsregime mittlerweile die Lieferung     Währungsfonds „Hindernisse“ bei der             die Reaktionsfähigkeiten der Antiterror-
„nicht-tödlicher militärischer Ausrüstung“     wirtschaftlichen Entwicklung identifizieren     Brigaden und die Koordination zwischen
an „Sicherheitskräfte der Regierung der        und Reformpakete entwickeln sollen, bei         den Sicherheitsbehörden zu verbessern.
nationalen Einheit“, jedoch bleibe das „Ver-   deren Umsetzung die jeweiligen Regierun-        Außerdem schlug sie gemeinsame Patrouil-
hältnis zwischen den bewaffneten Gruppen       gen dann „unterstützt“ werden. Ziel ist es,     len von Militär, Polizei, Zoll und National-

10
vier verschiedenen Herstellern vorgeführt
                                                                                              und in deren Technik eingewiesen wurde.
                                                                                              Die Bundespolizei „unterstützt“ bereits
                                                                                              seit 2012 wieder die „tunesischen Sicher-
                                                                                              heitskräfte ... im Rahmen der bilateralen
                                                                                              Ausbildungs- und Ausstattungshilfe“.21
                                                                                              Nach den Anschlägen von 2015 hat die Bun-
                                                                                              despolizei darüber hinaus „ein Projektbüro
                                                                                              in Tunis eingerichtet und ihr Engagement
                                                                                              zur Unterstützung der tunesischen Si-
                                                                                              cherheitskräfte an der algerischen Grenze
                                                                                              intensiviert. Die Unterstützung umfasst
                                                                                              Maßnahmen in den Bereichen Grenz-
                                                                                              überwachung, Dokumenten- und Urkun-
                                                                                              densicherheit, maritime Sicherheit sowie
                                                                                              Aus- und Fortbildung. Darüber hinaus soll
                                                                                              die Mobilität tunesischer Sicherheitskräfte
                                                                                              zur libyschen Grenze durch die Beschaf-
                                                                                              fung von Mannschaftswagen und mittels
                                                                                              HESCO-Schutzsystemen für die Posten
                                                                                              der Nationalgarde gestärkt werden“.22

Treffen der Taskforce EU-Tunesien nach dem Umsturz 2011 (Flickr/EEAS)                         Bei der Reorganisation der „Koordination
                                                                                              der Sicherheitspolitik“ spielte neben der
garde sowie eine gemeinsame Ausbildung        meinsame Erklärung, in der sie die „Unter-      EU die Gruppe G7+6 eine zentrale Rolle
von Militär und Nationalgarde vor.14          stützung des Übergangsprozesses in Tune-        – das sind neben den „sieben führenden
                                              sien“ als „strategische Priorität für die EU“   Industrienationen“ (DEU, FRA, ITA, UK,
Im Dezember 2013 hatten 13 „Sicherheits-      definierten. Darin sprachen sich Parlament      USA, CAN, JAP) Spanien, Belgien, Schweiz,
experten“ aus den EU-Mitgliedstaaten eine     und Rat u.a. für die Fortführung des o.g.       Türkei, die EU und das UN-Büro für Drogen-
Beurteilung des tunesischen Sicherheits-      Programms zur Unterstützung des Sicher-         und Verbrechensbekämpfung (UNODC).
sektors vorgelegt, der anschließend der       heitssektors und zum Kapazitätsaufbau aus       Innerhalb dieses Zusammenhangs haben
tunesischen Übergangsregierung übermit-       und kündigte weitere Unterstützung „bei         sich einzelne Länder(gruppen) auf die
telt wurde und nach den Anschlägen auf        der Umsetzung von Sicherheitsstrategien“        Unterstützung spezifischer Fähigkeiten
das Bardo-Museum und ein Hotel in Sousse      und „bei der Bekämpfung von Terrorismus         in Tunesien konzentriert. Frankreich hat
im September 2015 zu einem ersten „ver-       und Radikalisierung“ an, „insbesondere im       – auch wegen seiner „historischen Verbin-
stärkten politischen Dialog über Sicherheit   Einklang mit dem Projektpaket, das Tune-        dungen“ zu Tunesien – die Führung bei der
und Terrorismusbekämpfung“ zwischen der       sien im März 2016 vorgelegt wurde“. Anzu-       direkten Zusammenarbeit mit den tunesi-
tunesischen Regierung und EU-Vertretern       streben sei ferner eine engere „Zusammen-       schen Sicherheitsbehörden übernommen
führte. Hierbei bot die EU den „Austausch     arbeit mit den relevanten Agenturen und         und deren Spezialkräfte mit Aufklärung
an Erfahrung und Expertise“ in der Bekämp-    Einrichtungen der EU“, darunter „Europol,       und Ausrüstung unterstützt. Italien hat den
fung des Terrorismus an sowie die Unter-      die Europäische Polizeiakademie, Eurojust,      Kampf gegen illegale Migration und seine
stützung der tunesischen Behörden bei         Frontex sowie das Europäische Sicherheits-      Schnittstellen zur Terrorismusbekämpfung
der Erarbeitung einer Anti-Terrorstrategie    und Verteidigungskolleg und das EU-Exzel-       in den Mittelpunkt der Zusammenarbeit
und der Reform des Sicherheitssektors im      lenzzentrum im Rahmen des Aufklärungs-          gestellt und u.a. Patrouillenboote geliefert.
Bereich der Terrorbekämpfung und der ge-      netzwerks gegen Radikalisierung“.18 Bereits     Gemeinsam mit den USA hat Deutsch-
heimdienstlichen Aufklärung.15 Im Novem-      seit Ende 2012 führt die EU außerdem ein        land die Unterstützung im Bereich des
ber unterzeichnete die tunesische Regie-      Projekt zur Reform des Justizwesens (PARJ)      Grenzmanagements übernommen.23 Im
rung ein Abkommen über die von der EU         durch,19 in dessen ersten beiden Phasen         Rahmen seiner Ertüchtigungsinitiative hat
mit 23 Mio. Euro unterstützte Reform des      zunächst 40 Mio. Euro u.a. für die Reno-        Deutschland daraufhin die Lieferung von
tunesischen Sicherheitssektors, das u.a.      vierung von fünf Gefängnissen und vier          mobilen Bodenradaren, Nachtsichtgeräten
„die Entsendung mehrerer Experten [vor-       Gerichtsgebäuden genutzt wurden. Beim           und militärischen (Ziel-)Fernrohren an das
sah], die der tunesischen Regierung bei der   sechsten Treffen des Lenkungsausschusses        tunesische Militär durch die Firma Hensoldt
Entwicklung und Umsetzung eines umfas-        des Programms gab die Vertreterin der EU-       (früher: Airbus) organisiert und finanziert.
senden CT[Terrorismusbekämpfungs]-Kon-        Delegation bekannt, dass die EU eine dritte     Vorgesehen ist deren „Einsatz entlang
zepts helfen sollen“.16 Im Juni 2016 unter-   Phase mit 60 Mio. Euro unterstützen wird.20     des südlichen Abschnittes des tunesisch-
zeichnete sie ein weiteres Abkommen, das                                                      libyschen Grenzverlaufes“. Ergänzend
die Lieferung von Ausrüstung und die „Wie-    Deutschland lud zuletzt im November 2017        zu diesen mobilen Anteilen unterstützen
derherstellung der technischen Infrastruk-    eine „tunesische Delegation des Innen- und      Deutschland und die USA „den stationären
tur“ für die Sicherheitskräfte umfasste.17    Transportministeriums zu einem Informati-       Aufbau eines nationalen elektronischen
                                              onsaustausch zu Sicherheitsscannern mit         Grenzüberwachungssystems entlang der
Im September 2016 veröffentlichten das        der Bundespolizei nach Deutschland“ ein,        Grenze zu Libyen“. Hierzu ist geplant, den
Europäische Parlament und der Rat eine ge-    bei dem sechs sog. „Nacktscanner“ von           „Ausbau der stationären elektronischen

                                                                                                                                        11
Grenzüberwachung mit einem zweistelligen       Standort auch in die US-amerikanische          und pflegen stattdessen ihre tradierten,
Millionenbetrag weiter voranzutreiben“,        Großübung Flintlock 2018 eingebunden, die      oft informellen bilateralen Beziehungen zu
um das Ziel einer „durchgängigen elek-         laut Africom mit etwa „1.500 Soldaten …        einzelnen EU-Staaten und den USA – die
tronischen Überwachung von Ras Jedir           im Schwerpunktland Niger und in weite-         gleichwohl im Zuge der allgemeinen Milita-
bis Borj Al Khadra“ zu verwirklichen.24        ren Ländern, darunter die Länder Senegal       risierung der Region ausgebaut wurden.
                                               und Burkina Faso, geplant war“ und die
Dabei handelt es sich letztlich um die         Bekämpfung terroristischer Gruppen zum         Algerien und Marokko verstehen sich
technische Umsetzung einer bereits 2013        Inhalt hatte. Auf eine parlamentarische        beide als Regionalmächte und befinden
von der tunesischen Regierung veranlass-       Anfrage nach der deutschen Beteiligung         sich u.a. wegen der Westsahara-Frage28
ten Maßnahme, mit der große Gebiete            an der Übung gab die Bundesregierung an,       in einem latenten Konflikt, weshalb die
in Grenznähe zu Libyen und Algerien zu         die Bundeswehr sei „in Niger in Oual-          Grenze zwischen beiden Ländern bereits
einer „militarisierten Puffer-Zone“ erklärt    lam [mit] 11 Soldatinnen und Soldaten          seit vielen Jahren als militarisierte Zone
wurden, deren Betreten nur nach vorheriger     sowie [mit] 65 Soldatinnen und Soldaten        wahrgenommen, nun aber mit moderner
Antragsstellung und Genehmigung zulässig       in Tunesien im Raum Bizerte“ beteiligt         Technik aufgerüstet wird. Bewegten sich
ist, während die Grenze selbst durch Sand-     gewesen.27 Es liegt daher nahe, dass die       die Rüstungsexporte nach Marokko in den
wälle und Wassergräben verstärkt wurde.        USA die Basis in Tunesien zumindest auch       Jahren 2000-2009 bei durchschnittlich
Nach Angaben des European Council on           zur Terrorbekämpfung im Sahel nutzen.          knapp 60 Mio. TIV29, schnellten sie im Jahr
Foreign Relations (ECFR) wird diese Grenze                                                    2010 auf über 300 Mio. und 2011 auf 1,4
auch von „durch die USA bereitgestellte        3.3. Algerien und Marokko:                     Mrd. TIV nach oben. Wichtigste Lieferanten
Drohnen“ überwacht.25 Tatsächlich erhielt      Konkurrierende Aufrüstung                      waren die USA und Frankreich, wobei sich
Tunesien nach Angaben des US-Africom           in eigener Regie                               die USA zunehmend durchsetzten. Ende
nach den Anschlägen von 2015 militärische                                                     2017 meldete der Middle East Monitor,
Unterstützung in Höhe von 250 Mio. US$;        Aufrüstung und Militarisierung der Grenzen     dass Marokko 2016 96% und 2015 gar
geliefert wurden u.a. Aufklärungsflugzeu-      setzen sich auch in Algerien und Marokko       100% seiner Rüstungsgüter aus den USA
ge und Drohnen. Die Washington Post            fort, jedoch unter anderen Vorzeichen.         bezogen hätte und damit wichtigster Markt
berichtete im Herbst 2016, dass die USA        Hier handelt es sich nicht um bürgerkriegs-    der US-Rüstungsindustrie in Nordafrika
außerdem seit Juni selbst eine tunesische      ähnliche Zustände wie in Libyen oder die       sei. Zwischen 2011 und 2015 hatte Marok-
Luftwaffenbasis (vermutlich den Stützpunkt     Transition in Folge einer Revolution, in der   ko 6,2 Mrd. US$ für Rüstung ausgegeben
Sidi Ahmed bei Bizerte im Norden des           die Sicherheitsapparate ihre ­Legitimation     und war zugleich fünftgrößter Abnehmer
Landes) für den Einsatz (bislang) unbewaff-    (vorübergehend) eingebüßt haben. Im            französischer und zweitgrößter Abnehmer
neter Reaper-Drohnen nutzten, wozu dort        Gegenteil strotzen die entsprechenden Be-      spanischer Rüstungsexporte gewesen.30
etwa 60 US-Militärs stationiert seien. Nach    hörden in Marokko und Algerien geradezu        Aus den USA importiert wurden u.a. 220
Angaben der USA sollten diese vorwie-          vor Selbstvertrauen, nachdem der „Ara-         Panzer vom Typ M1A1 Abrams. Nach
gend Aufklärungsergebnisse über den IS         bische Frühling“ hier zu keinen größeren       Angaben von Al-Monitor beschloss die
in Libyen liefern, Vertreter der tunesischen   Umbrüchen geführt hat. Entsprechend            US-Regierung im Herbst 2017, Marokko
Regierung, die sich hierzu weitgehend          entziehen sich die jeweiligen Sicherheits-     überschüssige militärische Ausrüstung im
bedeckt hält, nennen als Zweck hingegen        behörden beider Staaten viel mehr einer        Wert von 115 Mio. US$ zu überlassen. Die
die Ausbildung tunesischer Kräfte und die      Durchdringung und Restrukturierung durch       jährlichen Militärhilfen der USA für Marokko
Grenzüberwachung.26 Offenbar war der           die EU und andere internationale Akteure       beliefen sich demnach auf 15 Mio. US$.31

                                                                                              In Algerien stellt sich die Lage anders dar.
                                                                                              Hier beliefen sich die durchschnittlichen
                                                                                              Rüstungsimporte 2000-2009 auf etwa
                                                                                              525 Mio. TIV und stiegen 2010-2016 auf
                                                                                              durchschnittlich etwa 1 Mrd. TIV. Die Ten-
                                                                                              denz ist damit ähnlich, wenn auch weniger
                                                                                              ausgeprägt als in Marokko. Bemerkenswer-
                                                                                              ter ist jedoch eine Verschiebung bei den
                                                                                              wichtigsten Lieferanten: Während bis heute
                                                                                              Russland wichtigster Lieferant ist und die
                                                                                              USA nahezu keine Rüstungsgüter liefern,
                                                                                              exportieren seit 2010 zunehmend auch
                                                                                              westeuropäische Staaten Rüstungsgüter
                                                                                              nach Algerien – allen voran Deutschland. Im
                                                                                              Juli 2011 titelte das Handelsblatt: „Grenz-
                                                                                              sicherung: Grünes Licht für Rüstungsdeals
                                                                                              mit Algerien“. Der Bundessicherheitsrat
                                                                                              habe vier Vorhaben mit einem Volumen
                                                                                              von zehn Milliarden Euro auf zehn Jahre
                                                                                              grundsätzlich bewilligt, so die Zeitung
Amerikanische M109A5 Panzerhaubitzen der königlich marokkanischen Armee.                      weiter. Dabei handelte es sich u.a. um
(Wikimedia commons/US Army Africa, CC-BY-SA 2.0)                                              den Export einer Produktionsstätte für

12
Fuchs-Transportpanzer durch die                                                                      tet werden, ein Überschwappen des
Konzerne Rheinmetall und MAN, die                                                                    bewaffneten Konflikts aus Libyen
gemeinsame Produktion von Last-                                                                      nach Tunesien zu verhindern, nutzt
und Geländewagen durch Daimler,                                                                      die Europäische Union Tunesien als
Fregatten und Marineausbildung                                                                       Brückenkopf für ihre Aktivitäten in
durch Thyssenkrupp und „Verteidi-                                                                    Libyen. So organisiert die Mission
gungs- und Sicherheitselektronik für                                                                 EUBAM Libya ihre Ausbildungsein-
den Grenzschutz“ durch Rohde und                                                                     sätze für libysche Sicherheitskräfte
Schwarz, Cassidian und Carl Zeiss32                                                                  und ihre Beratungstätigkeiten für
– letztere beiden mittlerweile in                                                                    die dortigen Behörden bislang von
Hensoldt aufgegangen. Tatsächlich                                                                    Tunesien aus. Im Juli 2014 wurde
weist die Datenbank der Campaign                                                                     auch die EU-Delegation aus Tripolis
Against Arms Trade (CAAT) einen                                                                      evakuiert und stattdessen in Tunis
rasanten Anstieg der bewilligten                                                                     stationiert. Zu ihr gehörte bereits da-
Exportlizenzen aus Deutschland                                                                       mals auch ein „Experte für Terroris-
nach Algerien auf. Hatte sich deren                                                                  musbekämpfung“, der „Kontakte ...
Gesamtwert in den zehn vorange-                                                                      insbesondere zur Präsidialgarde und
gangenen Jahren stets unter 20 Mio.                                                                  zu verschiedenen Sicherheits- und
Euro bewegt, stieg er 2011 auf 217                                                                   Justizbehörden“ Libyens pflegt und
Mio. Euro an und erreichte 2016                                                                      für die „Koordinierung der Zusam-
über 1,4 Mrd. Euro. Der Gesamtwert                                                                   menarbeit der EU-Mitgliedstaaten
der Exportlizenzen aus der EU nach                                                                   im Bereich Terrorismusbekämpfung,
Algerien belief sich 2016 auf über                                                                   Analyse und Berichterstattung zur
2 Mrd. Euro – deutlich mehr als                                                                      Sicherheitspolitik in Libyen mit
in den Jahren 2001-2009 zusam-                                                                       Schwerpunkt Terrorismusbekämp-
men. 2014 wurden in Algerien                                                                         fung“ zuständig ist und „Unterstüt-
drei Fabriken für Transportpanzer,                                                                   zung bei der Identifizierung und
Geländewagen und Überwachungs-                                                                       Implementierung von EU-Aktivitäten
elektronik – jeweils mit Beteiligung Abschlusszeremonie für im Rahmen der EUBAM ausgebildeten im Bereich Terrorismusbekämp-
                                        Grenzschützern. (Flickr/EEAS)
deutscher Firmen und des algeri-                                                                     fung“ leisten soll.34 Ende 2017
schen Verteidigungsministerium – eröff-         dienen soll (Algerien hingegen vermutet,     befanden sich auch die EU-Marinemission
net. In letzterer werden u.a. Bodenradare       dass auch das eigene Staatsgebiet Ziel       EUNAVFOR MED in Verhandlungen mit der
produziert, wie sie Deutschland kostenlos       der Überwachung sein könnte). Algerien,      tunesischen Regierung über ein „techni-
an Tunesien liefern ließ. Für den Lizenz-       das bereits seit 2002 v.a. mit russischer    sches Abkommen“, das u.a. „den raschen
inhaber Hensoldt hat sich das offenbar          Unterstützung mehrere Beobachtungssatel- Zugang und die Nutzbarkeit des Militär-
gelohnt. Am 4. Mai 2017 veröffentlichte         liten in den Orbit geschickt hatte, startete krankenhauses in Tunis für Personal von
die Firma eine Pressemitteilung unter           nur wenige Tage später seinen ersten         EUNAVFOR MED“ sicherstellen soll.35
dem Titel „Spexer Radare von Hensoldt           Kommunikationssatelliten mit chinesischer
erobern den Weltmarkt“: „Die Produktfa-         Hilfe und beschrieb dies als Auftakt einer   Seit den Anschlägen von 2015 gilt Tune-
milie ‘Spexer’ von Hensoldt, der früheren       umfassenden und strategischen Zusam-         sien bei der Zusammenarbeit mit der EU
Elektronik-Sparte von Airbus Defence and        menarbeit mit China bei der Weltraumtech- als Vorbild in Nordafrika. Zentraler Akteur
Space, wird ein echter Export-Schlager.         nologie. Zwar existieren Gerüchte, dass die  ist hierbei der EU-Koordinator für die
Seit dem Beginn des Jahres wurden etwa          USA von einer Luftwaffenbasis im Süden       Terrorismusbekämpfung. Die Staats- und
50 Einheiten des Spexer 2000 Bodenüber-         Marokkos (bei Guelmim) Aufklärungsflüge      Regierungschefs der EU hatten nach ihrem
wachungsradars im Wert von etwa 40 Mio.         durchführen würden und dass sie sich         informellen Treffen am 15. Februar 2015
Euro durch die Länder des Mittleren Ostens intensiv bemüht hätten, Drohnen auf einem eine knappe Erklärung zur Terrorismusbe-
und Nordafrikas (MENA-Region) bestellt“.33      Luftwaffenstützpunkt im Süden Algeriens      kämpfung veröffentlicht. Darin heißt es im
                                                (bei Tamanrasset) stationieren zu dürfen.    dritten von drei Punkten unter dem Titel
Anders als in Tunesien, wo Rüstungsgüter        Tatsächlich ist jedoch davon auszuge-        „Zusammenarbeit mit unseren internati-
kostenlos unter dem paternalistischen           hen, dass in beiden Ländern weder eine       onalen Partnern“: „Auch die Außenbezie-
Begriff der „Ertüchtigung“ geliefert werden, französische, noch eine US-amerikanische        hungen der EU müssen der Bekämpfung
kaufen sich Marokko und Algerien mili-          Drohnenbasis existiert, womit sie geradezu   der terroristischen Bedrohung dienen“. Die
tärische Technologie als Ergänzung und          eine Anomalie in der Region darstellen.      EU müsse „in Sicherheitsfragen und bei
Modernisierung eigener Produktion ein und Stattdessen haben sich beide Länder in             der Terrorismusbekämpfung stärker mit
spielen dabei internationale, um Einfluss       den vergangenen Jahren selbst umfang-        Drittstaaten zusammenarbeiten, insbeson-
konkurrierende Akteure gegeneinander            reich Drohnen beschafft und entwickelt.      dere im Nahen und Mittleren Osten und
aus. Ähnliches gilt für Aufklärungssatelliten                                                in Nordafrika und in der Sahel-Region ...
und Drohnen: Im November 2017 startete          3.4. Regionale Vernetzung                    auch durch neue Kapazitätsaufbauprojekte
Marokko seinen ersten Militär-Satelliten        und Einflusssphären                          (z.B. Grenzkontrollen) mit den Partnern
aus deutsch-französischer Produktion,                                                        und durch eine gezieltere EU-Hilfe.“36 Am
der angeblichen in erster Linie der Über-       Während die Grenzen zwischen Libyen und      10. Juni 2016 wurde präzisiert: Vorgesehen
wachung der Grenzen und der Küstenlinie         Tunesien v.a. mit dem Argument hochgerüs- sei ein „zielgerichteter und verbesserter

                                                                                                                                         13
Sie können auch lesen