Vertane Chancen? Die aktuelle politische Debatte um Erweiterte DNA-Analysen in Ermittlungsverfahren

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Ber. Wissenschaftsgesch. 41 (2018) 279 – 301                                      www.bwg.wiley-vch.de
DOI: 10.1002/bewi.201801900

Vertane Chancen? Die aktuelle politische Debatte um Erweiterte
DNA-Analysen in Ermittlungsverfahren*
Veronika Lipphardt

Summary: Wasted Chances? The Current Political Debate on DNA Pheno-
typing and Biogeographical Ancestry Analysis in Criminal Investigation in
Germany. This paper discusses diverse understandings of ‘responsible science’ in heated
political debates. It takes a current public debate around a German law amendment draft
concerning the use of novel forensic genetic techniques, namely DNA-phenotyping and
biogeographical ancestry analysis, as an example. A distinction is being made between an
understanding that emphasizes scientific debate and precision, and another one that
focuses on political agency. The paper also addresses the question whether and how sci-
ence studies scholars, given their depth of expertise in the analysis of complex problems
spanning disciplinary boundaries, should contribute to national debates in policy fields
where no such dialogue exists yet.
Keywords: forensics, genetics, DNA analysis, externally visible characteristics, biogeo-
graphical ancestry, photofit, science ethics, responsibility
Schlesselwçrter: Forensik, Genetik, DNA-Analysen, -ußerlich sichtbare Merkmale,
biogeografische Herkunft, Phantombild, Wissenschaftsethik, Verantwortung

Einleitung
Am 27.03.2017 ergriff der bayrische Justizminister Winfried Bausback im Bundesrat das
Wort, um sich fer den Einsatz einer neuen Technologie in Ermittlungsverfahren auszu-
sprechen: Die Vorhersage der sogenannten ,biogeografischen Herkunft‘ (bgA) aus DNA-
Tatortspuren:
   Gerade das Merkmal der biogeografischen Herkunft ist methodisch in herausragender Weise ausgereift, wie
auch der Vorsitzende der Spurenkommission, Professor Dr. Schneider, auf dem vom Bundesjustizministerium
veranlassten DNA-Symposion vergangene Woche betonte. Wenn sich die kontinentale Herkunft mit einer
Wahrscheinlichkeit von 99,9 Prozent bestimmen l-sst, kçnnen wir es uns schlichtweg nicht leisten […], auf
ein derart wichtiges Kriterium zu verzichten, ein Kriterium, das es uns erlaubt, den mçglichen T-terkreis auf
Basis objektiver wissenschaftlicher Methoden entscheidend einzugrenzen. Andere europ-ische L-nder sind uns
hier deutlich voraus.1

   Die pauschale Wahrscheinlichkeitsangabe von 99,9 % klang fer viele Journalist/-
innen, Politiker/-innen und Ermittler/-innen eberzeugend. Die ,kontinentale bgA‘ ist
jedoch keineswegs pauschal mit 99,9 % vorhersagbar, sondern stellt vielmehr einen -ußerst

V. Lipphardt, Prof. Dr., University College Freiburg, Bartoldstraße 17, D-79098 Freiburg, E-Mail:
Veronika.Lipphardt@ucf.uni-freiburg.de
* Herzlichen Dank den Mitgliedern und Berater/-innen der STS@Freiburg Initiative, insbesondere Matthias
  Wienroth fer hilfreiche Kommentare zu einer freheren Version.
  T 2018 Die Autoren. Verçffentlicht von Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA. Dieser Open Access Bei-
  trag steht unter den Bedingungen der Creative Commons Attribution License, die jede Nutzung des Beitra-
  ges in allen Medien gestattet, sofern der ursprengliche Beitrag ordnungsgem-ß zitiert wird.

T 2018 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim                                                               279
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      komplexen, wissenschaftlich noch nicht abschließend diskutierten Sachverhalt dar. Baus-
      back ließ unerw-hnt, dass Schneider, selbst ein Beferworter der Gesetzes-nderung, sich am
      Tag des erw-hnten Symposiums çffentlich viel differenzierter ge-ußert hatte: „In der Reali-
      t-t liegt die Genauigkeit manchmal eber dem Wert und oft darunter.“2 Einige Wochen
      sp-ter lieferte der Genetiker Joachim Burger eine noch vorsichtigere Einsch-tzung:
         In manchen Regionen ist die Geschichte einzelner Bevçlkerungsgruppen so komplex, dass man bei einer
      Herkunftsanalyse wahrscheinlich mehr Fehler macht, als man praktisch berecksichtigen kçnnte. Und die Tatsa-
      che, dass genetische Variabilit-t sich nicht in Clustern anordnet, sondern sich graduell verteilt, ist selbst fer Po-
      pulationsgenetiker h-ufig eine konzeptionell untersch-tzte Quelle des Irrtums.3
         Die Diskrepanzen in der Einsch-tzung dieser wissenschaftlichen Innovation geben
      R-tsel auf. Wieso sprach der Politiker Bausback mit einer solchen Gewissheit eber eine
      Technologie, deren Erkenntnisgewinn noch diskutiert wird und fer deren Einsatz keine
      einheitlichen Standards existieren? Hatte er etwas falsch verstanden? War er falsch bera-
      ten worden? Oder ebertrieb er absichtlich, um eine schnelle Gesetzes-nderung herbeizu-
      fehren?
         Dieser Beitrag widmet sich der Frage, wie ,wissenschaftliche Verantwortung‘ an den
      Kontaktfl-chen von Politik und Wissenschaft verstanden und verhandelt wird. Er unter-
      sucht am Beispiel der aktuellen Debatte um die gesetzliche Einfehrung ,Erweiterter
      DNA-Analysen‘ in Ermittlungsverfahren, welches Verst-ndnis von ,Verantwortlicher
      Wissenschaft‘ in komplexen politischen Konstellationen zum Tragen – und das heißt
      hier: zu politischer Wirkung – kommen kann.
         Die technologische Innovation, um die es hier geht, steht seit Dezember 2016 im in-
      nenpolitischen Fokus. Die ,Erweiterten DNA-Analysen‘ sollen Haar-, Haut-, und Au-
      genfarbe sowie die sogenannte ,biogeografische Herkunft‘ eines unbekannten DNA-Tr--
      gers (im Idealfall des gesuchten T-ters) anhand einer DNA-Tatortspur vorhersagbar
      machen.4 Diese Informationen werden, so die Beferworter/-innen, den Ermittler/-innen
      eine Fokussierung auf diejenige Gruppe von Personen erlauben, die die angezeigten
      Merkmale besitzt. Die ,Erweiterte Analyse‘ einer DNA-Tatortspur geht eber den bereits
      gut etablierten ,genetischen Fingerabdruck‘ weit hinaus; sie erzielt viel weniger sichere
      Aussagen als letzterer; sie erfordert hohe wissenschaftliche Kompetenz, eine technisch an-
      gemessene Ausstattung sowie ein hohes Maß an gesellschaftlicher Sensibilit-t. Um einen
      ermittlungstechnischen Nutzen zu erzielen, muss die fokussierbare Gruppe deutlich klei-
      ner sein als die in Frage kommende Gesamtbevçlkerung und sich von letzterer deutlich
      abgrenzen lassen. Dies tr-fe vor allem auf wenig integrierte Minderheiten zu, denen ein
      Migrationshintergrund zugeschrieben wird. Alle Ermittlungsbeteiligten w-ren hierbei
      mit Herausforderungen konfrontiert, die, je nach ihrer Funktion, mit wissenschaftlicher
      und gesellschaftlicher Verantwortung einhergehen.
         Im Gesetzgebungsprozess gilt es ebenfalls, vielschichtige Verantwortungen wahrzuneh-
      men – auch und gerade fer politikberatende Wissenschaftler/-innen. Wie kann ein
      komplexer, wissenschaftlich noch nicht zu Ende diskutierter Sachverhalt im Rahmen
      eines politischen Prozesses angemessen dargestellt werden? Wie viel Raum und Bedeu-
      tung muss dabei der wissenschaftlichen Kontroverse einger-umt werden? Wie sicher
      messen die Methoden sein, und wie kommuniziert man deren Unsicherheiten angemes-
      sen? Und dareber hinaus bezieht sich hier politische Verantwortung auf den Umgang
      mit Wissenschaft: Sollten die Entscheidungstr-ger mehr Zeit fer dialogische, partizipati-
      ve, multidisziplin-r beratene Konsensfindung einr-umen? Wer sollte die Debatte initiie-
      ren und moderieren? Welche Expertenkreise und Gesellschaftsgruppen messten einbezo-
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gen werden? Wie w-re eine solche Debatte mçglichst sachlich und konstruktiv zu
fehren, ohne dass Skandalisierungen und Emotionalisierungen sie bestimmen?5 Wer
kann dem deutschsprachigen Publikum einen Zugang zu dem Spektrum an kritischen
Positionen erçffnen, die in der englischsprachigen Debatte schon zu differenzierten Mei-
nungsbildungsprozessen gefehrt haben?
   Wie in der Einleitung dieses Themenheftes aufgezeigt, wird ,Verantwortung‘ in der
Wissenschaftspolitik derzeit groß geschrieben: Drittmittelgeber erwarten zunehmend
ELSA- oder RRI-Komponenten in Fçrderantr-gen. Dabei hat DFG-Pr-sident Peter
Strohschneider darauf hingewiesen, dass die Herausforderungen weit eber die institutio-
nalisierte Verantwortung hinausgehen: Persçnliche Verantwortung „in hçchst komple-
xen, hçchst dynamischen, hçchst spannungsreichen Kontexten“6 sei gefordert:
   […] eine Haltung offener Ehrlichkeit und der wachen Irritierbarkeit durch die Welt und das, was andere
eber sie wissen, sowie die F-higkeit, von sich selbst Abstand nehmen zu kçnnen, also die eigene Expertise nicht
schon fer das Ganze von Wissenschaft zu halten, die methodische Verl-sslichkeit wissenschaftlichen Wissens
nicht mit so etwas wie absoluter Gewissheit zu verwechseln, und zu wissen, dass Forschung zwar eber gesell-
schaftliche und politische Diskurse informieren muß [sic], aber nicht an ihre Stelle treten kann.7
   Es gehe, so Strohschneider, um „Seriçsit-t der Erkenntnisgewinnung“, um „Seriçsit-t
unserer Leistungsversprechungen gegeneber der Gesellschaft“, um „sorgf-ltige Selbstbe-
grenzung und Selbstdistanz“, „Ehrlichkeit und Bescheidenheit“ und „Zureckhaltung“.8
Diese Haltung einzunehmen oder zu erwarten derfte gerade in politischen Beratungspro-
zessen, zumal in brisanten sicherheitspolitischen Spannungsfeldern, schwerfallen.
   Dieser Beitrag analysiert ausgew-hlte Topoi der çffentlichen Debatte zu den genann-
ten Technologien hinsichtlich der Frage, inwiefern die wissenschaftlichen Mçglichkeiten
und die damit verbundenen ermittlungsstrategischen Fortschritte in der :ffentlichkeit
realistisch dargestellt werden. Die hier diskutierten Topoi sind: Die erzielbaren Vorhersa-
gewahrscheinlichkeiten, die sogenannte ,biogeografische Herkunft‘ sowie das sogenannte
,genetische Phantombild‘.9
   Es geht mir zum einen darum, sichtbar zu machen, wie uneins einschl-gige Expert/-
innen in zentralen wissenschaftlichen sowie einsatzstrategischen Fragen sind, selbst wenn
sie die Einfehrung generell beferworten. In den ersten Monaten der Debatte wurde
diese Uneinigkeit in der :ffentlichkeit nicht sichtbar; erst nachdem çffentlich auf die
wissenschaftlichen Schwachstellen der Technologien hingewiesen und Kritik an der ein-
seitig-unkritischen Darstellung ihres Einsatzpotenzials hçrbar wurde, -ußerten sich all-
m-hlich auch Beferworter/-innen differenzierter, so dass ein vielf-ltigeres Meinungsspek-
trum entstehen konnte.
   Zweitens geht es mir um das Verst-ndnis von ,wissenschaftlicher Verantwortung‘, das
in dieser Debatte verhandelt wird; nicht nur von Politiker/-innen und Ermittlungsvertre-
ter/-innen, sondern auch von Wissenschaftler/-innen. Wohl kaum ein Wissenschaftler
und kaum eine Wissenschaftlerin werde von sich behaupten, er oder sie betreibe ,unver-
antwortliche Wissenschaft‘; man darf davon ausgehen, dass alle in der Wissenschaft T-ti-
gen ihre T-tigkeiten und ihren Berufsethos als ,verantwortungsbewusst‘ verstehen. Frei-
lich werden mit diesem Begriff sehr unterschiedliche Vorstellungen und Handlungserfor-
dernisse verbunden. Es gilt also, die Bandbreite an Interpretationen dieser ,actors’ cate-
gory‘ aufzuzeigen. Mit jeder dieser Interpretationen geht eine Schwerpunktsetzung
einher, die bestimmte Punkte als besonders relevant hervorhebt, w-hrend sie die Ver-
nachl-ssigung anderer Punkte in Kauf nimmt. Dies mçchte ich fer den vorliegenden
Sachverhalt zumindest ansatzweise sichtbar machen.
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      Standortbezogene und methodische Vorbemerkungen
      Empirisch stetzen sich die folgenden Ausfehrungen auf ethnographische Beobachtun-
      gen, Expert/-innen-Interviews sowie auf eine digitale Datenbasis von eber 500 meist
      deutschsprachigen Medienbeitr-gen zum Thema ,Erweiterte DNA-Analysen‘ aus den
      vergangenen ca. 17 Jahren, die unter der Leitung von Nicholas Buchanan erstellt
      wurde.10 Die Analyse dieser digitalen Dokumente zeigt, dass der Genetiker Manfred
      Kayser (Universit-t Rotterdam), der die DNA Phenotyping-Technologie maßgeblich
      entwickelt hat, als der von Politiker/-innen und Journalist/-innen meistzitierte Experte
      fungiert. Er ist gleichzeitig ein klarer Beferworter der gesetzlichen Einfehrung der Tech-
      nologien in Deutschland und -ußert sich jenseits seiner eigenen wissenschaftlich-techno-
      logischen Expertise auch zu rechtlichen, ethischen und einsatzstrategischen Fragen. In
      allen hier diskutierten Aspekten ist er daher als eine zentrale Stimme wiederzufinden.
      Komplement-r versuche ich, Stimmen anderer Expert/-innen, die ebenfalls zu den Be-
      ferworter/-innen der Einfehrung gehçren, die aber zu Einzelaspekten andere Standpunk-
      te vertreten als Kayser, hçrbar zu machen. Gleichzeitig bringe ich meinen eigenen Stand-
      punkt ein, der im Kontrast zu Kaysers, aber nicht unbedingt zu anderen Beferworter-
      Positionen steht.
          Aus der Mitte einer aktuellen politischen Debatte eber diese zu schreiben, wirft zahl-
      reiche Fragen auf. Denn mein Standpunkt ist nicht der einer externen Beobachterin;
      vielmehr habe ich, gemeinsam mit einer multidisziplin-ren Wissenschaftler/-innen-In-
      itiative, aktiv an der Debatte teilgenommen und deren Verlauf beeinflusst. Genauer
      gesagt machte die Initiative kritische Positionen in Deutschland eberhaupt erst hçrbar.
      Die Stoßrichtung der Initiative ist dreifach: Erstens h-lt die Initiative die Steuerung des
      politischen Meinungsbildungsprozesses aufgrund der unzutreffenden Darstellung wissen-
      schaftlicher Sachverhalte fer inakzeptabel. Zweitens weist sie darauf hin, dass grundle-
      gende wissenschaftliche Fragen zu den Technologien noch ungekl-rt sind. Drittens for-
      dert sie, in die Gesetzes-nderung regulatorische Instanzen und Maßnahmen aufzuneh-
      men, die der gesellschaftlichen Sensibilit-t der Einsatzmçglichkeiten gerecht werden.
      Unsere Initiative hat den Dialog mit Praxisvertreter-/innen und Expert/-innen durch
      Vortragseinladungen und Veranstaltungen, durch Fachpublikationen und Vortr-ge bei
      Fachtagungen und Versammlungen von Generalstaatsanw-lt/-innen, Landtagsabgeord-
      neten und Forensischen Genetiker/-innen seit Frehjahr 2017 stetig intensiviert. Das Ver-
      st-ndnis von wissenschaftlichen Debatten als sachbezogenen, konstruktiven Auseinander-
      setzungen zu noch ungekl-rten Sachverhalten teilen wir mit vielen Kolleg/-innen aus den
      beteiligten Disziplinen, von denen einige die Einfehrung der Technologien wenschen,
      aber nicht um jeden Preis und nur mit der notwendigen gesellschaftlichen Sensibilit-t.11
      Letztlich zielt dieser Beitrag auch darauf ab, der Wissenschaftsforschung Impulse fer die
      Frage zu geben, wie der eigenen Verantwortung begegnet werden kann – und worin sie
      eberhaupt besteht, ohne die eigene Analysef-higkeit ganz aufzugeben.
          Mit diesem Beitrag beanspruche ich daher nicht, eine objektive Analyse der Debatte
      liefern zu kçnnen. Er erfellt eher die Funktion einer vertiefenden Stellungnahme, und
      zwar sowohl in der aktuellen Diskussion um Verantwortung an den Kontaktfl-chen zwi-
      schen Wissenschaft und Politik als auch in der aktuellen Debatte um ,Erweiterte DNA-
      Analysen‘. Selbst wenn es sich nur um eine Stellungnahme handelt, bemehe ich mich,
      das methodisch-analytische Potenzial meiner Fachrichtung so gut wie mçglich zur Gel-
      tung zu bringen.

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    Und dennoch verstehe ich meine Perspektive nicht als eine politische, sondern als eine
wissenschaftszentrierte: Unsere Initiative stellte eber einen langen Zeitraum die einzige
kritische Instanz gegeneber Positionen dar, deren Priorit-t auf politischen und polizeili-
chen Handlungsoptionen lagen und die gleichzeitig eine Verletzung wissenschaftlicher
sowie wissenschaftsethischer Standards in Kauf nahmen. Demgegeneber forderte die In-
itiative eine klare Orientierung an wissenschaftlichen und wissenschaftsethischen Kriteri-
en, wie sie auch Strohschneider skizziert, und nahm damit in Kauf, dass der Gesetzge-
bungsprozess verlangsamt wurde. In der Frehphase der Debatte -ußerten sich weder
deutschsprachige Genetiker/-innen noch Wissenschaftler/-innen anderer Disziplinen kri-
tisch eber die undifferenzierten und ebertriebenen Darstellungen der Technologien.
Diese Aufgabe – aus meiner Sicht eine Aufgabe der Wissenschaftscommunity – eber-
nahm ab Dezember 2016 unsere Initiative, zun-chst mit einem Offenen Brief sowie
einem Statement auf einer eigens aufgesetzten Initiativen-Website.12 Erst danach -ußer-
ten sich auch andere Wissenschaftler/-innen kritisch und differenzierend in der :ffent-
lichkeit.
    Hinsichtlich der ,Verantwortung in der Wissenschaft‘ sehe ich mich also einer von
mehreren Auffassungen verpflichtet, die es zu analysieren g-lte. Da mir selbst dies nur
bis zu einem gewissen Grad mçglich ist, mçchte ich meine Stellungnahme – die metho-
disch auf g-ngige Verfahren der Wissenschaftsforschung zureckgreift – als Einladung
zur Diskussion sowie auch zum vertieften Studium der Debatte um ,Erweiterte DNA-
Analysen‘ verstanden wissen.
    Zu den ,Erweiterten DNA-Technologien‘ sowie allgemeiner zur Forensik und zur Fo-
rensischen Genetik, zu ihrer Darstellung in der :ffentlichkeit, ihrer Rolle vor Gericht
(im ,adversarial system‘) und zum genetischen Fingerabdruck sowie nationalen DNA-
Datenbanken sind in den vergangenen 15 Jahren zahlreiche wissenschaftssoziologische
Untersuchungen erschienen.13 Unsere Interviews mit internationalen Expert/-innen
haben gezeigt, dass eine derart ebertriebene und emotionalisierende çffentliche Darstel-
lung der Netzlichkeit und Anwendbarkeit der Technologien bisher nirgendwo auf der
Welt zu beobachten war; auch eine -hnlich starke kritische Reaktion aus der ,academic
community‘ heraus, mit deutlichen Folgen fer die Debatte, hat es bisher nicht gegeben.
Diese Forschungslecke und die fehlende Vergleichsbasis machen es schwierig, die aktuel-
le Debatte angemessen in den Forschungsstand einzuordnen.

Anfang und Kontext der Debatte
Im Sp-therbst 2016 ereigneten sich in Freiburg und Umgebung zwei Sexualmorde, die
die Stadtbevçlkerung stark beunruhigten. Politiker/-innen, Ermittlungsvertreter/-innen
und Journalist/-innen, die seither eine Gesetzes-nderung des §81 StPO verlangen, damit
,Erweiterte DNA-Analysen‘ in Ermittlungsverfahren eingesetzt werden kçnnen, beziehen
sich insbesondere auf den ersten Mord an der Medizinstudentin Maria L. als einen Pr-ze-
denzfall, der ihre Forderungen legitimiere.14
   Diese beiden Morde sind jedoch keineswegs der Beginn der Debatte um diese Tech-
nologien.15 Sie dienten eher als Anlass fer deren erneute çffentliche Thematisierung. Der
in den Niederlanden forschende Forensiker Manfred Kayser, der seit fast zwei Jahrzehn-
ten federfehrend an der Entwicklung des DNA Phenotyping beteiligt ist, beklagt seit
mehreren Jahren, „die Gesetzgebung in Deutschland“ sei „veraltet“16 und nicht mehr
„zeitgem-ß“.17 Dass der Einsatz in Deutschland nicht erlaubt sei, sei eine „vertane
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      Chance“.18 Es habe, so Kayser im Jahr 2014, in Deutschland keine gesellschaftliche De-
      batte stattgefunden, die eine gesetzliche Einfehrung legitimiere: „Wenn die Gesellschaft
      das mçchte, dann messte es da zu einer Novellierung der Gesetzgebung kommen, oder
      man messte Pr-zedenzf-lle schaffen, um den schon vorhandenen Gesetzestext anders
      auszulegen.“19
         Ein Pr-zedenzfall l-sst sich allerdings nicht schaffen; ein Fall kann allenfalls als Pr-ze-
      denzfall behandelt werden. Zudem sieht die hier skizzierte Kette an notwendigen Hand-
      lungsschritten vor, dass zun-chst genug politischer Druck aus der Bevçlkerung vorhan-
      den sein muss, bevor Entscheidungstr-ger/-innen die Gesetzgebung novellieren kçnnen
      – oder alternativ: Bevor der existierende Gesetzestext des §81 StPO aufgrund geeigneter
      Pr-zedenzf-lle anders ausgelegt werden kçnnte.
         Beide Wege zur Einfehrung der Technologien waren in Deutschland vor Oktober
      2016 nicht gangbar. Eine neue Auslegung des §81 StPO gibt es offiziell bis heute nicht;
      sie derfte unter Jurist/-innen nicht konsensf-hig sein. Und trotz wiederholter Medienpr--
      senz der Beferworter/-innen mochte sich jahrelang kein politischer Druck einstellen.
      Erst, als im Zusammenhang mit der Flechtlingskrise die politische Diskussion in
      Deutschland eine gewisse Hitzigkeit erreicht hatte, konnte eine Kombination dreier Ele-
      mente wirksam werden: Ein Mord, der starke Emotionen mobilisierte; ein Tatverd-chti-
      ger, der aus dem Mittleren Osten nach Deutschland eingewandert war; und das Verspre-
      chen, die ,Erweiterten DNA-Analysen‘ werden F-lle wie diesen schnell, effektiv und ob-
      jektiv lçsen kçnnen. Andere Sexualmorde hatten sich offenbar nicht gleichermaßen ge-
      eignet oder waren anderweitig rasch gelçst worden, wie z. B. der Mord an einer Chinesin
      in Dessau 2016.
         Der Freiburger Mord wurde nach nur sieben Wochen durch klassische Ermittlungsar-
      beit gelçst: Ein am Tatort gefundenes Haar, dessen L-nge und ungewçhnliche F-rbung
      gaben wertvolle Hinweise fer die weiteren Ermittlungen. Die ,Erweiterten DNA-Analy-
      sen‘ h-tten diese Art von Kontext-Informationen nicht liefern kçnnen. Mittlerweile
      haben Expert/-innen çffentlich ge-ußert, dass die Technologien ihrer Ansicht nach im
      Freiburger Fall keine sinnvolle Anwendung gefunden h-tten.20 Letztendlich -ußerte sich
      auch Manfred Kayser etwa eineinhalb Jahre nach den Morden an prominenter Stelle:
      „Kayser agrees that the case wasn’t well suited to argue for a law to allow DNA phenoty-
      ping. It was the wrong case to make that claim“, zitiert ihn eine Science-Redakteurin.21
         Der rechtspolitische Kontext der Forderungen zeigt indes, dass es den Beferwortern oh-
      nehin um mehr ging als nur um die ,Erweiterten DNA-Analysen‘. Zum einen passt die
      vorgesehene Einsatzh-ufigkeit nicht zu den vorgesehenen Anschaffungskosten. Die meis-
      ten Expert/-innen sind n-mlich der Ansicht, dass man durch die Technologien nur in we-
      nigen Einzelf-llen weiterfehrende Ermittlungsans-tze generieren kçnne; die Begrendung
      des Gesetzes-nderungsantrags sieht aber die Anschaffung von Next Generation Sequen-
      cing-Ger-ten fer alle Landeskriminal-mter (LKA) vor. Diese Anschaffungsdimension kor-
      respondiert mit einer oft beklagten Herausforderung: Aufgrund verbesserter Nachweisme-
      thoden sei der wachsende 3berschuss an DNA-Spuren aus Ermittlungsverfahren tech-
      nisch kaum mehr zu bew-ltigen; die Ermittlungsbehçrden seien mit der Analyse dieser
      DNA-Proben fer den genetischen Fingerabdruck zum Teil stark im Reckstand.22
         Zudem wenschen sich einige Ermittlungsvertreter/-innen schon seit Jahren eine deut-
      liche Ausweitung der DNA-Probennahme: Eine grçßere DNA-Datenbank (DAD)
      kçnne zu mehr Treffer-Erfolgen beim DNA-Abgleich fehren.23 Manche Expert/-innen
      halten eine routinehafte Kompletterfassung bestimmter Bevçlkerungsgruppen oder der
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Gesamtbevçlkerung Deutschlands fer sinnvoll.24 Großbritannien musste allerdings mit
einem breiten DNA-Erfassungsansatz auf Druck des Europ-ischen Gerichtshofs bereits
problematische Entwicklungen zur Kenntnis nehmen und korrigieren. Der Wunsch, die
Herkunft von Migrant/-innen pr-zise bestimmen zu kçnnen, mag hierzulande ebenfalls
eine Rolle spielen: Auch auf diesem Gebiet musste die britische Regierung zu einer -hn-
lichen Initiative scharfe Kritik hinnehmen, von Seiten prominenter Lebenswissenschaft-
ler/-innen, die die Erreichbarkeit der erhofften Ziele als wissenschaftlich unmçglich be-
zeichneten; das Projekt wurde eingestellt.25 Trotzdem wurde in Bayern kerzlich ein
Gesetz verabschiedet, das die neuen Technologien im Erkennungsdienst und zur ,Gefah-
renabwehr‘ im bayrischen Polizeirecht verankert.26
   Noch im Sp-tsommer 2016 genoss keines dieser Anliegen genug Reckhalt oder Be-
kanntheit in der Bevçlkerung, um eine teure technische Neuausstattung politisch durch-
setzbar erscheinen zu lassen. W-hrend digitale Sicherheitstechnologien kontrovers disku-
tiert wurden, h-tte eine Verbindung von DNA-Technologien mit ,Gefahrenabwehr‘
damals kaum eberzeugt. Besonders die massenhafte Ausweitung der DNA-Probennahme
h-tte wegen Datenschutzbedenken deutlichen Widerstand erwarten lassen. Die Forde-
rung nach einer massiven technischen Aufrestung schien also nur mit geeigneten ,Pr-ze-
denzf-llen‘ zu rechtfertigen, die man nicht schaffen konnte, sondern auf die man warten
musste.
   Der Freiburger Sexualmord, vor dem Hintergrund der hitzigen Migrationsdebatte,
schien diese Bedingung zumindest auf den ersten Blick zu erfellen. Eine fachliche Kl--
rung dieser Eignung, etwa mit erfahrenen Expert/-innen aus dem In- und Ausland, fand
aber nicht statt. In zahlreichen medialen Interviews, in der Berichterstattung auf nationa-
ler Ebene wie auch in politischen Dokumenten wurde demonstrativ auf den Freiburger
Fall als Legitimation fer die Gesetzes-nderung hingewiesen. Auf der Grundlage einer kri-
minalistischen Fehleinsch-tzung wurde also çffentlich fer eine rasche Gesetzes-nderung
geworben und der nçtige politische Druck hergestellt. In Kauf genommen wurde dabei
die Fehlinformation der Bevçlkerung eber die Potenziale der Technologie.

„Sinnvolle Eins-tze“
In der :ffentlichkeit argumentierten Beferworter/-innen, mit den Technologien kçnn-
ten „Opfer besser geschetzt“27 werden. Ein zegiger, routinierter Einsatz erlaube in vielen
F-llen schnelle, effektive und kostengenstige Aufkl-rung.28 Im Vergleich zum Ausland
„hink[e]“ Deutschland „hinterher“;29 einige Kommentator/-innen machten dafer die
ebertriebene Vergangenheitsfixierung der deutschen Gesellschaft und „political correct-
ness“ verantwortlich.30 Kritiker, so der Tenor, h-tten „ideologische Scheuklappen“31 und
machten sich fer den „T-terschutz“32 stark. Zudem kçnnten die Technologien eine Ent-
lastung von Minderheiten herbeifehren, wenn n-mlich das Analyseergebnis auf einen
Mehrheitsangehçrigen hinweise.33
   Nach zahlreichen Gespr-chen mit ausgewiesenen Spezialist/-innen aus dem In- und
Ausland ziehe ich nicht in Zweifel, dass die Technologien in seltenen, speziell gelagerten
F-llen nach langwierigen, erfolglosen Ermittlungen sinnvoll zum Einsatz kommen
kçnnen. Die Gespr-chspartner/-innen -ußerten, dass sehr spezifische Voraussetzungen
erfellt sein messten, damit der Technologieeinsatz kriminalistisch sinnvoll, gesellschaft-
lich sensibel und den Grenzen der wissenschaftlichen Verfahren entsprechend in Erw--
gung gezogen werden kçnne.
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Veronika Lipphardt

         Weil es so wenige geeignete F-lle gibt und weil nur wenige L-nder eberhaupt eine ent-
      sprechende Gesetzgebung haben, gibt es noch keine Standards, Richtlinien oder Fallbei-
      spielsammlungen fer diese Voraussetzungen. Die folgende Auflistung ist daher als tenta-
      tive, interpretierende Zusammenfassung der Kriterien zu verstehen, die von den befrag-
      ten Expert/-innen angefehrt wurden. So sollte z. B. die Bevçlkerungsstruktur hinsichtlich
      der bgA nicht ,homogen‘ sein; es sollten mindestens zwei grçßere soziale Gruppen in
      Frage kommen, deren bgA auf verschiedenen Kontinenten liegen. Diese Bedingung ist
      in Deutschland aus historischen Grenden weniger oft erfellt als z. B. in England. Die
      verschiedenen Gruppen derften miteinander auch nicht ,zu gemischt‘ sein; in st-dtischen
      Bevçlkerungen, wie etwa Freiburg, w-re der Einsatz kaum aussichtsreich. Auch sollte die
      DNA-Spur nicht auf ,Mischwerte‘ bei der Pigmentierung oder auf eine ,gemischte‘ bgA
      hinwiesen; die DNA-Spur sollte eindeutig vom T-ter oder der T-terin stammen. Am
      aussichtsreichsten sei der Einsatz, wenn man eine klare Hypothese testen kçnne: etwa,
      ob der T-ter oder die T-terin aus einer von zwei klar abgrenzbaren lokalen Gruppen
      stamme. Allerdings seien dies auch genau jene Situationen, in denen soziale Konflikte
      und Stigmatisierungen besonders naheliegen und in denen daher entsprechend umsichtig
      vorgegangen werden messe. Hinzu kommt, dass die meisten Sexualmorde Beziehungsta-
      ten sind; die allermeisten werden relativ zegig mit herkçmmlichen Ermittlungsmetho-
      den aufgekl-rt. Das alles schr-nkt die Anzahl der sinnvollen Eins-tze dieser Technologien
      stark ein.
         Das Potenzial der Technologien, „Opfer zu schetzen“, bleibt also auf jene F-lle be-
      schr-nkt, in denen ein Serient-ter oder eine Serient-terin von weiteren Gewalttaten abge-
      halten werden kann.34 Ohne Zweifel wecken diese F-lle starkes çffentliches Interesse; sie
      mçgen das Sicherheitsgefehl massiv beeintr-chtigen, aber sie sind sehr selten. Die Tech-
      nologien kçnnen also keinen fl-chendeckenden Sicherheitseffekt haben. Im Zusammen-
      hang mit der Migrationsdebatte ließ sich das Sicherheitsbederfnis der Mehrheitsbevçlke-
      rung dennoch erfolgreich mobilisieren. Die Entlastung von Minderheiten spielte dabei
      keine Rolle: Werde ein DNA-Testergebnis auf einen Mehrheitsangehçrigen hinweisen
      (etwa: ,heller Hauttyp‘, ,Westeurasier‘ – ob dies nun eine wissenschaftlich korrekte In-
      terpretation gewesen w-re, sei dahingestellt), ließe sich daraus in den allermeisten F-llen
      kein Ermittlungsnutzen ziehen. Mit der Nachricht „ein Ausl-nder kann es nicht gewesen
      sein“ h-tte sich im Wahljahr auch kein politischer Druck fer die Gesetzes-nderung mo-
      bilisieren lassen. Ob eine Entlastung von Minderheiten erfolgt, ist zudem davon abh-n-
      gig, ob Ermittlungsbeteiligte dies ernsthaft in Betracht ziehen. Dass dies nicht vorausge-
      setzt werden kann, zeigt der Heilbronner Fall, indem ein bgA-Ergebnis, das auf eine un-
      eberschaubar große Gruppe hindeutete (Menschen mit osteurop-ischem Hintergrund),
      so interpretiert wurde, dass es den Ermittlungsfokus auf eine Minderheit zu unterstetzen
      schien (Sinti und Roma).35
         Dem legalen Einsatz der Technologien in anderen L-ndern werden nur wenige
      Erfolge zugeschrieben: Expert/-innen verweisen çffentlich auf ca. fenf bis sechs F-lle in
      den letzten 20 Jahren, in denen bgA-Analysen als erfolgsbringend dargestellt werden
      (nicht DNA Phenotyping). Zu den Eins-tzen insgesamt gibt es keine Statistik, keine
      Begleitforschung, keine retrospektiven Fallanalysen: Es bleibt also selbst in den L-ndern,
      in denen der Einsatz rechtlich mçglich ist, unbekannt, wie oft die DNA-Analysen
      keinen brauchbaren Hinweis lieferten, oder in wie vielen F-llen und mit welchen
      Methoden soziale Gruppen in den Fokus genommen wurden. Die wenigen Erfolgsge-
      schichten stechen deshalb umso st-rker hervor. Werden s-mtliche Einsatzgeschichten
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Vertane Chancen? Die aktuelle politische Debatte um Erweiterte DNA-Analysen

mit derselben Offenheit erz-hlt, kçnnte man wohl kaum so wirksam fer die Technolo-
gien werben.

Erwartungen an Zahlen und Phantombilder
Die Beferworter/-innen stellten die Mçglichkeiten der neuen Technologie zun-chst çf-
fentlich durchwegs positiv und pauschal in Superlativen dar: Die Vorhersagegenauigkei-
ten wurden allgemein als sehr hoch angegeben (98 % fer die Unterscheidung heller und
dunkler Hauttypen, 75 – 90 % fer die Haarfarben rot, blond, braun und schwarz,
90 – 95 % fer die Unterscheidung blauer und brauner Augenfarbe, 99,9 % fer die ,bio-
geografische kontinentale Herkunft‘).36 Das ,genetische Phantombild‘ sei l-ngst mçglich:
„Es versteht kein Mensch“, so NRW-Innenminister Reul, „dass Forensiker heute aus
winzigen Spuren sehr pr-zise genetische Phantombilder erstellen kçnnen, die unsere Poli-
zisten jedoch nicht nutzen derfen.“37
   Diese positive Darstellung der Technologien, ihrer Objektivit-t, Effizienz und Ent-
wicklungsreife, insbesondere die hohen numerisch ausgedreckten Vorhersagewahrschein-
lichkeiten, pr-gten die mediale Berichterstattung und erzeugten den gewenschten politi-
schen Druck. Allein, keine dieser Aussagen eber die Technologien h-lt einer kritischen
Prefung stand. 3ber die Technologien und ihre Einsatzf-higkeit besteht n-mlich kein
Konsens.38 Zus-tzlich zu meiner eigenen Perspektive werde ich vor allem Meinungsver-
schiedenheiten bei den Beferworter/-innen und innerhalb der Fachcommunity der Fo-
rensischen Genetiker/-innen aufzeigen.

Vorhersagegenauigkeiten
Bei den oben genannten Vorhersagegenauigkeiten aus dem bayrischen Gesetzes-nde-
rungsantrag handelt es sich um Maximalwerte, die nur im besten Fall, unter bestimmten
Bedingungen, keineswegs aber in allen F-llen erzielt werden kçnnen. Als Quelle fehrt
der Antrag zwei Publikationen an: Eine Review-Publikation Manfred Kaysers von
201539 fer das DNA Phenotyping sowie eine Stellungnahme der Spurenkommission
vom 14.12.201640, die selbst keine Literaturhinweise enth-lt, fer die ,kontinentale bio-
geografische Herkunft‘.
   Nun belegen aber beide Publikationen nicht den Forschungsstand, zumindest nicht in
dem Sinne, den das Zitat nahelegt. In der Publikation Kaysers wird Hautfarbe nicht er-
w-hnt; zudem fehrt diese Publikation als statistische Werte sogenannte AUCs (,area
under the curve‘) an, keine ,predictive values‘, die fer die Ermittlungsarbeit bençtigt
werden. Im Frehjahr 2017 wurde dieser Unterschied in einer Publikation von Forensi-
ker/-innen diskutiert:41 In acht europ-ischen L-ndern wurden Daten eber die Augenfar-
ben ,blau‘ und ,braun‘ erhoben, fer die man fenf verschiedene Wahrscheinlichkeitsanga-
ben, darunter AUCs und ,predictive values‘, errechnete und miteinander verglich. Alle
Werte lagen zwar hçher als 60 %, fielen aber je nach Land und Kategorie unterschiedlich
aus. Die AUCs lagen jeweils eber 90 %; aber die ,positive predictive values‘, die fer die
Ermittler ausschlaggebend sind, lagen z. B. fer braune Augen in einzelnen L-nder deut-
lich unter 70 %.
   Statistische Laien mçgen der Ansicht sein, alles eber 50 % sei ausreichend; Expert/-
innen sehen das ganz anders. Zwar messen die Werte nicht bei 100 % liegen, um die
Technologien sinnvoll einsetzen zu kçnnen; aber die Abweichungen signalisieren, dass
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Veronika Lipphardt

      die im Gesetzes-nderungsantrag genannten hohen Werte nicht verl-sslich sind. In einer
      weiteren Publikation im Sp-therbst 2017 bezog sich dasselbe Team auf die Kritik unserer
      Initiative42 und wies diese teilweise zureck; allerdings best-tigte das Team den Kernpunkt
      unserer Kritik, n-mlich, dass der Ermittlungseinsatz verfreht sei:
         […] since the etiological understanding of FDP-relevant appearance phenotypes is still incomplete, so are
      the prediction models used – and the corresponding predictive values vary to a certain degree. In consequence,
      these measures have to be determined empirically for each appearance phenotype, prediction model and target
      population of interest before they can be applied sensibly in criminal casework.43
         Bei der weiteren Kl-rung wird es kenftig auch darum gehen, die bisher verwendeten
      Daten und „Populationen“ einer genaueren Prefung zu unterziehen.44
         Die Diskrepanzen zwischen den Werten, die die Beferworter/-innen anfehren, und
      den vorsichtigeren Einsch-tzungen von Expert/-innen markieren ein prinzipielles Pro-
      blem: W-hrend die Technologien zwar in bestimmten F-llen fast hundertprozentige
      Vorhersagegenauigkeiten liefern, kçnnen sie in vielen anderen F-llen keineswegs ann--
      hernd so gute Werte erzielen. Es bleibt jedoch vollkommen unklar, wie oft die eine oder
      die andere Art von F-llen vorkommen wird, wenn DNA-Spuren von Tatorten analysiert
      werden.
         Fer die bgA messen etwa folgende Voraussetzungen erfellt sein, damit die Vorhersage-
      genauigkeit 99,9 % betragen kann: Die Vorfahren der gesuchten Person messen alle seit
      vielen Generationen aus derselben Region (oder ,Population‘) stammen; und in der Re-
      ferenzdatenbank, mit der die DNA-Probe verglichen wird, messen bereits mehrere Indi-
      viduen erfasst sein, die genau dasselbe Kriterium erfellen. Zudem messte sichergestellt
      sein, dass die Bevçlkerung am Tatort eine -hnliche bgA-Struktur aufweist wie die Refe-
      renzdatenbank bzw. die Daten, mit denen die Technologie trainiert wurde – oder anders
      ausgedreckt: die Referenzdatenbank muss repr-sentativ sein fer die Bevçlkerung vor
      Ort.
         Weist die DNA-Spur auf eine ,gemischte‘ bgA hin, deren ,Mischungsbestandteile‘ ein
      Experte mit recht aufw-ndigen Verfahren und gewagter Interpretation grob eruieren
      kann, dann wird im Verlauf der Analyse sichtbar, dass die Vorhersagegenauigkeit nicht
      99,9 % betragen kann. Ob die Person eine bestimmte Staatsangehçrigkeit, ein bestimm-
      tes Aussehen, eine bestimmte Kulturzugehçrigkeit oder einen bestimmten Geburtsort im
      Pass stehen hat, bleibt dabei vollkommen unklar. Der Ermittlungswert eines solchen Er-
      gebnisses ist also gering.
         Wie oft kommen solche ,gemischten‘ oder schlecht erfassten F-lle vor, im Verh-ltnis
      zu den ,ungemischten‘, regional klar zugeordneten, gut erfassten? Dieses Verh-ltnis wird
      von Ort zu Ort unterschiedlich sein, so wie die ,Erfassung‘ und die ,Mischungsverh-lt-
      nisse‘; und nicht alle ,Mischungsprozesse‘ sind bekannt oder bleiben in Erinnerung –
      man denke an den Kolonialismus oder die beiden Weltkriege.45
         Fer den Freiburger Mordfall h-tte sich Andreas Stenger vom LKA Stuttgart den Ein-
      satz der Technologien gewenscht. Stenger -ußerte im Deutschlandfunk, man habe meh-
      rere hundert Studierende, die im Rahmen eines Mantrailer-Einsatzes in einem Hçrsaal
      angetroffen und einer DNA-Untersuchung unterzogen wurden, mithilfe der ermittelten
      bgA etwa auf „vom Hindukusch“ eingrenzen kçnnen – um statt einigen hundert DNA-
      Proben nur wenige einsammeln zu messen.46 Ob ein Ergebnis dieser Pr-zision fer diese
      Region zuverl-ssig h-tte erzielt werden kçnnen, ist keineswegs unumstritten; Peter
      Schneider -ußerte sich in derselben Radiosendung skeptisch. Ebenso l-sst Stenger offen,
      wie man unter hunderten Studierenden diejenigen auffindet, die eine solche bgA haben
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Vertane Chancen? Die aktuelle politische Debatte um Erweiterte DNA-Analysen

– Aussehen? Pass? Mendliche Selbstauskunft? Abgleich mit dem Melderegister? Uner-
w-hnt bleibt auch, ob man Maßnahmen ergriffen h-tte, um Stigmatisierungsfolgen fer
die betroffene Gruppe zu vermeiden (junge M-nner mit dunklen Haaren und dunklen
Augen). Letzteres – die Vermeidung von Stigmatisierung – spielt fer Ermittler/-innen
in L-ndern, die die Technologien legal einsetzen, eine große Rolle. Ermittlungsvertreter/-
innen im Freiburger Fall w-ren hingegen offenbar bereit gewesen, im Sinne der Kosten-
effizienz die ,Nebenkosten‘ der Stigmatisierung in Kauf zu nehmen.
   Der Freiburger Polizeipr-sident Bernhard Rotzinger -ußerte, anhand der Technologi-
en kçnne man feststellen, ob ein T-ter Afghane, Kaiserstehler oder Schwarzafrikaner sei
– was impliziert, dass diese Gruppenzugehçrigkeiten sich gegenseitig ausschließen und
dass es vor Ort nur diese drei Gruppen zu unterscheiden gibt.47 Dass man die Mçglich-
keiten der Technologien grundlegend falsch verstehen kann, zeigen auch andere Quellen:
Die erste çffentliche Forderung des Einsatzes der Technologien erreichte die Freiburger
Stadtbevçlkerung im November 2016 eber ein Flugblatt des „Bundes gegen Anpassung“,
das behauptete, die ,Rasse‘ eines ,T-ters‘ festzustellen, sei wissenschaftlich l-ngst mach-
bar.48 ghnliche Ansichten fanden sich in den sozialen Medien. In den kommenden
Wochen widersprachen keine Ermittlungsvertreter/-innen, keine Politiker/-innen und
keine Wissenschaftler/-innen dieser Darstellung; vielmehr wurde wiederholt ge-ußert,
dass die Zulassung der Technologien aus ,political correctness‘ behindert werde. Es
wurde also in Kauf genommen, dass wissenschaftlich falsche Vorstellungen und falsche
Erwartungen in der Gesellschaft kursierten und politischen Druck erzeugten. Erst
Monate sp-ter fanden Wissenschaftler/-innen deutliche Worte, um solchen Missver-
st-ndnissen entgegenzutreten.49
   Als das Science Media Center Germany (SMC) im Frehjahr 2017 Expert/-innen be-
fragte, welcher Wert fer die Ermittler/-innen am netzlichsten sei – bgA oder Haar-,
Haut-, Augenfarbe – ergab sich ein sehr heterogenes Meinungsbild.50 Zudem sind sich
Genetiker/-innen uneins, welche Art von DNA-Daten fer die bgA-Analyse nçtig sind:
W-hrend manche Forensische Genetiker/-innen wie z. B. Lutz Roewer (Berlin) Y-chro-
mosomale Daten verwenden, h-lt seine Kollegin Denise Syndercombe Court (London)
es fer unerl-sslich, alle verfegbaren DNA-Systeme (soweit mçglich: Y-chromosomale,
autosomale und mtDNA) heranzuziehen. Die Analyse nur eines uniparentalen Systems
(Y-chromosomal oder mtDNA) kçnne in manchen F-llen zu richtigen Schlessen, in an-
deren aber zu vollkommen falschen fehren. Eine Auskunft eber ,Mischungsverh-ltnisse‘
ließen diese Daten nicht zu; sie lieferten auch keine zuverl-ssige Einsch-tzung der Vor-
hersagegenauigkeit. Die wenigen bekannten Erfolgsf-lle, in denen sich erzielte Angaben
wie ,Nordeurop-er‘ oder ,Nordafrikaner‘ im Nachhinein als korrekt erwiesen, beruhten
auf Y-chromosomalen Daten; F-lle, in denen solche Daten falsche Vorhersagen lieferten,
sind nicht bekannt, was aber nicht bedeutet, dass es keine gegeben hat.
   Zu den starken Einschr-nkungen der Anwendbarkeit -ußerten sich aber kaum Ermitt-
lungsvertreter/-innen oder Politiker/-innen und nur wenige Forensiker/-innen. Die mit
dem Zahlenspiel erzeugte Objektivit-tsfiktion verlieh dem Gesetzes-nderungsentwurf
unmittelbare Glaubwerdigkeit und 3berzeugungskraft. Solch komplexe und kontroverse
Zusammenh-nge auf ein paar sehr hohe Werte zu reduzieren und dies als den ,wissen-
schaftlichen Forschungsstand‘ vorzustellen, ist aus wissenschaftlicher Sicht hçchst proble-
matisch. Zudem bewirkte es, dass selbst skeptische Laien nicht riskieren wollten, ver-
meintlich ,unwissenschaftliche‘ Positionen einzunehmen.

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Veronika Lipphardt

         In Kauf genommen wurde zudem, dass Wissenschaftler/-innen aus verschiedenen Dis-
      ziplinen, die eine differenzierte Sichtweise bevorzugen, als ,unwissenschaftlich‘, als von
      ,political correctness‘ motiviert und als ,T-terschetzer‘ diskreditiert wurden. Das kçnnte
      sich besonders problematisch fer das Fach der Forensischen Genetik auswirken: Einer-
      seits, weil sich viele differenziertere Vertreter/-innen dieser Berufsgruppe nicht çffentlich
      -ußern und Spannungen in der Fachcommunity daher zu ihren Lasten gehen; und zum
      anderen, weil diese Berufsgruppe die Glaubwerdigkeitsdefizite zu speren bek-me, sollten
      die Technologien die hochgesteckten Erwartungen nicht erfellen.

      Biogeografische Herkunft, Ethnie, Kulturkreis, Aussehen
      Breit gef-chert ist das Meinungsspektrum hinsichtlich der Frage, woreber die bgA-Analy-
      se eigentlich Auskunft geben kann: L-sst sich daraus die ,Ethnie‘ einer Person vorhersa-
      gen, der Kulturkreis oder gar das Aussehen? Viele Beferworter geben sich in der :ffent-
      lichkeit eberzeugt, das eine oder andere sei mit großer Sicherheit mçglich. Der Begriff
      ,Ethnie‘ wird dabei in keinem einzigen Fall dem aktuellen sozialwissenschaftlichen For-
      schungsstand zu ,Ethnizit-t‘ gerecht.
         So hieß es in der „Schçntaler Erkl-rung“ der CDU: „Wie in den Niederlanden und
      Frankreich praktiziert, muss es auch in Deutschland mçglich sein, die Ergebnisse der
      DNA-Analyse hinsichtlich weiterer Merkmale, wie etwa Haar- und Augenfarbe sowie
      ethnischer Herkunft zu nutzen.“51 Der Bund Deutscher Kriminalbeamter (BDK) formu-
      lierte in seinen „Wahlprefsteinen zur Bundestagswahl 2017“: „Mit Hilfe von speziellen
      Markern kann die Rechtsmedizin eine Zuordnung zu einer bestimmten Ethnie oder
      Herkunftsregion mit hoher Wahrscheinlichkeit analysieren.“52 Der ehemalige Polizeipsy-
      chologe Adolf Gallwitz sagte in einem Interview: „Anhand der genetischen Spuren kçnn-
      ten wir feststellen, aus welchem Kulturkreis der mçgliche T-ter stammt, welche Erkran-
      kungen er hat und so weiter.“53
         Solchen sachlich falschen Einsch-tzungen, die unweigerlich zu eberzogenen Erwartun-
      gen hinsichtlich der Eingrenzbarkeit von Gruppen fehren, trat die Spurenkommission in
      ihrer Stellungnahme am 14.12.2016 dezidiert entgegen:
         Die biogeographische Herkunft eines Menschen beruht ausschließlich auf den genetischen Wurzeln seiner
      Vorfahren. Soziale, kulturelle und religiçse Kriterien spielen dabei keine Rolle, daher sollte der Begriff der ,Eth-
      nizit-t‘ oder ,Ethnie‘ in diesem Zusammenhang nicht verwendet werden.54
         Lutz Roewer meldete sich -hnlich zu Wort:
          Die genetische Zuweisung trifft keine – mindestens keine direkte – Aussage eber die Ethnie oder das Aus-
      sehen. Es geht vielmehr um den Versuch, eine Tatortspur einer Gruppe von Personen zuzuordnen, deren DNA
      sich eber die Jahrtausende in einer bestimmten Art entwickelt hat.55
         Von Forensikern wurden aber auch andere Auffassungen vertreten. So schrieb Corneli-
      us Courts (Kiel) auf seinem Blog BlooD’N’Acid: „[Durch erweiterte DNA-Analysen]
      wird die Ethnie der tatverd-chtigen Person neutral, also ohne Bias und anhand physikali-
      scher Evidenz bestimmt.“56 In seinem Statement fer das SMC Germany fehrte er aus:
          Das Konzept der biogeographischen Herkunft wurde vor etwa 15 Jahren ersonnen. Es umfasst die vier
      Hauptgruppen ,ostasiatisch‘, ,indoeurop-isch‘, ,amerikanische Ureinwohner‘ und ,Subsahara-afrikanisch‘ und
      sollte irgendwie das biologisch durchaus problematische Konzept der ,Rasse‘ ersetzen. Das Problem ist derzeit,
      dass noch nicht ausreichend weltweit gesammelte Populationsdaten vorliegen, um das Verfahren ohne Verzer-
      rung und mit zufriedenstellender Trennsch-rfe einsetzen zu kçnnen. […] Wenn diese Daten jedoch vorliegen
      und solide analysiert sein werden, sollte eine Zulassung des Verfahrens diskutiert werden, da es durchaus hilf-

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reich w-re, Ermittlungen auf Vertreter einer bestimmten Ethnie konzentrieren zu kçnnen, ohne dabei auf no-
torisch unzuverl-ssige bis subjektiv eingef-rbte Aussagen menschlicher Zeugen angewiesen zu sein.57
   Der Forensiker Bernd Brinkmann sprach 2007 von ,ethnischen Großgruppen‘ und
verwies auf Personen aus „Asien, Schwarzafrika oder Europa“,58 was ebenfalls ein Erset-
zen des Begriffs ,Rasse‘ anzeigt.
   Noch spannungsreicher erscheint das Meinungsspektrum hinsichtlich der Korrelation
zwischen bgA und Aussehen. W-hrend viele Laien eberzeugt davon sind, man kçnne
von dem einen auf das andere schließen, warnen Expert/-innen wie der Direktor der
Innsbrucker Gerichtsmedizin, Richard Scheithauer: „[Biogeografische] Herkunft hat
nichts mit der ethnischen Zugehçrigkeit zu tun. Manche DNA-Fragmente kommen in
bestimmten Regionen h-ufiger vor, eber das Aussehen des T-ters sagt das absolut nichts
aus.“59 Denise Syndercombe-Court argumentiert, dass nur, wenn alle drei DNA-Systeme
eindeutig auf dieselbe kontinentale bgA hinwiesen, ein sicherer Reckschluss auf z. B. ein-
zelne Merkmale mçglich sei (etwa: Ostasien: Haare schwarz, glatt; Haut hell); alle ande-
ren Konstellationen ließen keine solchen Reckschlesse zu. Vor allem kçnne man nicht
auf Nationalit-ten schließen. Diese Ansicht stimmt mit dem Forschungsstand und mit
englischsprachigen Informationsmaterialien eberein, die z. B. im internationalen Ver-
bundprojekt EUROFORGEN interdisziplin-r erarbeitet wurden.60
   Hingegen trug der Leiter des DNA-Labors am BKA, Ingo Bastisch, selbst EURO-
FORGEN-Mitglied, auf dem eingangs erw-hnten Symposium im BMJV vor, man
kçnne sehr sicher von der bgA auf das Aussehen und vom Aussehen auf die Nationalit-t
schließen. Manfred Kayser berecksichtigt in seinen englischsprachigen Fachpublikatio-
nen den aktuellen Forschungsstand und warnt vor direktem Schließen von dem einen
auf das andere:
    […] the DNA inference of bio-geographic ancestry does not always portrait the visual physical appearance
of an individual e.g. due to genetic admixture. Therefore, appearance should not be simply inferred from
DNA ancestry result, and inferring bio-geographic ancestry from results of DNA-based appearance testing
strongly depends on the geographic distribution of the appearance trait involved.61
   Seine gußerungen in der aktuellen deutschsprachigen Debatte bilden hierzu einen
deutlichen Kontrast: In Zeitungsinterviews betont Kayser, es gebe anl-sslich der geplan-
ten Gesetzes-nderung keinen Grund fer datenschutzrechtliche Bedenken, weil es sich
ausschließlich um -ußerlich sichtbare Merkmale handele, die ja nicht ,privat‘ und daher
auch nicht schetzenswert seien:
   SZ: Sind wir damit auf dem Weg zum gl-sernen Menschen, wie zuweilen gewarnt wird?
   MK: Ich halte dieses Argument fer falsch, was die forensische Nutzung angeht. Wir schauen mit dieser
genau definierten Art der erweiterten DNA-Analyse nicht in einen Menschen hinein, sondern allein auf den
Menschen drauf. Es geht um -ußerlich-sichtbare Kçrpermerkmale. Diese sind nicht nur der Person selbst be-
kannt, sondern allen, die sie kennen und gesehen haben.62

  Aus dem Gesamtartikel geht hervor, dass Kayser hierbei die bgA mit einbezieht. Noch
2012 wurde Kayser jedoch in der Presse viel zureckhaltender wiedergegeben:
   ,Es wird ganz wichtig sein, die Polizei dafer zu sensibilisieren, dass die forensische DNA-Ph-notypisierung
nur Anhaltspunkte fer die Ermittlungsarbeit liefern kann‘, sagt Kayser. So darf die Herkunft, die aus den
Genen herauszulesen ist, nicht automatisch in gußerlichkeiten ebersetzt werden. Besonders bei Menschen,
deren Vorfahren aus verschiedenen Regionen der Welt stammen, ist es bisher oft unmçglich, anhand von
DNA-Daten zur geographischen Herkunft auf deren Aussehen zu schließen.63

  Die Diskrepanz erforderte im Rahmen der Debatte eine Kl-rung. In einem ausfehrli-
chen Debattenbeitrag argumentiert Kayser im Jahr 2017:
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Veronika Lipphardt

         gußerlich-sichtbare Kçrpermerkmale sind fer jeden erkennbar. Zumindest kontinentale bio-geographische
      Abstammung ist meistens -ußerlich sichtbar. Ausnahmen sind allein solche Personen, deren biologische Vor-
      fahren aus verschiedenen Kontinenten stammen und bei denen die Vermischung bereits vor vielen Generatio-
      nen stattgefunden hat und deshalb nicht mehr -ußerlich sichtbar sein kann (aber nicht muss). Dieser Personen-
      kreis ist in Deutschland klein.64

         Es bleibt unklar, auf welcher Grundlage und fer welchen konkreten Ort diese Ein-
      sch-tzungen getroffen wurden; auf Freiburg trifft jedenfalls keine der beiden H-ufig-
      keitsaussagen („meistens“; „kleiner Personenkreis“) zu. Sie scheinen auch fer andere Re-
      gionen fragwerdig, wenn man berecksichtigt, dass Asien und Europa ineinander eberge-
      hen und etwa Nordafrika, Australien und Lateinamerika keine solche pauschale Feststel-
      lung rechtfertigen.
         Es scheint, dass selbst fer Fachleute, die die wissenschaftlichen Inhalte gut kennen, ein
      eindeutiges Sprechen eber diese Inhalte schwierig ist. Kayser nahm im Verlauf der De-
      batte wiederholt Ungenauigkeiten, Verallgemeinerungen und metaphorische Bedeu-
      tungseberschesse in Kauf, wenn es darum ging, die Gesetzes-nderung als naheliegend
      und notwendig vorzustellen. Hier stellt sich die Frage, wie man mit der somit hergestell-
      ten 3berzeugung des Publikums, die bgA sei ein -ußerlich sichtbares Merkmal, kenftig
      umgehen wird. Gerade im Rahmen von Polizeiarbeit kann eine solche 3berzeugung pro-
      blematische Auswirkungen haben.

      Das genetische Phantombild
      Wie bereits erw-hnt, machten sich verschiedene Politiker/-innen, darunter vor allem
      viele Innenminister, die Rede vom ,genetischen Phantombild‘ zu eigen,65 wie auch ein
      Bericht einer BKA-Kommission vom 12.01.2017 mit dem Titel „Das genetische Phan-
      tombild (DNA-Phenotyping)“.66 Mehrere Personen aus bestinformierten Sicherheitskrei-
      sen verwechselten hier also zwei wichtige Fachbegriffe: Beim DNA Phenotyping kann es
      sich ja nicht um ein gquivalent zum Phantombild handeln, sondern allenfalls zum
      Steckbrief.
         Die Idee ist aber nicht ganz aus der Luft gegriffen: Tats-chlich produziert die Firma
      Parabon in den USA bereits DNA-basierte Phantombilder, die in einigen US-Bundes-
      staaten in der Polizeiarbeit eingesetzt werden. Diese sind jedoch in der Presse und unter
      Fachleuten stark umstritten; so wird etwa kritisiert, dass Parabon die Produktionsweisen
      und Datengrundlagen der Phantombilder nicht transparent macht, dass diese auf ethni-
      schen Stereotypen basieren, und dass offenbar nur solche Phantombilder in der :ffent-
      lichkeit als erfolgreich pr-sentiert werden, deren 3bereinstimmung mit dem Foto des
      DNA-Tr-gers groß genug ist.67 Ein Selbstversuch unter Journalisten ergab hingegen, dass
      die Wiedererkennungswerte keineswegs gut waren; die Bilder waren zu vage und wurden
      mit verschiedenen Personen in Verbindung gebracht. Auch der Leiter der Spurenkom-
      mission, Peter Schneider, distanziert sich mit deutlichen Worten:
         Die Pigmentierungsmarker, die eber Haar-, Haut- und Augenfarbe bestimmen, haben keinen Einfluss auf
      die Gesichtsform. Bei der Entstehung der menschlichen Gesichtszege sind tausende von Genen involviert, von
      denen die meisten noch nicht entschlesselt sind. Bis zum ,genetischen Phantombild‘ ist es noch ein sehr, sehr
      weiter Weg. Tats-chlich gibt es aber in Amerika eine Firma, die behauptet, sie kçnnte das schon – und virtuel-
      le Gesichtsbilder aufgrund von DNA-Spuren erstellt. Das sind dann eher ethnische Stereotypen, keine indivi-
      duellen Gesichter. Das ist aus meiner Sicht eine Schande fer die seriçse Wissenschaft.68

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Vertane Chancen? Die aktuelle politische Debatte um Erweiterte DNA-Analysen

   Mçglicherweise beziehen sich deutsche Vertreter/-innen der Sicherheitsbehçrden und
Innenpolitiker/-innen mit ihrem Lob des ,pr-zisen‘ ,genetischen Phantombildes‘ auf Ein-
sch-tzungen ihrer US-amerikanischen Kolleg/-innen. Dann stellt sich die Frage, inwie-
fern einschl-gige Expert/-innen wie Schneider, die solche Informationen kritisch beurtei-
len, eberhaupt beratend herangezogen wurden.
   Andere deutschsprachige Forensische Genetiker stellen die baldige Entwicklung einer
solchen Technologie optimistischer in Aussicht als Schneider. Bereits 2015 berichtete die
Seddeutsche Zeitung: „Manfred Kayser will eines Tages alle Analyseverfahren miteinander
kombinieren, um mit Hilfe einer Software vollautomatisch dreidimensionale Phantom-
bilder aus DNS-Spuren zu erzeugen.“69 In einem Radio-Feature der SWR2-Sendung
Wissen mit dem Titel „Phantombilder aus dem Erbgut“ beschrieb Kayser 2014 die ange-
strebten Ziele allerdings ebenfalls als noch fern: „Indem ich aus DNA ein Gesichtsportr-t
erstelle, und dieses Gesichtsportr-t -hnelt dann Ihrem Foto und nicht meinem. Das
w-re naterlich der heilige Gral, das ist die ferne Zukunft.“70
   Eine sehr viel konkretere Zeiteinsch-tzung fand sich jedoch im Februar 2017 unter
dem Titel „Das Phantombild mithilfe des Erbguts zeichnen“:
    An der Medizinischen Universit-t Innsbruck forscht ein zwçlfkçpfiges Team um den Biologen Walter
Parson ab Mai 2017 im Rahmen des EU-Projektes Visage daran, mittels DNA-Spuren ein Phantombild zu er-
stellen. Damit kçnnten zahllose bislang ungelçste F-lle, zu denen es zwar DNA-Spuren, aber keine Verd-chti-
gen gibt, neue Ermittlungsans-tze erhalten. Bis 2021 wollen insgesamt 13 am Projekt beteiligte europ-ische
Forschungseinrichtungen diese DNA-Analyse so weit entwickeln, dass sie standardisiert eingesetzt werden
kann.71

   Tats-chlich bewilligte die EU im Frehsommer 2017 Fçrdergelder in Hçhe von meh-
reren Millionen Euro fer das Forschungsprojekt VISAGE (Visible Attributes Through
Genomics). Es handelt sich um eine europ-ische Kooperation; Projektleiter ist Manfred
Kayser, beteiligt ist auch Ingo Bastisch (BKA). Die Ziele dieses Projektes sind fer die :f-
fentlichkeit nicht eindeutig nachvollziehbar: Auf der VISAGE-Projekt-Website wird die
routinehafte Anwendung des zu entwickelnden Produktes bereits als greifbar nah be-
schrieben. Unter den Projektzielen findet sich: „5. Implement the developed VISAGE
Toolkit for constructing composite sketches from DNA traces in the routine forensic
DNA service environment […].“72 Die Seite macht andererseits deutlich, dass es sich bei
dem angestrebten Produkt um keine bereits einsatzf-hige Technologie handelt: Auf einer
Skala von 1 bis 10 das ,technical readiness level (TRL) 5‘ zu erreichen, ist das erkl-rte
Fenfjahresziel.73
   Hierbei bleibt unklar, ob Einzelfall- oder Routine-Anwendungen angestrebt werden.
Im Jahr 2015 berichtete außerdem die Seddeutsche Zeitung, dass Kayser Zeugenaussagen
fer unzuverl-ssig hielte: „Wir arbeiten daran, dass sie eberflessig werden.“ Diese Aussicht
derfte all jene beflegeln, die Stelleneinsparungen bei der Polizei wenschen.
   Es bleibt zudem unklar, ob VISAGE nur mçglichst pr-zise Pigmentierungsdaten lie-
fern soll oder ob tats-chlich das computergenerierte Phantombild das Ziel ist – -hnlich
der Snapshots von Parabon, nur wissenschaftlich transparenter. Da die TRL 5 erst in
fenf Jahren erreicht werden soll, was noch nicht ,Einsatzreife‘ bedeutet, werde dies fer
das DNA Phenotyping bedeuten, dass man dessen Einsatzreife viel zureckhaltender be-
werten messte als bisher – wie es die erw-hnte Publikation Kaysers ja auch tut.74 Dann
stellt sich die Frage, weshalb es derzeit Gesetzesinitiativen zu dessen sofortiger Einfeh-
rung gibt, und ob das Gesetz tats-chlich so sehr der Wissenschaft hinterherhinkt.

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