VERORTUNG(EN) DES ECOCRITICISM IN TRANSKULTURELLEN ZEITEN - DIVA PORTAL

Die Seite wird erstellt Jil Freund
 
WEITER LESEN
Verortung(en) des Ecocriticism
in transkulturellen Zeiten
Eine Untersuchung zur Verknüpfung einer ökologisch orientier-
ten Literaturwissenschaft mit Konzepten der kulturellen Ge-
dächtnisstudien am Beispiel von Peter Handkes Die Obstdiebin

Wiebke Lenz

Institutionen för slaviska och baltiska språk, finska, nederländska och tyska
Examensarbete (30 hp)
Masterprogram i litteraturvetenskap (120 hp), inriktning mot tyska
Vårterminen 2021
Handledare: Caroline Merkel
English title: The Place(s) of Ecocriticism in Transcultural Times – A study link-
ing Ecologically Oriented Literary Studies with concepts of Cultural Memory
Studies using the example of Peter Handke’s The Fruit Thief
Verortung(en) des Ecocriticism
in transkulturellen Zeiten

Eine Untersuchung zur Verknüpfung einer ökologisch orientierten Li-
teraturwissenschaft mit Konzepten der kulturellen Gedächtnisstu-
dien am Beispiel von Peter Handkes Die Obstdiebin

Wiebke Lenz

Abstract

The academic field of Ecocriticism has in recent years developed into an increasingly
interdisciplinary, multifaceted field that no longer only concerns literary studies. This
thesis aims to find a new angle that mostly has been overlooked by academics so far. It is
therefore suggested to draw a connection between Ecocriticism and Cultural Memory
Studies since both fields share interests in their considerations of place. The development
of global and transcultural concepts in ecologically oriented literary studies, illustrated by
Ursula Heise’s concept of an eco-cosmopolitanism are discussed and related to new ap-
proaches in Cultural Memory Studies about Heimat (homeland) and belonging to certain
places. The study then exemplifies these theoretical concepts by aiming for a close read-
ing of Peter Handke’s novel Die Obstdiebin (The Fruit-Thief) where traditional percep-
tions of Heimat and a local affiliation are criticized and simultaneously new,
deterritorialized perspectives introduced.

keywords: Ecocriticism, Cultural Memory Studies, Heimat, belonging, place, memory,
globalisation, transculturality, deterritorialization, migration, Peter Handke, Die Obst-
diebin
Inhaltsverzeichnis

1. Einleitendes zur Arbeit ............................................................................................... 1

   1.1 Die Herausforderungen unserer Zeit ....................................................................... 1

   1.2 Aufbau und Ziele der Arbeit .................................................................................... 5

2. „There is no such thing as a local environmental problem“ ................................... 7

   2.1 Migration, Globalisierung und der transcultural turn ............................................. 7

   2.2 Staatsangehörigkeit Erdenbürger: ökokritische Neuentdeckungen ....................... 11

   2.3 Ökokosmopolitische Perspektive auf Peter Handkes Die Obstdiebin................... 19

3. Knotenpunkte zwischen Ecocriticism und den Cultural Memory Studies ............ 32

4. „Challenging Heimat“: Orte in (der) Bewegung .................................................... 37

   4.1 Entwicklung von Heimatkonzepten....................................................................... 37

   4.2 Erinnerungen und Identität in Peter Handkes Die Obstdiebin .............................. 42

   4.3 Handkes Entwurf einer deterritorialisierten Heimat .............................................. 46

5. „Solche Internationalitäten – mehr davon!“ .......................................................... 54

   5.1 Abschließende Bemerkungen ................................................................................ 54

   5.2 Forschungsausblick ............................................................................................... 56

Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 58
I’ve got no roots

                                                                  But my home was never on the ground

                                                                                      I’ve got no roots.

                                                   (Alice Merton & Nicolas Rebscher: „No Roots“, 2016)

1. Einleitendes zur Arbeit
1.1 Die Herausforderungen unserer Zeit

Eine fast schon magische Welt mit saftig grünen Wiesen und hellblau strahlendem Him-
mel. In der Ferne Waldtiere, die ungestört durch diese Landschaft streifen. Bäume und
Sträucher mit kleinen, bunten Früchten so weit das Auge reicht und ein kristallklarer
Fluss, der sich durch das Land schlängelt. Keine Anzeichen menschlicher Zivilisation,
nur das Zwitschern der Vögel, die durch die Lüfte segeln. Das ist Eco,

ein vollständig simuliertes Ökosystem mit Tausenden wachsenden Pflanzen und Tieren, die ein-
fach nur ihr Leben leben. Baue, ernte und nutze die Ressourcen aus einer Umwelt, in der jede
deiner Aktionen die Welt um dich herum beeinflusst. Ein kurz bevorstehender Asteroidenein-
schlag könnte den ganzen Planeten zerstören. Kannst du die Welt retten, ohne sie dabei zu zer-
stören? […] Schränke schädliche Aktivitäten ein, ohne den technischen Fortschritt aufzuhalten.
Finde ein Gleichgewicht zwischen deinen persönlichen Bedürfnissen und den Bedürfnissen der
Gemeinschaft und halte dabei das Ökosystem im Gleichgewicht. Die Zukunft der Welt liegt in
deinen Händen.1
Eco ist ein Computer-Simulationsspiel von 2018 und hat, obwohl es noch nicht abschlie-
ßend programmiert ist und derzeit als „early access“ Version zur Verfügung steht, bereits
zahlreiche positive Rezensionen. In Eco gibt es keine Länder oder Staaten, klicken die
Spielenden auf die Computertaste „M“ erscheint eine Darstellung der Erdkugel, lediglich
eingeteilt in verschiedene Klima- und Rohstoffzonen. Das Spiel weist zu Beginn darauf
hin, dass nur eine schonende Ressourcennutzung in Kombination mit einer rücksichtsvol-
len Entwicklung von Technologien zur Entstehung einer „nachhaltigen“ menschlichen
Population und der abschließenden Abwehr des Asteroideneinschlags führen kann. Die
Entwickler:innen schreiben, dass Eco zugleich unterhaltend und bildend sein soll, da das
Spiel zu einem besseren Verständnis der Verkettung von Mensch und Natur und der

1    Beschreibung des Spieles auf der Plattform Steam unter dem Abschnitt „Über dieses Spiel“:
    https://store.steampowered.com/app/382310/Eco/?l=german (zuletzt abgerufen am: 12.04.2021).

                                                                                       1
negativen Auswirkungen unseres Handelns beitragen will.2 Des Weiteren stellt Eco das
„Dilemma“ der Menschheit dar, einen Mittelweg zwischen verantwortlicher Anwendung
von Technologien und einer ethischeren Beziehung zur Umwelt zu finden. Gleichzeitig
beinhaltet das Spiel aber auch eine utopische Wunschvorstellung, die ebenso in vielen
literarischen und filmischen Repräsentationen demonstriert wird: „Tabula rasa“, ein Neu-
beginn, durch den die Menschen die Möglichkeit bekommen, von Anfang an alles besser
zu machen.

Umweltthematiken werden aufgrund der immer offensichtlicheren global-ökologischen
Krise nicht nur in Computerspielen behandelt, sie sind ferner seit dem Ende des 20. Jahr-
hunderts im akademischen Diskurs sehr präsent. Dies wird beispielsweise durch die Ent-
wicklung der umweltorientierten Literaturwissenschaft – dem Ecocriticism – verkörpert,
die sich vor allem der literarischen Repräsentation des Verhältnisses zwischen Mensch
und Umwelt, der Natur/Kultur-Dialektik und der Frage widmet, wie ein Ortszugehörig-
keitsgefühl und eine emotionale Verbindung zur Umgebung zu einem verantwortungs-
volleren Umgang mit der Natur führen kann. Vor allem in Nordamerika (dort nahm die
umweltorientierte Literaturwissenschaft in den 1960er Jahren ihren Anfang) ist die An-
nahme, dass ein Heimatbewusstsein und die affektive Bindung an einen Ort signifikant
für ein neues, moralischeres Verständnis zur Begegnung mit der Umwelt seien, noch im-
mer stark vertreten.3 Ein geläufiger Ansatz in tradierten Studien der ökokritischen Lite-
raturwissenschaft ist demnach die notwendige (Wieder-)Entwicklung eines „sense of
place“, einer Wertschätzung der eigenen, lokalen Umgebung und das Wissen über diese,
um die Konsequenzen unseres Handelns erkennen und unsere Verhaltensmuster überden-
ken zu können.4 Nur so sei eine Wiederannäherung an die natürliche Umwelt und der
Weg in eine bessere Zukunft möglich und „[o]n the basis of such perspectives, place con-
tinues to function as one of the most important categories through which American envi-
ronmentalists articulate what it means to be ecologically aware and ethically
responsible“5. Es wird, wie die Literaturwissenschaftlerin Ursula Heise treffend be-
schreibt, in diesen Ansätzen des Ecocriticism eine „ethic of proximity“ vertreten, die

2 Vgl. Beschreibung des Spieles auf der Plattform Steam unter dem Abschnitt „Was die Entwickler zu sagen
  haben“: https://store.steampowered.com/app/382310/Eco/?l=german (zuletzt abgerufen am 09.04.2021).
3 Vgl. Heise, Ursula K.: „Ökokosmopolitismus“. In: Dürbeck, Gabriele & Stobbe, Urte (Hrsg.): Ecocriti-

  cism – eine Einleitung. Köln: Böhlau 2015, S. 22 f.
4 Vgl. Heise, Ursula K.: Sense of Place and Sense of Planet: The Environmental Imagination of the Global.

  Oxford: Scholarship Online 2008, „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 13.
5 Ebd., S. 13.

                                                                                          2
räumliche Nähe mit emotionaler Verbundenheit und moralischer Nähe gleichsetzt.6 Folg-
lich werden unter anderem die gegenwärtigen Erscheinungen der Globalisierung, Migra-
tion und Transkulturalität in diesen Konzepten als Auslöser für die moralische
„Entfremdung“ des Menschen zur Natur gesehen. Gleichwohl scheinen ökokritische so-
wie umweltaktivistische Ansätze, die ein „Zurück zum Ursprünglichen“ fordern und sta-
tische Ansätze einer Ortszugehörigkeit und eines Heimatbewusstseins vertreten, durch
die Entwicklungen des 21. Jahrhunderts obsolet. Aufgrund der zunehmenden Mobilitäts-
und Deterritorialisierungsprozesse der Gegenwart sowie technologischer und kommuni-
kativer Entwicklungen, wirkt ein Zurück zur Natur und zum Traditionellen nicht nur un-
möglich, sondern            ferner    auch nicht       zielführend bei   der Lösung globaler
Umweltproblematiken.

Bei erneuter Betrachtung des Computerspiels Eco zeigt sich die Illustration einer trans-
nationalen Perspektive, in der die globusähnliche Spielwelt als etwas Ganzes, Zusam-
menhängendes dargestellt wird und die Handlungsauswirkungen der Spieler:innen
„global“, das heißt in allen Teilen der fiktiven Spielwelt, zu spüren sind. Eco vermittelt
somit einen modernen Blickwinkel auf die Welt, der mit aktuellen gesellschaftlichen Dis-
kussionen einhergeht. Denn die Auswirkungen sozialer und ökologischer Herausforde-
rungen des 21. Jahrhunderts, wie die Bewältigung der globalen Umweltkrise oder
Veränderungen durch weltweite Globalisierungs- und Migrationserscheinungen, wirken
sich nicht nur auf die Konzeption fiktiver Computerspiele aus, sie sind seit einigen Jahr-
zehnten auch im akademischen Diskurs präsent. So lässt sich in den letzten Jahrzehnten
besonders auch im Ecocriticism eine Hinwendung zu transkulturellen und transnationalen
Konzeptionen und Untersuchungen der narrativen Darstellungen der Beziehung zwischen
Mensch und Umwelt und zu Entwürfen einer verantwortungsvolleren Beziehung zur Na-
tur erkennen. Da sich Forscher:innen im deutschsprachigen Raum, anders als in Nord-
amerika, durch die missbrauchende Verwendung von Heimat- und Naturkonzepten durch
die Nationalsozialist:innen nicht auf eine „unbroken tradition of thought and writing
about place“7 stützen können, erscheint es wenig widersprüchlich, dass sich gerade hier
eine Vielzahl dynamischer Konzepte der emotionalen Bindung zu Orten oder der Nation
sowie zu der Beziehung zur Umwelt entwickelt haben. Eine der wichtigsten Konzeptua-
lisierungen, die durch die beschriebenen Entwicklungen der umweltorientierten

6   Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 18.
7   Heise (2008): „Introduction“, S. 7.

                                                                                  3
Literaturwissenschaft entstanden sind, ist Heises bedeutsamer Entwurf eines Ökokosmo-
politismus, bei dem sie eine Abwendung von lokalen beziehungsweise nationalen emoti-
onalen Bindungen zu Orten vorschlägt und stattdessen das Zentrum ihres Interesses auf
ein globales Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl für eine konstruktive
Konfrontation der ökologischen Krise legt.8

Die vorliegende Arbeit legt den Fokus auf die gegenwärtigen Entwicklungen des Ecocri-
ticism zu transkulturellen Konzeptionen hinsichtlich einer Beziehung und eines Zugehö-
rigkeitsgefühls zu lokalen, beziehungsweise globalen Orten und veranschaulicht dies
insbesondere an Heises Konzept des Ökokosmopolitismus. Die vorgeschlagene Fokus-
sierung auf eine umweltorientierte Konzeption der Ortsbindung legt eine Verbindung mit
Konzepten der Cultural Memory Studies nahe. Ansätze der kulturellen Gedächtnisfor-
schung verweisen überwiegend auf die wichtige emotionale und lokale Bindung an Orte,
aufgrund ihrer bedeutenden Rolle als Erinnerungsträger für die Herausbildung von indi-
vidueller wie kollektiver Identität.9 Dennoch lässt sich auch in Studien zum kulturellen
Gedächtnis eine ähnliche Entwicklung wie im Ecocriticism kosmopolitischer und dyna-
mischer Konzepte zu Erinnerungen, Heimat und Identität erkennen, weshalb die vorlie-
gende Untersuchung eine Verknüpfung von umweltorientierten Konzepten mit
Heimatkonstruktionen der kulturellen Gedächtnisforschung anstrebt.10 Der Ecocriticism
hat sich in den letzten Jahren immer mehr zu einem interdisziplinären Forschungsfeld
entwickelt und betrifft schon lange nicht mehr nur die Literaturwissenschaft.11 Dessen
ungeachtet wurde diese interdisziplinäre Überschneidung mit Studien zum kulturellen
Gedächtnis in ihrem gemeinsamen Interesse an Konzeptionen von Orten, einer Ortsbin-
dung und einem Heimatbewusstsein von ökokritischen Forscher:innen bisher größtenteils
übersehen.12

8 Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 45.
9 Vgl. z.B. Schliephake, Christopher: „Literary Place and Cultural Memory“. In: Zapf, Hubert (Hrsg.):
   Handbook of Ecocriticism and Cultural Ecology. Berlin/Boston: de Gruyter 2016: S. 574 ff.
10 Vgl. z.B. Neumann, Birgit: Erinnerung – Identität – Narration, Gattungstypologie und Funktionen ka-

   nadischer „Fictions of Memory“. Berlin: De Gruyter 2005, S. 19 ff. Oder Levy, Daniel: „Changing Tem-
   poralities and the Internationalization of Memory Cultures“. In: Gutman, Yifat et al.: Memory and the
   Future - Transnational Politics, Ethics and Society. New York: Palgrave 2010.
11 Vgl. z.B. Einleitung in Dürbeck, Gabriele & Stobbe, Urte (Hrsg.): Ecocriticism – Eine Einführung. Köln

   2015, S. 9 ff.
12 Es gibt einige Forschungsansätze, die auf diese Verbindung hinweisen, vergleiche z.B. Goodbody, Axel:

   „Sense of Place and Lieu de Mémoire: A Cultural Memory Approach to Environmental Texts“. In: Good-
   body, Axel & Rigby, Kate (Hrsg.): Ecocritical Theory. Charlottesville/London: Virginia Press 2011. O-
   der Schliephake (2016).

                                                                                          4
1.2 Aufbau und Ziele der Arbeit

Diese Studie will aufzeigen, dass die gegenwärtigen transkulturellen Veränderungen in
Heimat- und Identitätskonzeptualisierungen eine vorerst unrealisierbar erscheinende Ver-
knüpfung mit einem ökokosmopolitischen Blickwinkel ermöglichen. Dazu legt die Un-
tersuchung im folgenden Kapitel zunächst dar, wie die gesellschaftlichen
Veränderungen des 20. und 21. Jahrhunderts auch zu Umorientierungen im akademischen
Diskurs und insbesondere im Ecocriticism hinsichtlich transkultureller und globalisierter
Vorstellungen geführt haben. Nach einer Beleuchtung von Heises Ökokosmopolitismus
wird dieser zum Abschluss des ersten Teiles anhand des literarischen Beispiels – Peter
Handkes Die Obstdiebin – konkretisiert. Einige literaturwissenschaftliche Studien haben
sich bereits mit der Darstellung von Erinnerungen, Heimat und Ortszugehörigkeit in
Handkes Werken beschäftigt und dabei herausgestellt, dass Handke sowohl vorherr-
schende traditionelle Konzepte von Heimat kritisiert und gleichzeitig neue, kosmopoliti-
sche und deterritorialisierte Bilder eines Heimatbewusstseins skizziert.13 Aus einer
umweltorientierten Sicht sind Peter Handkes Werke jedoch bisher nur wenig erforscht.
Eine Verbindung seiner Werke mit ökokritischen Ansätzen findet ohnehin erst seit der
Feststellung eines Wendepunkts in Handkes Schaffen ab 1970, nach welchem er auch
Naturschilderungen in seinen fiktiven Narrativen einen Platz bietet, im akademischen
Diskurs eine Aufmerksamkeit.14 In Die Obstdiebin stellen sich bei der Analyse charakte-
ristische Merkmale einer ökologisch orientierten Literatur heraus, wie beispielsweise die
bedeutsame Beziehung der Protagonistin zu ihrer Umwelt durch ihr „Obstdiebestum“,
das wiederum für die Herausbildung eines Heimatbewusstseins im Roman eine wichtige
Rolle spielt. Des Weiteren zeigt sich bei der Untersuchung von Handkes Werk die Skiz-
zierung einer globalisierten und (öko-)kosmopolitischen Weltvorstellung mit einer
gleichzeitigen Hervorhebung einer affektiven Bindung zu Orten, die sich nicht gegensei-
tig widersprechen, sondern miteinander verknüpft werden. Durch seine Illustrierung
transkultureller Konzepte anhand der dargestellten Beziehung zur Natur, der Wahrneh-
mung der Welt als etwas Ganzes und der Darstellung eines deterritorialisierten

13 Vgl. z.B. Schröder, Simone: „Transient Dwelling in German-language Nature Essay Writing: W.G. Se-
   bald’s Die Alpen im Meer and Peter Handke’s Die Lehre der Sainte-Victoire“. In: Ecozon@, Band 6, Nr.
   1, 2015. Oder Eigler, Friederike: „Critical Approaches to Heimat and the Spatial Turn“. In: New German
   Critique. Band 39, Nr. 1, Winter 2012.
14 Vgl. Hofer, Stefan: Die Ökologie der Literatur. Eine systemtheoretische Annäherung. Mit einer Studie

   zu Werken Peter Handkes. Bielefeld: transcript 2007: S. 229.

                                                                                          5
Heimatverständnisses, schafft Handke es in der Fiktion eine neue, moderne Verbindung
zwischen lokaler Ortszugehörigkeit und globalisierten Zusammengehörigkeitsgefühl zu
schaffen und verknüpft so den Ecocriticism mit den Cultural Memory Studies.

Bevor im zweiten Teil dieser Arbeit auf dieses Wechselspiel zwischen kosmopolitischer,
globalisierter Perspektive und einer affektiven Ortszugehörigkeit in Die Obstdiebin ein-
gegangen wird, sind zunächst im dritten Kapitel die Anknüpfungspunkte einer umwelt-
orientierten Literaturwissenschaft mit Studien zum kulturellen Gedächtnis darzustellen,
worauf im vierten Kapitel vor der Literaturbetrachtung – analog zum ersten Teil der
Arbeit – die derzeitigen Entwicklungen und Umorientierungen in den Cultural Memory
Studies und insbesondere bei Heimatkonstruktionen dargestellt werden. Im fünften und
letzten Kapitel der Arbeit werden die Ergebnisse abschließend zusammenfassend be-
trachtet und ein Blick auf weitere Forschungsmöglichkeiten geworfen. Ziel der Arbeit ist
es somit darzulegen, dass die aktuelle ökokritische Tendenz einer Ablehnung von festen
Bindungen an lokale Orte, illustriert anhand des Ökokosmopolitismus, mit dynamischen
Ansätzen in den kulturellen Gedächtnisstudien zu einem neuen Heimatbewusstseins, in
dem unter anderem die Deterritorialisierung der Ortszugehörigkeit im Blickwinkel steht,
zusammen gesehen werden können – ohne dass sie sich gegenseitig ausschließen, wie bei
der Analyse von Handkes Die Obstdiebin deutlich wird. Mit dieser bisher meistenteils
missachteten Zusammenführung von Konzepten des Ecocriticism sowie der Cultural Me-
mory Studies, zeigt die Untersuchung ferner auf, dass die Erweiterung der umweltorien-
tierten Literaturwissenschaft um eine interdisziplinäre gedächtnisorientierte Dimension
zu fruchtbaren Einsichten führen kann, wie eine Ortszugehörigkeit in gegenwärtigen Zei-
ten der Transkulturalität, Deterritorialisierung und der Bewältigung einer globalen öko-
logischen Krise zu denken ist.

                                                                            6
2. „There is no such thing as a local environmental problem“ 15
2.1 Migration, Globalisierung und der transcultural turn

Würden sich alle Migrant:innen auf der Erde zusammengefasst dazu entschließen, eine
eigene Nation zu gründen, stünde diese auf der Liste der bevölkerungsreichsten Länder
der Welt auf Platz fünf: Weltweit leben zurzeit (Wert aus 2017) laut der Bundeszentrale
für politische Bildung um die 258 Millionen Menschen in Ländern, in denen sie nicht
geboren wurden.16 Und die Tendenz ist steigend, noch nie war das Reisen so einfach und
preisgünstig wie heute. Zumindest zwischen den europäischen Ländern werden nur noch
wenige Grenzkontrollen durchgeführt und ein offizieller Reisepass ist schon lange nicht
mehr nötig. Flüge von Frankfurt etwa nach Barcelona werden unter dreißig Euro angebo-
ten, Fernbusse fahren um die ganze Welt, um die Menschen an ihre Ziele zu bringen –
für einen Urlaub, eine Geschäftsreise oder einen Umzug in ein anderes Land. Diese schier
grenzenlose Mobilität betrifft nicht nur die Beförderung von Menschen, sondern auch
Güter und Informationen „reisen“ durch die ganze Welt.17 Nichts scheint einfacher, als
mit einem Klick über das Internet Lebensmittel aus China oder ein Möbelstück aus Eng-
land zu bestellen und sich vor die heimische Haustür liefern zu lassen. In unserer gegen-
wärtigen Zeit der Bewegung und dem Verschwimmen von deutlichen Landesgrenzen gilt
die Migration, sprich die geographische Neuverortung eines Individuums, als eines der
wichtigsten und auffälligsten Symptome der Globalisierung.18

Die zunehmende Migration des 20. und 21. Jahrhunderts, die Bewegung der Menschen
in andere, fremde Länder und Gebiete, ob unfreiwillig als Flucht oder als freiwillige
Reise, ist keine Neuerfindung unserer Zeit und auch nicht nur der Beschreibung mensch-
licher Mobilität vorenthalten, sondern wird ebenfalls in den Naturwissenschaften

15  Thomashow, Mitchell: Bringing the Biosphere Home: Learning to Perceive Global Environmental
   Change. Cambridge/London: MIT 2002, zitiert nach Heise (2008): „From the Blue Planet to Google
   Earth“, S. 23.
16 Vgl. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Zahlen und Fakten: Globalisierung – Migration.

   Produktion 06.2018, unter https://www.bpb.de/mediathek/265432/zahlen-und-fakten-globalisierung-
   migration (zuletzt abgerufen am: 12.04.2021). Vergleiche dazu auch: Llena, Carmen Zamorano: Fictions
   of Migration in Contemporary Britain and Ireland. Cham: Palgrave 2020, S. 1.
17 Vgl. Llena (2020): S. 4.
18 Vgl. ebd., S. 1. Dabei ist zu bemerken – wie auch Llena (S. 2 f) richtig betont –, dass ein großer Teil

   dieser „geographischen Neuverortung“ durch Migration nur mehr oder weniger freiwillig geschieht, oft
   als einziger Ausweg vor untragbaren Zuständen im Heimatland.

                                                                                           7
verwendet.19 Durch die Optimierung von technologischen Entwicklungen und Transport-
mitteln wie Autos, Schiffen und Flugzeugen, aber auch aufgrund der Verbreitung verbes-
serter kommunikativer Möglichkeiten wie dem Internet oder der Videotelefonie, entstand
ab dem späten 20. Jahrhundert eine andere, zuvor in der Menschheitsgeschichte noch
nicht registrierte Dimension von Migration.20 Die Menschen begannen für einen Wochen-
endausflug nach Mallorca zu fliegen, Weltreisen zu machen oder als ‚digital nomads‘ zu
arbeiten, mit Wohnmobilen durch Europa fahrend und dabei ihre Eindrücke auf Video-
plattformen für interessierte Zuschauer:innen auf der ganzen Welt für die Ewigkeit fest-
haltend. Diese       deutlichen global-gesellschaftlichen           Entwicklungen führten           zu
Hinterfragungen klassischer sozialer Strukturen und Wertvorstellungen, wodurch sich
dementsprechend vorherrschende Konzepte und Auffassungen in der Gesellschaft verän-
derten und sich transnationale und globalisierte Perspektiven herausbildeten.21 Dieser be-
trächtliche Einfluss, den Globalisierung- und Migrationserscheinungen der heutigen Zeit
auf die Gesellschaften und Gemeinschaften weltweit haben, unterscheide sich laut der
Literaturwissenschaftlerin Carmen Zamorano Llena von allen bislang aufgefassten For-
men menschlicher Migration.22

Die Erscheinungen des späten 20. und 21. Jahrhunderts führten somit auch im akademi-
schen Diskurs der Geistes- und Sozialwissenschaften zu kritischen Überarbeitungen ins-
besondere der vorherrschenden Identitätskonzepte und des zuvor allgegenwärtigen
herderschen „Kugelmodells der Kulturen“, in dem von homogenen und geographisch fest
verankerten Gemeinschaften (den Kulturnationen) ausgegangen wird, die bestimmte
Werte und Traditionen teilen und den Staat beziehungsweise die Nation als oberste iden-
titäts- und kulturstiftende Instanz ansehen.23 Seit den letzten Jahrzehnten entstanden doch
zunehmend dynamischere Ansätze zur Beleuchtung der Beziehungen zwischen verschie-
denen Gesellschaften und Kulturen, beispielsweise Homi Bhabhas Culture’s In-Between
oder Wolfgang Welschs Konzept der Transkulturalität, die den sogenannten transcultu-
ral   turn     in    den    Human-       und     Sozialwissenschaften         einleiteten:24    Viele

19 Vgl. Llena (2020): S. 2. Oder Appadurai, Arjun: Modernity at Large – Cultural Dimensions of Globali-
   zation. London: Minnesota Press 2010, S. 4.
20 Vgl. Llena (2020): S. 2
21 Vgl. ebd., S. 3 f.
22 Vgl. ebd., S. 2.
23 Vgl. Einleitung in Bond, Lucy & Rapson, Jessica: The Transcultural Turn – Interrogating Memory Be-

   tween and Beyond Borders. Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 7 f.
24 Vgl. Bhabha, Homi K.: „Culture’s In-Between“. In: Hall, Stuart & du Gay, Paul (Hrsg.): Questions of

   Cultural Identity. London: Sage 2011 [1996], S. 53 – 60. Und: Welsch, Wolfgang: „Transkulturalität:

                                                                                         8
Wissenschaftler:innen lehnten Herders Auffassung von Kulturnationen ab und formulier-
ten stattdessen ab den 1990er Jahren Identitätskonzepte, die nicht vom Staat, sondern
durch „hybridity, creolization, mestizaje, migration, borderlands, diaspora, nomadism,
exile, and deterritorialization“25 geformt und gekennzeichnet sind. Diese Konzepte wür-
den ebenfalls auf die Individuen zutreffen, die ihren Wohn- und Lebensort, ihre „ur-
sprüngliche“ Heimat, nicht verlassen und auch nie eine Zeitlang in einem anderen Land
verbringen: Denn wie Heise richtig herausstellt, würden auch im eigenen Heimatort trans-
kulturelle und globale Einflüsse zu bemerken sein, welche die Umgebung formen und
verändern, wodurch Individuen ein Gefühl von „displacement“ (wie es häufig bei Mig-
rant:innen vorkommt) verspürten.26 Diese Perspektiven des transcultural turns aktuali-
sieren demzufolge tradierte Konzeptionen zu Identität und einem Heimatbewusstsein auf
die Globalisierungs- und Migrationserscheinungen der Zeit, indem sie den Fokus auf
Hybridität sowie der Möglichkeit mehrfacher Orts- und Heimatbezüge legen und gleich-
zeitig eine Versteifung auf eine unflexible Ortszugehörigkeit ablehnen.27 Da das Thema
der Migration sich „from the margins to the core of cultural identity – not only that of
individuals but of entire societies“28 bewegt hat, beschäftigen sich also ab der Jahrtau-
sendwende auch Studien zur Identitätsbildung und Heimat, die zuvor von Herders Natio-
nalismus geprägt waren, zunehmend mit transnationalen und kosmopolitischen Ansätzen.

Nichtsdestotrotz entwickelten sich weiterhin Ansätze, welche die traditionellen Auffas-
sungen beibehalten wollen, was ab dem Ende des 20. Jahrhunderts zu Reibungen zwi-
schen lokalen und transkulturellen, globalen Belangen führte.29 Die globalisation
beziehungsweise global studies, die sich aus den Globalisierungserscheinungen und dem
transcultural turn Anfang des 21. Jahrhunderts herausgebildet haben, machten diese nun
entstandenen Spannungen zu ihrem Diskurs und kamen dabei nach Llena zu der Erkennt-
nis, dass beide Aspekte, sowohl das Lokale und Regionale als auch ein globales Verständ-
nis von Strukturen und Problemen, für eine tiefere Einsicht in die Komplexität der
heutigen Welt nötig seien.30 Darüber hinaus entwickelten Ansätze der globalisation

   Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen“. In: Information Philosophie, Band 20, Nr. 2, 1992, S.
   5 – 20. Vergleiche auch: Bond & Rapson (2014): S. 8 ff.
25 Heise (2008): „Introduction“, S. 3.
26 Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 35.
27 Vgl. ebd., S. 36.
28 Heise (2008): „Introduction“, S. 4.
29 Siehe zum Beispiel Lynch, Tom; Glotfelty, Cheryll & Armbruster, Karla: The Bioregional Imagination

   – Literature, Ecology, and Place. Athen: University of Georgia Press, 2012. Vergleiche auch Llena
   (2020): S. 15.
30 Vgl. Llena (2020): S. 15.

                                                                                         9
studies das Konzept der „Deterritorialisierung“, worunter die Tatsache zu verstehen ist,
dass unser alltägliches Leben bereits in jeder Hinsicht von verschiedensten globalen und
transkulturellen Strukturen, Prozessen und Produkten wie Musik, Nahrungsmittel und
Kleidung geprägt ist.31 Die Deterritorialisierung bezieht sich so auf „the detachment of
social and cultural practices from their ties to place“32. Dies impliziert ferner, dass Orten
und Ortszugehörigkeiten nun eine andere Bedeutung zugeschrieben wird, denn „local
places have changed through increased connectivity but also the structures of perception,
cognition, and social expectations associated with them“33. Daraus lässt sich schließen,
dass sich durch Migration und Globalisierung nicht nur die Menschen weltweit mehr be-
wegen, sondern auch, dass sich durch die Bedeutungsverschiebung von Orten (und folg-
lich auch von Ortszugehörigkeit und Heimat) eine Notwendigkeit ergibt, neue Konzepte
zu finden und anzuwenden, die aber dennoch auf der anderen Seite lokale Belange nicht
vollständig in den Hintergrund rücken.

Die zunehmende Verbundenheit und Vernetzung von Gesellschaften auf der ganzen Welt
und die daraus resultierende Entstehung neuer Formen von Kulturen, Gesellschaften und
Identitäten, die nicht mehr mit nur einem Ort verankert sind, müssen zu Veränderungen
bei Auffassungen von Ort, Zugehörigkeit, Heimat und Identität im akademischen Diskurs
führen – so die Annahme in Ansätzen der globalisation studies.34 Diese Erkenntnisse
führten auch in literaturwissenschaftlichen Diskussionen zu Überdenkungen und For-
scher:innen kamen zu der Einsicht, dass national-individuelle Literatur(en) nicht aus sich
selbst heraus, dem Kontext der eigenen Nation entstehen, sondern im Rahmen der ent-
standenen internationalen und interkulturellen Vernetzungen.35 Ansätze dieser Auffas-
sung gehen Llena zufolge davon aus, dass alle (zeitgenössische) „nationale Literatur“
durch die globalen Beeinflussungen und gesellschaftlich-kulturellen Prägungen der Au-
tor:innen, jeweils immer eine implizite oder explizite immanente transnationale Dimen-
sion beinhalte.36 Zeitgenössische Literatur kann in diesem Sinne auch als
„deterritorialisiert“ aufgefasst werden, da sie so unweigerlich immer das Globale und Lo-
kale miteinander verbindet. Daher ist es für eine wachsende Anzahl Literaturwissen-
schaftler:innen von großer Bedeutung, sich bei der Literaturbetrachtung von dem

31 Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 37.
32 Ebd., S. 34.
33 Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 37.
34 Vgl. Heise (2008): „Introduction“, S. 8.
35 Vgl. Llena (2020): S. 7.
36 Vgl. ebd., S. 8 f.

                                                                                10
herderschen Paradigma und dem Staat als oberste identitätsstiftende Instanz abzuwenden
und stattdessen globale, transkulturelle Untersuchungsansätze für die Betrachtung fikti-
ver Narrative zu entwickeln.37 Dies gilt wie herausgestellt besonders für Untersuchungen
von Konzeptionen zu Orten, Ortszugehörigkeit und eines Heimatbewusstseins, die wie-
derum auch eine Verhandlung der menschlichen Beziehung zur Umwelt implizieren. Mit
diesen Zusammenhängen von Ort und dem Verhältnis zur Umgebung beschäftigen sich
auch sehr stark Ansätze des Ecocriticism. Insbesondere Ursula Heises Konzept des Öko-
kosmopolitismus wird im nächsten Abschnitt näher beleuchtet.

2.2 Staatsangehörigkeit Erdenbürger: ökokritische Neuentdeckun-
gen

Der Ecocriticism, „the study of the relationship of the human and the non-human, throug-
hout human cultural history and entailing critical analysis of the term ‘human’ itself“38,
ist tendenziell eher nicht für seine transkulturellen Konzeptionen und Auffassungen be-
kannt - der Bezug auf ortsbezogene, traditionelle Konzepte ist in der umweltorientierten
Literaturwissenschaft nach wie vor weit verbreitet, wie beispielsweise in der Bioregiona-
lismusbewegung.39 Der Beginn der Globalisierungs- und Migrationsprozesse Ende des
20. Jahrhunderts brachte (und bringt) nicht nur positive Stimmen mit sich, vielmehr führ-
ten diese bei einigen Wissenschaftler:innen zu der Sorge vor einer Homogenisierung, ei-
ner „monoculture of the mind“, und vor einem Verlust der Diversität lokaler Kulturen.40
Der Ecocriticism steht so seit seiner Herausbildung in den 1960er Jahren bereits in einem
Spannungsfeld zwischen „the embrace of and the resistance to global connectedness“41.
Des Weiteren lässt sich die Priorisierung und Fokussierung auf eine traditionelle Ortsbin-
dung darauf zurückführen, dass die Veröffentlichung von Rachel Carsons Silent Spring

37 Siehe dazu zum Beispiel Leonard, Philip: Literature After Globalization: Textuality, Technology and the Na-
   tion-State. London: Bloomsbury 2013. Oder Jay, Paul: Global Matters – The Transnational Turn in Literary
   Studies. Ithaca: Cornell 2010. Vergleiche auch Llena (2020): S. 4 f.
38 Garrard, Greg: Ecocriticism. Oxon/New York: Routledge 2012, S. 5.
39 Vgl. z.B. Heise (2015): S. 23. Oder Garrard (2012): S. 127 ff.
40 Garrard (2012): S. 184.
41 Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 5.

                                                                                          11
in 1962 im Allgemeinen als der Beginn einer ökologisch orientierten Literaturwissen-
schaft angesehen wird.42

In Carsons Werk, das eigentlich als ein umweltwissenschaftliches Fachbuch deklariert
ist, beschreibt sie die negativen Auswirkungen von Pestiziden und zeichnet ein harmoni-
sches Bild von Natur und Mensch im Gleichgewicht, das sich alsbald zu einer Darstellung
der Zerstörung verändert – so vermittelt Carson das Bild einer durch den Menschen zer-
störten Balance, die es wiederherzustellen gilt.43 Durch die Verwendung von literarischen
Elementen in Silent Spring wurde neben der gesellschaftlichen Öffentlichkeit auch die
Literaturwissenschaft auf das Buch und die Themengebiete Natur und Umwelt im Allge-
meinen in fiktiven Narrativen aufmerksam gemacht.44 Dadurch kam zusätzlich die Frage
auf, ob umweltbezogene Problematiken überhaupt eine Angelegenheit der Kultur- bezie-
hungsweise Literaturwissenschaft seien, was zu John Passmores Aufstellung einer Unter-
scheidung führte zwischen „problems in ecology“ (die Beschreibung von Problemen in
den Naturwissenschaften) und „ecological problems“ (normative, die Gesellschaft und
dessen Umgang mit der Umwelt betreffende Problematiken), die bis heute ihre Gültigkeit
besitzt.45 Die Naturwissenschaften sind damit bemüht, Konsequenzen und Entwicklun-
gen in natürlichen Prozessen objektiv zu beschreiben, während moralische und ethische
Probleme eine Fragestellung der Geistes- und Sozialwissenschaften sind, „[t]hus ecocri-
ticism cannot contribute much to debates about problems in ecology, but it can help to
define, explore and even resolve ecological problems in this wider sense“46. Demzufolge
sieht sich die umweltorientierte Literaturwissenschaft nicht in der Position, die Ver-
schmutzung der Weltmeere, den Klimawandel oder die Abnahme der Artenvielfalt zu
stoppen. Sie kann indessen durch die Untersuchung literarischer Verhandlungen von Um-
weltthematiken dazu beitragen, die kritische Auseinandersetzung mit ökologischen Fra-
gestellungen sowie das Aufzeigen alternativer Lebensweisen in den Fokus des
gesellschaftlichen Diskurses zu rücken.

Wenn die Veröffentlichung von Silent Spring als der Ursprung der ökologisch orientier-
ten Literaturwissenschaft angesehen wird, dann ist es nicht weiter verwunderlich, dass
sich besonders in frühen Ansätzen des Ecocriticism viele Literaturwissenschaftler:innen

42 Vgl. Garrard (2012): S. 3. Siehe auch Carson, Rachel: Silent Spring. Boston: Mariner 2002 [1962].
43 Vgl. Garrard (2012): S. 1 f.
44 Vgl, ebd., S. 3.
45 Vgl. ebd., S. 6
46 Ebd.

                                                                                          12
auf die Darstellung und Vermittlung eines verlorenen Gleichgewichts und den Versuch
der Rückkehr zum Ursprünglichen in literarischen Repräsentationen gestützt haben.
Diese Vorstellung, der Wunsch von einem Zurück zum Traditionellen ist auch heute noch
in der Gesellschaft, wie das anfängliche Beispiel des Computerspiels Eco gezeigt hat,
sehr präsent, obgleich die Ansicht eines Gleichgewichts der natürlichen Ökosysteme in
den Naturwissenschaften schon längst als veraltet gilt.47 Durch den Einfluss von Carsons
Veröffentlichung, war der Ecocriticism somit bis zum Ende des 19. Jahrhunderts „vor-
wiegend von nordamerikanischen Naturvorstellungen, kulturellen Präferenzen und lite-
rarischen Genres geprägt: vom Interesse an von Menschen unberührter Natur, an der
individuellen Begegnung mit der Wildnis“48 und von dem Wunsch der Wiederherstellung
eines „Sense of Place“49. Dieses Ortsbewusstsein umfasst „die Entdeckung, Pflege und
Wiederherstellung unmittelbarer Naturbeobachtungen und -erfahrungen, […] die kogni-
tive, affektive und letztlich ethische Verwurzelung an einem Ort, der so lange wie mög-
lich bewohnt werden sollte“50. Eine effektive Umweltethik, eine „ethic of proximity“, sei
in diesen Ansätzen laut Heise nur durch das Wissen von und die Fürsorge gegenüber der
eigenen Nahumgebung – der Heimat – möglich und Problematiken würden „aus der Ver-
nachlässigung des Lokalen, aus zu viel Mobilität und Medienkonsum anstelle des direk-
ten Umgangs mit der Natur resultieren“51. Besonders im deutschsprachigen Raum wurden
diese Ansätze jedoch verstärkt kritisiert, unter anderem aufgrund der missbrauchenden
Verwendung von Heimat- und Naturkonzepten durch die Nationalsozialist:innen,
wodurch eine Vielzahl alternativer Vorstellungen entstanden ist – und entstehen musste.52

Darüber hinaus lässt sich jedoch auch seit Ende des 20. Jahrhunderts durch die immer
stärker hervortretenden kulturellen, politischen sowie sozialen Veränderungen aufgrund
zunehmender globaler Vernetzung und Migrationsbewegungen, allgemein im

47 Vgl. Garrard (2012): S. 63. Oder Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 47.
48 Heise (2015): S. 21.
49 Vgl. ebd., S. 22.
50 Ebd., S. 23.
51 Ebd., S. 22 f.
52 Siehe zu Naturkonzepten zum Beispiel Kirchhoff, Thomas & Trepl, Ludwig (Hrsg.): Vieldeutige Natur – Land-

   schaft, Wildnis und Ökosystem als kulturgeschichtliche Phänomene. Bielefeld: transcript 2009. Oder: Hermand,
   Jost: „Literaturwissenschaft und ökologisches Bewußtsein – eine mühsame Verflechtung“. In: Bentfeld, Anne
   & Delabar, Walter (Hrsg.): Perspektiven der Germanistik. Neuste Ansichten zu einem alten Problem. Springer:
   Opladen 1997, S. 106 – 125. Vergleiche dazu auch Goodbody, Axel: „Ökologisch orientierte Literaturwissen-
   schaft in Deutschland“. In: Gabriele & Stobbe, Urte (Hrsg.): Ecocriticism – Eine Einführung. Köln: Böhlau
   2015, S. 123 – 135. Zu „neuen“ Heimatkonzepten siehe beispielsweise Bausinger, Hermann: „Auf dem Weg zu
   einem neuen, aktiven Heimatverständnis“. In: Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Heimat heute. Stuttgart: Kohlham-
   mer 1984, S. 11 – 27. Oder Blickle, Peter: Heimat – A Critical Theory of German Idea of Homeland. Rochester:
   Camden 2002.

                                                                                         13
Ecocriticism ein Trend zu transkulturellen und kosmopolitischen Ansätzen hinsichtlich
eines moralischeren Umweltbewusstseins entdecken.53 Durch die geschilderten Umfor-
mungen wurden Kategorien, die in den Jahrzehnten zuvor immer als „natürlich“, offen-
sichtlich und sogar biologisch verankert angesehen wurden, nun als kulturell erzeugt und
durch gesellschaftliche Praktiken und Diskurse aufrechterhalten wahrgenommen, wie
beispielsweise die Bindung zur Nation und Ansätze zur Identitätsentwicklung.54 Darunter
fällt aber auch die jetzt etablierte Auffassung, dass unsere Ansicht der Umwelt alles an-
dere als „natürlich“ aufzufassen ist, sondern als im höchsten Maße kulturell konstruiert,
wodurch sich Ökokritiker:innen von traditionellen Konzepten lösen und der Entwicklung
von offeneren, transkulturelleren Konzepten zuwenden konnten, die zum einen den Kon-
struktcharakter unserer Beziehung zur Natur im Blick haben, zum anderen aber auch die
Umwelt als einen objektiv greifbaren, in der Realität verorteten Raum ansehen.55 Der
Historiker Christoph Schliephake betont passend, dass Ökokritiker:innen die „culturally
mediated frames of meaning that help us to make sense of our experiences and of our
perceptions of the environment“56 nicht vergessen dürften, und weiter fährt er fort: „a
landscape may come across as natural, but there are always (hi)stories attached to it that
are waiting to be unearthed and/or determine how we interact with them“57. Darin ergibt
sich bereits ein Schnittpunkt mit Ansätzen der kulturellen Gedächtnisforschung, die in
Kapitel 3 dieser Arbeit eingehender illustriert werden.

Aus der zunehmenden globalen Verflochtenheit resultiert zudem ein verstärktes Bewusst-
sein für globale Fragestellungen wie die weltweite Klimakrise; eine Tatsache, die – laut
der beiden Wissenschaftlerinnen zum kulturellen Gedächtnis Lucy Bond und Amy Rap-
son – anerkannt wurde als „having considerable impact on local concerns, as demonst-
rated in ecocriticial approaches to space, place and identity“58. Überdies trug der
technologische Fortschritt, durch den die Menschen ab den späten 1960er Jahren die
Möglichkeit bekamen, ihren Planeten als etwas Ganzes aus dem All auf einer Fotografie

53 Vgl. Goodbody, Axel: „Heimat als Identität und ökologisches Bewusstsein stiftender Faktor – Zu Ansät-
   zen in Romanen um 1900 von Bruno Wille, Hermann Hesse und Josef Ponten“. In: Paulsen, Adam &
   Sandberg, Anna (Hrsg.): Natur und Moderne um 1900, Räume – Repräsentationen – Medien. Bielefeld:
   transcript 2013, S. 183.
54 Vgl. Heise (2008): „Introduction“, S. 3.
55 Vgl. z.B. Müller, Timo: „Kritische Theorie und Ecocriticism“. In: Dürbeck, Gabriele & Stobbe, Urte

   (Hrsg.): Ecocriticism – Eine Einführung. Köln: Böhlau 2015, S. 167. Oder auch Garrard (2012): S. 10.
56 Schliephake (2016): S. 575.
57 Ebd.
58 Bond, Lucy & Rapson, Jessica: The Transcultural Turn – Interrogating Memory Between and Beyond

   Borders. Berlin/Boston: De Gruyter 2014: S. 9.

                                                                                         14
zu betrachten, zu einer „Globalisierung“ der Vorstellungskraft bei.59 Eine Entwicklung,
in der bis heute viele Ökokritiker:innen – neben der Publizierung und öffentlichen Re-
zeption von Silent Spring – den Ursprung der umweltorientierten Literaturwissenschaft
sehen.60 Aus dieser Perspektive ist der Ecocriticism und die Umweltbewegung im Allge-
meinen „initially fueled by powerful visions of the global“61. Diese Betrachtungsweise
macht es unmöglich, das Globale als den „Treibstoff“ ökokritischer Literaturwissen-
schaft, aus einer ökokritischen Perspektive auszuschließen und erklärt, warum es auch im
Ecocriticism zu Neuorientierungen und zu der Abwendung des Konzepts einer „ethic of
proximity“ gekommen ist. Seit Ende des 20. Jahrhunderts werden nun von umweltorien-
tierten Literaturwissenschaftler:innen „globale Konzepte in Auseinandersetzung mit re-
gionalen,      lokalen     und      ethnischen       Erfahrungen       in     transkultureller      und
ökokosmopolitischer Perspektive […] oder postkolonialer Hinsicht“62 vermehrt thema-
tisiert. Der Ecocriticism hat sich somit nicht nur für transkulturelle Konzepte geöffnet,
sondern im Zuge dessen auch in ein „stark ausdifferenzierte[s], interdisziplinäre[s] und
internationale[s] Forschungsfeld“63 entwickelt. Wie aus dem vorherigen Zitat hervorgeht,
besteht ein neuer ökokritischer Blickwinkel in der Hinwendung zu Konzepten der post-
colonial studies, die bereits seit ihrer Entstehung mehr an transkulturellen, mobilen und
dynamischeren Auffassungen interessiert sind und somit „einen anderen Zugang zu Raum
als der Ecocriticism“64 anstreben. Auf der anderen Seite lässt sich eine Wiederaufnahme
des Kosmopolitismus in ökokritischen Ansätzen entdecken. Ein Beispiel dafür ist Heises
Konzeptualisierung des Ökokosmopolitismus, als ein Versuch, globale sowie lokale As-
pekte miteinander zu kombinieren. Der ökokosmopolitische Ansatz wird in den nachfol-
genden Ausführungen nun näher beleuchtet und anschließend für die literarische Analyse
von Peter Handkes Die Obstdiebin herangezogen.

                                                   *

Die Neuaufnahme des Kosmopolitismus stellt Konzepte zur Verfügung, die sich mit der
Frage beschäftigen, wie Identitäten in Zeiten der Deterritorialisierung und der

59 Vgl. Garrard (2012): S. 183.
60 Vgl. z.B. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 5.
61 Ebd., S. 5.
62 Dürbeck & Stobbe (2015): S. 11.
63 Ebd., S. 9.
64 Mackenthun, Gesa: „Postkolonialer Ecocriticism“. In: Dürbeck, Gabriele & Stobbe, Urte (Hrsg.): Ecocri-

   ticism – eine Einleitung. Köln: Böhlau 2015, S. 85.

                                                                                          15
planetarischen Vernetzung aussehen können.65 Für einige umweltorientierte Literaturwis-
senschaftler:innen, im Gegensatz zu Vertreter:innen traditioneller ökokritischer Kon-
zepte, besteht schon lange keine Möglichkeit mehr für eine „Re-Territorialisierung“, für
ein Zurück zu einem vermeintlich ursprünglichen Kontakt mit der Natur, da unsere Ge-
sellschaften bereits jetzt zu sehr miteinander vernetzt seien: „once we have to perceive
and live in our own places with the expanded awareness of other regions that media such
as radio, television, telephony and the internet provide, our relationship to local places
changes irreversibly“66. Heise sieht daher eine Pflicht des Ecocriticism, sich mit Konzep-
ten gegenwärtiger Globalisierungstheorien zu beschäftigen, welche die zunehmende Ver-
bundenheit und Vernetztheit darstellen und den Fokus auf die Entstehung neuer
Kulturformen und hybrider Identitäten legen, die durch ihre Loslösung von einer stabilen
Ortsbindung gekennzeichnet sind.67 Aber auch die neuen, Ende des 20. Jahrhunderts ent-
standenen Ansätze des Kosmopolitismus, klammern eine lokale Ortsbindung nicht voll-
ständig aus, sie „challenges the rubric of globalization by seeking to find a place for the
local inside the global, the particular inside the universal“68. Moderne kosmopolitische
Betrachtungen versuchen demnach mithilfe von Erkenntnissen der globalisation studies,
globale Aspekte mit lokalen Belangen zu verbinden und teilen trotz Unterschiedlichkeiten
die Annahme, „that there is nothing natural or self-evident about attachments to the na-
tion, which are on the contrary established, legitimized, and maintained by complex, cul-
tural practices and institutions“69. Es ist folglich eine Ablehnung des Staates als
„natürliche“ Instanz beispielsweise für die kollektive wie individuelle Formung von Iden-
tität, die bei kosmopolitischen Konzepten eine maßgebliche Rolle spielt. Heise kritisiert
an diesen bestehenden Entwürfen jedoch, dass trotz Anerkennung der Wichtigkeit eines
globalen Zusammenhangs, nach wie vor eine lokale Ortszugehörigkeit und die Heima-
tumgebung bei der Bildung von Identität im Vordergrund stehe.70 Sie leitet daraus weiter
ab, dass der Ecocriticism wie auch die Umweltschutzbewegung im Allgemeinen noch
nicht mit dem geschilderten, bereits etablierten Konzept verknüpft worden seien, das
Identitäten als „mixtures, fragments, and dispersed allegiances to diverse communities,
cultures, and places“71 wahrnimmt und der Einsicht ist, dass „precisely these mixtures

65 Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 45.
66 Ebd., S. 38.
67 Vgl. ebd., S. 5.
68 Bond & Rapson (2014): S. 11.
69 Heise (2008): „Introduction“, S. 4.
70 Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 26.
71 Ebd., S. 26.

                                                                              16
might be crucial for constituting ‚identities‘, politically as ‚subjects‘“72. Die Kernaussage
von Heises Kritik ist demnach, dass der Ecocriticism nicht auf gegenwärtige Forschungs-
einsichten zur Identitätsbildung und Ortszugehörigkeit in transkulturellen, globalisierten
Zeiten aktualisiert wurde und noch immer tendenziell auf lokale, ortsbasierte Konzeptu-
alisierungen von kollektiver und individueller Identität konzentriert sei.73

Mit der Entwicklung des Ökokosmopolitismus als „Resultat und Reaktion auf das erste
‚ökokritische‘ Jahrzehnt“74, will Heise die Einsichten gegenwärtiger Globalisierungsthe-
orien mit dem Ecocriticism verbinden, als einen Lösungsvorschlag, wie wir die vor uns
liegenden Umweltprobleme als Teile einer globalen Thematik und Verantwortung erken-
nen können. Ökokosmopolitische Konzepte streben in erster Linie ein Verständnis des
Globalen an und verstehen lokale Belange und Orte als „a matter of political or didactic
practicality rather than as an issue of the existential or spiritual significance“75. Ein öko-
logisch orientierter Kosmopolitismus lehnt somit die im Ecocriticism noch weitverbrei-
tete Annahme der „ethics of proximity“, also räumliche Nähe setzt moralische Nähe
voraus, ab und ist stattdessen darauf fokussiert, wie es Individuen und Gruppen gelingt,
sich selbst als ein Teil der globalen Biosphäre, einer „planetary ‚imagined communitites‘“
zu sehen.76 Ziel laut Heise sei es jedoch dabei im Blick zu behalten, dass es kulturell und
historisch bedingt unterschiedliche Formen des Umweltschutzes und der Bedeutung und
Auffassung von Natur in verschiedenen Ländern und Regionen gibt – die Kenntnis und
das Verständnis dessen wird in einer ökokosmopolitischen Anschauung als wichtiger an-
gesehen, als die eigene affektive Bindung zu einem Ort.77 Ein umweltorientierter Kosmo-
politismus bedeutet demnach, dass

Umweltdenken, Umweltpolitik und umweltorientierte Literatur- und Kulturwissenschaft sich im
Zeitalter der Globalisierung und Digitalisierung nicht auf unmittelbare Naturerfahrungen im lo-
kalen Bereich beschränken können, sondern im Gegenteil das Wissen über unvertraute, manch-
mal weit entfernte und oft durch Technologien und Medien vermittelte Ökosysteme, Geschichten,
Kulturen und Sprache fördern muss.78
Die im Ökokosmopolitismus angestrebte, notwendige globalisierte Wahrnehmung der
Welt kann überhaupt erst durch die Etablierung eines Verständnisses über die unter-
schiedlichen kulturellen, wie ökologischen Kontexte und Vorstellungen aufgebaut

72 Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 26.
73 Vgl. ebd.
74 Heise (2015): S. 21.
75 Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 23.
76 Vgl. ebd., S. 44.
77 Vgl. Heise (2015): S. 24.
78 Ebd.

                                                                                  17
werden – das Wissen über andere, fremde Systeme und Prozesse verhilft so zu einem
besseren Verständnis des Globalen.79 Der umweltorientierte Kosmopolitismus strebt
demzufolge, als ein Gegenentwurf zu einem „sense of place“, nach einer Entwicklung
eines „sense of planet“: der Imagination des Globalen als Ausgangspunkt für ein Be-
wusstsein über transkulturelle politische, soziale und ökologische Netzwerke, die bereits
jetzt unseren Alltag prägen, als Grundlage für eine umweltorientierte Ethik.80 So erken-
nen ökokosmopolitische Ansätze auch in Formen der Deterritorialisierung, die nach wie
vor in literatur- und kulturwissenschaftlichen Analysen laut Heise häufig mit negativen
Konnotationen wie „experiences of loss and deprivation“81 verbunden sei, stattdessen die
Möglichkeit für fruchtbare „cultural encounters and a broadening of horizons“82.

Ansätze wie Heises Ökokosmopolitismus erweisen sich als sehr wichtige Konzepte für
die Weiterentwicklung der umweltorientierten Literaturwissenschaft, die den Herausfor-
derungen unserer Zeit begegnet. Dennoch bleibt in Heises Entwurf die Frage, wie eine
Umorientierung der lokalen Zugehörigkeit zu einem globalen Gemeinschafts- und Zu-
sammengehörigkeitsgefühl zu erreichen ist, offen. Darüber hinaus ist eine Unterordnung
lokaler Ortszugehörigkeit durchaus kritisch zu hinterfragen – denn wie der Literaturwis-
senschaftler und Ökokritiker Axel Goodbody bereits richtig herausgestellt hat, würde so
die emotionale Bindung an Orte, die bei der Identitätsbildung eine wichtige Rolle spielt,
unterschätzt.83 Geographische Orte und eine menschliche Verbindung zu diesen wird es
immer geben, auch wenn sich unsere Welt weiter in ein globales Netz von transkulturellen
Beziehungen entwickelt. Eine lokale Ortszugehörigkeit als „a matter of political or didac-
tic practicality“84 abzuschreiben, scheint hinsichtlich der in Kapitel 4 darzustellenden,
wichtigen Funktionen von Orten als Erinnerungsspeicher und Mitwirker bei der Formung
von Identität, zu leichtfertig. Dessen ungeachtet erweist sich eine ökokosmopolitische
Perspektive bei der Betrachtung literarischer Werke als ein wertvolles Mittel, um die Ver-
bindung von globalen und lokalen Belangen und die Konstruktion eines „sense of planet“
zu untersuchen. Dies wird nun zunächst durch eine Betrachtung des literarischen Bei-
spiels Die Obstdiebin von Peter Handke verdeutlicht. Anschließend wird im zweiten Teil
der Arbeit die Kritik an Heises Konzept wieder aufgenommen, um die Bedeutung von

79 Vgl. Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 46.
80 Vgl. ebd., S. 45.
81 Heise (2008): „Introduction“, S. 8.
82 Ebd.
83 Vgl. Goodbody (2011): S. 57.
84 Heise (2008): „From the Blue Planet to Google Earth“, S. 23.

                                                                             18
Sie können auch lesen