"Building for Peace": Friedensfördernder Wiederaufbau in der MENA-Region - Erfahrungen und Empfehlungen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit - GIZ

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"Building for Peace": Friedensfördernder Wiederaufbau in der MENA-Region - Erfahrungen und Empfehlungen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit - GIZ
„Building for Peace“: Friedensfördernder
 Wiederaufbau in der MENA-Region

Erfahrungen und Empfehlungen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit

Herausgegeben von:                 In Kooperation mit:
INHALT
       Einordnung und Danksagung

       Abkürzungsverzeichnis

       VORWORT
       KERNBOTSCHAFTEN

S. 8   ZIEL, RELEVANZ
       UND DEFINITION
       1. Ziel der Publikation
       2. Geographischer Fokus und Relevanz von
          Friedensförderndem Wiederaufbau im Kontext von „BMZ 2030“

       3. Definition von Friedensförderndem Wiederaufbau und
          Einordnung im HDP Nexus

S.11   ERFAHRUNGEN
       UND PRINZIPIEN
       1. Wiederaufbau als Transformationsprozess

       2. Menschen im Mittelpunkt

       3. Politische Ökonomie des Wiederaufbaus

       4. Institutionenaufbau statt Parallelstrukturen

       5. Klimasensible Gestaltung von Wiederaufbau

       6. Gebergemeinsames und risikoinformiertes Handeln
S. 19   ZENTRALE
        HANDLUNGSFELDER
        1. Verbesserung von Staat-Gesellschaft-Beziehungen:
           verlässliche Leistungserbringung, Vertrauen und Transparenz
        2. Befähigung zur Zukunftsgestaltung: Bildung, Lebensunterhalt und
           Handlungsfähigkeit im Krisenkontext
        3. Inklusives Sozialgefüge: Förderung von Dialog, gesellschaftlicher
           Teilhabe und sozialer Kohäsion
        4. Städtischer Wiederaufbau: Raum für Begegnung,
           Erinnerung und Neuanfang

S. 24   ANREGUNGEN ZUR WEITER-
        ENTWICKLUNG DES ANSATZES

S. 27   AUSBLICK UND
        NÄCHSTE SCHRITTE

        ANLAGEN
EINORDNUNG UND
DANKSAGUNG
Diese Publikation entstand im Rahmen einer Kooperation              Wir möchten zudem den vielen an der Erstellung des Be-
zwischen der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zu-          richts Beteiligten beim BMZ, bei der GIZ und bei der KfW-
sammenarbeit (GIZ) GmbH und der KfW-Entwicklungsbank                Entwicklungsbank für die gute Zusammenarbeit, den offenen
und wurde vom Regionalbereich Naher Osten (Referate 300             Austausch, kritische Gedanken und Anregungen sehr herz-
und 301) des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zu-             lich danken. Ein besonderer Dank geht an Florian Lewerenz
sammenarbeit und Entwicklung (BMZ) beauftragt.                      beim BMZ, Julie Brethfeld und Dr. Léonie Wagner-Purpura
                                                                    bei der KfW-Entwicklungsbank sowie an Lena Droessler
Sie nutzt die Ergebnisse eines breiten Konsultationsprozesses       und Susanne Jaworski bei der GIZ. Wir danken zudem dem
mit Akteur*innen der deutschen staatlichen und zivilgesell-         Moderationsteam der Werkstatt-Serie, Dr. Nikolaus Schall
schaftlichen Entwicklungszusammenarbeit, von Think Tanks            und Dr. Ulrike Hopp Nishanka. Sie ist auch die Hauptver-
und der Wissenschaft im Rahmen von fünf Werkstattge-                fasserin dieses Berichts (zum Zeitraum der Publikation vom
sprächen im Frühjahr 2021. Die Teilnehmer*innen haben ihre          BMZ beurlaubt).
konzeptionellen Fähigkeiten und wertvolles Erfahrungswissen
in den gemeinsamen Such- und Austauschprozess in profes-            Einige Zitate aus den Werkstattgesprächen sind im Folgen-
sioneller Weise eingebracht. So ist es gelungen, die vorhan-        den in Sprechblasen dargestellt und geben Einblicke
denen Entwicklungstrends in ihrer Tiefe und Breite näher zu         in die jeweiligen Diskurse. Da die Werkstattgespräche unter
beschreiben und gleichzeitig neue Pfade aufzuzeigen für den         Chatham-House-Regeln durchgeführt wurden, sind die
so wichtigen Prozess des Friedenfördernden Wiederaufbaus.           Zitate anonym.
Auch die kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der
deutschen EZ in diesen eigentlich autogenen Prozessen ist
notwendigerweise in den Fokus gerückt und mit aller Offen-
heit diskutiert worden. Nur so konnten wir das Kaleidoskop
der Instrumente und Methoden einem kritischen Diskurs
unterziehen, die Betrachtungslinsen sowohl für den Nahbe-
reich als auch für das breitere Umfeld weiter schärfen und
Empfehlungen für den weiteren, schwierigen Weg erarbeiten.            Dr. Matthias Bartels
Dafür möchten wir ihnen an dieser Stelle herzlich danken.             GIZ Programmleiter Strategieberatung MENA

                                                                4
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
B4P              Building for Peace

BMZ              Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

EU               Europäische Union

EZ               Entwicklungszusammenarbeit

GIZ              Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit

HDP Nexus        Humanitarian-Development-Peace Nexus

HLP              Housing, Land and Property (Wohnraum, Land und Eigentum)

IOM              International Organization for Migration (Internationale Organisation für Migration)

KfW              Kreditanstalt für Wiederaufbau

KMU              Kleine und mittelständische Unternehmen

LSBTI-Menschen   Lesbische, schwule, bi-, trans- und intersexuelle Menschen

MDTF             Multi Donor Trust Fund

MEL              Monitoring, Evaluierung und Lernen

MENA             Middle East and North Africa (Nahost und Nordafrika)

MHPSS            Mental Health and Psychosocial Support
                 (Psychische Gesundheit und psychosoziale Unterstützung)

NRO              Nichtregierungsorganisation

PEA              Political Economy Analysis (Politökonomische Analyse)

UNESCWA          United Nations Economic and Social Commission for West Asia
                 (Wirtschafts- und Sozialkommission für Westasien der Vereinten Nationen)

UNOPS            United Nations Office for Project Services
                 (Büro für Projektdienste der Vereinten Nationen)

VN               Vereinte Nationen

                                                         5
VORWORT
Liebe Leser*innen,                                                  breiten Spektrums an staatlichen sowie nicht-staatlichen,
Die Region des Nahen Ostens und Nordafrikas (MENA) ist              vorwiegend deutschen Organisationen teilgenommen haben.
seit dem Arabischen Frühling vor zehn Jahren in besonderer          Zudem flossen die Ergebnisse diverser Veranstaltungen in
Weise von Bürgerkriegen, Krisen und politischen Umbrüchen           diesen Bericht ein, bei denen der B4P-Ansatz mit deutschen
gekennzeichnet. Die Menschen im Irak, in Jemen, Libyen und          Organisationen diskutiert wurde (siehe Anlage 2).
Syrien haben in extremem Maße Zerstörung, Vertreibung,
Verfolgung und Gewalt erlitten, allein im Syrien-Konflikt           Dieser Bericht soll dazu beitragen, dass die deutsche EZ
starben bislang etwa 600.000 Menschen. Die sozialen und             inklusive ihrer Durchführungsorganisationen und zivilge-
ökonomischen Verluste haben weitreichende Auswirkungen              sellschaftlichen Partner*innen ein gemeinsames Verständ-
auf die regionale und internationale Ordnung, auf Sicherheit,       nis von Friedensförderndem Wiederaufbau entwickelt und
Entwicklung und Frieden.                                            dieses im Rahmen ihrer verschiedenen Instrumente um-
                                                                    setzt. Als Basis hierfür dienen Erfahrungen guter Praxis,
Deutschland trägt als einer der größten bilateralen Geber in        die weiterverbreitet werden sollen. Zugleich sollen neue
der Region und im Rahmen europäischer und multilateraler            Impulse und Verbesserungsvorschläge die EZ noch besser
Programme auf vielfache Weise zur Eindämmung und Bewäl-             auf aktuelle Herausforderungen und zukünftige Wieder-
tigung der dortigen Krisen bei. Die Bundesregierung                 aufbauprozesse vorbereiten. Das neue Verständnis soll die
                                                                    bilaterale Zusammenarbeit sowie die deutschen Beiträge zu
  • unterstützt die hochrangigen, politischen Verhandlungs-         europäischen und multilateralen Anstrengungen prägen und
  prozesse und die Vermittlungsbemühungen der Vereinten             auch Anregungen für die Partner*innen in der internationa-
  Nationen sowie das Engagement lokaler Friedensak-                 len Gebergemeinschaft geben.
  teur*innen,
  • hilft Menschen, ihre Not zu lindern, Trauma und Leid zu         Der Bericht spiegelt nicht nur den aktuellen Stand der Er-
  bewältigen und unterstützt sie bei der Schaffung neuer            kenntnisse der deutschen EZ wider, sondern soll als Einla-
  Perspektiven sowie bei ihren Bemühungen um Frieden und            dung zum Dialog über die Herausforderungen und Potenziale
  • stärkt die Widerstandskräfte von Menschen, staatlichen          von Friedensförderndem Wiederaufbau verstanden werden.
  und gesellschaftlichen Strukturen in den langanhaltenden          Die begonnenen Reflexionen wollen wir fortführen – darin
  Krisen und fördert ihre Eigeninitiative und Kreativität bei       bestätigt uns der Zuspruch der Akteur*innen, die an den bis-
  der Rückkehr nach Vertreibung, der Rehabilitierung von            herigen Gesprächen teilnahmen. Für ihr Engagement und ihre
  zerstörter Infrastruktur, der Schaffung von Einkommens-           Beiträge sind wir sehr dankbar.
  möglichkeiten und neuen Entwicklungschancen.

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (BMZ) will den (zukünftigen) Wiederauf-
bau in der MENA-Region effektiver auf Friedensförderung
ausrichten, wertet hierfür frühere Erfahrungen aus und ent-
wickelt Anregungen für ein anderes Vorgehen. Dafür ging es          Volker J. Oel
2018 eine strategische Kooperation mit der Weltbank ein. Im         Beauftragter für Nahost / MENA;
April 2020 erschien die Weltbank-Studie „Building for Peace         Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
– Reconstruction for Security, Equity, and Sustainable Peace        und Entwicklung
in MENA” (B4P), die in enger Kooperation mit der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit im Rahmen gemeinsamer
Workshops und engem fachlichen Austausch entstanden ist.

Mit diesem Bericht ergänzt das BMZ die Weltbank-Studie um
deutsche Erfahrungen und Empfehlungen. Der Bericht basiert
auf einer Serie von Werkstattgesprächen im Februar/
März 2021, die die Deutsche Gesellschaft für Internationale

Zusammenarbeit (GIZ) GmbH im Auftrag des BMZ durchge-
führt hat und an denen etwa 250 Vertreter*innen eines

                                                                6
KERNBOTSCHAFTEN
Die Kernbotschaften dieser Publikation basieren auf Erfah-                      6. Die EZ kann die Voraussetzungen für faire, inklusive und
rungen mit der Unterstützung von Wiederaufbau in verschie-                      ausgewogene Aushandlungsprozesse für neue Gesellschafts-
denen regionalen Kontexten.1                                                    verträge verbessern und durch die Finanzierung von Wie-
                                                                                deraufbaumaßnahmen Anreize für Transformation schaffen.
1. Friedensfördernder Wiederaufbau im Kontext von Krisen                        Dabei muss sie im Rahmen kontinuierlicher Konflikt- und
und Gewaltkonflikten verbindet die Wiederherstellung von                        Kontextanalysen die politische Ökonomie des Wiederaufbaus
zerstörter Infrastruktur mit sozialem, ökonomischem und                         analysieren, Machtmissbrauch und Korruption verhindern und
gesellschaftlichem Wiederaufbau, um friedensfördernde                           die eigene Rolle als Geber und als Teil des Systems verste-
Wirkungen zu erzielen.                                                          hen und handlungsleitend nutzen.

2. Der Wiederaufbau soll ausdrücklich nicht den vorherigen                      7. Friedensfördernder Wiederaufbau ist in der Regel multi-
Zustand wiederherstellen und damit die alten Machtgefüge                        sektoral angelegt und beinhaltet vier zentrale, eng mitein-
und gesellschaftlichen Strukturen reproduzieren. Daher passt                    ander verwobene Handlungsfelder:
der Begriff „Wiederaufbau“ nur bedingt.                                            1. Verbesserung von Staat-Gesellschaft-Beziehungen: ver-
                                                                                   lässliche Leistungserbringung, Vertrauen und Transparenz,
3. Nur eine langfristige Transformation der Gesellschafts-                         2. Befähigung zur Zukunftsgestaltung: Bildung, Lebens-
verträge in den betroffenen Kontexten kann zu nachhaltigem                         unterhalt und Handlungsfähigkeit im Krisenkontext,
Frieden und zu nachhaltiger Entwicklung führen. In diesem                          3. Inklusives Sozialgefüge: Förderung von Dialog, gesell-
Sinn kann der Wiederaufbau friedensfördernd wirken. Er ist                         schaftlicher Teilhabe und sozialer Kohäsion,
so Teil eines umfassenden Transformationsprozesses, zu                             4. Städtischer Wiederaufbau: Raum für Begegnung, Erinne-
dem unter anderem auch Reformen der Wirtschaft und die                             rung und Neuanfang.
Förderung von Rechtsstaatlichkeit beitragen.
                                                                                8. Es ist von zentraler Bedeutung, dass der Wiederaufbau
4. Friedensfördernder Wiederaufbau ist wertebasiert und                         frühzeitig beginnt und langfristig andauert. Die EZ sollte
trägt zur Erreichung der 17 Ziele für nachhaltige Entwick-                      lokale Kapazitäten und Ressourcen für Wiederaufbau und
lung der Vereinten Nationen (VN), insbesondere des Ziels                        Zukunftsgestaltung früh – auch während der Krise – stär-
16 (Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen) bei.                       ken und sie beim Wiederaufbau nutzen. Im Sinne des Nexus
Die Stärkung der Menschenrechte, der Abbau von Diskri-                          von humanitärer Hilfe, EZ und Friedensförderung (Humani-
minierungen und Ungleichheit, die Gleichberechtigung der                        tarian-Development-Peace Nexus, HDP Nexus) sollte eine
Geschlechter sowie der Erhalt der natürlichen Lebensgrund-                      nachhaltige Perspektive basierend auf einer inklusiven
lagen und der Klimaschutz müssen im Zentrum von Frie-                           Entwicklungs- und Friedensvision bereits bei allen kurz-,
densförderndem Wiederaufbau stehen.                                             mittel- und langfristigen Maßnahmen angelegt werden.

5. Oft bedingen die durch Krisen und Gewaltkonflikte ver-                       9. Das Wichtigste zuletzt: Die Menschen vor Ort stehen im
änderten gesellschaftlichen (Macht-)Verhältnisse und neue                       Zentrum des Friedensfördernden Wiederaufbaus. Dieser ist ein
demografische Herausforderungen wie Flucht und Vertrei-                         endogener Prozess, den externe Akteur*innen nur unterstützen
bung den notwendigen Wandel. Zugleich stehen ihm häufig                         können. Die EZ erkennt ihre begrenzten Einflussmöglichkei-
die Interessen von politischen und wirtschaftlichen Eliten –                    ten an. Gleichwohl bietet sie den vulnerablen Ländern eine
oder auch von externen Einflusskräften – entgegen, die von                      Partnerschaft in einer sehr kritischen Phase an, die durch
der gegenwärtigen Situation profitieren.                                        Verständnis, Zusammenarbeit auf Augenhöhe, Flexibilität und
                                                                                gemeinsames Lernen einen großen Nutzen entfalten kann.

1 I Diese Erfahrungen bilden zusammen mit dem Weltbank-Bericht „Building for Peace: Reconstruction for Security, Sustainable Peace and Equity in the Middle
    East and North Africa“ die konzeptionelle Grundlage für Friedensfördernden Wiederaufbau. Zudem wurden die Ergebnisse eines Meta-Reviews von Evalu-
    ierungen des internationalen Engagements in Afghanistan, den das BMZ im Frühjahr 2020 vorgestellt hat, berücksichtigt. Außerdem greift die Publikation
    Empfehlungen der internationalen Konferenz „Anti-Corruption in Fragile States“ im November 2019 auf.

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ZIEL
                                                                                RELEVANZ
                                                                                UND
                                                                                DEFINITION

1. Ziel der Publikation                                                         europäischen und multilateralen Beiträgen. Das Konzept
Dieser Bericht zeigt auf, wie EZ zu Friedensförderndem Wie-                       • ist für alle Instrumente inklusive der Kriseninstrumente
deraufbau beitragen kann. Er gibt zahlreiche Denkanstöße                          des BMZ (vor allem die Sonderinitiative „Fluchtursachen
und Handlungsanregungen und soll als Ausgangspunkt für                            bekämpfen – Flüchtlinge (re)integrieren“ und die Struktur-
weitere Reflexion, gemeinsames Lernen und das Ausleuchten                         bildende Übergangshilfe) und Förderansätze der techni-
von Erkenntnislücken dienen.                                                      schen und finanziellen EZ, anwendbar,
                                                                                  • berücksichtigt die Strategie der Strukturbildenden Über-
Zielgruppe sind in erster Linie die Entscheidungsträger*innen                     gangshilfe mit ihrem Fokus auf Krisenbewältigung und
und Praktiker*innen der deutschen EZ in Wiederaufbau-                             Resilienzstärkung, die Grundsätze der Unterstützung von
kontexten. Das hier vorgestellte Verständnis von Friedens-                        Flüchtlingen, Binnenvertriebenen und Aufnahmegemeinden
förderndem Wiederaufbau soll die strategische Planung                             sowie die Qualitätsmerkmale der deutschen EZ,2
und Ausgestaltung von EZ-Maßnahmen in diesen Kontexten                            • hat besondere Relevanz für das Engagement in Nexus-
prägen. Die Empfehlungen sollen zudem deutschen zivilge-                          und Friedenspartnerländern des BMZ, kann aber auch in
sellschaftlichen EZ-Akteur*innen als Anregungen dienen.                           anderen Partnerschaftskategorien zum Tragen kommen und
Der Bericht bietet auch Orientierung für lokale staatliche                        • kann Orientierung bei der Umsetzung des BMZ-Kern-
und zivilgesellschaftliche Partner*innen beim Wiederaufbau                        themas „Frieden und gesellschaftlicher Zusammenhalt“ im
sowie für regionale und internationale Partnerorganisationen.                     Kontext des entwicklungspolitischen Reformkonzepts
Er soll dabei unterstützten, den Friedensfördernden Wieder-                       „BMZ 2030“ geben.
aufbau zum Gegenstand von politischen Dialogen und kon-
zeptionellen Fachdiskussionen zu machen. Hierfür verbreiten                     Der Bericht fokussiert die vier Krisenkontexte in der unmit-
Vertreter*innen der deutschen EZ dieses Konzept im Sinne                        telbaren europäischen Nachbarschaft im Nahen Osten und
einer Einladung zu weiterem Austausch.                                          in Nordafrika. Während der Wiederaufbau im Irak bereits
                                                                                begonnen hat und Erfahrungen hieraus in das Konzept ein-
Für Think Tanks und die Wissenschaft zeigt dieser Bericht                       fließen konnten, erlaubt die Situation im Jemen, in Libyen
offene Fragen und Forschungsthemen auf. Sie könnten die                         und Syrien dort noch keine konkreten Planungen für einen
weitere Operationalisierung des Konzepts begleiten.                             großflächigen Wiederaufbau auf nationaler Ebene. Gerade
                                                                                deswegen sind die Empfehlungen dieses Berichts für das
2. Geographischer Fokus und Relevanz von                                        Engagement in diesen Ländern relevant: Die EZ sollte lokale
   Friedensförderndem Wiederaufbau im Kontext                                   Kapazitäten für Wiederaufbau und Zukunftsgestaltung früh-
   von „BMZ 2030“                                                               zeitig stärken und die langfristige Perspektive der Zukunfts-
Beim Wiederaufbau soll die deutsche EZ von den in diesem                        und Entwicklungsvisionen muss im Sinne des HDP Nexus in
Bericht vorgestellten Handlungsprinzipien und Anregungen                        alle Maßnahmen zur Krisenbewältigung einfließen. Zudem
geleitet werden – sowohl in ihren bilateralen, staatlichen                      können die Empfehlungen genutzt werden, sobald großflä-
und zivilgesellschaftlichen Programmen als auch in ihren                        chige Wiederaufbauprozesse beginnen.

2 I Der Reformprozess „BMZ 2030“ definiert sechs Qualitätsmerkmale für die deutsche EZ: 1) Menschenrechte, Geschlechtergleichstellung und Inklusion,
    2) Anti-Korruption und Integrität, 3) Armutsbekämpfung und Reduzierung der Ungleichheit, 4) Umwelt- und Klimaverträglichkeitsprüfung,
    5) Konfliktsensibilität und 6) Digitalisierung.

                                                                            8
ZIEL, RELEVANZ UND DEFINITION

Die Anregungen für einen Friedensfördernden Wiederaufbau                       3. Definition von Friedensförderndem Wiederaufbau
sind zudem auch für andere fragile Kontexte wie im Libanon                       und Einordnung im HDP Nexus
und in anderen Weltregionen relevant und können daher über                      Friedensfördernder Wiederaufbau...
die MENA-Region hinaus verbreitet und umgesetzt werden.3                        ... umfasst physischen, sozialen, wirtschaftlichen und ge-
Die Unterstützung für transformativen Wiederaufbau oder                         sellschaftlichen Wiederaufbau. Für den Wiederaufbau ist
Neuaufbau kann nur im Zusammenspiel aller Politikfelder                         die Rehabilitierung zerstörter physischer Infrastruktur und
gelingen. Das BMZ stimmt sich daher eng mit dem Aus-                            die Wiederherstellung von staatlichen Funktionen eine
wärtigen Amt und anderen Ministerien der Bundesregierung                        wichtige Ausgangsbasis. Wiederaufbaumaßnahmen müssen
ab. Die hier vorgestellten Erfahrungen und Empfehlungen                         aber darüber hinausgehen und Maßnahmen zur Förderung
basieren auf den Leitlinien der Bundesregierung „Krisen                         rechenschaftspflichtiger, legitimer Institutionen, einer
verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“, den da-                     fairen, inklusiven Wirtschaftsordnung sowie eines inklusi-
zugehörigen ressortgemeinsamen Strategien4, der Strategie                       ven Sozialgefüges in den Mittelpunkt stellen. Die Förderung
des BMZ „Entwicklung für Frieden und Sicherheit“ sowie                          von konstruktiven Staat-Gesellschaft-Beziehungen ist die
auf dem „Praxisleitfaden für den ressortgemeinsamen An-                         Grundlage allen Handelns (siehe Grafik).
satz“. Sie tragen zudem zur Umsetzung der internationalen                       ... ist als langfristiger, transformativer Prozess zu verstehen,
Verpflichtungen aus dem Globalen Pakt für Flüchtlinge                           der zu inklusiver, nachhaltiger Entwicklung und Friedens-
sowie des Dritten Nationalen Aktionsplans 1325 der Bun-                         förderung beiträgt. Dieser Prozess muss innergesellschaft-
desregierung zur Umsetzung der Agenda „Frauen, Frieden                          lich getragen sein und sollte von externen Akteur*innen
und Sicherheit“ des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen                      im Sinne des „New Deal for Engagement in Fragile States“
(2021-2024) bei.                                                                unterstützt werden.

                                                                           Zukunftsvisionen
                                                                         der Menschen vor Ort

      Schaubild:
      Definition                                                                                inklusives Sozialgefüge
      Friedensfördernder
      Wiederaufbau

                                        legitime Institutionen                                 faire Wirtschaft
                                                                                                                                    arbeit

                                         Dialog                           Bildung                         Teilhabe
                                                                                                                                  rungs
                                                                                                                                Erinne

                                     physischer Wiederaufbau                      gesellschaftlicher Wiederaufbau

                          z
           Transparen
                                                konstruktive Staat-Gesellschaft-Beziehungen

3 I Auch wurden Erfahrungen aus so verschiedenen Kontexten wie dem Balkan, Afghanistan, den Palästinensischen Gebieten, den Philippinen, Somalia, Sudan,
    Südafrika und Ukraine berücksichtigt.
4 I Vergangenheitsarbeit und Versöhnung (Transitional Justice), Rechtsstaatsförderung und Sicherheitssektorreform.

                                                                           9
ZIEL, RELEVANZ UND DEFINITION

... wird von einer Zukunftsvision der Menschen vor Ort im             international anerkannten Regierung oder einer Über-
Sinne eines neuen Gesellschaftsvertrags geleitet. Er geht             gangsadministration möglich, die eigene finanzielle,
über politische Vereinbarungen und Friedensabkommen                   personelle und fachliche Beiträge erbringen sowie Steue-
hinaus und bezieht alle Ebenen der Gesellschaft mit ein.              rungs- und Koordinierungsfunktionen übernehmen kann. Sind
Friedensfördernder Wiederaufbau stärkt die soziale Kohäsion           diese Voraussetzungen nicht gegeben, sollte Unterstützung
zwischen Bevölkerungsgruppen, die Achtung der Menschen-               häufig eher über kleinteiligere Infrastrukturmaßnahmen
rechte, die Gleichberechtigung der Geschlechter und Inklu-            erfolgen, bei denen nicht direkt mit zentralstaatlichen
sion. Zudem soll er die konstruktiven Beziehungen zwischen            Akteur*innen zusammengearbeitet wird.
Staat und Gesellschaft verbessern.                                    ... bezieht zivilgesellschaftliche Akteur*innen in einem
... soll das Fundament für ein friedliches Zusammenleben und          kohärenten Gesamtansatz ein. Friedensfördernder Wieder-
für gemeinsame Entwicklungschancen in der Zukunft legen.              aufbau ist maßgeblich von einer aktiven, konstruktiven
Friedensfördernder Wiederaufbau adressiert unmittelbare,              und verfassten Zivilgesellschaft abhängig. Akteur*innen
kurzfristige Bedarfe zur Verbesserung der Lebensbedingun-             aus verschiedensten Bereichen (religiöse Organisationen,
gen ebenso wie mittelfristige, strukturelle Reformen. Er              Verbände, Nichtregierungsorganisationen, Bildungs- und
verfolgt zudem einen langfristigen Ansatz der Konfliktbewäl-          Forschungsinstitutionen, etc.) dienen als Multiplikator*in-
tigung und Krisenprävention.                                          nen und helfen, friedliche Strukturen in der Gesellschaft
                                                                      zu verankern. Oftmals geben sie zentrale Impulse für die
                                                                      Friedensförderung und ersetzen Leistungen, die schwache
                                                                      staatliche Institutionen (zeitweilig) nicht erbringen können.
                                                                      ... erfordert ein Mindestmaß an physischer und menschli-
  Sichtbare Zerstörung ist nur die Spitze des Eisbergs                cher Sicherheit. Die gewaltsame Konfliktaustragung muss
                                                                      daher weitgehend beendet sein und Entminungsaktivitäten
  Eine umfassende Studie der Weltbank zu den Auswir-                  machen zuvor verminte Gebiete wieder zugänglich. Jedoch
  kungen des Kriegs in Syrien bestätigte 2017, was viele              sind lokale Kontextualisierung, Flexibilität und Agilität
  Praktiker*innen schon lange wussten: Die sichtbare, phy-            ebenso wie Realismus, politische Risikobereitschaft und
  sische Zerstörung von Infrastruktur und Wohnraum ist                Erwartungsmanagement notwendig, da gewaltsame Aus-
  in Syrien massiv, aber die Korrosion von sozialem Zu-               einandersetzungen jederzeit wieder aufflammen können.
  sammenhalt, wirtschaftlichen Netzwerken und Vertrauen               ... findet im Kontext von Friedensprozessen statt und kann
  hat viel größere ökonomische Konsequenzen. Je länger                Anreize im Sinne einer Friedensdividende setzen. Frie-
  der Krieg andauert, desto disruptiver ist der immaterielle          densfördernder Wiederaufbau wird dabei als übergreifen-
  Schaden. Die deutsche EZ muss daher eine systemische                de Herangehensweise für alle Interventionen verstanden,
  Perspektive einnehmen und auch den – vielfach schwieri-             nicht als ein Sektor.
  geren – gesellschaftlichen Wiederaufbau mitdenken.

... ist Teil des Nexus von humanitärer Hilfe, EZ und Friedens-
förderung (HDP Nexus) und adressiert dabei insbesondere                  Friedensfördernder Wiederaufbau als Teil
die Dimensionen Entwicklung und Frieden. Friedensfördern-                von Friedensförderung
der Wiederaufbau schlägt die Brücke von kurz- und mittel-
fristigem Aufbau von Basisinfrastruktur sowie -dienstleis-               Friedensfördernder Wiederaufbau beschreibt einen Aus-
tungen zu langfristiger Resilienzstärkung, Strukturbildung               schnitt des breiten Spektrums von Krisenprävention,
und Friedensförderung. Die unterschiedlichen Interventio-                Konfliktbewältigung und Friedensförderung. Diese be-
nen müssen sich dabei in einen kohärenten Gesamtansatz                   inhalten die Vorbeugung oder Überwindung von Konflikt,
des Friedensfördernden Wiederaufbaus einordnen. Anders                   Fragilität und Gewalt, die Verbesserung der Fähigkei-
als im traditionellen Verständnis von Nachkriegswieder-                  ten zum gewaltfreien Umgang mit Konflikten und die
aufbau muss der Gewaltkonflikt nicht zwingend beendet                    Schaffung von Rahmenbedingungen für eine friedliche
sein, damit Friedensfördernder Wiederaufbau beginnen kann.               und inklusive Entwicklung. Obwohl der Friedensfördern-
... setzt in vielen Bereichen eine Zusammenarbeit mit dem                de Wiederaufbau einen Teil der Friedensförderung dar-
Staat voraus und bezieht auf allen Ebenen die staatlichen                stellt, umfasst er beispielsweise nicht Maßnahmen zur
Strukturen ein. Dauerhafte, großflächige Investitionen in                Demobilisierung oder Sicherheitssektorreform.
den Wiederaufbau sind nur in Zusammenarbeit mit einer

                             Wiederaufbau            Friedensfördernder              Friedensförderung
                                                        Wiederaufbau

                                                                 10
ERFAHRUNGEN
                                                                   UND
                                                                   PRINZIPIEN

Grundlagen für Friedensfördernden Wiederaufbau                     Friedensfördernder Wiederaufbau sollte von inklusiven Zu-
Der „Building for Peace“-Ansatz (B4P) der Weltbank bietet          kunftsvisionen für ein friedliches Zusammenleben geleitet
eine erweiterte Perspektive auf den Friedensfördernden Wie-        sein, die möglichst viele gesellschaftliche Gruppierungen
deraufbau. Einige der B4P-Anregungen sind in der deutschen         mittragen. Solche Visionen können meist nicht kurzfristig
EZ und insbesondere in der entwicklungspolitischen Frie-           entwickelt und umgesetzt werden, sondern erfordern ein
densförderung gut bekannt. Bereits Anfang der 2000er-Jahre         längerfristiges Engagement. Oft dauern die notwendigen
wurden hier Ansätze zu einem krisenpräventiven Wiederauf-          Transformationsprozesse 30 Jahre oder länger.
bau diskutiert, die das vorliegende Konzept aufgreift.

Die folgenden Prinzipien bauen auf diesen Überlegungen               „Small is beautiful“: Wir müssen uns sehr langfristige
auf, beruhen auf Erfahrungen der deutschen EZ und finden             Ziele setzen, aber in einem sehr herausfordernden Kon-
sich teilweise bereits in verschiedenen Sektorkonzepten und          text im Alltag auch mit inkrementell kleinen Verände-
Strategien des BMZ wieder. Sie werden hier im Sinne einer            rungen und iterativem Vorgehen zufrieden sein.
ganzheitlichen Konzeption von Friedensförderndem Wieder-
aufbau mit neueren Überlegungen wie zum klimasensiblen
Wiederaufbau verbunden und aktualisiert.
                                                                   In der Praxis entstehen bei der Unterstützung und Beglei-
1. Wiederaufbau als Transformationsprozess                         tung von Visionsentwicklung verschiedene Dilemmata im
Wiederaufbau darf nicht die Vergangenheit mitsamt den              Umgang mit zeitlichem Druck, Instabilität und Unsicher-
ursprünglichen Konfliktursachen wiederherstellen, sondern          heit. So können z.B. kurzfristig notwendige Maßnahmen zur
muss zu deren Transformation beitragen. Im Sinne der Logik         Stabilisierung und erste Schritte zur Krisenbewältigung nicht
des „Building Forward Better“, die aktuell die Reaktion auf        auf die partizipative Entwicklung von Visionen warten. Auch
die Covid-19-Pandemie leitet, sollten auch die Chancen des         müssen Entscheidungen oft trotz unvollständiger Informa-
Wiederaufbaus für Investitionen in eine nachhaltige und ge-        tionslage getroffen werden. Diese Dilemmata können nicht
rechtere Zukunft genutzt werden.                                   immer aufgelöst, sollten aber zumindest in Planungsprozes-

                                                              11
ERFAHRUNGEN UND PRINZIPIEN

sen und der Kommunikation mit lokalen Akteur*innen und                Bei der Förderung von Dialog müssen die Teilhabenden über
der Bevölkerung transparent gemacht werden.                           Legitimität und Repräsentativität verfügen und sie müssen
                                                                      über den Kreis der „üblichen Verdächtigen“ aus der Zivilge-
Frühe Entscheidungen, unter anderem im Rahmen von Stabi-              sellschaft hinausgehen. Eine besondere Herausforderung ist
lisierungsmaßnahmen, können eine Pfadabhängigkeit schaf-              die Teilhabe von nicht-staatlichen Gewaltakteur*innen – sie
fen. Daher sollten die Visionen möglichst früh entwickelt             werden in Friedensprozesse als Konfliktpartei einbezogen,
und für alle Interventionen handlungsleitend sein. Konflikt-          aber von der staatlichen EZ im Wiederaufbau oft ausge-
sensibilität muss dabei auch die strategische Ebene der               schlossen. Ein inklusives Vorgehen ist kaum möglich, wenn
Wiederaufbauplanung umfassen. Sie sollte nicht – wie von              nicht lokale Akteur*innen die Aufgabe übernehmen, diese
vielen Praktiker*innen kritisiert – erst bei der Ausgestaltung        Gruppen miteinzubeziehen.
von Projekten ansetzen.

Im Sinne eines Mehrebenen-Ansatzes müssen Visions- und
Dialogprozesse die lokalen Perspektiven ins Zentrum der
Wiederaufbauplanung und Reformen rücken. Nationale Ak-                  Scheuklappen ablegen
teur*innen handeln oft weit von den lokalen Realitäten ent-
fernt, steuern aber die Planung, Finanzierung und Koordinie-            Akteur*innen der EZ sollten sich ihrer eigenen blinden
rung von Wiederaufbaumaßnahmen. Die mittlere Ebene der                  Flecken bewusst sein und weitmöglichst ihre Scheu-
kommunalen und provinziellen staatlichen Strukturen sowie               klappen ablegen, um ein systemisches Verständnis des
die organisierte Zivilgesellschaft sollten eine verbindende             jeweiligen Kontexts zu entwickeln. Laut B4P-Bericht
und vermittelnde Rolle spielen. Sie kann oft die Aufgabe                dominieren bei der Kontextanalyse durch die Auswahl
eines „Transmissionsriemens“ zwischen dem wünschenswer-                 von Gesprächspartner*innen oft bestimmte Perspektiven
ten Bottom-up-Ansatz und dem faktisch oft dominierenden                 (z.B. der Hauptstadt, dominanter NGOs, männlicher Er-
Top-down-Vorgehen der internationalen Unterstützung für                 wachsener etc.). Andere Sichtweisen werden dagegen
Wiederaufbau bilden.                                                    durch einen fehlenden Zugang zu bestimmten geografi-
                                                                        schen Kontexten sowie zu politischen, kulturellen oder
2. Menschen im Mittelpunkt                                              ideologischen Interessen ausgeblendet. Auch kann die
Friedensfördernder Wiederaufbau kann langfristig nur gelin-             analytische Fokussierung auf die Konfliktstrukturen
gen, wenn er die Menschen mit ihren diversen Perspektiven,              dazu führen, dass andere für nachhaltigen Wiederaufbau
Potenzialen, Ressourcen und Bedürfnissen in den Mittelpunkt             relevante Faktoren wie Klima und natürliche Ressourcen
stellt. Alle betroffenen Teile der Bevölkerung sollten an der           vernachlässigt werden.
Bedarfserhebung, Planung, Gestaltung und Umsetzung teil-
haben. Die Stärkung von Teilhabe umfasst dabei drei Ebenen:
   1. die Schaffung von sicheren Räumen und Formaten                  Inklusive Teilhabe muss bereits bei der Planung von Maßnah-
   für Dialog,                                                        men zum Wiederaufbau beginnen und erfordert ein partizipa-
   2. die Befähigung und Ermächtigung der Menschen,                   tives Herangehen. Das steht jedoch oft im Widerspruch zum
   sich einzubringen und                                              Wunsch nach schnellen, sichtbaren Ergebnissen. Gemeinde-
   3. die Stärkung der Fähigkeiten staatlicher Akteur*in-             basierte Ansätze ermöglichen ein partizipatives Vorgehen in
   nen, Teilhabe konstruktiv zuzulassen und hierzu                    besonderer Weise, aber das Prinzip der Teilhabe muss ebenso
   zu ermutigen.                                                      bei zentralstaatlichen Planungsprozessen gelten.

Ein solches Vorgehen setzt ein umfassendes, inklusives                Inklusive Teilhabe kann auch Interessenkonflikte zutage
Akteursverständnis voraus. Die EZ sollte durch kontextsen-            bringen und Spannungen hervorrufen. Sie erfordert sichere
sible und zugleich möglichst gendertransformative Ansätze             Räume und bei Bedarf auch gezielte Schutzmaßnahmen, wenn
die gleichberechtigte Teilhabe verschiedener Akteursgruppen           Machtakteur*innen andere Interessenvertreter*innen unter-
fördern. Dazu zählen Frauen und diverse andere benachtei-             drücken. Durch die veränderten gesellschaftlichen Verhält-
ligte Gruppen wie junge Menschen, Minderheiten, Flüchtlinge           nisse in der Krise können neue Freiräume etwa für gender-
und Binnenvertriebene, die in extremer Armut lebende Be-              transformative Ansätze auf lokaler Ebene entstanden sein.
völkerung, Menschen mit Behinderungen und LSBTI-Personen.             Die EZ sollte diese konfliktsensibel nutzen.
Im Sinne der Intersektionalität sind mögliche Mehrfachdis-
kriminierungen zu beachten.

  In Krisenkontexten müssen viele Menschen mit den ge-
  sundheitlichen Folgen von kriegsbedingten Verletzungen
  leben – genaue Zahlen und Unterstützungsbedarfe sind
  oft nicht ausreichend bekannt. Zudem gibt es Schätzun-
  gen, dass in fragilen Kontexten bis zu 30 Prozent der
  Menschen mit einer Behinderung leben.

                                                                 12
ERFAHRUNGEN UND PRINZIPIEN

                                                                       In der Praxis kommt der transformative Anspruch von
                                                                       Resilienz teilweise zu kurz. Der Begriff kann im Kontext
  Raum schaffen für die Anliegen junger Menschen                       fortgesetzter Gewalt und instabiler Lebensbedingungen
                                                                       den Eindruck erwecken, die Bevölkerung solle durch die
  Die Bevölkerung in den Krisenkontexten der MENA-Re-                  Förderung ihrer Anpassungsfähigkeit und Bewältigungs-
  gion ist sehr jung, in Libyen ist etwa über die Hälfte der           strategie vor allem ‚im Aushalten‘ der Krise bestärkt
  Menschen jünger als 30 Jahre. Junge Menschen sind                    werden. Wir müssen ein umfassenderes und transformati-
  als Opfer oder Täter stark und in vielfacher Weise von               veres Verständnis von Resilienz betonen – die strukturbil-
  Gewalt betroffen. Zugleich finden sie wenig Gehör in Ge-             dende Übergangshilfe bietet hierzu erste Ansatzpunkte.
  meindestrukturen und bei Behörden. Staatliche oder zi-
  vilgesellschaftliche Institutionen zur Jugendarbeit gibt
  es kaum. Hier setzt unter anderem das GIZ Projekt „För-
  derung von Jugendlichen für eine friedliche Entwick-               3. Politische Ökonomie des Wiederaufbaus
  lung in Libyen“ an. Das Projekt unterstützt die friedliche         Die Grundprinzipien der deutschen EZ, konfliktsensibel zu
  Teilhabe sowie politische Partizipation Jugendlicher auf           handeln, Krisen vorzubeugen und Frieden zu fördern, gelten
  kommunaler Ebene, richtet sichere Räume, wie Jugend-               auch für den Friedensfördernden Wiederaufbau. Ganzheitliche
  und Trainingszentren, ein und stärkt Kompetenzen der               Konflikt- und Kontextanalysen, inklusive der gendersensiblen
  lokalen Verwaltungen im Umgang mit jungen Menschen                 Analyse von Friedenspotenzialen, sind der Ausgangspunkt
  und ihren Anliegen.                                                allen Planens und Handelns. Dabei müssen die Analysen in
                                                                     besonderer Weise die lokale Ebene der jeweiligen Wiederauf-
                                                                     bauorte beleuchten, da landesweite Analysen in der Regel
Ein inklusives Vorgehen erfordert Perspektivwechsel, denn            zu oberflächlich sind.
marginalisierte Gruppen bringen oft besondere Ressourcen,
ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in den Wiederaufbau mit
ein. Um ihre Teilhabe zu ermöglichen, ist es oftmals zu-               Kontextsensibilität erfordert zusätzlichen Aufwand, z.B.
nächst notwendig, die Krise zu bewältigen und die Lebens-              wenn es um die Prüfung der Rolle von zu beteiligen-
bedingungen zu verbessern. Dabei können durch begleitende              den Bauunternehmen im Konflikt geht. Oft erscheint es
Maßnahmen Gelegenheiten zur Mitgestaltung der Wiederauf-               einfacher, auf externe Firmen und Ressourcen aus-
bauaktivitäten entstehen. Besonders sollte die EZ Geflüchte-           zuweichen, auch wegen geringer Kapazitäten vor Ort.
te und Rückkehrer*innen in Wiederaufbauaktivitäten ein-                Aber wir wollen gerade auch die lokale Wirtschaft
binden. Oft stellen ihre Potenziale und Erfahrungen wichtige           stärken– und müssen daher in Analysen Zeit und Res-
Ressourcen dar. Sie können auch schon aus der Diaspora in              sourcen investieren.
den Wiederaufbau einbezogen werden, wenn sie (noch) nicht
in ihre Heimat zurückgekehrt sind.

                                                                     Eine besondere Herausforderung ist es, die Auswirkungen
   Wir stehen oft vor einem Dilemma: Wir wollen sozia-               des Gewaltkonflikts und seiner Beendigung auf die politi-
   le Kohäsion und zugleich Teilhabe und Emanzipation                schen, gesellschaftlichen und ökonomischen Machtverhält-
   stärken. Damit schaffen wir doch auch Konflikte! Wie              nisse zu berücksichtigen. Insbesondere wenn es keine poli-
   können wir ‚störende‘ Kräfte zwar einbeziehen, aber               tischen Lösungen für einen Konflikt gibt, benötigt es einen
   vor allem die integrativen Akteur*innen ermutigen?                konfliktsensiblen Umgang mit dessen – realen oder auch
                                                                     nur vermeintlichen – ‚Gewinnern und Verlierern‘. Friedens-
                                                                     fördernder Wiederaufbau muss diese Spannungsverhältnisse
                                                                     reflektieren und die Bemühungen um Vergangenheitsarbeit
Psychosoziale Unterstützung ist häufig notwendig, um                 und Übergangsjustiz unterstützen.
Grundlagen für Vertrauen, soziale Kohäsion, Friedensförde-
rung und gesellschaftlichen Wandel zu schaffen. Gemeinde-            Friedensfördernder Wiederaufbau folgt dem umfassenden
basierte Ansätze können psychosoziale Bedarfe etwa von               Menschenrechtsansatz der deutschen Entwicklungspolitik. Er
geflüchteten und wieder in die Heimat zurückgekehrten                berücksichtigt damit auch den Zugang zu Ressourcen und
Menschen aufgreifen. Niedrigschwellige psychosoziale                 Infrastruktur sowie Verteilungsgerechtigkeit und den Schutz
Unterstützungsangebote und Selbsthilfegruppen können mit             von Eigentum. Dabei ist zu beachten, dass beim Wiederauf-
der Rehabilitierung von Infrastruktur, der Einkommens- und           bau Interessengruppen mitunter Maßnahmen vorschlagen,
Ernährungssicherung oder mit Beschäftigungsprogrammen                die die Rechte von Menschen entlang weiterhin bestehender
verbunden werden und sollten möglichst langfristig an-               Konfliktlinien verletzen, eine erzwungene Umsiedlung vor-
gelegt sein.                                                         sehen oder demografische Strukturen manipulieren können.
                                                                     Daher sind bei allen EZ-Vorhaben umfassende Analysen
                                                                     notwendig. Sie können das Risiko verringern, dass es im
                                                                     Rahmen eines Engagements zu (unbeabsichtigten) negativen
                                                                     Auswirkungen kommt (do no harm).

                                                                13
ERFAHRUNGEN UND PRINZIPIEN

Die Rolle des Staates – und der verschiedenen Akteur*in-
nen auf all seinen Ebenen – muss in besonderer Weise                  Der Bausektor ist laut Transparency International welt-
reflektiert werden. Wiederaufbau findet in Zusammenarbeit             weit der für Korruption anfälligste Sektor und fragile
mit staatlichen Akteur*innen auf nationaler Ebene statt,              Kontexte sind am stärksten von Korruption betroffen.
wobei diese während des Konflikts oftmals das Vertrauen
der Bevölkerung und die Legitimität staatlichen Handelns
geschwächt haben. Bereits vor der Krise diente der Staat
oftmals den Machteliten als Ressourcenbasis. Sein Handeln           Ein stärkeres Bewusstsein für die politische Ökonomie des
war durch partikularistische Verteilungsmuster und die              Wiederaufbaus ist zentral. Machtakteur*innen wollen sich oft
Diskriminierung und Einschränkung zivilgesellschaftlicher           die Ressourcen des Wiederaufbaus aneignen – wie es in der
Handlungsspielräume geprägt. Friedensfördernder Wieder-             politischen Ökonomie des Kriegs und im Kontext von organi-
aufbau sollte zu einer langfristigen Transformation dieser          sierter Kriminalität und Schattenwirtschaft der Fall ist. Das
Strukturen beitragen. Oftmals muss er sich jedoch im kurz-          Aufdecken dieser Einflussnahmen ist jedoch für lokale und
fristigen Handeln zunächst mit den bestehenden Machtstruk-          internationale Akteur*innen durchaus risikobehaftet. Die EZ
turen arrangieren und kann nur durch schrittweise Reform-           steht dabei vor diversen Dilemmata, wenn sie beispielsweise
anreize zu Veränderungen beitragen. Zum konfliktsensiblen           auf die Kooperation von Machtakteur*innen angewiesen ist,
Handeln gehört hier auch die Reflexion dieser Dilemmata.            um Zugang zu bestimmten Zielgruppen oder Wiederaufbau-
                                                                    gebieten zu erhalten.

                                                                      Wir müssen uns bei der Analyse von unseren west-
  Umgang mit Eliten                                                   lichen Staats- und Gesellschaftsmodellen lösen und
                                                                      die Funktionalität von vermeintlicher Dysfunktionalität
  Maßnahmen zum Wiederaufbau werden vor allem mit                     von Strukturen und Gepflogenheiten verstehen lernen.
  politischen, wirtschaftlichen – und auch zivilgesell-               Dabei müssen wir auch die sozialen Normen stärker
  schaftlichen – Eliten verhandelt, also mit Individuen und           berücksichtigen, die den Umgang der Bevölkerung mit
  Gruppen mit hohem sozialem Status und großem Ein-                   Korruption prägen.
  fluss. Frauen sind dabei in allen Führungspositionen in
  der Regel stark unterrepräsentiert. Diese Eliten können
  als Multiplikator*innen und Reformakteur*innen in der
  EZ eine konstruktive Rolle einnehmen. Jedoch müssen               Maßnahmen des Wiederaufbaus müssen Transparenz und
  die Akteurs- und Machtanalysen der EZ die informellen             Vertrauen herstellen, um die Akzeptanz staatlicher Struk-
  und teilweise destruktiven Aushandlungs- und Macht-               turen und Institutionen durch die Bevölkerung zu erhöhen.
  verteilungsprozesse zwischen den Eliten besonders in              Dabei darf die EZ keine Fortsetzung der Kriegsökonomie
  den Blick nehmen. Dazu gehören auch die potenzielle               oder neue Formen von Machtmissbrauch und Vereinnah-
  Vereinnahmung von Ämtern und Ressourcen („elite cap-              mung von staatlichen Ressourcen zulassen. Entwicklungs-
  ture“) sowie soziale und politische Normen, die dieses            politik muss im Zusammenspiel mit anderen Politikfeldern
  Verhalten ermöglichen. Dieses Verständnis des Umgangs             besonders die Makro-Ebene in den Blick nehmen und die
  mit Eliten sollte die Handlungslogiken des Wiederauf-             eigene Rolle in der politischen Ökonomie des Wiederaufbaus
  baus prägen, um zur Diversifizierung der Akteur*innen             stärker reflektieren. Eine Null-Toleranz-Politik gegenüber
  des Wiederaufbaus beizutragen und Interessenkonflikte             Korruption sollte eine selbstkritische Reflexion und eine
  und Widerstände zu reduzieren.                                    Fehlerkultur einschließen.

                                                                    Wiederaufbau sollte systematisch „community accountability“
Die Förderung von Rechenschaftslegung muss einen beson-             stärken, beispielsweise durch (anonyme) Beschwerdemecha-
deren Stellenwert beim Friedensfördernden Wiederaufbau              nismen, Ombudsstellen und andere Feedbackmechanismen
einnehmen. Dabei geht es sowohl um die Förderung von                auch in sozialen Medien. Wichtig für die Glaubwürdigkeit
Transparenz und um Korruptionsbekämpfung in staatlichen             gegenüber der Bevölkerung ist, dass die Hinweise auch
Institutionen als auch im Rahmen der EZ-Maßnahmen selbst.           wirklich von unabhängigen Stellen überprüft und nachver-
Die mit dem Wiederaufbau verbundenen Ressourcenflüsse               folgt, die Hinweisgeber*innen geschützt und strafbare Hand-
müssen transparent gemacht werden, sodass ihre Verwen-              lungen geahndet werden.
dung etwa von zivilgesellschaftlichen Akteur*innen überprüft
werden kann. Zusätzlich beeinflusst finanzielle Transparenz         In Wiederaufbaukontexten ist der Kapazitätsaufbau zur Stär-
beim Wiederaufbau das Erwartungsmanagement positiv und              kung der Rolle zivilgesellschaftlicher Initiativen und Medien
wirkt krisenpräventiv, indem sie Misstrauen abbauen kann            als „watchdogs“ notwendig. Partnerschaften mit Universitäten,
und der Wiederaufbau schwerer von Machtakteur*innen poli-           Medien und dem Privatsektor können hierbei hilfreich sein. So
tisiert und instrumentalisiert werden kann.                         können lokale Akteur*innen Integritätsstandards entwickeln
                                                                    und ein langfristiges, öffentliches Monitoring des Wiederauf-
                                                                    baus fördern. Lokale Partner*innen, Anti-Korruptionsakti-
                                                                    vist*innen, Whistleblower*innen oder Projektpersonal, das

                                                               14
ERFAHRUNGEN UND PRINZIPIEN

Korruption aufdeckt, benötigen besonderen Schutz in nach wie          etablierte Maßnahmen des „community monitoring“ können
vor zumeist von Gewalt geprägten Wiederaufbausituationen.             helfen, die lokalen Sichtweisen und Bedürfnisse aller
                                                                      gesellschaftlichen Gruppen für die Prioritätensetzung beim
                                                                      Wiederaufbau und für die Vereinbarung von Reformschritten
                                                                      nutzbar zu machen.

  Digitale Potenziale für partizipatives Monitoring
  und Transparenz

  Das Open-Source-Instrument TruBudget der KfW hilft
  allen Projektpartner*innen inklusive der staatlichen Ak-
  teur*innen, einen vertrauensvollen, rechenschaftspflich-
  tigen und transparenten Umgang mit Entwicklungs-
  geldern einzuüben. Das Tool bietet eine gemeinsame
  Arbeitsplattform, wodurch Prozesse effizienter gestaltet
  werden können. Zugleich wird Transparenz und – durch
  die Nutzung von Blockchain-Technologie – verbindliche
  Rechenschaftslegung gestärkt, und dies unter Nutzung
  der Partnerstrukturen und -haushalte. So kann TruBud-
  get helfen, die im Wiederaufbau häufig auftretenden
  Parallelstrukturen der verschiedenen Geber abzubauen
  und die Eigenverantwortung der Partner*innen zu fördern.

4. Institutionenaufbau statt Parallelstrukturen
Wiederaufbau sollte möglichst frühzeitig beginnen und auf
dem kontinuierlichen Engagement und der Erhaltung der
Funktionsfähigkeit von Institutionen bereits während der
Krise aufbauen. Die oft noch akute Krisenlage erfordert von             Veränderungen in Staat-Gesellschaft-Beziehungen
der EZ besondere Flexibilität und Agilität.                             regelmäßig beobachten

Die institutionellen staatlichen Kapazitäten sind oft zu                Um die angestrebten Effekte auf die Beziehungen zwi-
schwach, um diese Herausforderungen zu meistern. Sie be-                schen Staat und Gesellschaft zu beurteilen, bedarf es
nötigen – auch in Ersatzvornahme – Unterstützung. Aller-                einer kontinuierlichen Messung von Wahrnehmungen der
dings dürfen Parallelstrukturen der externen Hilfe nicht                Bevölkerung. So begleitet die deutsche EZ in Afghanis-
dauerhaft staatliches Handeln ersetzen oder gar unterminie-             tan seit vielen Jahren ein regelmäßiges, externes und
ren. Daher sollte die EZ beim Wiederaufbau von Beginn an                systematisches Monitoring der Wirkungen der EZ auf
schrittweise und systematisch die notwendigen staatlichen               die Einstellungen der Bevölkerung, die von den EZ-Maß-
Kapazitäten fördern und ihre technische und finanzielle                 nahmen profitieren soll. Die Ergebnisse helfen, ange-
Unterstützung an den konkreten lokalen Potenzialen und Be-              nommene Wirkungen zu verifizieren, und fördern auch
darfen ausrichten. So kann die EZ die Stabilisierungs-, An-             Fehlannahmen der EZ zutage. Eine solche Fehlannahme
passungs- und Transformationskapazitäten der Bevölkerung                war etwa, dass die Bereitstellung von physischer Inf-
und staatliche Institutionen fördern. In Wiederaufbauplänen             rastruktur die Akzeptanz des Staates automatisch er-
und Reformagenden müssen die tatsächlichen Kapazitäten                  höhen würde. Diese Befunde sowie viele internationale
der Partner*innen, Maßnahmen zum Wiederaufbau umzu-                     Evaluierungen der EZ in Afghanistan stellen den weit
setzen, ausschlaggebend und die Gebererwartungen und                    verbreiteten „hearts-and-minds“-Ansatz infrage, dem-
-vorgaben realistisch sein. Das gilt auch für Anreizsysteme             zufolge die EZ zur Sicherheit in Afghanistan beiträgt,
und die Konditionalisierung von EZ-Leistungen, die Reformen             die Akzeptanz des Staates erhöht und die Unterstüt-
befördern sollen.                                                       zung von Gewaltakteuren wie den Taliban reduziert. Es
                                                                        hat sich aber inzwischen gezeigt, dass die EZ zwar die
Die Übergänge von kurzfristigen Maßnahmen zu nachhaltiger               Lebensbedingungen der Menschen verbessern kann, die
Strukturbildung spielen beim Wiederaufbau eine zentrale                 Bevölkerung diese Verbesserungen aber nicht unbedingt
Rolle. Daher muss die EZ staatliche Partnerleistungen von               dem afghanischen Staat zuschreibt.
vornherein einplanen und einfordern, ohne die Partnerstruk-
turen durch zu umfassende Reformen zu überfordern. Dabei
sollte die EZ jene Bereiche in den Fokus nehmen, die in dem           Eine besondere Herausforderung ist die Nachhaltigkeit von
jeweiligen Kontext die Legitimität, Akzeptanz und das Ver-            Investitionen in Infrastruktur und der damit verbundenen
trauen der lokalen Bevölkerung in den Staat erhöhen. Stim-            staatlichen Dienstleistungen. Oftmals sind Staaten bereits
mungsbarometer und Meinungsumfragen, aber auch bereits                vor einer Krise nicht fähig, ihre Bevölkerung umfassend zu

                                                                 15
ERFAHRUNGEN UND PRINZIPIEN

versorgen und die soziale und materielle Infrastruktur auf-            sollten die klimasensible Rehabilitierung physischer Infra-
rechtzuerhalten. Der Wiederaufbau muss diese fehlenden                 struktur, Gebäude und das Ressourcenmanagement an-
Kapazitäten – trotz des Einforderns von Partnerleistungen              gegangen werden. Aber auch gesellschaftliche Aspekte
– von vornherein berücksichtigen und Ausgaben zur Instand-             wie Bildung, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und soziale
haltung von Investitionen realistisch planen. Die EZ muss              Netzwerke in Bezug auf den Klimawandel müssen adressiert
dabei ihre Standards dem lokalen Kontext anpassen, um so               werden. Diese schaffen die Rahmenbedingungen für eine
zu vermeiden, dass die Bevölkerung später enttäuscht ist               systematische Integration von Klimaschutz und Klima- und
und das Vertrauen in den Staat schwindet, wenn die Infra-              Katastrophenrisikomanagement in den Wiederaufbau.
struktur nicht angemessen erhalten werden kann.
                                                                       Lokale Anliegen, Vulnerabilitäten und Anpassungsbedarfe
                                                                       sollten im Mittelpunkt des Wiederaufbaus stehen und die EZ
                                                                       sollte ein kontextspezifisches Verständnis von Nachhaltigkeit
                                                                       („situated sustainability“) fördern. Anpassung an den Klima-
                                                                       wandel sowie der Umwelt- und Klimaschutz sollen nicht als
                                                                       eine externe Agenda wahrgenommen werden, sondern viel-
                                                                       mehr als Beitrag zur Verbesserung der lokalen Lebensbedin-
                                                                       gungen verstanden werden, beispielsweise hinsichtlich des
                                                                       Umgangs mit knappen Wasserreserven, der Elektrifizierung
                                                                       oder der Reduzierung von Wärme in Wohngebäuden. Dazu ist
                                                                       ein gemeindebasiertes, partizipatives Vorgehen notwendig.

                                                                         Klimasensibilität ist nicht gleichbedeutend mit Kon-
                                                                         fliktsensibilität. Wie alle Entwicklungsmaßnahmen
                                                                         können auch solche zum Klimaschutz konfliktverschär-
                                                                         fend wirken, etwa bei Verteilungsfragen. Zugleich sind
                                                                         Ressourcenkonflikte und Klimawandel in der Komplexi-
                                                                         tät des gesamten Konfliktsystems zu verstehen und
                                                                         können nicht hiervon losgelöst adressiert werden.

                                                                       Lokales Wissen über die Auswirkungen des Klimawandels,
                                                                       naturwissenschaftliche Bildung und lokale und regionale
                                                                       Daten- und Informationssysteme zu Umwelt- und Wetterdaten
5. Klimasensible Gestaltung von Wiederaufbau                           sind eine Voraussetzung für risikoinformiertes Handeln. Der
Die Zusammenhänge zwischen Klimawandel, Konflikt und                   Friedensfördernde Wiederaufbau braucht neue gesellschaft-
Sicherheit sind – nicht zuletzt aus der Syrienkrise – gut              liche Narrative und Visionen, die ihn leiten und die ökologi-
bekannt. Dennoch werden die Minderung der Emission von                 sche Transformation muss ein wesentlicher Teil davon sein.
Treibhausgasen und die Anpassung an den Klimawandel noch
zu oft angesichts der komplexen und unmittelbaren Heraus-
forderungen der Krisenbewältigung und des Wiederaufbaus                  Der Klimaschutz und die Anpassung an den Klimawan-
hintangestellt. Um auch mittel- bis langfristig krisenpräventiv          del sind gleichzusetzen mit dem Schutz von Men-
und nachhaltig zu wirken, muss sich der Friedensfördernde                schenleben, jedoch sind die Zusammenhänge mit dem
Wiederaufbau mit den Herausforderungen des Klimawandels                  Wiederaufbau oft nicht sofort ersichtlich und müssen
auseinandersetzen. Klima- und Katastrophenrisiken sollten                – auch den Gebern – besser vermittelt werden. Zudem
vorausschauend in die Planung integriert werden.                         müssen wir Lösungen für Interessenkonflikte finden.

  Die klimatischen Veränderungen haben die politische
  Krise in Syrien weiter angefacht. Der Klimawandel kann               Vor dem Hintergrund der massiven Zerstörung von Städten
  Ungleichheiten verschärfen und das fragile soziale                   durch Krisen und der gleichzeitigen Urbanisierung in der
  Gefüge zerbrechen lassen – wenn es keinen politischen                MENA-Region sollte die EZ der Rehabilitierung von Infra-
  Willen für konstruktive Lösungen gibt.                               struktur und der nachhaltigen Stadtplanung sowie -ent-
                                                                       wicklung besondere Aufmerksamkeit schenken. Städte gelten
                                                                       als wichtige Klimatreiber, da der Bausektor dort einen sehr
                                                                       großen Anteil des verfügbaren Kohlenstoff-Budgets ver-
Friedensfördernder Wiederaufbau in der MENA-Region bietet              braucht. Städte sind besonders anfällig für die Folgen des
eine große Chance, den Neubeginn mit einem – angesichts                Klimawandels. Zugleich sind sie Innovationsräume, in denen
der hohen Vulnerabilität der Region – ohnehin drängenden               Klimaminderung und Klima- und Katastrophenrisikomanage-
ökologischen Transformationsprozess zu verbinden. Dabei                ment große Wirkungen erzielen können.

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