Community! - Netzwerk Junge Ohren
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04 Editorial 06 Ankommen heißt verändern 09 Essay: Diversität und Musik 12 Interview: Wiener Staatsoper 17 Inhalt Auf neuen Wegen 20 Mit Musik Gemeinschaft stiften 22 15. Junge Ohren Preis 30 Klangforschung und digitale Teilhabe 32 Am Puls: Netzwerk Junge Ohren 34 Dank & Impressum
Best of Magazin #8 Community! Liebe Leserinnen und Leser! Vor etwas mehr als einem Jahr stand unser letztes Best of Magazin ganz im Zeichen der Pandemie und einer unge- wissen Zukunft. Der Titel „Ins Offene“ machte deutlich: Vieles wird sich verän- dern. Heute, nach mehreren Lockdowns und unterschiedlichen Maßnahmen zum Infektionsschutz, liegen noch weitere herausfordernde Zeiten vor uns. Aber immerhin: Der Spielbetrieb läuft wieder, wenn auch unter Einschränkungen. Ge- rade jetzt zeigt sich in aller Schärfe, dass wir uns neu mit uns selbst und unseren 4
Routinen und Gewohnheiten auseinandersetzen müs- Bedeutung und Dringlichkeit hervor, sich mit Macht- sen. Viele spüren die Zurückhaltung des Publikums, strukturen und blinden Flecken auseinanderzu- das den Besuch von Kulturveranstaltungen in seinem setzen und empfiehlt, sich endlich auch denjenigen Freizeitrepertoire nicht mehr selbstverständlich ein- Akteur:innen und Zielgruppen ernsthaft zuzuwenden, plant und sich nicht so leicht aus dem Haus locken die im klassischen Musikbetrieb bisher abwesend lässt. Dass die digitale Teilnahme an Veranstaltungen bleiben. Zeit und Wege spart und man in diesem Kontext das direkte Miteinander gerne mal hintanstellt, zeigt sich Die Wiener Staatsoper ist ein Haus, das sich solche besonders auch bei Fachveranstaltungen – wir haben Gedanken überhaupt nicht machen müsste, wenn es uns alle schon sehr daran gewöhnt, auf Distanz zu lediglich auf seine Auslastungszahlen achten würde. Im bleiben. Doppelinterview stellen Direktor Bogdan Roščić und Musiktheaterpädagogin Krysztina Winkel dar, warum Für den Kulturbetrieb entsteht dadurch eine gesteigerte es aus ihrer Sicht dennoch an der Zeit war, eine Abtei- Dringlichkeit, sich radikal mit sich selbst auseinander- lung Vermittlung & Outreach aufzubauen und sich mit zusetzen und darüber nachzudenken, wer eigentlich die der eigenen Rolle in der Stadtgesellschaft neu ausein- Menschen sind, für die und mit denen Kunst stattfinden anderzusetzen. soll, und wo sie sich bewegen. Das bedeutet auch, sich mit der eigenen Region und dem direkten Umfeld zu be- Die Community Oper Freiburg hat diese Frage für sich schäftigen, in denen Kunst und Kultur ihre Wirkungen schon lange geklärt und ist 2017 als eigenständiger entfalten und sich im besten Fall unentbehrlich machen Verein aus dem Stadttheater Freiburg hervorgegangen. können. Kurz gesagt: Jetzt ist es Zeit, sich Gedanken Johannes Gaudet stellt die einzigartige Initiative dar, die über seine Community zu machen, die sich nicht erst Profis und Laien auf Augenhöhe zusammenbringt und seit der Corona-Pandemie im Wandel befindet. mit teilhabeorientierten Musiktheaterprojekten nicht nur in Freiburg für Aufsehen sorgt. Wenn wir dieses Heft mit dem Titel „Community!“ über- schreiben, geht es uns nicht um Community Music im Wir sind in den deutschsprachigen Ländern in der engeren Sinne. Sondern wir thematisieren Ansätze auf luxuriösen Situation, alle Herausforderungen des Musik- künstlerischer, vermittlerischer und/oder strategischer lebens vor dem Hintergrund einer zwar diversen, aber Ebene, in denen sich Kulturinstitutionen, Initiativen und weitgehend funktionierenden Gesellschaft zu disku- Akteur:innen mit gesellschaftlichen Themen beschäftigen tieren. Was Musik in traumatisierten und zerstörten und den aktiven Austausch mit der Gesellschaft suchen. Gemeinschaften bewirken kann, schildert Juan David Garzon in seinem Bericht über die Arbeit der internatio- Mit Taner Akyol nehmen wir Einblick in die Situation von nalen Initiative Musicians Without Borders. Musiker:innen, deren Instrument nicht dem klassisch- westlichen Spektrum angehört. Was bedeutet es, in Auch für unsere eigene Arbeit als Netzwerk Junge Deutschland ein Instrument zu erlernen, das zwar in der Ohren ist „Community!“ die zentrale Größe. Unser Claim eigenen Community weit verbreitet ist, im abendländi- „Musikleben am Puls der Gesellschaft gestalten“ durch- schen Klassik-Mainstream aber allenfalls eine marginale zieht unsere gesamte Projektarbeit und prägt auch Rolle spielt? Am Beispiel der Bağlama wird nachvoll- den Austausch mit denjenigen, die sich uns als Teil- ziehbar, welche Änderungen im Bereich musikalischer nehmende, Mitglieder oder Partner verbunden fühlen. Bildung und Ausbildung nötig wären, wenn sich das Die Regionalen Arbeitskreise fokussieren Fragen von Musikleben weiter öffnen und mehr Menschen Perspek- Diversität und Vielheit, aber auch Herausforderungen tiven bieten wollte. wie Digitalität und Klimawandel. Auch darüber ist in diesem Heft zu lesen. Ivana Pilić greift diesen Gedanken in ihrem Essay zur Diversität in der Klassikszene auf. Sie hebt die Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre! Katharina von Radowitz / Alexander von Nell, Geschäftsführung Netzwerk Junge Ohren 5
Best of Magazin #8 Community! Derya Yıldırım studierte Bağlama bei Taner Akyol. Beide stehen für ein zeitgenössisches Musikschaffen, das türkische und europäische Traditionen gleichberechtigt verbindet. Die Begegnung von Musikkulturen auf Augenhöhe ist ein zentraler Beitrag zur Gestaltung einer offenen und diversen Gesellschaft. Wo Menschen wandern, haben sie Gepäck dabei, doch das Wichtigste ist das Immaterielle: die Summe dessen, Ankommen was sie in ihrem Leben angesammelt haben an Spra- chen, Glauben, Lebensweisen, Traditionen. Mit anderen Worten: Ihre Kultur begleitet sie und ist Basis für alles heißt Künftige. Auch bei mir war das so. In meinem „Koffer“ war es die Musik, die den größten Platz eingenommen hat: Professionell ausgebildet sowohl in klassisch west- licher Musik, als auch als Bağlama-Spieler, bewege ich verändern mich in beiden Sphären – bin Zugewanderter wie An- gekommener. (und nicht Aus meiner Sicht entscheidet sich die Frage des „Angekommenseins“ daran, inwieweit es Wandernden gelingt, ihr immaterielles Reisegepäck in den neuen nur verändert Lebensraum einzubringen und mit dem dort Vorzufin- denden in ein Verhältnis zu setzen. Erst dann bewegt man sich meines Erachtens vom Status des „Fremden“ oder „Zugewanderten“ weg in Richtung des „Mitgestal- werden!) tenden“. Grundlage dafür ist eine unvoreingenommene Begegnung und Interaktion auf Augenhöhe, die Verän- derung auf allen Seiten nicht fürchtet. 6
Bis heute sehe ich dies nicht geglückt: Weder Einge- ernsthaft eingliedern dürfen. Sicherlich sprechen wir wanderte noch „Gastgebende“ haben die Bedeutung im Fall eines hochbegabten jungen Musikers zunächst der gegenseitigen Interaktion als Bedingung für ein nicht von der Masse. Es sei aber veranschaulicht, welche gleichberechtigtes Zusammenleben angemessen er- Bedeutung das Bağlama-Spiel ganz allgemein in der fasst. So wird beispielsweise die türkische Musikkul- türkischen Community hat. Es gibt eine breite und ak- tur1 in Deutschland bis heute vor allem als exotisches tive Szene: Anerkannte Meister:innen und Lehrer:innen Phänomen wahrgenommen. Diese oberflächliche unterrichten, Konzerte finden weitgehend abseits der Wahrnehmung verkennt die zentrale Bedeutung des etablierten deutschen Bühnen, aber auf exzellentem Musizierens und die hohe Verbreitung musikalischer Niveau statt. Auch im familiären Alltag spielt das Instru- Kultur und Praxis in der eingewanderten Bevölkerung. ment eine Rolle. Die Forderung nach Integration, nach Bemühungen um die türkische Musikkultur sind zumeist einer Kultur des Zusammenlebens straft sich an dieser ausstellender Natur und auf einseitige Integration an- Stelle selbst Lügen. gelegt, nicht jedoch auf ihre Weiterentwicklung als Teil eines gemeinsam zu gestaltenden gegenwärtigen Musiklebens. Initiativen für eine musikalisch-kulturelle Initiativen Annäherung wurden in der Zielgruppe der Zugewan- derten selten erkannt und entfalteten daher keine der kulturellen Wirksamkeit in den entsprechenden Szenen. Annäherung Strukturelle Ich will nicht verschweigen, dass es in den vergange- nen Jahren viele wichtige Entwicklungen gab. Seit 2002 Hindernisse wird die Bağlama beim traditionsreichen Wettbewerb „Jugend musiziert“ gewertet und hat im Unterrichtsan- Ein Beispiel aus den frühen 2000er Jahren illustriert gebot vieler Musikschulen Einzug gehalten. Ebenso ist das Grundproblem: Ein Bağlama-Schüler von mir wollte Bağlama im Programm JeKits 2 Teil des Lernangebots, gerne Musik studieren. Das Berliner Musikgymnasium wodurch die kulturelle Realität an Schulen sinnvoll be- Carl Philipp Emanuel Bach konnte ihn trotz seines offen- rücksichtigt wird. sichtlichen Talents nicht aufnehmen, weil Bağlama nicht Teil des Lehrangebots war. Auf meine Nachfrage, warum Es entstehen Kompositionen für Bağlama: Der Bran- das Angebot der Schule nicht erweitert werden könne, denburgische Verein Neue Musik e.V. hat 2007 bei erhielt ich vom Direktor die Auskunft, dass aus Schul- seinem Kompositionswettbewerb Bağlama zum Solo- sicht eine Bağlama-Abteilung wünschenswert sei. Durch instrument bestimmt – dies war bis dato in der klas- die strukturelle Anbindung an die Hochschule für Musik sischen westlichen Musikszene einmalig. Inzwischen Hanns Eisler sei es jedoch unmöglich, eine Sektion für ein sind weitere Auftraggeber – Opernhäuser, Orchester, Instrument zu gründen, das mit dem Angebot der Hoch- Wettbewerbe – diesem Beispiel gefolgt. Diese Schritte schule nicht korrespondiere. Gespräche mit dem damali- sind wichtig, um Repertoire zu verändern und die gen Dekan der Hochschule führten zu keinem Ergebnis. Bağlama gleichberechtigt neben anderen Instrumenten In der Folge setzte ich mich mit verschiedenen Kunst- auf westeuropäische Bühnen zu holen. initiativen und Institutionen sowie mit Abgeordneten türkischer Herkunft im Parlament in Verbindung, aber 2013 kürte der Landesmusikrat Berlin die Bağlama zum auch 20 Jahre später hat sich nichts geändert: Bis heute Instrument des Jahres. Die damit verbundenen Aktivitä- ist nicht nur in Berlin, sondern auch an keinem anderen ten trugen zur Sichtbarmachung bei. Zeitgleich brachte deutschen Musikgymnasium eine Ausbildung mit Bağ- das zweite Internationale Bağlama-Symposium an der lama möglich. Universität der Künste Berlin Künstler:innen und Trainer:innen aus der Türkei und Europa zusammen. Was aber heißt es, wenn ein hier geborenes und auf- Erkannt wurde, dass sich allein in Berlin etwa drei- gewachsenes Kind sich nicht mit dem Instrument sei- tausend Menschen für die Bağlama interessierten. Ein ner Wahl auf eine professionelle musikalische Laufbahn kleiner „Fun Fact“ dazu: Mit der beachtlichen Zahl an vorbereiten kann? Dass die Bağlama nicht in den Rang aktiven Spieler:innen überholte die Bağlama das Ins- eines anerkannten Instruments aufrücken darf, ist ein trument des Jahres 2012, das Fagott. Als Orchester- Signal. Und dieses Signal wird ganz deutlich von all instrument zwar voll integriert, konnte es keine solche denen erkannt, die sich mit ihrer Musikkultur nicht Reichweite vorweisen. 7
Best of Magazin #8 Community! Die wohl wichtigste Etappe der Entwicklungen ist, wohl Maqam-Musik als auch abendländische Harmonie- dass die Bağlama inzwischen an der Hochschule für lehre kennen. Es wäre ein Schritt, gemeinsam die euro- Musik Freiburg und der Universität der Künste Berlin päische Musikkultur weiterzudenken und den Reichtum im Lehramtsstudium gelehrt wird. Alle, die im Fach- und die Vielfalt unserer gemeinsamen musikalischen bereich Musikpädagogik studieren möchten, können Welt aufzuschließen. Eine erkennbare Perspektive für an diesen Hochschulen Bağlama als Hauptinstrument die Bağlama würde einen Impuls setzen, sich mittels des wählen. Dennoch werden viele der Bemühungen um die eigenen Instruments aus der eigenen Community her- Bağlama in der Szene nicht ausreichend wahrgenom- auszubewegen und Anschlüsse herzustellen, die beiden men. Dies mag an falschen Kommunikationskanälen Seiten Neues eröffnen. der deutschen Institutionen aber auch an den fehlenden Netzwerken der Bağlama-Lehrenden liegen, die häufig keinen akademischen Hintergrund vorweisen können und demzufolge kaum mit staatlichen Institutionen in Verbindung stehen. Dies wirkt der Durchlässigkeit und Taner Akyol dem gegenseitigen Transfer von Wisssen und Reper- toire entgegen. Durch diese Verschlossenheit verlagert sich der relevante Bezug zur Bağlama auf die Musikszene in der Türkei. Wir sprechen also von einer Kultur der Diaspora, die kaum Berührungspunkte mit der hiesigen Musikkultur hat. Deutschland blendet somit einen großen Geboren 1977 in Bursa erhielt Taner Akyol seine erste Teil musikalischen Lebens aus und vergibt eine wertvolle musikalische Ausbildung in Bağlama und Violine. Zum Chance der Begegnungen zwischen den Szenen. Studium zog er nach Berlin und studierte Komposition bei Prof. Hanspeter Kyburz an der Hochschule für Zentrale Bedeutung Musik Hanns Eisler. 1998 erhielt er mit seiner ersten Komposition den Hanns-Eisler-Kompositionspreis. musikalischer Bildung Im selben Jahr wurde er beim Wettbewerb „Musika Vitale“ für seine Bağlama-Performance als bester Solist Ich möchte diesen kurzen Einblick in die Landschaft mit ausgezeichnet. Heute wirkt Taner Akyol als Komponist einigen Vorschlägen abschließen und betonen, dass der westlicher klassischer Musik und als Bağlama-Interpret musikalischen Bildung bei der Gestaltung einer offenen an zahlreichen Projekten, Festivals und Institutionen Musikkultur zentrale Bedeutung zukommt. Musikschulen mit. In seinen Kompositionen setzt er die Bağlama und Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen häufig solistisch ein. Seit 2004 leitet er das ta musik- schaffen Grundlagen für jede weitere musikalische atelier in Kreuzberg und hält seit 2016 einen Lehr- Ausbildung. Indem im Musikunterricht nicht nur die auftrag für Bağlama an der Universität der Künste klassisch-westlichen Instrumente vorgestellt werden, Berlin. Im Auftrag der Komischen Oper komponierte er sondern auch die Bağlama und ihr Klang vermittelt wird, 2012 die Kinderoper Ali Baba und die vierzig Räuber. entsteht Sichtbarkeit. So wird diese musikalische Welt 2018 entstand die Komposition Tertele im Auftrag auch für Mitschüler:innen und Freund:innen eröffnet der Elbphilharmonie, uraufgeführt vom Ensemble und überhaupt erst zu einem gemeinsamen Thema. Resonanz. Aufnahmen dokumentieren sein Schaffen, wie das in rund 50 Ländern veröffentlichte Album Darüber hinaus muss an musikorientierten Schulen und „Maria Farantouri Sings Taner Akyol“ (Enja Records), Musikgymnasien eine konzeptionelle Erweiterung statt- auf dem die griechische Diva und Kulturaktivistin finden, die begabten Schüler:innen eine künstlerische seine symphonischen Lieder interpretiert. Ausbildung mit der Bağlama (oder einem anderen noch nicht etablierten Instrument) ermöglicht. Dies setzt sich schlüssig fort, wenn Musikhochschulen und Universitä- ten ihr Lehrangebot erweitern. Nicht nur für diejenigen, 1 Damit ist die Musik aller in der Türkei lebenden Bevölkerungsgruppen gemeint. die dieses Instrument spielen, sondern auch für andere 2 JeKits – Jedem Kind Instrumente, Tanzen, Singen. jekits.de Studierende, insbesondere im Fach Komposition, würde dadurch eine neue und wichtige Dimension eröffnet. Ein Dieser Text wurde gekürzt und ins Deutsche übersetzt von Filiz Oflazoğlu. solches Musikstudium würde Musiker:innen ausbilden, In Originalsprache und voller Länge finden Sie den Text online unter die Bağlama, aber auch Klavier spielen können, die so- jungeohren.de/meldungen 8
versteht und die für alle zugänglich ist? Was bräuchte es, damit die vielfältige Stadtgesellschaft nicht nur ge- sehen, wahrgenommen und angesprochen, sondern auch einbezogen wird? Ein Paradigmenwechsel im Kulturbetrieb und eine Öff- nung für die Vielheit der Stadtgesellschaft ist längst überfällig; dies gilt auch für die Konzertsäle und die Klangkörper einer Stadt. Eine nachhaltige Öffnung der Institutionen ist notwendig, wenn die gebremste Teil- habe und der Ausschluss weiter Teile der Bevölkerung überwunden werden soll. Das ist keine triviale Ange- legenheit, denn es ist an vielen Schrauben gleichzei- tig zu drehen – und es gibt sicherlich nicht nur einen einzigen Weg, dies zu erreichen. In den letzten Jahren gibt es frischen Wind in der Debatte rund um Zugäng- Diversität lichkeit und Teilhabe im Kulturbetrieb: Über den Begriff der Diversität rückt in Kulturinstitutionen zunehmend die Frage ins Zentrum, inwieweit sie sich als aktive Player in heterogenen Gesellschaften begreifen und die und Verantwortung für die Gestaltung einer vielfältigen Gemeinschaft tragen. Um sich dieser Frage anzunähern, gilt es zunächst, Musik sich von der Fantasie einer Universalität zu verabschie- den: Denn alle steht oft nur vermeintlich für eine Viel- heit an Bevölkerungsgruppen, Protagonist:innen und Zuschauer:innen. Vielmehr versteckt sich hinter dem inklusiv wirkenden alle oftmals ein nicht konkreteres Hinterfragen der herrschenden Gegebenheiten: Wer Für eine gestaltet hier eigentlich das Programm? Wer steht auf der Bühne und wer ist als Publikum anwesend? Wer Gleichwertigkeit definiert außerdem, welcher künstlerischen Artikula- tion Exzellenz zu- oder aberkannt wird? Anstrengun- gen im Bereich Audience Development und Education der Stimmen behaupten für sich häufig, neue Zielgruppen für Kul- turangebote erreichen zu wollen und sich spezifisch für marginalisierte Akteur:innen zu interessieren. Viel zu oft tragen sie aber vor allem dazu bei, bestehen- Die Welt der klassischen Musik ist international und de Strukturen zu stabilisieren, indem das bestehende aufgeschlossen und skizziert sich selbst als Sprache, Programm lediglich breiter beworben wird. Eine wirk- die jede:r verstehen kann und die für alle da ist. Auf liche Veränderung nach innen wird hingegen selten den ersten Blick stellt das eine gute Ausgangslage mutig angestrebt. Die mangelnde Ernsthaftigkeit solch dar. Bei näherer Betrachtung sieht man allerdings, „rhetorischer“ Öffnungen ist ein Problem, da sie im dass dieses Selbstbild der Realität kaum standhält. ungünstigsten Fall Menschen weiterhin marginalisie- Ein Sprechen über Weltoffenheit und eine Rhetorik ren, indem sie sie institutionell betrachtet weiter in ein der Internationalität durchbricht keinen hermetisch Randprogramm und eine -position schieben. Eine dif- abgeschlossenen Zirkel. Denn der institutionalisierte ferenzierte Deutung von alle sollte dementsprechend klassische Musikbetrieb bleibt – wie auch andere Kunst- auch dafür stehen, sich zunehmend spezifisch für sparten oder Sparten der Musik – über die Länder marginalisierte Akteur:innen zu interessieren, welche hinweg, ein homogener und elitärer. Was ist aber not- bislang nicht sichtbar beteiligt waren, und nun als Ziel- wendig, um eine Sprache werden zu können, die jede:r gruppen von Angeboten identifiziert werden. 9
Best of Magazin #8 Community! Auf dem Weg zur Polyphonie Die klassische oder etablierte Musikszene steht histo- risch gesehen für europäisch, weiß, männlich und ist verbunden mit einer starken Nähe zur Aristokratie. Eine herausfordernde Ausgangslage, wenn es darum gehen soll, sich als Institution für möglichst viele heterogene Akteur:innen, Musiker:innen und Publika zu öffnen und sie an der Mitgestaltung teilhaben zu lassen. Um Leiden- schaft zu entfachen und eine Sprache zu finden, die Raum für Vielfalt gibt, braucht es eine neue Praxis, eine aufrichtige Willkommenskultur und Prozesse, die Kooperationen und Interaktionen auf neuem und un- bekanntem Terrain wagen, um nach einem noch unbe- kannten Gemeinsamen zu suchen. Ein Gemeinsames, das nach einem neuen Wir sucht, das nicht homogen und exklusiv ist und Vielstimmigkeit ermöglicht. Dies meint keine Gleichheit der Stimmen, sondern bejaht achtsam Differenzen und strebt eine Gleichwertigkeit an. Zwingende Voraussetzung dafür ist der ständige Austausch zwischen vielfältigen Protagonist:innen, die mit ihren jeweiligen Interessen, Wünschen, aber auch Realitäten in diesen Prozess involviert sein sollen und Die Abwesenden im wollen. Wir mitdenken Die Forderung nach gleichberechtigter Teilhabe und Zukunftsweisende Veränderungen gelingen dort, wo Anerkennung einer heterogenen Gesellschaft ist damit sich Kulturinstitutionen ihrer eigenen Begrenztheit kein rhetorisches Unterfangen, kein Lippenbekenntnis. bewusst werden und sich ausgiebig darüber Gedanken Stattdessen braucht es die Einsicht, dass ein kleiner, machen, was sie Abwesenden anzubieten haben. Die homogener Kreis an Menschen nicht ausreicht, um die Frage nach dem Wer ist ein Baustein, um Ausschluss notwendigen Kompetenzen für eine breite Öffnung zu begegnen: Das heißt aber auch sich mit all jenen Richtung Stadtgesellschaft umzusetzen. Um Diversität auseinanderzusetzen, die im etablierten Kanon wenig als nachhaltiges Konzept praktizieren und damit ein wahrgenommen werden. Eine eingehende Beschäfti- neues Wir auf, hinter und vor den Bühnen zu ermög- gung mit den eigenen weißen Flecken und Vorurteilen, lichen, ist es unabdingbar, zunächst die eigene Rolle auch Macht- und Ausschlussstrukturen muss als zen- und die Position der Institutionen in Frage zu stellen. trale Voraussetzung betrachtet werden, um sich auf Dies bedeutet auch ganzheitlich auf alle Ebenen der den Prozess der Veränderung begeben zu können. Ent- Institution einzugehen: auf neue Inhalte, Ausdrucks- scheidend ist, dass marginalisierte Protagonist:innen weisen und Ästhetiken auf, hinter und erst dadurch in die interne Reflexion, aber vor allem auch in die Ins- auch vor den Bühnen, neue Mitwirkende und Publika titution einbezogen werden – also Menschen, die selbst und fachliche Kompetenzen im neuen (bisher fehlen- von Diskriminierung betroffen sind und bisher nicht den) und alteingesessenen und homogenen Personal. oder nur prekär anwesend waren. 10
Projektbüro für Diversität und urbanen Dialog – D/Arts schaut hin, zeigt auf, hinterfragt und beansprucht eine Transformation des Kulturbetriebs. Ivana Pilić Programmatisch gilt es, Erfahrungen, Ästhetiken oder Ivana Pilić ist freie Kuratorin und Musiktraditionen zu berücksichtigen, die bisher nicht Kulturwissenschaftlerin. vorgekommen sind, um wegzukommen von einer Derzeit promoviert sie am Schwerpunkt Engführung, in der westlich sozialisierte Menschen Wissenschaft und Kunst der Universität westliche Komponist:innen interpretieren. Die künst- Salzburg und des Mozarteums zu lerischen Inhalte sind schließlich das Herzstück von diskriminierungskritischen Kunstpraxen. Kultureinrichtungen. Eine nachhaltige Öffnung ist ohne Seit 2020 ist sie Kuratorin von programmatische Veränderung kaum möglich. Ein D/Arts – Projektbüro für Diversität spannendes Unterfangen für die Kulturinstitutionen, und urbanen Dialog. Ihre Arbeits- die im Hinblick auf Diversität über ihr Programm schwerpunkte liegen in der Erforschung nachdenken. Schließlich berühren wir hier den Kern transkultureller Formate und der der Sache, die Identität des Hauses: Diese wird einem Entwicklung von diversitätssensiblen Stresstest unterzogen, hinterfragt, relativiert und neu Konzepten im Kulturbetrieb. Ivana Pilić erfunden. Ein Prozess der auf der Suche nach einem berät Kulturinstitutionen und -politik neuen Wir unumgänglich ist, welches nicht homogen im Bereich Diversity and Arts, ist aktiv und exklusiv, sondern polyphon, inklusiv und zukunfts- in Beiräten und Gremien und als fähig ist. Jurorin tätig. 11
Best of Magazin #8 Community! Wie wünschen wir uns die Zukunft? Ausgehend von dieser Frage entwickelten Jugendliche und junge Erwachsene das Musiktheater Der letzte Tag gemeinsam mit der Wiener Staatsoper und Superar. Auf dem Weg in Richtung Zur Saison 2020/21 trat Bogdan Roščić das Amt als Direktor der Wiener Staatsoper an. In derselben Gesellschaft Spielzeit ging auch die Abteilung Vermittlung & Out- reach an den Start, geleitet von der Musiktheater- pädagogin Krysztina Winkel. Ein Novum an dem traditionsreichen Haus, das sich unter der neuen Krysztina Winkel Leitung mit verschiedenen Ansätzen den Weg in Richtung einer im Wandel befindlichen Gesellschaft und Bogdan Roščić bahnen will. Im Doppelinterview geben Direktor Roščić und Musiktheaterpädagogin Winkel Einblick in den noch jungen Prozess und ihre Vision. im Gespräch mit Katharina von Radowitz: Lieber Herr Roščić ich wür- Katharina de gerne mit Ihrem Antritts-Statement einsteigen: „Die Wiener Staatsoper ist für alle da. Diesen Anspruch umzusetzen ist heute schwieriger denn je.“ von Radowitz Was heißt es heute, Oper und eine vielfältige Stadt- gesellschaft zusammenzubringen? 12
Bogdan Roščić, Direktor der Wiener Staatsoper: Die motivierend sein kann. Setzt sich dies in Richtung des Wiener Staatsoper hat seit jeher einen eigenen Blick Hauses fort – auch über die Vermittlungsabteilung auf die Stadt und ihr Publikum. Seit dem Wiederauf- hinaus? bau nach dem zweiten Weltkrieg war das Haus nahe- zu durchgehend ausverkauft. Man musste wissen, wie KW: Ja, auf jeden Fall. Es entstehen neue Synergien, es man an Karten kommt, musste lange (und nicht im- finden Begegnungen statt. Das kann man nicht immer mer mit Erfolgsaussicht) für Stehplätze anstehen. Der planen: Wenn beispielsweise das Bühnenorchester, Opernbesuch war ein gesellschaftliches Statement und das sonst nur Profi-Produktionen spielt, für eine Premi- ist es im Grunde heute noch. Das macht etwas mit ei- ere mit Teenagern probt und die Musiker:innen in den nem Haus. Es gab keine Marketing-Abteilung oder ein Pausen mit den Jugendlichen ihre Spotify-Playlist teilen. Werbebudget, weil man es schlicht nicht brauchte, Diese kleinen „Gesellschaftsmomente“ haben eine un- um die Oper zu füllen. Ich kam als Direktor an ein nach glaubliche Wirkung, die ihre Energie in das ganze Haus außen seltsam unkommunikatives Haus, das bei mir entfaltet. Hier entsteht gegenseitiges Verständnis, ein intuitiv den Impuls auslöste, damit Schluss machen Bewusstsein füreinander, das alles Weitere begründet. zu wollen. Denn auch wenn das Haus kontinuierlich Wenn der Funke einmal entzündet ist, kommt man da- voll ist, wäre es ein Vernachlässigen unseres ureigenen hinter nicht mehr zurück! Ich will nicht verschweigen, Auftrags, den Kontakt nach außen nicht zu suchen. Das dass dafür auch viel Vermittlungsarbeit nach innen nötig österreichische Bundestheater-Organisations-Gesetz ist. An der Wiener Staatsoper hat eine Produktion nor- gibt dafür den Rahmen vor. Bei einem Eigendeckungs- malerweise jahrelange Vorläufe – da sorgt es schon für grad von fast 50 Prozent ist es unsere Pflicht, zumindest kleine Schockwellen, wenn man eine Planung vorstellt, in das aktive Gespräch mit der Gesellschaft einzutreten. die noch in derselben Saison umgesetzt werden soll. Und damit meine ich nicht nur die Erschließung neuer Hier ist man als Vermittlerin gefragt, die Logik und Moti- Zielgruppen. Sondern ganz grundlegend die Verpflich- vation unserer Arbeit zu erklären, die nicht so planbar ist tung, innerhalb einer sich rasant wandelnden Gesell- und ganz andere Prozesse erfordert. Ich empfinde bei schaft in Österreich darauf zu schauen, welche Zutritts- meinen Kolleg:innen aber eine große Offenheit, Neugier hindernisse neu entstehen und darauf zu reagieren. und Unterstützungsbereitschaft. Auf dieser Grundlage kann vieles gelingen. KvR: Wir reden oft davon, wie man mehr Teilhabe an Kultur ermöglichen kann. Darin wird aber auch der Wunsch von Kulturinstitutionen erkennbar, selbst weiterhin Teil dieser Gesellschaft zu sein. Wenn Kul- turinstitutionen im gesellschaftlichen Gespräch keine Rolle mehr spielen, geht irgendwann das Licht aus. Liebe Krysztina, was sind Deine Gedanken dazu? Krysztina Winkel, Vermittlung & Outreach – Wiener Staatsoper: Für uns an der Staatsoper ist es ein zentra- les Interesse, wie wir an das anknüpfen können, was den Menschen wichtig ist. Wir suchen das Gespräch über die Frage: Warum macht es Sinn, sich heute mit Musik- theater auseinanderzusetzen? Deswegen steht bei uns die partizipative Arbeit im Zentrum. Wir möchten Themen, die vor allem Jugendlichen, aber auch anderen Gruppen wichtig sind, durch und mit Musiktheater und Ballett eine Plattform geben, auf der sie wahrgenom- men und verhandelt werden können. Neben dem kreati- ven selbsttätigen Machen, hat auch das Zuhören große Bedeutung für unsere Arbeit. KvR: Als Vermittlerin ist man direkt involviert in diesen Dialog. In vielen Situationen entsteht eine besondere Resonanz, eine Art Zauber, der extrem 13
Best of Magazin #8 Community! BR: Während meiner Vorbereitungszeit habe ich adres- gut umsetzen will. Man denkt immer, ein Opernhaus ist siert, was ich mir als Direktor für das Haus wünsche: groß und komplex, alles muss schwierig sein. Nein, das Ich habe eine Marketingabteilung eingerichtet und ei- muss es nicht! Wenn alle an einem Strang ziehen, sich nen offiziellen Freundeskreis gegründet, der die Mittel eigenständig organisieren und Verantwortung überneh- erwirtschaftet, um die Aktivitäten, von denen wir hier men, entstehen auch an einem großen Haus einfache reden, überhaupt durchführen zu können. Ich habe die und unbürokratische Lösungen. Dramaturgie aufgewertet und es gibt die neue Abteilung Vermittlung & Outreach. Es ist faszinierend, gegen wie KvR: Sie haben also die Chance mit einem bestens wenig Widerstand man in diesem Haus arbeiten muss. aufgestellten Apparat Oper zu gestalten. Was ist Ihre Das hat zwei Gründe. Zum einen ist der gesamte Appa- Vision, wenn Sie über den Opernbetrieb der Zukunft rat sehr auf den künstlerischen Geschäftsführer ausge- sprechen? Mit der Einrichtung der Abteilung Vermitt- richtet: Wenn der Direktor was will, dann geschieht das lung & Outreach haben Sie ja ein Zeichen gesetzt. auch. Das kann man ja nicht von jedem Opernhaus be- Könnte man sagen „Die Wiener Staatsoper startet in haupten auf dieser Welt... Der Apparat will, dass ihm klar Sachen Vermittlung spät, setzt sich dann aber auch und nachvollziehbar gesagt wird, was zu tun ist. Dann an die Spitze?“ entfaltet er auch bei Innovationen und neuen Prioritäten eine bemerkenswerte Selbstständigkeit, Kreativität und BR: Das muss natürlich der Anspruch eines Hauses vor allem den Ehrgeiz, es sehr gut hinzukriegen. Und da- sein, aber es gibt auch für uns kein Patentrezept, das mit sind wir beim zweiten Aspekt, der Grundeinstellung wir einfach umsetzen könnten. Vielmehr gilt es jetzt der Menschen an diesem Haus. Es zeigt sich für mich ganz pragmatisch an dem Ort, wo das Haus steht, für in einem außergewöhnlichen Ausmaß so etwas wie ein die Gesellschaft, die es ermöglicht, die richtigen Fragen „gemeinsamer Geist“, der das Haus und das, worum es zu stellen, das Gespräch zu suchen und Aktivitäten zu hier geht, wahnsinnig ernst nimmt und alles besonders entfalten, die breitere Kreise ziehen. Das heißt auch, 14
Dinge nicht als gegeben hinzunehmen: Jede Struktur jetzt geschafft: Wir eröffnen in Kürze eine zweite Ar- hat auch Veränderungsspielraum, Tradition hin oder her. beits- und Spielstätte mit Probenräumen, aber auch Das Haus muss durchlässig sein, es darf nichts und nie- mit einem kleinen Saal für knapp 300 Personen, mit manden ausschließen. Es muss in der Auswahl dessen, kleinem Orchestergraben, Bühne, Licht und Akustik. was es auf die Bühne bringt, der Regiesprachen und der Also schon ein richtiges „Theaterchen“, in dem Klein- Aktivitäten nicht nur Teilpublika ansprechen, sondern teiligkeit, Niederschwelligkeit und Experimentelles vielfältige Anschlüsse herstellen und offenhalten. nicht nur erwünscht, sondern notwendig ist. Davon verspreche ich mir sehr viel, gerade im Zusammenspiel KW: Wir haben uns viel vorgenommen und es ist ext- mit den eingangs dargelegten Veränderungen in der rem wichtig, dass wir einerseits im Haus unsere Haltung Organisationsstruktur, die sicher auch noch nicht am hinterfragen und den „gemeinsamen Geist“ entwickeln. Ende angelangt sind. Mindestens genauso wichtig ist es aber, sich über die Staatsoper hinaus auszutauschen und zu vernetzen. KvR: Sie haben also an diesem großen Haus ganz Wir sind im guten Kontakt mit den Kolleg:innen an verschiedene Fenster und Türen aufgerissen und anderen Häusern in Wien, aber genauso national und nun wird sich zeigen, was aus dieser Offenheit und international. Besonders wichtig sind aber vor allem Durchlässigkeit entstehen kann. Wenn Sie beide in die unsere Community-Partner. Zum Beispiel haben wir Glaskugel schauen könnten: Welche Vision von Oper eine Kooperation mit den Programmen Superar und – in Wien aber auch darüber hinaus – entsteht da? Tanz die Toleranz im Kulturhaus Brotfabrik im 10. Be- zirk. Damit sind wir vor Ort präsent und kommen in >> lebendigen Austausch mit jungen Menschen in der Stadt. Mit der Haltung einer lernenden Organisation nehmen wir vielfältige Impulse auf und entwickeln da- raus das, was künftig Teil unserer DNA sein und die spezifische Vermittlungsarbeit der Wiener Staatsoper Krysztina prägen soll. Winkel KR: Wie stelle ich mir das in der Umsetzung vor? Wie groß ist denn deine Abteilung, Krysztina? KW: (lacht) Also wir sind zwei Personen in unserer Seit der Saison 2020/2021 leitet Krysztina Abteilung und schon darin steckt ein Fortschritt, im- Winkel die Abteilung Vermittlung & Outreach merhin haben wir uns mit dieser Spielzeit verdop- der Wiener Staatsoper und ist Lehrbeauftragte pelt … Das ist natürlich ausbaufähig und wir kommen an der mdw Wien im Bereich Musiktheater- nicht ohne freie Mitarbeiter:innen aus. Klar, schaue vermittlung im Community Kontext. Nach ich da manchmal etwas neidisch auf Häuser, die zehn ihrem Studium der Theaterwissenschaft und Theaterpädagog:innen haben. Wir stehen aber noch Erziehungswissenschaften an der Ruhr- immer am Anfang und für das Weitere ist es auch Universität Bochum und freien Mitarbeiten u.a. wichtig, die Idee von Outreach erst einmal ganz grund- am Schauspiel Essen und Kulturamt Duisburg legend im gesamten Haus zu verankern und ein Be- war Krysztina Winkel von 2014-2018 wusstsein dafür zu schaffen, dass das eine Gesamt- Musiktheaterpädagogin an der Deutschen Oper aufgabe sein muss. Insofern begreife ich die Situation am Rhein Düsseldorf-Duisburg. 2018 absolvierte als Chance - wir sind zwei Kolleg:innen unter tausend sie den Master in Arts, Enterprise and Develop- anderen, da findet sich immer Unterstützung! ment an der University of Warwick (UK) und wurde 2019 als Community Producerin am BR: Generell bin ich der Ansicht, dass die Staatsoper Belgrade Theatre Coventry (UK) engagiert. bei Innovationsthemen in einem gewissen Nachteil Weitere Research- und Community-Theater- steckt, weil sie eben ein Schiff mit einer gewissen Ton- programme führten sie zudem nach Sambia, nenanzahl ist und beladen mit Erwartungshaltungen, Italien und Irak. Seit 2020 ist sie Steering die nicht immer der Gesellschaft der Gegenwart ent- Committee Member von RESEO – The European sprechen. Zudem ist meinem Budget eingepreist, dass Network for Opera, Music and Dance Education, der Saal hier jeden Tag voll ist. Ich muss mir also an in dem sie sich für den europäischen Austausch anderen Stellen Freiräume schaffen und das habe ich und Dialog in der Kulturvermittlung einsetzt. 15
Best of Magazin #8 Community! hier?“ Es geht mir um eine glaubwürdige Offenheit und Öffnung auf vielen Ebenen und mit vielen Einzelmaß- nahmen, die dazu führt, dass sich in ein paar Jahren hier ein neu zusammengesetztes und ein vielleicht bezogen auf die Realität der österreichischen Gesellschaft etwas repräsentativeres Publikum einfindet. Wenn das gelingt, war es, glaube ich, ein richtiger und wichtiger Schritt für dieses Haus und vielleicht auch für diese Stadt. KvR: Vielen Dank, wir sind gespannt auf die weiteren Entwicklungen! Bogdan KW: Ich sehe vor allem unsere Rolle in der Stadt Wien und Umgebung – in Richtung der Stadtgesellschaft, die Roščić uns in ein paar Jahren hoffentlich neu wahrnimmt und Möglichkeiten sieht, etwas aus ihrer Lebensrealität auf unser Haus zu projizieren und uns als Resonanzraum zu erkennen. Dabei sehe ich uns im Austausch mit un- Bogdan Roščić wurde in Belgrad geboren, seren Partnern in der Stadt, mit denen wir gemeinsam seine Familie emigrierte 1974 nach Österreich. das Kulturangebot hier vor Ort gestalten. Neben ganz Roščić studierte in Wien Philosophie und pragmatischen Fragen, wie der Vermeidung von Redun- Musikwissenschaft. Seine ersten beruflichen danzen und Dopplungen, gilt es dabei, unsere Identität Schritte machte er in den österreichischen als Staatsoper im Bereich Vermittlung & Outreach noch Medien, zunächst als Journalist bei den Tages- auszuprägen und mit Sinn zu erfüllen. zeitungen Die Presse und Kurier, danach beim Hörfunk des ORF, wo er zuletzt Senderchef des BR: Würde ich überblicken können, wo wir anfangen, wo Programms Ö3 war. 2001 wechselte Roščić in wir stehen bleiben, wo wir irgendwann ankommen und die Musikindustrie. Nach ersten Jahren als wie wir dann aussehen, wäre ich ein unfassbares Genie Geschäftsführer von Universal Music Austria der Weiterentwicklung abendländischer Kultur und man war er künstlerischer Leiter der Deutschen müsste mich zum gesamteuropäischen Kulturminister Grammophon Gesellschaft in Hamburg und machen. Weder präsentiere ich das, noch halte ich das für Direktor von Decca Records in London. Die letzten möglich. Für mich das Wichtigste ist, dass dieses Haus zehn Jahre leitete er von New York und Berlin eine kredible Reise antritt. Und mit kredibel meine ich aus die weltweiten Aktivitäten von Sony nicht: „Check this box, check that box. Zeitgenössisches Classical. In diesen Positionen war Roščić Auftragswerk – check. Outreach-Programme in den übel- einerseits verantwortlich für die traditionsreichen sten Vierteln Wiens – check, check, check. Freundliche, Kataloge der verschiedenen Labels, vor allem engagierte neue Kollegin wie Krysztina Winkel – check.“ aber für neue Signings und die Aufnahme-Projekte Ich will kein Feigenblattprogramm. Wir sollten uns daran einer Reihe wichtiger internationaler Künstler, messen lassen, ob in ein paar Jahren Dinge Selbstver- darunter Claudio Abbado, Cecilia Bartoli, ständlichkeit erlangt haben, die jetzt nicht so selbstver- Pierre Boulez und Elīna Garanča. ständlich sind. Und das kann für mich nur bedeuten, dass wir neue Publika erreicht haben werden. Ob das jetzt ein Kind aus dem zehnten Wiener Gemeindebezirk oder ein super verdienender 35-jähriger Rechtsanwalt ist, der bisher nur ins Burgtheater und ins Theater an der Wien geht, weil er sagt: „Was soll ich mit den spießigen Zeug 16
Bauern Hof Oper – ein regionalpolitischer Bauernhofkrimi der Community Oper Freiburg. Auf neuen Die Anfänge und Wurzeln der Community Oper Freiburg e.V. liegen in Projekten des Stadttheaters Freiburg während der Intendanzzeit von Barbara Mundel. In Wegen dieser Zeit gründete die damalige Musikvermittlerin Thalia Kellmeyer am Theater das HEIM UND FLUCHT ORCHESTER, welches junge Musiker:innen aus ver- schiedenen Kulturkreisen zusammenbringt und in ge- Community Oper meinschaftlich kreativen Prozessen einen ganz eigenen Musikstil entwickelt. Unter ihrer Leitung folgten am Freiburg Theater Freiburg partizipative Musiktheaterproduk- tionen und musikalische Interventionen wie Die gute Stadt, eine Stadtoper von Sinem Altan und Tina Müller, welche im Jahr 2015 unmittelbar auf die damalige Flucht- und Migrationssituation reagierte, die Lebens- bedingungen der Geflüchteten thematisierte und damit Eine ratternde, knatternde und quietschende Straßen- in den Mittelpunkt rückte. Das Stadttheater räumte da- bahn, wiederkäuende Kühe und brummende Traktoren, mals Platz und Ressourcen auf der großen Opernbühne ein Parkplatz, (Opern)sänger:innen, eine Band, zufällig für ein partizipatives Musiktheater ein, welches sich ex- kreierte Geräuschkulissen, Schauspiel, Kostüme und plizit mit aktuellen gesellschaftlichen Themen der Stadt noch vieles mehr! Die Community Oper Freiburg e.V. und ihrer Gesellschaftsstruktur auseinandersetzte – ein sprengt die Mauern eines gefestigten und musealen Verdienst der engen Zusammenarbeit von Musikver- Musiktheaterverständnisses. Laienakteur:innen und mittlung und Intendanz am Theater Freiburg. professionelle Künstler:innen initiieren gemeinsam ein bürgernahes Musiktheater, welches ungewöhnliche und Wer die Strukturen und das Anstellungssystem an deut- alltägliche Orte zur Bühne macht sowie gesellschafts- schen Theatern allerdings kennt, weiß, dass Wechsel nahe Themen und das Leben der Menschen in der Stadt von Intendanzen und künstlerischen Belegschaften in Freiburg ins Zentrum rückt. Bisher sind Inhalt, Konzept, dieser Berufssparte gang und gäbe sind. Dies mag aus Struktur und Geschichte des Vereins Community Oper der Sicht künstlerischer Erneuerung durchaus sinnvoll Freiburg in der Musiktheaterlandschaft einzigartig. sein, eine neu entstandene Laien-Community ist jedoch 17
angewiesen auf nachhaltige Formate und Strukturen, voranzutreiben und glaubhaft an den Schnittstellen die über Intendanzwechsel hinaus Bestand haben. Allzu zwischen Hoch- und Breitenkultur wie auch kultureller oft fallen dem „Leitungskarussell“ an (Stadt-)Theatern Bildung zu agieren. Heute ist die Community Oper Frei- und den damit einhergehenden Umbesetzungen in den burg e.V. eine durch die Stadt institutionell geförderte Vermittlungsabteilungen genau solche gewachsenen Initiative, die über eigene Räumlichkeiten verfügt und Verbindungen, Netzwerke und künstlerischen Ideen mit regelmäßigen Musiktheaterproduktionen und In- zum Opfer. Nicht jedoch in Freiburg! Nachdem Inten- terventionen zum kulturellen Leben und zur kulturellen dantin Barbara Mundel das Stadttheater 2017 verließ, Teilhabe in Freiburg entscheidend beiträgt. blieb die partizipative und gesellschaftsnahe künstleri- sche Arbeit Teil des Programms. Zeitgleich trat ein neuer Wie aber ist es der Community Oper Freiburg gelungen, Player in der Kulturszene der Stadt auf den Plan: Die sich mit diesem Konzept in der kurzen Zeit seit ihrer Community Oper Freiburg präsentierte sich unter der Gründung erfolgreich zu etablieren? Hierbei wirken Leitung von Thalia Kellmeyer als selbstständiger Verein, unterschiedliche Aspekte zusammen, etwa die innova- der seither eigene teilhabe- und prozessorientierte Pro- tive und vorausschauende Künstlerische Leitung von jekte durchführte. Thalia Kellmeyer, das begeisterte Engagement des künstlerischen Teams sowie vieler ehrenamtlicher Das Besondere an der Gründung des Vereins Community Teilnehmer:innen – aber auch der Wille einer Stadt, ein Oper Freiburg war, dass daran eben nicht nur etablierte solches Vorhaben finanziell und nachhaltig zu unter- Akteur:innen aus Kunst und Kultur beteiligt waren, son- stützen. Zusammenfinden konnten diese Interessen in dern ganz maßgeblich auch engagierte Amateur:innen der offenen und teilhabeorientierten Struktur des Ver- und Laien. Diese Kollaboration macht die Community eins. Eine Struktur, die den Diskurs zwischen professio- Oper aus: Zwar obliegt die künstlerische Gesamtleitung nellen Musiktheatermacher:innen und Amateur:innen der Initiatorin Thalia Kellmeyer und auch die Einstudie- etabliert, die Brücken baut und neue ästhetische For- rungen und ein Teil der Orchester- und Gesangspartien men und Formate entwickelt und die zielgruppenorien- werden von professionellen Bühnenkünstler:innen, tierte, inklusive und integrative Arbeit nicht nur zulässt, Dramaturg:innen und Musikpädagog:innen übernom- sondern lebt und als gewinnbringend für die Kunst und men. Die Basis bilden jedoch ehrenamtliche Akteur:innen den sozialen Zusammenhalt versteht. Entscheidend als Ensemble aus Sänger:innen und Schauspieler:innen. ist dabei sicherlich auch das Verständnis von Kunst, Vor allem aber sind sie in grundlegende künstlerische, welches die Gesellschaft als Ort und mit ihren Themen strukturelle und konzeptionelle Prozesse involviert und aufsucht und aktiv zur Kommunikation einlädt. Durch tragen als Vorstand einen Großteil der Verantwortung. die Bereitschaft aller Beteiligten, Bildungsprivilegien Partizipation, Teilhabe und Empowerment sind somit und Bildungshierarchien aufzuheben, entstehen neue fundamentales Selbstverständnis und Praxis des Vereins. Räume für gemeinschaftliches Erleben und Erfahren Mit dieser Struktur gelingt es der Community Oper auf Augenhöhe. Nur auf diese Weise ist es möglich, Freiburg, den Austausch zwischen professionellen etablierte – vielleicht manchmal museale – Strukturen, Kulturakteur:innen und Menschen der Gesellschaft Programme und Bildungsideale hinter sich zu lassen 18
zugunsten eines hybriden, dynamischen und flexiblen sind noch Schätze für große Opernbühnen wie freie Musiktheaters, das neue Anschlüsse in die Gesellschaft Musiktheaterinitiativen zu heben. Die Community Oper herzustellen vermag. Freiburg e.V. geht auf diesem Weg voraus, als Beispiel für ein bürgernahes, erweitertes, sinnstiftendes und ge- Der deutschsprachige Raum verfügt über eine einzig- winnbringendes Musiktheater und es lohnt sich, einen artige Musiktheaterlandschaft, die in der Vergangenheit genaueren Blick darauf zu werfen. nie wirklich in Frage gestellt wurde. In den letzten Jahren wird jedoch spürbar, dass dies für die kommenden Jahr- Weitere Informationen zur Community Oper Freiburg zehnte nicht selbstverständlich sein muss. Schon vor e.V. und zum Team unter new.community-oper.de der Corona-Pandemie zeigten sich Tendenzen, diesen Apparat einzukürzen – Einsparungen, Häuserschließun- gen und Fusionen waren Reaktionen auf enge Haushalts- lagen bei verändertem Publikumszuspruch. In der nähe- ren Zukunft ist zu erwarten, dass sich diese Lage weiter verschärft und dem Musiktheater stärker als bisher ab- verlangen wird, seine Relevanz zu erklären. Verschiedene Zielgruppen bei der Programmierung zu berücksichtigen oder sogar einzubeziehen ist ein zentraler Aspekt in Johannes Gaudet diesem Prozess. Dann sind Musikvermittler:innen oder Community Musicians nicht mehr nur in eine Richtung agierende Wissensvermittler:innen eines etablierten Musiktheaterkanons, sondern wirkliche Vermittler:innen zwischen Gesellschaft, Kunst und Kulturbetrieb. Johannes Gaudet absolvierte eine künstlerische Ein solchermaßen teilhabe- und prozessorientiertes Ausbildung und ein instrumentalpädagogisches Musiktheater birgt für alle Beteiligten neue und unge- Studium mit Hauptfach Schlagzeug an der wohnte Herausforderungen. Alle Akteur:innen bewe- Musikhochschule Freiburg bei Bernhard Wulff. gen sich an der Schnittstelle zwischen der Entwicklung Anschließend studierte er Schulmusik und Deutsch eines qualitativ ansprechenden ästhetischen Produkts, an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Nach das einem Publikum präsentiert werden kann, und dem dem Studium arbeitete er in musikvermittlerischen teilhabeorientierten Prozess, der alle Teilnehmenden und dramaturgischen Funktionen, als Schlagzeuger, zu jedem Zeitpunkt miteinzubeziehen versucht. Um in Instrumentaldarsteller, musikalischer Leiter und diesem Spagat nicht Schiffbruch zu erleiden, bedarf es Regisseur u.a. für das Nationaltheater Mannheim, der klaren Verständigung von Teilnehmenden und Lei- das Staatstheater Mainz, die Oper und das tenden darüber, wie professionelle Musiker:innen und Kinder- und Jugendtheater Dortmund, die Schauburg Schauspieler:innen gemeinsam mit Amateur:innen im München und das Stadttheater Freiburg. Gesamtprozess zusammenwirken sollen und können. Zudem arbeitete er als Referent für verschiedene Rezeptionsgewohnheiten und Erwartungen sowohl internationale Symposien, Kongresse und Festivals, des Publikums als auch der Akteur:innen sind zu re- wie das europäische Musiktheaterfestival Happy flektieren: Erwartet man im klassischen Musiktheater New Ears und den Weltkongress des Kinder- Makellosigkeit und Virtuosität bei Sänger:innen und und Jugendtheaters in Kapstadt. Derzeit ist er als Instrumentalist:innen, zeigt ein Laienensemble ganz an- Dozent für musikalische Jugendbildung an der dere Stärken. Es gilt Formen zu finden, die für beides Bundesakademie Trossingen tätig. einen gleichwertigen Raum schaffen – für den Weg dahin müssen Kommunikationswege, Probenprozesse und -routinen erfunden werden, die alle Bedarfe zufrie- denstellend erfüllen und allen Beteiligten ausreichend Orientierung geben. Das teilhabeorientierte Musiktheater ist ein Projekt mit Zukunft und birgt für die gesamte Gesellschaft noch viele spannende Entdeckungen und Begegnungen. Hier 19
Best of Magazin #8 Community! Seit Menschengedenken hat Musik die Funktion, Gemeinschaften zusammenzubringen und das Ver- bindende zwischen Individuen spürbar zu machen. In der westlichen Kunstmusik ist uns dieses Wissen ein ganzes Stück verloren gegangen, wiewohl Konzert- besucher:innen sich durchaus im Klang vereint fühlen und ein Gefühl von Miteinander im gemeinsamen Er- Mit Musik lebnis der Musik beschreiben. Welche Bedeutung die verbindende Kraft der Musik spielen kann, wird beson- Gemeinschaft ders drastisch erlebbar, wenn man sich in Regionen begibt, die von Krieg und Zerstörung geprägt sind – in denen das Vertrauen in die Gemeinschaft zutiefst ver- stiften letzt wurde und Menschen nur schwer wieder zueinan- der finden. Die internationale Organisation Musicians Die unerwarteten Without Borders (MWB) arbeitet in solchen traumati- sierten Gesellschaften. Juan David Garzon ist als Com- munity Musician für MWB in Krisengebieten aktiv. In Orte, an die uns die seinem Bericht erzählt er von diesem Engagement und von dem starken und gemeinschaftsstiftenden Poten- verbindende Kraft tial der Musik, das wir uns angesichts zunehmender gesellschaftlicher Spaltungstendenzen wieder mehr bewusst machen sollten. der Musik Musik ist eine universelle Sprache, sie hat die Kraft, Menschen zusammenzubringen und soziale Barrieren führen kann zu überwinden. Diese Vorstellung ist für die meisten von uns ein vertrautes Bild. Doch erst wenn sie sich in wirklichen Situationen zeigt, wird dieses riesige Poten- zial spürbar. Eine solche Erfahrung war der Auslöser für die Gründung von Musicians Without Borders: 1999 veranstalteten Laura Hassler, die spätere Gründerin der Initiative, und Otto de Jong, eines der ersten Mitglieder der Organisation und heutiger Leiter der Abteilung für Ausbildungsentwicklung, ein Konzert in einem Zent- rum für Geflüchtete in den Niederlanden, in dem viele 20
Asylbewerber:innen aus dem Balkan angekommen wa- Damit diese Prozesse gelingen können, müssen aus ren. Ein Chor sang für die Neuankömmlinge Lieder aus Sicht von MWB im Umfeld der musikalischen Inter- dem Balkan. Während der ersten zwei Lieder herrschte vention bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Fünf völlige Stille und die Chormitglieder befürchteten schon, Elemente bilden die Leitprinzipien der MWB-Methode sie würden etwas falsch machen. Doch im weiteren „Music Leadership“, die in die Praxis der musikalischen Verlauf des Konzerts begann sich das Publikum all- Community Arbeit mündet: Sicherheit, Inklusion, Gleich- mählich zu beteiligen. Schließlich sangen alle mit, was heit, Kreativität und Qualität. Im Rahmen von Projekten diesen Auftritt zu einem sehr emotionalen Moment für und Trainingsprogrammen bildet MBW Menschen da- alle machte. Das Gefühl, in diesem Moment etwas Be- für aus, in Krisengebieten mit musikalischer Arbeit zur sonderes erreicht zu haben, war für Laura und Otto die Schaffung und Gestaltung von Gemeinschaften beizu- Motivation, die verbindende Kraft der Musik weiter zu tragen. erforschen. Mit dem Programm „Welcome Notes Europe“ reagiert Ein halbes Jahr später initiierte Laura daher ein neues MWB auf die Ankunft von Menschen, die seit 2015 vor Projekt: Ihr Ziel war dieses Mal der Kosovo, eine Region Krieg, Armut und Klimawandel nach Europa fliehen. Im die gerade erst das Ende des Balkan-Krieges erlebt hat- Rahmen dessen wurde in Deutschland in Zusammenar- te und von dessen Folgen noch immer schwer betroffen beit mit der Landesmusikakademie NRW das Programm war. In diese Gemeinschaft wollte sie die Musik zurück- „Community Music / Mit Musik Gemeinschaft erleben“ bringen, um einen neuen „Ort“ der Begegnung zu schaf- entwickelt. Das Training richtet sich an Musiker:innen, fen und neue Verbindungen zwischen den Menschen Musikpädagog:innen und Workshopleiter:innen, die an zu stiften. Während ihres Aufenthalts stellte Otto eine der Arbeit mit Menschen mit Fluchterfahrungen und Gruppe von Kindern zusammen, mit denen er bei einer Migrant:innen interessiert sind. Es hat eine große Wir- von der UNO im Rahmen des Friedensprozesses or- kung auf hunderte von sozial engagierten Musiker:innen, ganisierten Dialogveranstaltung unter Beteiligung von die sich durch die erlangte methodische Grundlage da- Angehörigen der Konfliktparteien auftreten sollte. Otto rin unterstützt fühlen, Neuankömmlinge durch musika- hatte Angst, sich mit Kindern, die er kaum kannte, durch lische Intervention willkommen zu heißen und zu ihrer eine ihm ebenso wenig bekannte Stadt zu bewegen. Integration beizutragen. Nicht zuletzt bewirkt das Pro- Auch für die Kinder war die Situation einschüchternd. gramm auch eine tiefgreifende Veränderung bei den Schließlich nahm er sie an die Hand und ging singend Teilnehmenden selbst. Sie sind Teil einer Gemeinschaft mit ihnen durch die Straßen. Die Musik brachte allen geworden und haben ein Unterstützungssystem ge- um sie herum ein Lächeln und Trost. Ein weiteres Mal bildet, in dem sie sich gegenseitig helfen und ein Netz entfaltete sich die einzigartige Fähigkeit der Musik, gab der Sicherheit bieten. Und sie entwickeln diese Gemein- den Kindern in einer Situation der Unsicherheit Mut und schaft weiter, zum Beispiel durch die Organisation von ermöglichte ihnen, sich im gemeinsamen musikalischen Almuni-Treffen, um Gefühle und Erlebnisse miteinander Tun mit Zuversicht auf das Unerwartete einzulassen. zu teilen und das, was sie verbindet, lebendig zu halten. Solche Erfahrungen legten den Grundstein für eine Be- Auch „Soy Música“ in El Salvador fußt auf den Leitprin- wegung von Musiker:innen, die lernen sollten, mit Musik zipien der Music Leadership-Methode. In Zusammenar- Räume zu gestalten und Wege zu öffnen, damit Men- beit mit dem Bildungsministerium von El Salvador und schen zueinander finden und sich miteinander verbin- UNICEF ist das Projekt Teil eines nationalen Programms den können. Seither konnte MWB immer wieder zeigen zur Verbesserung der friedensfördernden Fähigkeiten und selbst erleben, dass Musik der menschlichen Natur von Lehrenden. Nach drei Jahren Ausbildung im Rah- innewohnt und für die soziale Bindung grundlegende Ef- men von „Soy Música“ mit fast 100 Kunstlehrer:innen fekte hat. Soziales Musizieren, wie es die Musiker:innen an Grundschulen entstand eine nationale Bewegung, der Bewegung praktizieren, hat das Potenzial, die Angst die als friedensfördernde Initiative nicht nur Kinder in zu überwinden, welche nach einer gesellschaftlichen öffentlichen Schulen im ganzen Land anspricht, sondern Krise die Menschen davon abhält, wieder zueinander in ein Kollektiv von Changemakern herausbildet und em- Verbindung zu treten. Musik kann positiv zur Gestaltung powert. Die Auszubildenden entwickelten im Rahmen von Gemeinschaften beitragen, indem sie Menschen des Programms neue Hoffnung für die nächste Gene- befähigt, aus dem Kreislauf des Krieges auszubrechen ration. Sie erkannten sich selbst als Kraftzentren der und für ein friedliches Miteinander neue Rollen und Ver- Veränderung, die mit künstlerischen Mitteln zur Über- haltensmuster (wieder) zu finden. windung der schweren Folgen der Gewalt nach dem 21
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