VERTEILUNGSBERICHT 2020 - Die Einkommensungleichheit wird durch die Corona-Krise noch weiter verstärkt
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REPORT Nr. 62, November 2020 VERTEILUNGSBERICHT 2020 Die Einkommensungleichheit wird durch die Corona-Krise noch weiter verstärkt Bettina Kohlrausch, Aline Zucco und Andreas Hövermann AUF EINEN BLICK In Deutschland waren die Einkommen bereits vor vom Aufschwung der letzten Jahre hingegen kaum der Corona-Krise ungleich verteilt. Dieser Vertei- profitieren. Diese Tendenz wird sich durch die Krise lungsbericht zeigt, dass während der Krise insbe- noch verstärken, wie eine Analyse von Daten zeigt, sondere die unteren Einkommensgruppen Einbu- die im Rahmen der Erwerbspersonenbefragung ßen erlitten haben. Damit deuten die Ergebnisse im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung im April und darauf hin, dass die Einkommensungleichheit Juni 2020 erhoben wurden. Die Ergebnisse ver- durch die Krise weiter zunehmen könnte. deutlichen sehr eindringlich, dass Personen mit ge- SOEP-Daten belegen, dass die Einkommensun- ringem Einkommen häufiger Einbrüche im Einkom- gleichheit seit 2010 gestiegen ist. Zwar lässt sich men hinnehmen müssen – und dass ihre Einbußen am Gini-Koeffizienten nach 2013 ein leichter Rück- zudem auch stärker ins Gewicht fallen. Erwerbs- gang ablesen – diese Entwicklung ist aber vor allem tätige mit hohen Einkommen und Beschäftigte in durch einen Anstieg der mittleren Einkommen zu Normalarbeitsverhältnissen haben hingegen kaum erklären. Die unterste Einkommensgruppe konnte krisenbedingte Verluste verzeichnet. Ungleichheit der Einkommen in Deutschland Gini-Koeffizient der verfügbaren Haushaltseinkommen 0,294 0,295 0,293 0,293 0,291 0,289 0,290 0,288 0,285 0,285 0,282 0,280 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Je größer der Koeffizient, desto höher die Ungleichverteilung der Einkommen. Daten: SOEP
INHALT Auf einen Blick ����������������������������������������������������������1 4 Einkommensentwicklung von 2010 bis 2017 ������7 1 Einleitung ����������������������������������������������������������� 2 5 Ungleichheitsentwicklungen während der Corona-Krise ����������������������������������������������12 2 Stand der Forschung: Warum die Corona-Krise . Ungleichheiten verstärkt? ��������������������������������� 3 6 Diskussion und Fazit ����������������������������������������16 3 Daten und Methode ������������������������������������������ 4 Glossar ��������������������������������������������������������������������18 1 EINLEITUNG 1 Die Corona-Krise, die Deutschland im Frühjahr Bereits vor der Krise war ersichtlich, dass es 2020 erreichte, unterschied sich in vielerlei Hinsicht in Deutschland eine vielzitierte Schere zwischen von anderen Wirtschaftskrisen: Zunächst ist diese arm und reich gibt: Während sich die Vermögen- Krise – anders als zum Beispiel die Ölkrisen in den sungleichheit in Deutschland seit Jahrzehnten auf 1970er Jahren und die Finanz- und Wirtschaftskri- einem sehr hohen, aber relativ stabilen Niveau be- se 2008/09 – nicht die unabwendbare Folge öko- findet (Tiefensee 2017), stieg insbesondere die Ein- nomischer Entwicklungen wie starken Preisstei- kommensungleichheit seit der Wiedervereinigung gerungen, sondern die bewusste Einschränkung stark an (z. B. Spannagel/Molitor 2019). Da sich an- des wirtschaftlichen Lebens, um die Gesundheit deutet, dass die Corona-Krise insbesondere diejeni- der Bevölkerung zu schützen. Zudem gab es kaum gen Beschäftigten trifft, die bereits vor der Krise am andere Wirtschaftskrisen, die so schnell und zeit- unteren Ende der Einkommensverteilung zu finden gleich in (fast) allen Teilen der Welt zu spüren war. waren, stellt sich die zentrale Frage, wie sich die Ferner offenbart diese Krise – wie kaum eine an- Corona-Krise in naher Zukunft auf die Einkommen- dere vorher – soziale Missstände in unserer Gesell- sungleichheit auswirken wird. Zum jetzigen Zeit- schaft, weswegen im Kontext der Corona-Krise im- punkt ist noch kein Ende der Corona-Pandemie in mer wieder vom „Brennglas“ die Rede ist. So wur- Sicht – im Gegenteil: die wieder massiv ansteigen- den zum Beispiel zu Beginn der Krise, während der den Fallzahlen im vierten Quartal des Jahres lassen relativ starken Kontakt-Beschränkungen, die soge- eine weitere Zuspitzung der ökonomischen Ent- nannten systemrelevanten Berufe und ihre Löhne wicklungen vermuten. Zudem wird es – wenn ein und Arbeitsbedingungen viel diskutiert (z. B. Koebe Impfstoff verfügbar sein wird – aufgrund der abzu- et al. 2020). Zeitgleich führte die eingeschränkte sehenden Kapazitätsgrenzen viele Monate dauern, Betreuungssituation für Beschäftigte, die nicht in bis ein größerer Teil der Bevölkerung geimpft sein den systemrelevanten Berufen beschäftigt waren, wird. Die langfristigen ökonomischen und sozialen zu einer zunehmenden Doppelbelastung für Eltern, Folgen der Krise lassen sich somit auch nur bedingt wobei sich zeigte, dass diese Last zu großen Teilen abschätzen; dennoch erlauben die jetzt vorhande- von Frauen getragen wurde (z. B. Kohlrausch/Zuc- nen ersten Daten Prognosen darüber abzugeben, co 2020). Darüber hinaus aber weisen erste Analy- wie sich die Einkommensungleichheit im Verlauf sen darauf hin, dass diese Krise finanziell nicht alle der Krise entwickeln wird. Dies ist die zentrale Fra- Beschäftigten gleichermaßen trifft, sondern insbe- ge, die in diesem Bericht behandelt wird. sondere Personen mit niedrigerem sozio-ökonomi- Da zum jetzigen Zeitpunkt (Oktober 2020) noch schen Status (Hövermann 2020). keine repräsentativen Einkommensdaten für 2020 vorliegen, greift dieser Bericht stattdessen auf eine Erwerbspersonenbefragung zurück, die während der Corona-Krise von der Hans-Böckler-Stiftung (HBS) durchgeführt wurde. Diese Befragung ent- hält neben sozio-ökonomischen Hintergrundinfor- 1 An dieser Stelle möchten wir uns recht herzlich bei mationen auch Angaben zu den aktuellen Einkom- Dorothee Spannagel für die großartige Vorarbeit und die sehr gute Dokumentation bedanken, die uns bei der mensverlusten, sodass sich mit den Daten abschät- Erstellung des Berichts erheblich geholfen haben. Außer- zen lässt, welche Gruppen in der Krise besonders dem danken wir Toralf Pusch und Renate Anstütz für das häufig Einkommenseinbußen hinzunehmen hatten. detaillierte Lesen, Kommentieren und Redigieren sowie Daniela Buschke und Jutta Höhne für die Aufbereitung Zusätzlich wird auf Basis der aktuellen Welle des des Berichts. Sozio-Oekonomischen Panels (SOEP) untersucht, WSI Report Nr. 62, November 2020 Seite 2
wie sich die Einkommen in Deutschland seit 2010 ge dazu geführt, dass sich die Einkommens- und entwickelt haben und welche soziodemografischen Vermögensungleichheit reduzierte 3 (Butterwegge Bevölkerungsgruppen schon vor der Krise stärker 2020, S. 138). Um zu verstehen, weshalb sich dieser von Armut betroffen waren. Trend während der Corona-Pandemie nicht abzeich- Der Bericht ist wie folgt aufgebaut: Zunächst net, sondern – im Gegenteil – die Einkommensun- wird in Abschnitt 2 der aktuelle Stand der For- gleichheiten womöglich sogar zunehmen werden schung bezüglich der ungleichheitsverstärkenden (Hövermann/Kohlrausch 2020), soll im Folgenden Faktoren der Corona-Krise aufgezeigt. Dabei wird ein Überblick über die ersten ökonomischen Ent- dezidiert der Frage nachgegangen, warum sich wicklungen seit dem Ausbruch der Pandemie in diese Krise von anderen Wirtschaftskrisen unter- Deutschland im Frühjahr 2020 und der einherge- scheidet. Im Anschluss daran werden in Kapitel 3 henden Krisensituation gegeben werden. die beiden im Folgenden verwendeten Datensätze, Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit lässt sich zwar also das SOEP und die HBS-Erwerbspersonenbe- in allen Regionen beobachten, fällt aber nicht über- fragung, genauer beschrieben. Zudem liefert das all gleich groß aus. So zeigen Untersuchungen des Kapitel eine Definition der verschiedenen Ungleich- Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung heitsindikatoren. Diese Kennziffern werden dann (IAB), dass insbesondere die Regionen, die stark im Abschnitt 4 verwendet, um die Entwicklung der durch Tourismus und das Gastgewerbe geprägt Einkommensungleichheit zwischen 2010 und 2017 sind, einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit zu messen und die Sozialprofile armer und reicher zu verzeichnen hatten (Böhme et al. 2020). Aller- Menschen 2 im Jahr 2017 aufzuzeigen. Darauf auf- dings erwähnen die Autor*innen auch, dass es bauend wird im nächsten Kapitel untersucht, wie nach Ende der starken Corona-Beschränkungen sich die Krise finanziell auf Personengruppen aus- im Juni und Juli wieder vermehrt Einstellungen in gewirkt hat, die vor der Krise überdurchschnittlich diesen Branchen gab. Der langfristige Effekt auf häufig als arm oder reich galten. Abschließend die Arbeitslosigkeit kann aber noch nicht vollstän- wird diskutiert, wie diese Ergebnisse im Rahmen dig beurteilt werden, da viele Beschäftigte noch in der Entwicklung zukünftiger Einkommensungleich- Kurzarbeit sind, mittelfristig aber womöglich ihren heit zu interpretieren sind und mit welchen politi- Arbeitsplatz verlieren werden (ebd.). Doch auch schen Maßnahmen sich eine weitere Verschärfung hinsichtlich der Kurzarbeit zeigt sich, dass nicht dieser Entwicklung aufhalten oder zumindest ab- alle Beschäftigten die gleiche Wahrscheinlichkeit schwächen lässt. hatten, in Kurzarbeit zu gehen. Insbesondere Per- sonen mit einem geringen Haushaltseinkommen, Geringqualifizierte und Personen, die nicht im Homeoffice arbeiten können, gingen besonders häufig in Kurzarbeit (Kruppe/Oisander 2020; Kohl- 2 STAND DER FORSCHUNG: WARUM DIE rausch/Zucco 2020; Schroeder et al. 2020). Zwar konnten dank des Gesetzes zur befristeten krisen- CORONA-KRISE UNGLEICHHEITEN bedingten Verbesserung der Regelungen für das VERSTÄRKT Kurzarbeitergeld, das im März 2020 in Kraft trat, auch Leiharbeitnehmer*innen das Kurzarbeitsgeld Die Corona-Krise unterscheidet sich in ihrer Art in Anspruch nehmen, allerdings bezieht sich die von vielen vorherigen Krisen, insbesondere aber Beitragshöhe dabei auf das pauschalierte Nettoein- der letzten großen Wirtschaftskrise, der Finanz- kommen und schließt somit unter anderem auch krise 2008/09. Einerseits, weil sie, anders als die Zuschläge für Nacht- oder Sonntagsarbeit aus. Da Finanzkrise, neben einem Nachfrage- auch einen das Kurzarbeitsgeld maximal 60 % bzw. 67 % des Angebotseinbruch zur Folge hatte. Denn durch die Nettoeinkommens 4 beträgt, bedeutet das vor allem internationale Vernetzung der Wertschöpfungs- für Beschäftigte im Niedriglohnsektor einen gro- ketten führten Lieferprobleme dazu, dass die Pro- ßen (relativen) Einkommenseinbruch (Butterwegge duktion hierzulande zum Erliegen kam (Bofinger 2020). Dies verdeutlicht, dass vor allem Beschäftig- et al. 2020). Die eingeschränkte Betreuungssitua- te, die bereits vor der Krise ein geringes Einkom- tion durch geschlossene Schulen und Kitas führte men hatten, zum Teil drastische Einkommensein- dazu, dass Beschäftigte ihre Arbeitszeit reduzie- ren mussten oder gar komplett freigestellt waren (Kohlrausch/Zucco 2020). Andererseits handelt es sich bei der Corona-Krise um eine Wirtschaftskrise, 3 Laut Butterwegge (2020, S. 138) war das die Folge fallen- die durch eine Pandemie ausgelöst wurde. In der der Lebensmittel-, Boden- und Immobilienpreise sowie steigender Löhne. Vergangenheit haben Epidemien ähnlich wie Krie- 4 Das neue Gesetz zur Erleichterung der Kurzarbeit umfasst in den ersten drei Monaten 60 % des fehlenden Netto- einkommens für Beschäftigte ohne Kinder und 67 % bei jenen mit Kindern. Bei Beschäftigten, die weniger als 2 Ist im Folgenden von Armut und Reichtum die Rede, be- 50 % arbeiten, wird dieser Satz nach vier Monaten auf zieht sich dies auf das relative Konzept der Einkommens- 70 % bzw. 77 % mit Kindern erhöht. Nach sieben Monaten armut bzw. des Einkommensreichtums (Kapitel 3b). steigt der Satz auf 80 % bzw. 87 % mit Kindern. WSI Report Nr. 62, November 2020 Seite 3
bußen auf ohnehin schon relativ problematischem 3 DATEN UND METHODE Niveau erfahren. Umgekehrt erfahren privilegierte Beschäftigte mit höheren Einkommen und flexiblen Daten Zeitarrangements deutlich seltener Arbeitsmarktef- fekte durch die Krise. Die Berechnungen für diesen Bericht stammen aus Besonders stark trifft die Krise dabei aber zwei Datengrundlagen: Der erste Teil, der die Ein- Migrant*innen. Bereits vor der Krise waren Perso- kommensverteilung vor der Pandemie angibt, be- nen mit Migrationshintergrund deutlich stärker von ruht auf dem SOEP. Der zweite Teil, der die ersten Niedrigeinkommen betroffen – konkret sogar mehr Entwicklungen seit Beginn der Corona-Krise be- als doppelt so häufig wie Personen ohne Migrati- schreibt, bezieht sich auf Auswertungen basierend onshintergrund (Grabka/Goebel 2020). Durch die auf der HBS-Erwerbspersonenbefragung, die wäh- Corona-Krise ist jedoch der Anteil der Arbeitslosen rend der Krise durchgeführt wurde. unter Migrant*innen zudem deutlich stärker ge- Das SOEP ist eine repräsentative Haushalts- stiegen als unter Deutschen. Des Weiteren weist befragung, die seit 1984 jährlich durch das Deut- Butterwegge (2020, S. 154) darauf hin, dass nicht sche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) alle Migrant*innen vom Kindergeld sowie dem durchgeführt wird. Hierfür werden in jedem Jahr Kinderbonus der Bundesregierung 5 profitieren, da über 25.000 Personen in etwa 16.000 Haushalten diese an den Aufenthaltsstatus gekoppelt sind. überwiegend in face-to-face-Interviews zu ihrer ak- Da Personen mit Migrationshintergrund deutlich tuellen Lebenssituation befragt (DIW Berlin 2020). häufiger von Niedrigeinkommen und Kurzarbeit Neben Angaben zum Gesundheitszustand und (Grabka/Goebel 2018; Anger et al. 2020) betroffen der Bildungs- und Migrationsgeschichte enthält sind, führt die Krise bei Migrant*innen zu deutlich der Datensatz vielschichtige Informationen zur Er- größeren Einkommenseinbußen. Dieser Effekt ver- werbs- und Einkommenssituation der Befragten. stärkt sich mitunter durch die wesentlich höhere Die SOEP-Daten bieten den Vorteil, dass neben Arbeitslosenquote unter Migrant*innen. den Individualdaten auch umfassend der Haus- Weiterhin unterschied sich die Corona-Krise, haltskontext miteinbezogen werden kann. Zudem insbesondere in ihrer Anfangszeit, von anderen eignet sich das SOEP aufgrund der detaillierten Krisensituationen, da zur Eindämmung des Corona- Einkommensangaben und der erheblichen Stich- Virus die institutionelle Kinderbetreuung auf einen probengröße dazu, die Einkommensverteilung in Notbetrieb heruntergefahren wurde. Lediglich El- Deutschland mittels verschiedener Kennziffern dar- tern, die in den sogenannten systemrelevanten Be- zustellen. Dennoch hat das SOEP, wie die meisten rufen beschäftigt waren, hatten Anspruch auf eine anderen Befragungsdaten, den Nachteil, dass nicht Kindernotbetreuung, sodass Kinder aller anderen alle Personen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit (nicht in systemrelevanten Berufen beschäftigten) an der Befragung teilnehmen. Das ist insofern pro- Eltern von zu Hause aus betreut werden mussten. blematisch, dass gerade Personen mit sehr hohen Das hatte zur Folge, dass viele Beschäftigte – über- Einkommen oder Vermögen seltener an Einkom- durchschnittlich häufig Frauen – ihre Arbeitszeit re- mensbefragungen teilnehmen (Bach et al. 2019; duzieren oder sich gar freistellen lassen mussten. Vermeulen 2018). Weiterhin sind einige Gruppen Auch hier verstärken sich die Effekte bei niedrigem wie u. a. Obdachlose am unteren Ende der Ein- Haushaltseinkommen, da diese Gruppe seltener kommensgruppe ausgeschlossen, da sie durch das im Homeoffice arbeiten konnte und daher die Er- SOEP nicht über den Wohnort und Haushalt erfasst werbsarbeit reduzieren musste, um der Kinderbe- werden können. Diese Selektion hat zur Folge, dass treuung nachzukommen (Kohlrausch/Zucco 2020). die Einkommen an den Rändern der Verteilung nur Besonders hart traf dieser Umstand Alleinerziehen- unvollständig widergegeben werden. Außerdem de, die durch die mangelnde institutionelle Kinder- können Verzerrungen auftreten, wenn am unteren betreuung stärkere Einkommenseinbußen erfuhren Ende der Verteilung das Einkommen häufig aus (u. a. Alon et al. 2020; VAMV NRW 2020). Schamgründen zu hoch und am oberen Ende aus ähnlichen Gründen oder dem Unwissen über das genaue Einkommen zu niedrig angegeben wird (Spannagel/Molitor 2019). Hingegen sind Einkom- mensgruppen zwischen den Rändern eher über- repräsentiert, sodass die Einkommensverteilung zur Mitte hin auch verzerrt ist („Mittelschichtbias“, Unger et al. 2013, S. 2) und die in diesem Bericht mittels Verteilungsmaße quantifizierte Ungleichheit höchstwahrscheinlich unterschätzt wird. Da die letzten verfügbaren Einkommensinforma- tionen des SOEP nur bis einschließlich 2017 – und somit lange Zeit vor Ausbruch der Pandemie und 5 Im Rahmen des im Juni beschlossenen Konjunkturpa- kets erhielten Eltern einen einmaligen Kinderbonus von der daraus folgenden Wirtschaftskrise – vorliegen, 300 Euro je Kind. ist das SOEP – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt – WSI Report Nr. 62, November 2020 Seite 4
ungeeignet, um die Effekte der Corona-Krise auf die le) oder 100 (Perzentile) gleich große Teile eingeteilt Einkommensverteilung zu schätzen. 6 Aus diesem wird. Somit kann die Verteilung der Einkommen Grund wird im Folgenden bei der Entwicklung der genauer untersucht und auch den Einkommen am Einkommensverhältnisse während der Corona-Kri- oberen und am unteren Rand der Verteilung Rech- se zusätzlich auf eine Erwerbspersonenbefragung nung getragen werden. Die gängigste Maßzahl ist zurückgegriffen, die im Auftrag der Hans-Böckler- hierbei der Median, er beschreibt das Einkommen, Stiftung durchgeführt wurde. In einer ersten Befra- das genau in der Mitte der Verteilung liegt, wenn gungswelle wurden zwischen dem 3. und 14. April man die Einkommen ihrer Größe nach sortiert. So- 2020 – also zu Beginn der Pandemie während des mit teilt das Medianeinkommen die Bevölkerung weitreichenden Shutdowns – 7.677 Erwerbsper- in zwei gleich große Teile ein: jene mit Einkommen sonen ab 16 Jahren in einem computergestützten über und jene mit Einkommen unter dem Median. Online-Interview zu ihrer Haushalts- und Erwerbs- Im Jahr 2017 lag das Medianeinkommen des real situation befragt. Ein Großteil von ihnen (N = 6.309) verfügbaren äquivalenzgewichteten Nettohaus- nahm auch an der zweiten Befragung zwischen haltseinkommens bei knapp 21.000 Euro. Auch dem 18. und 29. Juni teil. Die Stichprobe wurde auf die Einkommensdezile spielen bei der Verteilung Grundlage eines Online-Access-Panels nach be- des Einkommens eine wichtige Rolle. Das bedeu- stimmten Quoten der Merkmale Alter, Geschlecht, tet, dass damit Aussagen darüber getroffen wer- Bundesland und Bildung gezogen, sodass die ent- den können, über wie viel Einkommen Personen sprechenden Bevölkerungsgruppen adäquat und verfügen, die zum Beispiel am 10. Prozentpunkt repräsentativ für die Erwerbspersonen Deutsch- der Einkommensverteilung liegen. Weiterhin eig- lands abgebildet werden. nen sich Perzentile dazu, Aussagen über die mitt- leren Einkommen innerhalb der Perzentilgrenze zu Ungleichheitsindizes treffen, also über wie viel Einkommen die ärms- ten 10 % oder reichsten 10 % der Bevölkerung im Um die Einkommensungleichheit in der Bevölke- Durchschnitt verfügen. Da sie noch genauer die rung zu messen, gibt es mehrere Ansätze, aber Verteilungen angeben, sind sie insbesondere für das wohl gängigste Maß ist der Gini-Koeffizient. Er Analysen der Entwicklung der Einkommenskonzen- beschreibt wie gleich oder ungleich Einkommen in tration und für Vergleiche über die Zeit interessant. der Gesellschaft verteilt sind: Bei einem Wert von Zudem gibt es weitere Kennziffern, die die Ein- 0 würden alle Personen das gleiche Einkommen kommensungleichheit quantifizieren und sich da- besitzen und die Einkommen wären somit kom- bei auf Quantilsmaße beziehen. Beispielsweise plett gleich verteilt. Im Gegensatz dazu, steht ein können Maße wie der Theil- und der Palma-Index Gini von 1 für eine völlige Ungleichverteilung der – im Vergleich zum Gini-Koeffizienten – die Einkom- Einkommen, wenn also eine Person das gesam- mensungleichheit an den Rändern besser erfassen. te Einkommen erhalten würde und alle anderen Beim Theil-Index wird das Einkommen immer im nichts. Damit ist der Gini sehr leicht zu interpretie- Verhältnis zur Gruppengröße gesehen. Ähnlich wie ren. Problematisch ist hier allerdings – wie weiter der Gini, nimmt auch der Theil-Index einen Wert oben erläutert – dass in den SOEP-Daten mittlere von 0 an, wenn alle Gruppen, gemessen an ihrem Einkommen im Vergleich zu sehr hohen oder sehr Anteil an der Bevölkerung, das gleiche Einkommen niedrigen Einkommen überrepräsentiert sind. Aus beziehen. Allerdings ist der Wert nach oben nicht diesem Grund wird den mittleren Einkommen bei beschränkt und verändert sich mit Umverteilungen der Berechnung mit diesen Daten ein zu großes von arm nach reich und umgekehrt. Er ist umso Gewicht beigemessen und die Einkommensun- sensitiver, je größer die Differenz zwischen arm gleichheit somit tendenziell unterschätzt (Spanna- und reich ist (Spannagel/Molitor 2019, S. 7; Con- gel/Molitor 2019). ceicao/Ferreira 2000, S. 13). Der Palma-Index hin- Um also ein ganzheitlicheres Bild der Einkom- gegen setzt den Einkommensanteil des obersten mensverteilung zu bekommen, ist es ratsam, auch Dezils ins Verhältnis zu den unteren vier Dezilen. weitere Ungleichheitsmaße hinzuzuziehen. Hier- Wenn das reichste Dezil beispielsweise 30 % des bei eignen sich insbesondere Maße, die sich auf Einkommens bezieht und die unteren vier Dezile gewisse Punkte in der Verteilung beziehen. Dafür zusammen nur 10 %, so läge der Palma-Index bei werden häufig Quantilsmaße verwendet, wofür die drei. Somit gilt auch hier: je höher der Palma-Index, Bevölkerung zunächst ihrem Einkommen nach auf- desto größer die Einkommensungleichheit. steigend sortiert und dann in beispielsweise zwei Um die Entwicklung der Einkommenskonzentra- (Median), vier (Quartile), fünf (Quantile), zehn (Dezi- tion zu quantifizieren wird häufig auch auf die Ein- kommens- und Armutsdefinitionen basierend auf dem Median zurückgegriffen. Demnach werden in 6 Zwar hätten sich Daten der SOEP-CoV-Studie, die wäh- der Literatur üblicherweise diejenigen Haushalte rend der Krise seit Anfang April basierend auf dem SOEP als einkommensarm definiert, die ein Nettoäqui- Umfragedaten erhebt, bestens dazu geeignet, die Vertei- valenzeinkommen (Infobox 1) von höchstens 60 % lungseffekte der Pandemie zu analysieren. Diese lagen al- lerdings zum Zeitpunkt des Verfassens des Berichts noch des Medianeinkommens haben (u. a. Spannagel nicht vor. 2018). Als sehr einkommensarm gelten demnach WSI Report Nr. 62, November 2020 Seite 5
diejenigen, die weniger als 50 % des Medianein- chermaßen änderten, also zum Beispiel allen das kommens besitzen. Im Gegensatz dazu sind laut Doppelte zur Verfügung stehen würde. Außerdem dieser Einkommenskonventionen diejenigen reich geben diese Indikatoren keine Auskunft darüber, und sehr reich, die 200 % bzw. 300 % des Median- welche Teilhabechancen arme oder reiche Men- einkommens besitzen. schen haben. Zwar gibt es auch in Deutschland Abschließend sollte dennoch nicht unerwähnt eine Gruppe von Personen, die so stark von Armut bleiben, dass diese relativen Einkommenskonzepte betroffen ist, dass sie aufgrund von Hunger oder häufig kritisiert werden, da sie immer in Relation Kälte um ihr Leben fürchten muss, allerdings ist die zu dem Wohlstandsniveau des jeweiligen Landes Gruppe insbesondere im Vergleich zu anderen Län- stehen. Das bedeutet, dass relativ Arme in dem ei- dern sehr klein (Spannagel/Molitor 2019). Zudem nen Land in anderen Ländern keineswegs als arm gibt es zu dieser Personengruppe in den offiziellen gelten würden. Zudem ist es wichtig zu betonen, Statistiken und Befragungsdaten kaum Informatio- dass sich generelle Wohlstandssteigerungen in nen, da sich die Befragungen (fast) ausschließlich der Bevölkerung nicht ablesen lassen. Es würde an Haushalte mit festem Wohnsitz richten, sodass sich beispielsweise an den Armutsanteilen nichts diese existenzielle Armut im SOEP kaum betrachtet ändern, wenn sich die Vermögen aller anteilig glei- werden kann. Infobox 1 Einkommensdefinitionen Dieser Bericht bezieht sich beim Einkommen (falls Mittels dieses Ansatzes wird also Bedarf so ge- nicht anders erwähnt) immer auf das real verfüg- wichtet, dass Einkommen zwischen verschiedenen bare äquivalenzgewichtete Nettohaushaltseinkom- Haushaltskonstellationen miteinander verglichen men. Dieses umfasst das Haushaltseinkommen in- werden können. Dieses Vorgehen schließt auch klusive Transferzahlungen sowie der imputed rent, Vorteile mit ein, die durch gemeinsames Zusam- also dem Einkommensvorteil aus selbstgenutzten menwohnen entstehen, zum Beispiel durch eine Wohnraum, abzüglich Sozialbeiträgen und Steuern gemeinsam genutzte Wohnfläche, Internet oder und entsprechend der Haushaltsgröße gewichtet: Strom. Die erste Person erhält demnach ein Gewicht von 1, Das Einkommen im ersten Teil dieses Berichts, jede weitere Person ab 14 Jahren ein Gewicht von das sich auf das SOEP bezieht, basiert auf der Be- 0,5 und jedes Kind unter 14 Jahren ein Gewicht von fragungswelle v35 des SOEPs, die zuletzt im Jahr 0,3. Eine alleinstehende Person mit einem Nettoein- 2018 durchgeführt wurde. Da das Einkommen im- kommen von 2.000 Euro hätte demnach ein Netto- mer retrospektiv erfasst wird, stehen mit der aktu- äquivalenzeinkommen von 2.000 Euro. Ein Paar mit ellen SOEP-Befragungswelle Einkommensinforma- einem Kind ab 14 Jahren bei einem Nettohaushalts- tionen bis 2017 zur Verfügung. einkommen von 2.000 Euro ein Nettoäquivalenzein- In der HBS-Erwerbspersonenbefragung wird kommen von 2.000 Euro/(1+0,5+0,5)=1.000 Euro zwar das aktuelle Individual- und Haushaltsein- und eine alleinerziehende Person mit 2 Kindern un- kommen abgefragt, allerdings nur in relativ groben ter 14 Jahren bei einem Haushaltseinkommen von Kategorien. Zudem wird auf Variablen zurückge- 2.000 Euro ein Nettoäquivalenzeinkommen von griffen, die erfragen, ob und wenn ja, in welcher 2.000 Euro/(1+0,3+0,3)=1.250 Euro. Höhe Einkommensverluste aufgetreten sind. WSI Report Nr. 62, November 2020 Seite 6
4 EINKOMMENSENTWICKLUNG VON Das bedeutet, dass die reichsten 10 % der deut- schen Haushalte mehr besaßen als die ärmsten 2010 BIS 2017 40 % zusammen. Bis 2013 stieg der Wert auf knapp Bereits frühere WSI-Verteilungsberichte (z. B. Span- 1,08. Im Jahr 2014 sank der Index wieder leicht und nagel/ Molitor 2019, Spannagel 2018, Spannagel lag 2017 nach einem leichten Anstieg wieder bei 2015) zeigten, dass die Einkommensungleichheit in 1,05. Die Entwicklung des Theil-Index verläuft weit- Deutschland seit den 1990er Jahren stark angestie- gehend parallel dazu. Auch dieser Index erreicht im gen ist. Betrachtet man nun die Entwicklung des Jahr 2013 sein Maximum von 0,165. Im Jahr 2017 Gini-Koeffizienten für Deutschland seit 2010 ist nur entwickeln sich der Theil- und der Palma-Index ein leichter Anstieg erkennbar. Demnach ist die allerdings leicht auseinander, da der Palma-Index Einkommensungleichheit von 2010 bis 2013 zwar stärker sinkt als der Theil-Index. Sowohl der Gini- stetig angestiegen und der Gini-Koeffizient erreicht Koeffizient als auch der Palma- und der Theil-Index zu diesem Zeitpunkt sein Maximum von 0,294 (Abb. verdeutlichen, dass die Einkommensungleichheit 1). Seitdem ist der Gini aber wieder leicht gesun- bis 2013 stetig gestiegen ist und seitdem in etwa ken und erreicht für das Jahr 2017 einen Wert von stagniert. 0,289. Doch trotz dieses Rückgangs zuletzt, lässt Detailliertere Aussagen sind mit Blick auf die der Gini-Wert doch erkennen, dass in Deutschland Entwicklung der verfügbaren Einkommen über die die Einkommen nicht sonderlich gleich verteilt Zeit in verschiedenen Einkommensgruppen mög- sind. Im OECD-Vergleich liegt Deutschland damit lich (Abb. 3). Hierbei wird der Mittelwert der ver- zwar unter den Gini-Werten beispielsweise der USA fügbaren Nettoäquivalenzeinkommen des Dezils (0,39), Großbritanniens (0,366), Italiens (0,334) der entsprechenden Jahre jeweils zum mittleren oder Spaniens (0,333), aber über den einiger seiner Nettoäquivalenzeinkommen des jeweiligen Dezils Nachbarländer wie Österreich (0,275), Dänemark im Jahr 2010 ins Verhältnis gesetzt. Die in Abb. 3 (0,261) und Tschechien (0,249) (OECD 2020). abgezeichneten Werte beschreiben somit die Ein- Wie bereits in Kapitel 3 beschrieben, ist der Gini- kommensverteilung der jeweiligen Dezile im Ver- Koeffizient aber nur bedingt geeignet die Ungleich- hältnis zur Situation im Jahr 2010. Während das heit zu messen, da er zum Beispiel keine Aussagen durchschnittliche Einkommen des obersten Dezils über die Einkommensentwicklung an den Rändern bis 2013 leicht gestiegen ist, ist es im Jahr 2014 erlaubt. Aus diesem Grund werden zusätzlich der leicht gesunken und steigt seitdem kontinuierlich Palma- und der Theil-Index miteinbezogen, die die an. Ähnlich verhält sich auch die Einkommensent- Einkommensränder stärker im Blick haben (Abb. 2). wicklung des neunten Dezils, da das mittlere Ein- Der Palma-Index, der den Einkommensanteil des kommen in diesem Dezil zwischen 2013 und 2016 obersten Quantils zu den unteren vier angibt, lag stetig gestiegen ist. den gesamten Beobachtungszeitraum über dem Wert 1. Abbildung 1 Abbildung 1 Gini-Koeffizient der Gini-Koeffizient derverfügbaren verfügbarenHaushaltseinkommen, Haushaltseinkommen,2010–2017 2010–2017 0,300 0,294 0,295 0,293 0,293 0,291 0,289 0,290 0,288 0,285 0,285 0,282 0,280 0,275 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Quelle: SOEP Welle v35; eigene Berechnung Quelle: SOEP v35; eigene Berechnungen WSI Report Nr. 62, November 2020 Seite 7
Abbildung 2 Abbildung 2 Palma- und Palma- undTheil-Index Theil-Indexder derverfügbaren verfügbarenHaushaltseinkommen, Haushaltseinkommen,2010–2017 2010–2017 1,10 0,17 0,1646 0,1595 1,08 0,16 1,05 1,05 0,15 1,01 1,00 0,1425 0,14 – 0,95 0,13 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Palma-Index (linke Achse) Theil-Index(linke Palma-Index (rechte Achse) Achse) Theil-Index (rechte Achse) Quelle: SOEP Welle v35; eigene Berechnung Quelle: SOEP v35; eigene Berechnungen Sowohl für das neunte als auch für das zehnte De- Damit lassen sich im Hinblick auf die Indizes zil lässt sich aber für 2017 beobachten, dass die und die Entwicklungen der einzelnen Einkommens- Einkommen nicht bzw. nur leicht angestiegen sind. dezile folgende drei Aspekte festhalten: Erstens Besonders bemerkenswert ist aber die Entwicklung ist der Anstieg des Gini-Koeffizienten bis 2013 vor der mittleren Einkommen des fünften Dezils: Wäh- allem durch das 10. Dezil zu erklären, da die Ein- rend sie bis 2013 leicht absanken, stiegen sie seit kommen am oberen Ende der Verteilung bis 2013 2013 kontinuierlich an und lagen 2017 deutlich über stärker gestiegen sind als für andere. Zweitens ist dem mittleren Einkommen von 2010. Hingegen der leichte Rückgang der Einkommensungleichheit sind die mittleren Einkommen des ersten und zwei- im Jahr 2017 (vgl. Abb. 1 und 2) auf einen relativ ten Dezils zwischen 2010 und 2013 gesunken. An- starken Anstieg der mittleren Einkommen im Ver- schließend sind die durchschnittlichen Einkommen gleich zu den hohen Einkommen zurückzuführen. des zweiten Dezils wieder angestiegen und lagen Drittens haben im Jahr 2017 bis auf das ärmste 2017 etwas über dem von 2010. Das durchschnittli- Dezil alle Einkommensgruppen höhere Einkommen che Einkommen des ersten Dezils jedoch sank wei- als 2010. Die Haushalte am unteren Ende der Ein- ter und erreichte 2015 mit 94 % des Einkommens kommensverteilung konnten folglich nicht so stark von 2010 seinen Tiefpunkt und lag aber auch 2017 bzw. gar nicht von der positiven Einkommensent- noch unter dem durchschnittlichen Einkommen wicklung profitieren wie die restlichen Haushalte. von 2010. Für die reichsten Dezile sind somit eher Dieser Befund belegt auch, dass die Einführung Anstiege zu verzeichnen – ähnlich für durchschnitt- des Mindestlohns und andere Maßnahmen nicht liche Einkommen. Die Einkommen der Ärmsten ausreichend waren, um in diesem Dezil eine län- liegen im Jahr 2017 jedoch insgesamt kaum höher gerfristige positive Einkommensentwicklung zu er- (2. Dezil) bzw. sogar niedriger (1. Dezil) als im Jahr reichen (z. B. Burauel et al. 2018). 2010. WSI Report Nr. 62, November 2020 Seite 8
Abbildung 3 Abbildung 3 Mittelwert der real verfügbaren äquivalenzgewichteten Nettohaushaltseinkommen nach Einkommensdezilen, 2010–2017 Mittelwerte der realverfügbaren äquivalenzgewichteten Nettohaushaltseinkommen nach Einkommensdezilen, 2010–2017 Angaben in Prozent, normiert auf das Jahr 2010 = 100 Angaben in Prozent, normiert auf das Jahr 2010 = 100 110 108 108 106 105 103 100 97 95 90 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Dezil 1 Dezil 2 Dezil 5 Dezil 9 Dezil 10 Quelle: SOEP Welle v35; eigene Berechnung Quelle: SOEP v35; eigene Berechnungen Letzteres bestätigt sich beim Blick auf die Ein- Neben der reinen Entwicklung der Einkom- kommensarmut und den Einkommensreichtum mensungleichheit stellt sich auch die Frage, wel- zwischen 2010 und 2017 (Abb. 4). Seit 2012 ist der che Gruppen besonders häufig einkommensarm Anteil der Bevölkerung, der arm ist, also weniger oder einkommensreich sind. Aus diesem Grund als 60 % des Medianeinkommens zur Verfügung wird in Tabelle 1 das Sozialprofil der armen bzw. hat, von 14 % auf 16 % im Jahr 2017 gestiegen. reichen Haushalte im Vergleich zur Gesamtbevöl- Auch der Anteil der sehr einkommensarmen Be- kerung aufgezeigt. Dabei offenbart sich zunächst, völkerung (bis zu 50 % des Medianeinkommens) ist dass 23,4 % der einkommensarmen Haushalte in im gleichen Zeitraum um zwei Prozentpunkte auf Ostdeutschland und 76,6 % in Westdeutschland 10 % angestiegen – auf diesem Niveau ein erhebli- leben. Umgekehrt wohnen aber nur 6,5 % der rei- cher Anstieg. Allerdings ist der Anteil der einkom- chen Haushalte in Ostdeutschland und 93,5 % im mensreichen Bevölkerung mit einem Rückgang um Westen des Landes. Setzt man diese Zahlen mit einen Prozentpunkt auf 7 % leicht gesunken, dies der Gesamtbevölkerung ins Verhältnis, verdeutlicht lässt sich womöglich dadurch erklären, dass in die- sich, dass in Ostdeutschland arme Haushalte über- sem Zeitraum auch die mittleren Einkommen ange- und reiche Haushalte unterrepräsentiert sind. Das stiegen sind (vgl. Abb. 3). Der Anteil der sehr ein- bedeutet, dass ostdeutsche Haushalte zumindest kommensreichen Haushalte hingegen bleibt über relativ häufiger von Armut betroffen sind und rela- den gesamten Zeitraum hinweg sehr konstant bei tiv seltener reich sind. 2 %. WSI Report Nr. 62, November 2020 Seite 9
Abbildung 4 Abbildung 4 Einkommensarmut und Einkommensreichtum, 2010–2017 Einkommensarmut und Einkommensreichtum, 2010–2017 Angaben Angaben in Prozent in Prozent 18 16,5 16,2 16 14,3 14 arm 12 10,2 10 9,8 8,4 7,6 7,0 8 7,9 6 sehr arm reich 4 2,0 2 1,8 1,7 sehr reich 0 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 Quelle: SOEP Welle v35; eigene Berechnung Quelle: SOEP v35; eigene Berechnungen Hinsichtlich des Erwerbsstatus lassen sich kla- lichkeit zusammenhängt, arm oder reich zu sein. re Zusammenhänge beobachten. Wenig überra- So haben 83,3 % der Einkommensreichen keinen schend machen arbeitslose Personen knapp ein Migrationshintergrund, obwohl sie nur 75,9 % der Viertel der einkommensarmen Bevölkerung aus, Bevölkerung ausmachen. Hingegen sind Personen obwohl nur 5,2 % der Bevölkerung arbeitslos sind. mit einem Migrationshintergrund (eigener oder der Im Gegensatz dazu sind 19,6 % der reichen Bevöl- der Eltern) – in Relation zu ihrem Anteil an der Be- kerung selbstständig, während sie nur 5,9 % der völkerung – häufiger arm. Zudem zeigt sich, dass deutschen Bevölkerung insgesamt ausmachen. das Armutsrisiko noch größer ist, wenn man selbst Zudem sind Beamte und Angestellte unter der rei- migriert ist, als wenn die Eltern migriert sind. chen Bevölkerung eher überrepräsentiert, während Somit lässt sich zusammenfassend festhalten, Arbeiter*innen und Rentner*innen 7 unter den Ein- dass in Deutschland die Einkommen – insbesonde- kommensarmen deutlichen stärker vertreten. Au- re an den Rändern – ungleich verteilt sind. Zwar ist ßerdem lässt sich feststellen, dass Hochschulab- die Einkommensungleichheit in den letzten Jahren solventen unter den Einkommensreichen deutlich wieder leicht zurückgegangen, dies ist aber zum überrepräsentiert sind. großen Teil auf steigende Einkommen in der Mitte Weiterhin zeigen sich deutliche Unterschiede der Verteilung zurückzuführen; die untersten Ein- bei den Haushaltstypen: Alleinerziehende sind wie kommensgruppen hingegen konnten von diesem Singles – gemessen an ihrem Anteil an der Bevöl- Anstieg kaum profitieren. Insbesondere Ostdeut- kerung (4,3 % bzw. 21,4 %) – unter den Einkom- sche, Arbeitslose, Personen ohne Hochschulab- mensarmen mit 12,0 % bzw. 33,9 % deutlich über- schluss, Alleinerziehende und Singles sowie Per- repräsentiert. Des Weiteren besteht mehr als jeder sonen mit Migrationshintergrund waren 2017 am zweite einkommensreiche Haushalt aus einem Paar häufigsten von Einkommensarmut betroffen. An ohne Kinder, obwohl dieser Haushaltstyp nur ein dieser Stelle muss einschränkend erwähnt werden, Drittel aller Haushalte ausmacht. dass es wünschenswert gewesen wäre auf aktuelle Zudem weisen die Ergebnisse darauf hin, dass Daten zur Einkommensverteilung zurückzugreifen, ein Migrationshintergrund eng mit der Wahrschein- die den Zustand vor Ausbruch der Corona-Krise adäquat widergeben. Leider liegen zum Zeitpunkt des Verfassens des Berichts keine aktuelleren Da- ten vor. Daher fehlen die Jahre 2018 und 2019 bei 7 Erwartungsgemäß verfügen Rentner*innen über geringe- der hier skizzierten Einkommensentwicklung, aller- re Einkommen, allerdings können sie häufiger auf Erspar- nisse zurückgreifen als Personen jüngerer Altersgruppen dings gibt es wenig Grund zur Annahme, warum (Bundesbank 2019). Jedoch führen geringe Einkommen sich die Einkommensungleichheit zwischen 2017 während des Erwerbslebens neben geringen Renten und 2019 deutlich verändert haben sollte, sodass auch dazu, dass Personen weniger Einkommen ansparen können. Damit ist Altersarmut meist die Folge geringer die oben dargestellten Befunde nicht auch in dieser Erwerbseinkommen (Blank 2017; Tiefensee 2017). Zeit auftraten. WSI Report Nr. 62, November 2020 Seite 10
Tabelle 1 Sozialprofil der Einkommensarmen und -reichen und der Gesamtbevölkerung in Deutschland 20171 Sozialprofil der Haushalte, deren Nettoäquivalenzeinkommen 2017 unter 60 % (arm, linke Spalte) bzw. über 200 % Tab 1 (reich, mittlere Spalte) des Medianeinkommens lag im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (rechte Spalte). Anteil in Prozent2 Dimension arm reich Gesamtbevölkerung …nach Region Ost 23,4 6,5 17,2 West 76,6 93,5 82,8 …nach beruflicher Stellung Selbstständige*r 2,6 19,6 5,9 Beamte*r 0,4 9,0 3,9 Angestellte*r 24,7 51,2 41,9 Arbeiter*in 16,4 2,2 13,6 Rentner*in 31,9 17,0 29,5 Arbeitslose*r 24,0 1,0 5,2 …nach Hochschulabschluss Kein Hochschulabschluss 88,9 41,1 77,4 Universität 11,1 58,9 22,6 …nach Haushaltstyp Single 33,9 13,9 21,4 Paar ohne unterhaltsberechtigte Kinder 19,4 50,5 31,3 Alleinerziehende 12,0 0,7 4,3 Paar mit Kind 23,0 21,2 27,5 Sonstige 11,7 13,6 15,5 …nach Migrationshintergrund Kein Migrationshintergrund 57,9 83,3 75,9 Migrationshintergrund der Eltern 15,9 7,0 9,9 Eigener Migrationshintergrund 26,2 9,7 14,1 Lesebeispiel: 2,6 % der einkommensarmen Haushalte haben einen selbstständigen Haushaltsvorstand, bei den Reichen sind es 19,6 %, in der Gesamtbevölkerung sind es 5,9 % 1 Angaben beziehen sich auf den Haushaltsvorstand. Quelle: SOEP v35, Welle 2018; eigene Berechnungen Seite 2 Nr. 000 · Monat Jahr · Hans-Böckler-Stiftung WSI Report Nr. 62, November 2020 Seite 11
5 UNGLEICHHEITSENTWICKLUNGEN A1 im Anhang). Es zeigt sich, dass knapp ein Drit- tel aller befragten Erwerbspersonen in Deutschland WÄHREND DER CORONA-KRISE (31,8 %) im Juni 2020 angab, Einbußen beim Haus- Im Folgenden werfen wir einen Blick auf die jüngs- haltseinkommen während der Corona-Pandemie ten Entwicklungen der sozialen Ungleichheit in verzeichnet zu haben. Dies lässt auf eine weite Ver- Deutschland im Jahr 2020, welche massiv durch breitung von Verlusten in der Bevölkerung schlie- die Corona-Pandemie geprägt sind. Dazu ziehen ßen. Detailliertere Analysen anhand statistischer wir die Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böck- Regressionen zeigen jedoch, dass diese keines- ler-Stiftung heran. Um Aussagen über die jüngste wegs gleichmäßig in der Bevölkerung verteilt sind, Entwicklung sozialer Ungleichheit tätigen zu kön- sondern vielmehr bestimmte Gruppen besonders nen werden wir in diesem Abschnitt betrachten, häufig treffen. wer finanziell besonders von der Corona-Krise be- Hier fällt vor allem das Einkommen auf: Befragte, troffen ist und Verluste beim Haushaltseinkommen die im Juni angaben, niedrige Einkommen zu ha- hinnehmen musste. Dazu werden wir in einem ers- ben, erlitten bedeutend häufiger Einkommensein- ten Schritt analysieren, wer besonders häufig von bußen als Befragte mit höherem Haushaltseinkom- Einkommenseinbußen betroffen ist. Im zweiten men (Abb. 5). 8 Dieser Zusammenhang bleibt auch Schritt betrachten wir dann, wer besonders hohe dann bestehen, wenn in den Regressionen weitere Haushaltseinkommenseinbußen zu verzeichnen Erklärungsfaktoren konstant gehalten werden. Bei hatte, also besonders hart von den wirtschaftlichen gleichem Alter, Geschlecht, Bildungsstand oder Folgen der Corona-Pandemie betroffen ist. zahlreicher weiterer Faktoren haben Befragte mit niedrigeren Einkommen deutlich häufiger Einbu- Wer hat besonders häufig ßen hinnehmen müssen als Befragte mit ursprüng- Einkommensverluste? lich höheren Einkommen. Der Abbildung und dem linearen Effekt ist jedoch Zur Beantwortung der ersten Frage, orientieren wir ebenfalls zu entnehmen, dass in etwa jede*r dritte uns an den Analysen von Hövermann und Kohl- Befragte mit mittleren Einkommen (1.500 Euro bis rausch (2020), die Einkommenseinbußen mit den 4.500 Euro) Einbußen hinnehmen musste. hier ebenfalls verwendeten Daten analysierten. Anders als Hövermann und Kohlrausch (2020), die hierfür das Individualeinkommen der Befragten zu- 8 In einer früheren Version des Berichts hieß es „bereits vor grunde legten, werden wir im Folgenden jedoch der Krise“. Die Einteilung in die Einkommensklassen in auf das Haushaltseinkommen fokussieren (vgl. Tab. Abb. 5 beziehen sich aber auf Einkommensangaben aus der 2. Befragungswelle. Abbildung 5 Abbildung 5 Haushalte mit und ohne Einkommenseinbußen durch Corona, nach Höhe des monatlichen Nettoeinkommens Haushalte mit und ohne Einkommenseinbußen durch Corona, nach Höhe des monatlichen Nettoeinkommens Ein- und Mehrpersonenhaushalte, Anteile in Prozent Ein- und Mehrpersonenhaushalte, Anteile in Prozent Einbußen keine Einbußen 26,1 31,4 31,3 36,5 41,3 49,3 50,7 58,7 63,5 68,6 68,7 73,9 unter 900 Euro 900 bis 1500 Euro 1500 bis 2000 Euro 2000 bis 2600 Euro 2600 bis 4500 Euro über 4500 Euro Quelle: Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung, Welle 2; N = 5184; Gewichtung nach Welle 2 Quelle: Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung, Welle 2; N = 5184; Gewichtung nach Welle 2 WSI Report Nr. 62, November 2020 Seite 12
Damit hatte diese Einkommensgruppe seltener Gruppen in besonders stark betroffenen Branchen, Einbußen als Befragte mit niedrigen Einkommen, Einkommensgruppen oder Beschäftigungsverhält- die mit 41 % (900 Euro – 1.500 Euro) bzw. 49 % nissen zurückzuführen sind, sondern fortbestehen, (bis 900 Euro) deutlich häufiger Einbußen hatten. wenn diese Faktoren konstant gehalten werden. Allerdings verdeutlicht sich auch, dass Befragte In anderen Worten äußern Eltern und Personen mit mittleren Einkommen häufiger von der Krise mit Migrationshintergrund bei gleichem Einkom- betroffen waren als Befragte mit hohen Einkom- men, Bildungsstand oder Beschäftigungsverhältnis men, denn nur eine*r von vier Befragten mit einem häufiger Einbußen als Befragte ohne Kinder oder Haushaltsnettoeinkommen von über 4.500 Euro er- ohne Migrationshintergrund. Während ersteres litt durch die Krise einen Einkommenseinbruch. aller Wahrscheinlichkeit nach auf den durch die Befragte mit atypischen oder prekären Arbeits- Schul- und Kitaschließungen entstandenen Betreu- verhältnissen – etwa als Leiharbeiter*innen oder ungsengpass zurückzuführen ist, lässt letzteres auf Minijobber*innen – haben ebenfalls häufiger Ein- Diskriminierungsprozesse schließen (ebd.). kommen einbüßen müssen als stabil Beschäftigte. Betrachten wir diese Befunde unter dem Ge- Zudem zeigt sich, dass insbesondere Selbststän- sichtspunkt von Ungleichheitsentwicklungen, so dige und Freiberufler*innen Einbußen hinnehmen deutet sich hier an, dass sich bereits bestehende mussten, während dies für Beamt*innen äußerst Ungleichheiten weiter verstärken werden. Mit pre- selten der Fall war. Ebenso sind es insbesondere kär Beschäftigten, Personen mit niedrigeren Ein- Erwerbstätige im Gastgewerbe, die besonders häu- kommen oder Personen mit Migrationshintergrund fig Einbußen hatten (vgl. Hövermann/Kohlrausch sind insbesondere diejenigen Gruppen besonders 2020). häufig betroffen, die ohnehin benachteiligt sind. Regional lässt sich eine Differenz zwischen Be- fragten in ostdeutschen und in westdeutschen Wer hat besonders große Bundesländern aufweisen, insofern als Befragte in Einkommensverluste? westdeutschen Bundesländern häufiger Einbußen hinzunehmen hatten. Wesentlich markanter sind Aufbauend auf den zuvor dargestellten Befunden jedoch zwei andere Faktoren: Eltern mit Kindern zu den Erwerbspersonengruppen, die besonders oder Jugendlichen im Haushalt sowie Befragte mit häufig Einbußen hinzunehmen hatten, wird in die- Migrationshintergrund berichten häufiger von Ein- sem Schritt analysiert, welche Gruppen besonders bußen beim Haushaltseinkommen. Hier ist wich- hart von Verlusten getroffen wurden und einen tig zu betonen, dass diese Differenzen nicht auf besonders hohen prozentualen Anteil ihres Haus- eine etwaige besonders starke Verbreitung dieser haltseinkommens einbüßen musste. Abbildung 6 Abbildung 6 Haushaltemit Haushalte mitEinkommenseinbußen Einkommenseinbußendurch durchCorona, Corona,nach nachHöhe Höheder derEinbußen Einbußenund undmonatlichem monatlichem Nettoeinkommen Nettoeinkommen Mehrpersonenhaushalte,Anteile Mehrpersonenhaushalte, AnteileininProzent Prozent spürbare Einbußen (bis 25 %) große Einbußen (25-50 %) sehr große Einbußen (50-99 %) 100 % über 4500 Euro 71,5 21,5 6,4 2600 bis 4500 Euro 67,1 26,6 6,2 2000 bis 2600 Euro 53,9 39,9 4,8 1500 bis 2000 Euro 50,7 40,6 6,4 900 bis 1500 Euro 47,8 44,0 7,1 unter 900 Euro 40,3 40,3 9,7 9,7 Quelle:Erwerbspersonenbefragung Quelle: Erwerbspersonenbefragungder derHans-Böckler-Stiftung, Hans-Böckler-Stiftung,Welle Welle2;2;N N= =1614; 1614;Gewichtung Gewichtungnach nachWelle Welle22 WSI Report Nr. 62, November 2020 Seite 13
Konkret betrachten wir hierzu die in der HBS-Er- Vermögensverteilung zur Folge haben, denn wäh- werbspersonenbefragung erhobene Frage nach der rend die bereits Bessergestellten über die Krise hin- Höhe der finanziellen Einbußen auf Haushaltsebe- weg kaum Einbußen haben und sich somit durch ne sind. Allerdings wurde diese Frage nicht an al- die Krise wohl nur selten verschulden, verschärft leinstehende Personen gestellt, sodass diese nicht sich die Situation bei Personen im unteren Einkom- in den folgenden Analysen berücksichtigt werden mensdezil, die bereits vor der Krise eine negative konnten. Dementsprechend verringert sich die Fall- Sparquote aufwiesen (Späth/Schmid 2016). zahl auf 1851 Befragte mit Einbußen, von denen die Ein wesentlicher Grund für hohe Einkommen- Höhe der Einbußen wie folgt angegeben wurde: seinbußen während der Krise ist die Kurzarbeit. 61 % gaben Einbußen des Haushaltseinkommens Im April lag der Anteil der Personen, die in Kurz- bis zu 25 % an, 31 % „zwischen 25-50 %“, 7 % „zwi- arbeit waren, mit 18 % (ca. 6 Millionen sozialversi- schen 50 und 99 %“ und 1 % gab an, dass das kom- cherungspflichtig Beschäftigte) deutlich über dem plette Haushaltseinkommen verloren wurde. vorherigen Allzeithoch von 1,5 Millionen Kurzarbei- Die folgenden Regressionsmodelle ermögli- tenden oder 5,5 % der Beschäftigten (Pusch/Seifert chen verschiedene Einflussfaktoren statistisch zu 2020). Dabei zeigt sich, dass auch hier vor allem kontrollieren und potenzielle Scheinzusammen- Personen in den geringeren Einkommensgruppen hänge weitgehend aufzudecken. Die Befunde der deutlich häufiger von Kurzarbeit betroffen sind verschiedenen Modelle ergeben ein eindeutiges (Abb. 7). Denn insbesondere Befragte mit Nettoein- Bild (vgl. Tabelle A2 im Anhang). Erneut sticht der kommen bis 1.700 Euro berichten häufig von Kurz- durchgehend sehr relevante Effekt des niedrigen arbeit, gefolgt von Befragten mit Nettoeinkommen Haushaltseinkommens ins Auge – Befragte mit bis 3.200 Euro. Befragte, die noch höhere Netto- niedrigeren Haushaltseinkommen zeigen häufiger einkommen aufweisen, beziehen deutlich seltener bedeutende Einbußen ihres ohnehin schon gerin- Kurzarbeitsgeld. geren Einkommens. Dieser Zusammenhang zwischen Kurzarbeit und Außerdem sind es insbesondere jüngere Befrag- persönlichem Nettoeinkommen lässt sich vor allem te, die höhere Einbußen hinnehmen mussten. Wei- verstehen, wenn man vergleicht, welche Betriebe tere demografische Faktoren wie das Geschlecht, und Branchen von Kurzarbeit betroffen sind. Auf der Migrationshintergrund oder ob die Befragten Basis der HBS-Erwerbspersonenbefragung ver- Eltern sind, spielen hier jedoch keine Rolle. Glei- deutlichen die Ergebnisse von Pusch und Seifert ches gilt für regionale Faktoren, wie beispielsweise (2020), dass insbesondere Befragte in kleinen oder der Differenzierung nach Ost- und Westdeutsch- Kleinstbetrieben häufig in Kurzarbeit gingen. Wei- land. Ein Faktor, der bislang in den obigen Analy- terhin zeigen die Autoren, dass Befragte aus dem sen noch nicht auffiel, ist die Gemeindegröße, die Gastgewerbe besonders häufig – konkret fast die sich hier durchgehend als relevant erweist: je grö- Hälfte der dort beschäftigten Befragten – angaben, ßer die Gemeinde/Stadt, in der die Befragten leben, Kurzarbeitsgeld beantragt zu haben. Auch Beschäf- desto höher die erlittenen Einbußen. tigte im verarbeitenden Gewerbe sowie im Verkehr- Des Weiteren zeigen sich folgende Merkmale und Logistik-Sektor waren überdurchschnittlich als bedeutend: Es sind insbesondere Selbststän- häufig in Kurzarbeit. Kaum von Kurzarbeit betrof- dige und Freiberufler*innen, die mit hohen Einbu- fen waren demnach Beschäftigte im öffentlichen ßen auffallen. Zudem sind es vor allem Befragte Dienst oder im Finanz- und Versicherungsdienst- im Gastgewerbe, die nicht nur besonders häufig, leistungssektor. Somit traf die Krise insbesondere sondern auch besonders ausgeprägte Einbußen die Betriebe und Sektoren, die bereits vorher un- hinnehmen mussten. Schließlich zeigen sich Be- terdurchschnittliche Löhne hatten (Statistisches fragte in verschiedenen atypischen und prekären Bundesamt 2020; Frodermann et al. 2018). Damit Beschäftigungsverhältnissen (nicht-sozialversiche- verdeutlichen die Ergebnisse, dass die Kurzarbeit, rungspflichtig, befristet, bei Leih-/Zeitarbeitsfirma, die ein geeignetes Mittel ist, Arbeitslosigkeit in Kri- Werkvertrag) als durchgehend ausgeprägter von senphasen abzuwenden, vor allem diejenigen trifft, Einbußen betroffen, während Befragte in mitbe- die davor bereits sehr niedrige Einkommen bezo- stimmten Betrieben mit Betriebsrat geringere Ein- gen. Zwar ist das Kurzarbeitsgeld – außer bei Kurz- bußen hinzunehmen hatten. arbeit Null – höher als das Arbeitslosengeld (Pusch Fasst man nun abschließend die dargestellten und Seifert, 2020), dennoch können Einkommens- Befunde zu den aktuellen Entwicklungen zusam- einbußen von mindestens 25 % gerade bei dieser men, erscheint ein relativ einheitliches Bild der Gruppe bedeuten, dass ihr Einkommen unterhalb besonders starken Belastung vor allem derjenigen des Existenzminimums liegt. Dies ist ein Hinweis Gruppen, die ohnehin benachteiligt sind. Hier ist darauf, dass das Kurzarbeitergeld für niedrigere vor allem herauszustellen, dass Personen mit oh- Einkommensgruppen zu gering ist. nehin niedrigen Einkommen nicht nur besonders Was bedeuten diese Ergebnisse also für die häufig, sondern auch besonders hart von der Krise zukünftige Einkommensentwicklung? Zum letz- getroffen wurden, wie auch noch einmal in Abb. 6 ten Zeitpunkt vor der Krise war zu erkennen, dass deutlich wird. Dies könnte weiter fortschreitende insbesondere die mittleren Einkommen Zuwächse Ungleichheitsprozesse insbesondere bezüglich der erfuhren, während die unteren Einkommen kaum WSI Report Nr. 62, November 2020 Seite 14
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