VERTEILUNGSBERICHT 2020 - Die Einkommensungleichheit wird durch die Corona-Krise noch weiter verstärkt

 
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REPORT
Nr. 62, November 2020

VERTEILUNGSBERICHT 2020
Die Einkommensungleichheit wird durch die Corona-Krise noch weiter verstärkt
Bettina Kohlrausch, Aline Zucco und Andreas Hövermann

AUF EINEN BLICK

In Deutschland waren die Einkommen bereits vor vom Aufschwung der letzten Jahre hingegen kaum
der Corona-Krise ungleich verteilt. Dieser Vertei- profitieren. Diese Tendenz wird sich durch die Krise
lungsbericht zeigt, dass während der Krise insbe- noch verstärken, wie eine Analyse von Daten zeigt,
sondere die unteren Einkommensgruppen Einbu- die im Rahmen der Erwerbspersonenbefragung
ßen erlitten haben. Damit deuten die Ergebnisse im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung im April und
darauf hin, dass die Einkommensungleichheit Juni 2020 erhoben wurden. Die Ergebnisse ver-
durch die Krise weiter zunehmen könnte.             deutlichen sehr eindringlich, dass Personen mit ge-
   SOEP-Daten belegen, dass die Einkommensun- ringem Einkommen häufiger Einbrüche im Einkom-
gleichheit seit 2010 gestiegen ist. Zwar lässt sich men hinnehmen müssen – und dass ihre Einbußen
am Gini-Koeffizienten nach 2013 ein leichter Rück- zudem auch stärker ins Gewicht fallen. Erwerbs-
gang ablesen – diese Entwicklung ist aber vor allem tätige mit hohen Einkommen und Beschäftigte in
durch einen Anstieg der mittleren Einkommen zu Normalarbeitsverhältnissen haben hingegen kaum
erklären. Die unterste Einkommensgruppe konnte krisenbedingte Verluste verzeichnet.

Ungleichheit der Einkommen in Deutschland
Gini-Koeffizient der verfügbaren Haushaltseinkommen
                                                                      0,294
  0,295                                                                                0,293         0,293
                                                                               0,291
                                                                                                              0,289
  0,290                                          0,288
                                  0,285
  0,285
              0,282

  0,280
                2010              2011              2012              2013     2014    2015          2016    2017

Je größer der Koeffizient, desto höher die Ungleichverteilung der Einkommen.                   Daten: SOEP
INHALT

                        Auf einen Blick ����������������������������������������������������������1        4     Einkommensentwicklung von 2010 bis 2017 ������7

                        1       Einleitung ����������������������������������������������������������� 2   5     Ungleichheitsentwicklungen während
                                                                                                                  der Corona-Krise ����������������������������������������������12
                        2       Stand der Forschung: Warum die Corona-Krise .
                                Ungleichheiten verstärkt? ��������������������������������� 3              6     Diskussion und Fazit ����������������������������������������16

                        3       Daten und Methode ������������������������������������������ 4             Glossar ��������������������������������������������������������������������18

                        1 EINLEITUNG  1
                        Die Corona-Krise, die Deutschland im Frühjahr                                          Bereits vor der Krise war ersichtlich, dass es
                        2020 erreichte, unterschied sich in vielerlei Hinsicht                              in Deutschland eine vielzitierte Schere zwischen
                        von anderen Wirtschaftskrisen: Zunächst ist diese                                   arm und reich gibt: Während sich die Vermögen-
                        Krise – anders als zum Beispiel die Ölkrisen in den                                 sungleichheit in Deutschland seit Jahrzehnten auf
                        1970er Jahren und die Finanz- und Wirtschaftskri-                                   einem sehr hohen, aber relativ stabilen Niveau be-
                        se 2008/09 – nicht die unabwendbare Folge öko-                                      findet (Tiefensee 2017), stieg insbesondere die Ein-
                        nomischer Entwicklungen wie starken Preisstei-                                      kommensungleichheit seit der Wiedervereinigung
                        gerungen, sondern die bewusste Einschränkung                                        stark an (z. B. Spannagel/Molitor 2019). Da sich an-
                        des wirtschaftlichen Lebens, um die Gesundheit                                      deutet, dass die Corona-Krise insbesondere diejeni-
                        der Bevölkerung zu schützen. Zudem gab es kaum                                      gen Beschäftigten trifft, die bereits vor der Krise am
                        andere Wirtschaftskrisen, die so schnell und zeit-                                  unteren Ende der Einkommensverteilung zu finden
                        gleich in (fast) allen Teilen der Welt zu spüren war.                               waren, stellt sich die zentrale Frage, wie sich die
                        Ferner offenbart diese Krise – wie kaum eine an-                                    Corona-Krise in naher Zukunft auf die Einkommen-
                        dere vorher – soziale Missstände in unserer Gesell-                                 sungleichheit auswirken wird. Zum jetzigen Zeit-
                        schaft, weswegen im Kontext der Corona-Krise im-                                    punkt ist noch kein Ende der Corona-Pandemie in
                        mer wieder vom „Brennglas“ die Rede ist. So wur-                                    Sicht – im Gegenteil: die wieder massiv ansteigen-
                        den zum Beispiel zu Beginn der Krise, während der                                   den Fallzahlen im vierten Quartal des Jahres lassen
                        relativ starken Kontakt-Beschränkungen, die soge-                                   eine weitere Zuspitzung der ökonomischen Ent-
                        nannten systemrelevanten Berufe und ihre Löhne                                      wicklungen vermuten. Zudem wird es – wenn ein
                        und Arbeitsbedingungen viel diskutiert (z. B. Koebe                                 Impfstoff verfügbar sein wird – aufgrund der abzu-
                        et al. 2020). Zeitgleich führte die eingeschränkte                                  sehenden Kapazitätsgrenzen viele Monate dauern,
                        Betreuungssituation für Beschäftigte, die nicht in                                  bis ein größerer Teil der Bevölkerung geimpft sein
                        den systemrelevanten Berufen beschäftigt waren,                                     wird. Die langfristigen ökonomischen und sozialen
                        zu einer zunehmenden Doppelbelastung für Eltern,                                    Folgen der Krise lassen sich somit auch nur bedingt
                        wobei sich zeigte, dass diese Last zu großen Teilen                                 abschätzen; dennoch erlauben die jetzt vorhande-
                        von Frauen getragen wurde (z. B. Kohlrausch/Zuc-                                    nen ersten Daten Prognosen darüber abzugeben,
                        co 2020). Darüber hinaus aber weisen erste Analy-                                   wie sich die Einkommensungleichheit im Verlauf
                        sen darauf hin, dass diese Krise finanziell nicht alle                              der Krise entwickeln wird. Dies ist die zentrale Fra-
                        Beschäftigten gleichermaßen trifft, sondern insbe-                                  ge, die in diesem Bericht behandelt wird.
                        sondere Personen mit niedrigerem sozio-ökonomi-                                        Da zum jetzigen Zeitpunkt (Oktober 2020) noch
                        schen Status (Hövermann 2020).                                                      keine repräsentativen Einkommensdaten für 2020
                                                                                                            vorliegen, greift dieser Bericht stattdessen auf eine
                                                                                                            Erwerbspersonenbefragung zurück, die während
                                                                                                            der Corona-Krise von der Hans-Böckler-Stiftung
                                                                                                            (HBS) durchgeführt wurde. Diese Befragung ent-
                                                                                                            hält neben sozio-ökonomischen Hintergrundinfor-
                            1 An dieser Stelle möchten wir uns recht herzlich bei                           mationen auch Angaben zu den aktuellen Einkom-
                              Dorothee Spannagel für die großartige Vorarbeit und
                              die sehr gute Dokumentation bedanken, die uns bei der                         mensverlusten, sodass sich mit den Daten abschät-
                              Erstellung des Berichts erheblich geholfen haben. Außer-                      zen lässt, welche Gruppen in der Krise besonders
                              dem danken wir Toralf Pusch und Renate Anstütz für das                        häufig Einkommenseinbußen hinzunehmen hatten.
                              detaillierte Lesen, Kommentieren und Redigieren sowie
                              Daniela Buschke und Jutta Höhne für die Aufbereitung                          Zusätzlich wird auf Basis der aktuellen Welle des
                              des Berichts.                                                                 Sozio-Oekonomischen Panels (SOEP) untersucht,

WSI Report Nr. 62, November 2020    Seite 2
wie sich die Einkommen in Deutschland seit 2010               ge dazu geführt, dass sich die Einkommens- und
entwickelt haben und welche soziodemografischen               Vermögensungleichheit reduzierte  3 (Butterwegge
Bevölkerungsgruppen schon vor der Krise stärker               2020, S. 138). Um zu verstehen, weshalb sich dieser
von Armut betroffen waren.                                    Trend während der Corona-Pandemie nicht abzeich-
   Der Bericht ist wie folgt aufgebaut: Zunächst              net, sondern – im Gegenteil – die Einkommensun-
wird in Abschnitt 2 der aktuelle Stand der For-               gleichheiten womöglich sogar zunehmen werden
schung bezüglich der ungleichheitsverstärkenden               (Hövermann/Kohlrausch 2020), soll im Folgenden
Faktoren der Corona-Krise aufgezeigt. Dabei wird              ein Überblick über die ersten ökonomischen Ent-
dezidiert der Frage nachgegangen, warum sich                  wicklungen seit dem Ausbruch der Pandemie in
diese Krise von anderen Wirtschaftskrisen unter-              Deutschland im Frühjahr 2020 und der einherge-
scheidet. Im Anschluss daran werden in Kapitel 3              henden Krisensituation gegeben werden.
die beiden im Folgenden verwendeten Datensätze,                   Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit lässt sich zwar
also das SOEP und die HBS-Erwerbspersonenbe-                  in allen Regionen beobachten, fällt aber nicht über-
fragung, genauer beschrieben. Zudem liefert das               all gleich groß aus. So zeigen Untersuchungen des
Kapitel eine Definition der verschiedenen Ungleich-           Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
heitsindikatoren. Diese Kennziffern werden dann               (IAB), dass insbesondere die Regionen, die stark
im Abschnitt 4 verwendet, um die Entwicklung der              durch Tourismus und das Gastgewerbe geprägt
Einkommensungleichheit zwischen 2010 und 2017                 sind, einen starken Anstieg der Arbeitslosigkeit
zu messen und die Sozialprofile armer und reicher             zu verzeichnen hatten (Böhme et al. 2020). Aller-
Menschen  2 im Jahr 2017 aufzuzeigen. Darauf auf-             dings erwähnen die Autor*innen auch, dass es
bauend wird im nächsten Kapitel untersucht, wie               nach Ende der starken Corona-Beschränkungen
sich die Krise finanziell auf Personengruppen aus-            im Juni und Juli wieder vermehrt Einstellungen in
gewirkt hat, die vor der Krise überdurchschnittlich           diesen Branchen gab. Der langfristige Effekt auf
häufig als arm oder reich galten. Abschließend                die Arbeitslosigkeit kann aber noch nicht vollstän-
wird diskutiert, wie diese Ergebnisse im Rahmen               dig beurteilt werden, da viele Beschäftigte noch in
der Entwicklung zukünftiger Einkommensungleich-               Kurzarbeit sind, mittelfristig aber womöglich ihren
heit zu interpretieren sind und mit welchen politi-           Arbeitsplatz verlieren werden (ebd.). Doch auch
schen Maßnahmen sich eine weitere Verschärfung                hinsichtlich der Kurzarbeit zeigt sich, dass nicht
dieser Entwicklung aufhalten oder zumindest ab-               alle Beschäftigten die gleiche Wahrscheinlichkeit
schwächen lässt.                                              hatten, in Kurzarbeit zu gehen. Insbesondere Per-
                                                              sonen mit einem geringen Haushaltseinkommen,
                                                              Geringqualifizierte und Personen, die nicht im
                                                              Homeoffice arbeiten können, gingen besonders
                                                              häufig in Kurzarbeit (Kruppe/Oisander 2020; Kohl-
2 STAND DER FORSCHUNG: WARUM DIE                              rausch/Zucco 2020; Schroeder et al. 2020). Zwar
                                                              konnten dank des Gesetzes zur befristeten krisen-
  CORONA-KRISE UNGLEICHHEITEN                                 bedingten Verbesserung der Regelungen für das
  VERSTÄRKT                                                   Kurzarbeitergeld, das im März 2020 in Kraft trat,
                                                              auch Leiharbeitnehmer*innen das Kurzarbeitsgeld
Die Corona-Krise unterscheidet sich in ihrer Art              in Anspruch nehmen, allerdings bezieht sich die
von vielen vorherigen Krisen, insbesondere aber               Beitragshöhe dabei auf das pauschalierte Nettoein-
der letzten großen Wirtschaftskrise, der Finanz-              kommen und schließt somit unter anderem auch
krise 2008/09. Einerseits, weil sie, anders als die           Zuschläge für Nacht- oder Sonntagsarbeit aus. Da
Finanzkrise, neben einem Nachfrage- auch einen                das Kurzarbeitsgeld maximal 60 % bzw. 67 % des
Angebotseinbruch zur Folge hatte. Denn durch die              Nettoeinkommens  4 beträgt, bedeutet das vor allem
internationale Vernetzung der Wertschöpfungs-                 für Beschäftigte im Niedriglohnsektor einen gro-
ketten führten Lieferprobleme dazu, dass die Pro-             ßen (relativen) Einkommenseinbruch (Butterwegge
duktion hierzulande zum Erliegen kam (Bofinger                2020). Dies verdeutlicht, dass vor allem Beschäftig-
et al. 2020). Die eingeschränkte Betreuungssitua-             te, die bereits vor der Krise ein geringes Einkom-
tion durch geschlossene Schulen und Kitas führte              men hatten, zum Teil drastische Einkommensein-
dazu, dass Beschäftigte ihre Arbeitszeit reduzie-
ren mussten oder gar komplett freigestellt waren
(Kohlrausch/Zucco 2020). Andererseits handelt es
sich bei der Corona-Krise um eine Wirtschaftskrise,            3 Laut Butterwegge (2020, S. 138) war das die Folge fallen-
die durch eine Pandemie ausgelöst wurde. In der                  der Lebensmittel-, Boden- und Immobilienpreise sowie
                                                                 steigender Löhne.
Vergangenheit haben Epidemien ähnlich wie Krie-
                                                               4 Das neue Gesetz zur Erleichterung der Kurzarbeit umfasst
                                                                 in den ersten drei Monaten 60 % des fehlenden Netto-
                                                                 einkommens für Beschäftigte ohne Kinder und 67 % bei
                                                                 jenen mit Kindern. Bei Beschäftigten, die weniger als
 2 Ist im Folgenden von Armut und Reichtum die Rede, be-         50 % arbeiten, wird dieser Satz nach vier Monaten auf
   zieht sich dies auf das relative Konzept der Einkommens-      70 % bzw. 77 % mit Kindern erhöht. Nach sieben Monaten
   armut bzw. des Einkommensreichtums (Kapitel 3b).              steigt der Satz auf 80 % bzw. 87 % mit Kindern.

                                                                                                            WSI Report Nr. 62, November 2020   Seite 3
bußen auf ohnehin schon relativ problematischem 3 DATEN UND METHODE
                        Niveau erfahren. Umgekehrt erfahren privilegierte
                        Beschäftigte mit höheren Einkommen und flexiblen Daten
                        Zeitarrangements deutlich seltener Arbeitsmarktef-
                        fekte durch die Krise.                                     Die Berechnungen für diesen Bericht stammen aus
                            Besonders stark trifft die Krise dabei aber zwei Datengrundlagen: Der erste Teil, der die Ein-
                        Migrant*innen. Bereits vor der Krise waren Perso- kommensverteilung vor der Pandemie angibt, be-
                        nen mit Migrationshintergrund deutlich stärker von ruht auf dem SOEP. Der zweite Teil, der die ersten
                        Niedrigeinkommen betroffen – konkret sogar mehr Entwicklungen seit Beginn der Corona-Krise be-
                        als doppelt so häufig wie Personen ohne Migrati- schreibt, bezieht sich auf Auswertungen basierend
                        onshintergrund (Grabka/Goebel 2020). Durch die auf der HBS-Erwerbspersonenbefragung, die wäh-
                        Corona-Krise ist jedoch der Anteil der Arbeitslosen rend der Krise durchgeführt wurde.
                        unter Migrant*innen zudem deutlich stärker ge-                Das SOEP ist eine repräsentative Haushalts-
                        stiegen als unter Deutschen. Des Weiteren weist befragung, die seit 1984 jährlich durch das Deut-
                        Butterwegge (2020, S. 154) darauf hin, dass nicht sche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin)
                        alle Migrant*innen vom Kindergeld sowie dem durchgeführt wird. Hierfür werden in jedem Jahr
                        Kinderbonus der Bundesregierung  5 profitieren, da über 25.000 Personen in etwa 16.000 Haushalten
                        diese an den Aufenthaltsstatus gekoppelt sind. überwiegend in face-to-face-Interviews zu ihrer ak-
                        Da Personen mit Migrationshintergrund deutlich tuellen Lebenssituation befragt (DIW Berlin 2020).
                        häufiger von Niedrigeinkommen und Kurzarbeit Neben Angaben zum Gesundheitszustand und
                        (Grabka/Goebel 2018; Anger et al. 2020) betroffen der Bildungs- und Migrationsgeschichte enthält
                        sind, führt die Krise bei Migrant*innen zu deutlich der Datensatz vielschichtige Informationen zur Er-
                        größeren Einkommenseinbußen. Dieser Effekt ver- werbs- und Einkommenssituation der Befragten.
                        stärkt sich mitunter durch die wesentlich höhere              Die SOEP-Daten bieten den Vorteil, dass neben
                        Arbeitslosenquote unter Migrant*innen.                     den Individualdaten auch umfassend der Haus-
                           Weiterhin unterschied sich die Corona-Krise, haltskontext miteinbezogen werden kann. Zudem
                        insbesondere in ihrer Anfangszeit, von anderen eignet sich das SOEP aufgrund der detaillierten
                        Krisensituationen, da zur Eindämmung des Corona- Einkommensangaben und der erheblichen Stich-
                        Virus die institutionelle Kinderbetreuung auf einen probengröße dazu, die Einkommensverteilung in
                        Notbetrieb heruntergefahren wurde. Lediglich El- Deutschland mittels verschiedener Kennziffern dar-
                        tern, die in den sogenannten systemrelevanten Be- zustellen. Dennoch hat das SOEP, wie die meisten
                        rufen beschäftigt waren, hatten Anspruch auf eine anderen Befragungsdaten, den Nachteil, dass nicht
                        Kindernotbetreuung, sodass Kinder aller anderen alle Personen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit
                        (nicht in systemrelevanten Berufen beschäftigten) an der Befragung teilnehmen. Das ist insofern pro-
                        Eltern von zu Hause aus betreut werden mussten. blematisch, dass gerade Personen mit sehr hohen
                        Das hatte zur Folge, dass viele Beschäftigte – über- Einkommen oder Vermögen seltener an Einkom-
                        durchschnittlich häufig Frauen – ihre Arbeitszeit re- mensbefragungen teilnehmen (Bach et al. 2019;
                        duzieren oder sich gar freistellen lassen mussten. Vermeulen 2018). Weiterhin sind einige Gruppen
                        Auch hier verstärken sich die Effekte bei niedrigem wie u. a. Obdachlose am unteren Ende der Ein-
                        Haushaltseinkommen, da diese Gruppe seltener kommensgruppe ausgeschlossen, da sie durch das
                        im Homeoffice arbeiten konnte und daher die Er- SOEP nicht über den Wohnort und Haushalt erfasst
                        werbsarbeit reduzieren musste, um der Kinderbe- werden können. Diese Selektion hat zur Folge, dass
                        treuung nachzukommen (Kohlrausch/Zucco 2020). die Einkommen an den Rändern der Verteilung nur
                        Besonders hart traf dieser Umstand Alleinerziehen- unvollständig widergegeben werden. Außerdem
                        de, die durch die mangelnde institutionelle Kinder- können Verzerrungen auftreten, wenn am unteren
                        betreuung stärkere Einkommenseinbußen erfuhren Ende der Verteilung das Einkommen häufig aus
                        (u. a. Alon et al. 2020; VAMV NRW 2020).                   Schamgründen zu hoch und am oberen Ende aus
                                                                                   ähnlichen Gründen oder dem Unwissen über das
                                                                                   genaue Einkommen zu niedrig angegeben wird
                                                                                   (Spannagel/Molitor 2019). Hingegen sind Einkom-
                                                                                   mensgruppen zwischen den Rändern eher über-
                                                                                   repräsentiert, sodass die Einkommensverteilung
                                                                                   zur Mitte hin auch verzerrt ist („Mittelschichtbias“,
                                                                                   Unger et al. 2013, S. 2) und die in diesem Bericht
                                                                                   mittels Verteilungsmaße quantifizierte Ungleichheit
                                                                                   höchstwahrscheinlich unterschätzt wird.
                                                                                      Da die letzten verfügbaren Einkommensinforma-
                                                                                   tionen des SOEP nur bis einschließlich 2017 – und
                                                                                   somit lange Zeit vor Ausbruch der Pandemie und
                         5 Im Rahmen des im Juni beschlossenen Konjunkturpa-
                            kets erhielten Eltern einen einmaligen Kinderbonus von der daraus folgenden Wirtschaftskrise – vorliegen,
                            300 Euro je Kind.                                      ist das SOEP – zumindest zum jetzigen Zeitpunkt –

WSI Report Nr. 62, November 2020   Seite 4
ungeeignet, um die Effekte der Corona-Krise auf die le) oder 100 (Perzentile) gleich große Teile eingeteilt
Einkommensverteilung zu schätzen.  6 Aus diesem wird. Somit kann die Verteilung der Einkommen
Grund wird im Folgenden bei der Entwicklung der genauer untersucht und auch den Einkommen am
Einkommensverhältnisse während der Corona-Kri- oberen und am unteren Rand der Verteilung Rech-
se zusätzlich auf eine Erwerbspersonenbefragung nung getragen werden. Die gängigste Maßzahl ist
zurückgegriffen, die im Auftrag der Hans-Böckler- hierbei der Median, er beschreibt das Einkommen,
Stiftung durchgeführt wurde. In einer ersten Befra- das genau in der Mitte der Verteilung liegt, wenn
gungswelle wurden zwischen dem 3. und 14. April man die Einkommen ihrer Größe nach sortiert. So-
2020 – also zu Beginn der Pandemie während des mit teilt das Medianeinkommen die Bevölkerung
weitreichenden Shutdowns – 7.677 Erwerbsper- in zwei gleich große Teile ein: jene mit Einkommen
sonen ab 16 Jahren in einem computergestützten über und jene mit Einkommen unter dem Median.
Online-Interview zu ihrer Haushalts- und Erwerbs- Im Jahr 2017 lag das Medianeinkommen des real
situation befragt. Ein Großteil von ihnen (N = 6.309) verfügbaren äquivalenzgewichteten Nettohaus-
nahm auch an der zweiten Befragung zwischen haltseinkommens bei knapp 21.000 Euro. Auch
dem 18. und 29. Juni teil. Die Stichprobe wurde auf die Einkommensdezile spielen bei der Verteilung
Grundlage eines Online-Access-Panels nach be- des Einkommens eine wichtige Rolle. Das bedeu-
stimmten Quoten der Merkmale Alter, Geschlecht, tet, dass damit Aussagen darüber getroffen wer-
Bundesland und Bildung gezogen, sodass die ent- den können, über wie viel Einkommen Personen
sprechenden Bevölkerungsgruppen adäquat und verfügen, die zum Beispiel am 10. Prozentpunkt
repräsentativ für die Erwerbspersonen Deutsch- der Einkommensverteilung liegen. Weiterhin eig-
lands abgebildet werden.                                     nen sich Perzentile dazu, Aussagen über die mitt-
                                                             leren Einkommen innerhalb der Perzentilgrenze zu
Ungleichheitsindizes                                         treffen, also über wie viel Einkommen die ärms-
                                                             ten 10 % oder reichsten 10 % der Bevölkerung im
Um die Einkommensungleichheit in der Bevölke- Durchschnitt verfügen. Da sie noch genauer die
rung zu messen, gibt es mehrere Ansätze, aber Verteilungen angeben, sind sie insbesondere für
das wohl gängigste Maß ist der Gini-Koeffizient. Er Analysen der Entwicklung der Einkommenskonzen-
beschreibt wie gleich oder ungleich Einkommen in tration und für Vergleiche über die Zeit interessant.
der Gesellschaft verteilt sind: Bei einem Wert von              Zudem gibt es weitere Kennziffern, die die Ein-
0 würden alle Personen das gleiche Einkommen kommensungleichheit quantifizieren und sich da-
besitzen und die Einkommen wären somit kom- bei auf Quantilsmaße beziehen. Beispielsweise
plett gleich verteilt. Im Gegensatz dazu, steht ein können Maße wie der Theil- und der Palma-Index
Gini von 1 für eine völlige Ungleichverteilung der – im Vergleich zum Gini-Koeffizienten – die Einkom-
Einkommen, wenn also eine Person das gesam- mensungleichheit an den Rändern besser erfassen.
te Einkommen erhalten würde und alle anderen Beim Theil-Index wird das Einkommen immer im
nichts. Damit ist der Gini sehr leicht zu interpretie- Verhältnis zur Gruppengröße gesehen. Ähnlich wie
ren. Problematisch ist hier allerdings – wie weiter der Gini, nimmt auch der Theil-Index einen Wert
oben erläutert – dass in den SOEP-Daten mittlere von 0 an, wenn alle Gruppen, gemessen an ihrem
Einkommen im Vergleich zu sehr hohen oder sehr Anteil an der Bevölkerung, das gleiche Einkommen
niedrigen Einkommen überrepräsentiert sind. Aus beziehen. Allerdings ist der Wert nach oben nicht
diesem Grund wird den mittleren Einkommen bei beschränkt und verändert sich mit Umverteilungen
der Berechnung mit diesen Daten ein zu großes von arm nach reich und umgekehrt. Er ist umso
Gewicht beigemessen und die Einkommensun- sensitiver, je größer die Differenz zwischen arm
gleichheit somit tendenziell unterschätzt (Spanna- und reich ist (Spannagel/Molitor 2019, S. 7; Con-
gel/Molitor 2019).                                           ceicao/Ferreira 2000, S. 13). Der Palma-Index hin-
   Um also ein ganzheitlicheres Bild der Einkom- gegen setzt den Einkommensanteil des obersten
mensverteilung zu bekommen, ist es ratsam, auch Dezils ins Verhältnis zu den unteren vier Dezilen.
weitere Ungleichheitsmaße hinzuzuziehen. Hier- Wenn das reichste Dezil beispielsweise 30 % des
bei eignen sich insbesondere Maße, die sich auf Einkommens bezieht und die unteren vier Dezile
gewisse Punkte in der Verteilung beziehen. Dafür zusammen nur 10 %, so läge der Palma-Index bei
werden häufig Quantilsmaße verwendet, wofür die drei. Somit gilt auch hier: je höher der Palma-Index,
Bevölkerung zunächst ihrem Einkommen nach auf- desto größer die Einkommensungleichheit.
steigend sortiert und dann in beispielsweise zwei               Um die Entwicklung der Einkommenskonzentra-
(Median), vier (Quartile), fünf (Quantile), zehn (Dezi- tion zu quantifizieren wird häufig auch auf die Ein-
                                                             kommens- und Armutsdefinitionen basierend auf
                                                             dem Median zurückgegriffen. Demnach werden in
 6 Zwar hätten sich Daten der SOEP-CoV-Studie, die wäh-      der Literatur üblicherweise diejenigen Haushalte
   rend der Krise seit Anfang April basierend auf dem SOEP   als einkommensarm definiert, die ein Nettoäqui-
   Umfragedaten erhebt, bestens dazu geeignet, die Vertei-   valenzeinkommen (Infobox 1) von höchstens 60 %
   lungseffekte der Pandemie zu analysieren. Diese lagen al-
   lerdings zum Zeitpunkt des Verfassens des Berichts noch   des Medianeinkommens haben (u. a. Spannagel
   nicht vor.                                                2018). Als sehr einkommensarm gelten demnach

                                                                                                  WSI Report Nr. 62, November 2020   Seite 5
diejenigen, die weniger als 50 % des Medianein-       chermaßen änderten, also zum Beispiel allen das
                        kommens besitzen. Im Gegensatz dazu sind laut         Doppelte zur Verfügung stehen würde. Außerdem
                        dieser Einkommenskonventionen diejenigen reich        geben diese Indikatoren keine Auskunft darüber,
                        und sehr reich, die 200 % bzw. 300 % des Median-      welche Teilhabechancen arme oder reiche Men-
                        einkommens besitzen.                                  schen haben. Zwar gibt es auch in Deutschland
                           Abschließend sollte dennoch nicht unerwähnt        eine Gruppe von Personen, die so stark von Armut
                        bleiben, dass diese relativen Einkommenskonzepte      betroffen ist, dass sie aufgrund von Hunger oder
                        häufig kritisiert werden, da sie immer in Relation    Kälte um ihr Leben fürchten muss, allerdings ist die
                        zu dem Wohlstandsniveau des jeweiligen Landes         Gruppe insbesondere im Vergleich zu anderen Län-
                        stehen. Das bedeutet, dass relativ Arme in dem ei-    dern sehr klein (Spannagel/Molitor 2019). Zudem
                        nen Land in anderen Ländern keineswegs als arm        gibt es zu dieser Personengruppe in den offiziellen
                        gelten würden. Zudem ist es wichtig zu betonen,       Statistiken und Befragungsdaten kaum Informatio-
                        dass sich generelle Wohlstandssteigerungen in         nen, da sich die Befragungen (fast) ausschließlich
                        der Bevölkerung nicht ablesen lassen. Es würde        an Haushalte mit festem Wohnsitz richten, sodass
                        sich beispielsweise an den Armutsanteilen nichts      diese existenzielle Armut im SOEP kaum betrachtet
                        ändern, wenn sich die Vermögen aller anteilig glei-   werden kann.

                                                                                                                             Infobox 1

                        Einkommensdefinitionen

                        Dieser Bericht bezieht sich beim Einkommen (falls Mittels dieses Ansatzes wird also Bedarf so ge-
                        nicht anders erwähnt) immer auf das real verfüg- wichtet, dass Einkommen zwischen verschiedenen
                        bare äquivalenzgewichtete Nettohaushaltseinkom- Haushaltskonstellationen miteinander verglichen
                        men. Dieses umfasst das Haushaltseinkommen in- werden können. Dieses Vorgehen schließt auch
                        klusive Transferzahlungen sowie der imputed rent, Vorteile mit ein, die durch gemeinsames Zusam-
                        also dem Einkommensvorteil aus selbstgenutzten menwohnen entstehen, zum Beispiel durch eine
                        Wohnraum, abzüglich Sozialbeiträgen und Steuern gemeinsam genutzte Wohnfläche, Internet oder
                        und entsprechend der Haushaltsgröße gewichtet: Strom.
                        Die erste Person erhält demnach ein Gewicht von 1,    Das Einkommen im ersten Teil dieses Berichts,
                        jede weitere Person ab 14 Jahren ein Gewicht von das sich auf das SOEP bezieht, basiert auf der Be-
                        0,5 und jedes Kind unter 14 Jahren ein Gewicht von fragungswelle v35 des SOEPs, die zuletzt im Jahr
                        0,3. Eine alleinstehende Person mit einem Nettoein- 2018 durchgeführt wurde. Da das Einkommen im-
                        kommen von 2.000 Euro hätte demnach ein Netto- mer retrospektiv erfasst wird, stehen mit der aktu-
                        äquivalenzeinkommen von 2.000 Euro. Ein Paar mit ellen SOEP-Befragungswelle Einkommensinforma-
                        einem Kind ab 14 Jahren bei einem Nettohaushalts- tionen bis 2017 zur Verfügung.
                        einkommen von 2.000 Euro ein Nettoäquivalenzein-      In der HBS-Erwerbspersonenbefragung wird
                        kommen von 2.000 Euro/(1+0,5+0,5)=1.000 Euro zwar das aktuelle Individual- und Haushaltsein-
                        und eine alleinerziehende Person mit 2 Kindern un- kommen abgefragt, allerdings nur in relativ groben
                        ter 14 Jahren bei einem Haushaltseinkommen von Kategorien. Zudem wird auf Variablen zurückge-
                        2.000 Euro ein Nettoäquivalenzeinkommen von griffen, die erfragen, ob und wenn ja, in welcher
                        2.000 Euro/(1+0,3+0,3)=1.250 Euro.                  Höhe Einkommensverluste aufgetreten sind.

WSI Report Nr. 62, November 2020   Seite 6
4 EINKOMMENSENTWICKLUNG VON                                    Das bedeutet, dass die reichsten 10 % der deut-
                                                            schen Haushalte mehr besaßen als die ärmsten
  2010 BIS 2017                                             40 % zusammen. Bis 2013 stieg der Wert auf knapp
Bereits frühere WSI-Verteilungsberichte (z. B. Span-        1,08. Im Jahr 2014 sank der Index wieder leicht und
nagel/ Molitor 2019, Spannagel 2018, Spannagel              lag 2017 nach einem leichten Anstieg wieder bei
2015) zeigten, dass die Einkommensungleichheit in           1,05. Die Entwicklung des Theil-Index verläuft weit-
Deutschland seit den 1990er Jahren stark angestie-          gehend parallel dazu. Auch dieser Index erreicht im
gen ist. Betrachtet man nun die Entwicklung des             Jahr 2013 sein Maximum von 0,165. Im Jahr 2017
Gini-Koeffizienten für Deutschland seit 2010 ist nur        entwickeln sich der Theil- und der Palma-Index
ein leichter Anstieg erkennbar. Demnach ist die             allerdings leicht auseinander, da der Palma-Index
Einkommensungleichheit von 2010 bis 2013 zwar               stärker sinkt als der Theil-Index. Sowohl der Gini-
stetig angestiegen und der Gini-Koeffizient erreicht        Koeffizient als auch der Palma- und der Theil-Index
zu diesem Zeitpunkt sein Maximum von 0,294 (Abb.            verdeutlichen, dass die Einkommensungleichheit
1). Seitdem ist der Gini aber wieder leicht gesun-          bis 2013 stetig gestiegen ist und seitdem in etwa
ken und erreicht für das Jahr 2017 einen Wert von           stagniert.
0,289. Doch trotz dieses Rückgangs zuletzt, lässt              Detailliertere Aussagen sind mit Blick auf die
der Gini-Wert doch erkennen, dass in Deutschland            Entwicklung der verfügbaren Einkommen über die
die Einkommen nicht sonderlich gleich verteilt              Zeit in verschiedenen Einkommensgruppen mög-
sind. Im OECD-Vergleich liegt Deutschland damit             lich (Abb. 3). Hierbei wird der Mittelwert der ver-
zwar unter den Gini-Werten beispielsweise der USA           fügbaren Nettoäquivalenzeinkommen des Dezils
(0,39), Großbritanniens (0,366), Italiens (0,334)           der entsprechenden Jahre jeweils zum mittleren
oder Spaniens (0,333), aber über den einiger seiner         Nettoäquivalenzeinkommen des jeweiligen Dezils
Nachbarländer wie Österreich (0,275), Dänemark              im Jahr 2010 ins Verhältnis gesetzt. Die in Abb. 3
(0,261) und Tschechien (0,249) (OECD 2020).                 abgezeichneten Werte beschreiben somit die Ein-
    Wie bereits in Kapitel 3 beschrieben, ist der Gini-     kommensverteilung der jeweiligen Dezile im Ver-
Koeffizient aber nur bedingt geeignet die Ungleich-         hältnis zur Situation im Jahr 2010. Während das
heit zu messen, da er zum Beispiel keine Aussagen           durchschnittliche Einkommen des obersten Dezils
über die Einkommensentwicklung an den Rändern               bis 2013 leicht gestiegen ist, ist es im Jahr 2014
erlaubt. Aus diesem Grund werden zusätzlich der             leicht gesunken und steigt seitdem kontinuierlich
Palma- und der Theil-Index miteinbezogen, die die           an. Ähnlich verhält sich auch die Einkommensent-
Einkommensränder stärker im Blick haben (Abb. 2).           wicklung des neunten Dezils, da das mittlere Ein-
Der Palma-Index, der den Einkommensanteil des               kommen in diesem Dezil zwischen 2013 und 2016
obersten Quantils zu den unteren vier angibt, lag           stetig gestiegen ist.
den gesamten Beobachtungszeitraum über dem
Wert 1.

                                                                                                       Abbildung 1
                                                                                                      Abbildung 1

Gini-Koeffizient der
Gini-Koeffizient derverfügbaren
                     verfügbarenHaushaltseinkommen,
                                Haushaltseinkommen,2010–2017
                                                    2010–2017

  0,300

                                                    0,294
  0,295                                                                     0,293       0,293
                                                                0,291
                                                                                                      0,289
  0,290                                     0,288

                                0,285
  0,285
              0,282

  0,280

  0,275
               2010             2011         2012   2013        2014        2015        2016        2017

Quelle: SOEP Welle v35; eigene Berechnung
Quelle: SOEP v35; eigene Berechnungen

                                                                                                   WSI Report Nr. 62, November 2020   Seite 7
Abbildung 2
                                                                                                                              Abbildung 2

                        Palma- und
                        Palma- undTheil-Index
                                   Theil-Indexder
                                               derverfügbaren
                                                   verfügbarenHaushaltseinkommen,
                                                               Haushaltseinkommen,2010–2017
                                                                                   2010–2017

                           1,10                                                                                                   0,17
                                                                           0,1646

                                                                                                                     0,1595
                                                                            1,08                                                  0,16
                           1,05
                                                                                                                       1,05
                                                                                                                                  0,15
                                      1,01

                           1,00
                                     0,1425                                                                                       0,14

                        –
                           0,95                                                                                                   0,13
                                      2010            2011          2012   2013      2014       2015       2016        2017
                                  Palma-Index (linke Achse)
                                  Theil-Index(linke
                                 Palma-Index    (rechte Achse)
                                                     Achse)
                                 Theil-Index (rechte Achse)
                        Quelle: SOEP Welle v35; eigene Berechnung
                        Quelle: SOEP v35; eigene Berechnungen

                        Sowohl für das neunte als auch für das zehnte De-              Damit lassen sich im Hinblick auf die Indizes
                        zil lässt sich aber für 2017 beobachten, dass die           und die Entwicklungen der einzelnen Einkommens-
                        Einkommen nicht bzw. nur leicht angestiegen sind.           dezile folgende drei Aspekte festhalten: Erstens
                        Besonders bemerkenswert ist aber die Entwicklung            ist der Anstieg des Gini-Koeffizienten bis 2013 vor
                        der mittleren Einkommen des fünften Dezils: Wäh-            allem durch das 10. Dezil zu erklären, da die Ein-
                        rend sie bis 2013 leicht absanken, stiegen sie seit         kommen am oberen Ende der Verteilung bis 2013
                        2013 kontinuierlich an und lagen 2017 deutlich über         stärker gestiegen sind als für andere. Zweitens ist
                        dem mittleren Einkommen von 2010. Hingegen                  der leichte Rückgang der Einkommensungleichheit
                        sind die mittleren Einkommen des ersten und zwei-           im Jahr 2017 (vgl. Abb. 1 und 2) auf einen relativ
                        ten Dezils zwischen 2010 und 2013 gesunken. An-             starken Anstieg der mittleren Einkommen im Ver-
                        schließend sind die durchschnittlichen Einkommen            gleich zu den hohen Einkommen zurückzuführen.
                        des zweiten Dezils wieder angestiegen und lagen             Drittens haben im Jahr 2017 bis auf das ärmste
                        2017 etwas über dem von 2010. Das durchschnittli-           Dezil alle Einkommensgruppen höhere Einkommen
                        che Einkommen des ersten Dezils jedoch sank wei-            als 2010. Die Haushalte am unteren Ende der Ein-
                        ter und erreichte 2015 mit 94 % des Einkommens              kommensverteilung konnten folglich nicht so stark
                        von 2010 seinen Tiefpunkt und lag aber auch 2017            bzw. gar nicht von der positiven Einkommensent-
                        noch unter dem durchschnittlichen Einkommen                 wicklung profitieren wie die restlichen Haushalte.
                        von 2010. Für die reichsten Dezile sind somit eher          Dieser Befund belegt auch, dass die Einführung
                        Anstiege zu verzeichnen – ähnlich für durchschnitt-         des Mindestlohns und andere Maßnahmen nicht
                        liche Einkommen. Die Einkommen der Ärmsten                  ausreichend waren, um in diesem Dezil eine län-
                        liegen im Jahr 2017 jedoch insgesamt kaum höher             gerfristige positive Einkommensentwicklung zu er-
                        (2. Dezil) bzw. sogar niedriger (1. Dezil) als im Jahr      reichen (z. B. Burauel et al. 2018).
                        2010.

WSI Report Nr. 62, November 2020   Seite 8
Abbildung 3

                                                                                                           Abbildung 3

Mittelwert der real verfügbaren äquivalenzgewichteten Nettohaushaltseinkommen nach Einkommensdezilen, 2010–2017
Mittelwerte der realverfügbaren äquivalenzgewichteten Nettohaushaltseinkommen nach Einkommensdezilen, 2010–2017
Angaben in Prozent, normiert auf das Jahr 2010 = 100
Angaben in Prozent, normiert auf das Jahr 2010 = 100

    110
                                                                                                                108
                                                                                                                108
                                                                                                                106
    105
                                                                                                                103

    100

                                                                                                                97

     95

     90
                2010            2011           2012   2013       2014          2015         2016         2017
          Dezil 1          Dezil 2          Dezil 5    Dezil 9      Dezil 10

Quelle: SOEP Welle v35; eigene Berechnung
Quelle: SOEP v35; eigene Berechnungen

   Letzteres bestätigt sich beim Blick auf die Ein-    Neben der reinen Entwicklung der Einkom-
kommensarmut und den Einkommensreichtum mensungleichheit stellt sich auch die Frage, wel-
zwischen 2010 und 2017 (Abb. 4). Seit 2012 ist der che Gruppen besonders häufig einkommensarm
Anteil der Bevölkerung, der arm ist, also weniger oder einkommensreich sind. Aus diesem Grund
als 60 % des Medianeinkommens zur Verfügung wird in Tabelle 1 das Sozialprofil der armen bzw.
hat, von 14 % auf 16 % im Jahr 2017 gestiegen. reichen Haushalte im Vergleich zur Gesamtbevöl-
Auch der Anteil der sehr einkommensarmen Be- kerung aufgezeigt. Dabei offenbart sich zunächst,
völkerung (bis zu 50 % des Medianeinkommens) ist dass 23,4 % der einkommensarmen Haushalte in
im gleichen Zeitraum um zwei Prozentpunkte auf Ostdeutschland und 76,6 % in Westdeutschland
10 % angestiegen – auf diesem Niveau ein erhebli- leben. Umgekehrt wohnen aber nur 6,5 % der rei-
cher Anstieg. Allerdings ist der Anteil der einkom- chen Haushalte in Ostdeutschland und 93,5 % im
mensreichen Bevölkerung mit einem Rückgang um Westen des Landes. Setzt man diese Zahlen mit
einen Prozentpunkt auf 7 % leicht gesunken, dies der Gesamtbevölkerung ins Verhältnis, verdeutlicht
lässt sich womöglich dadurch erklären, dass in die- sich, dass in Ostdeutschland arme Haushalte über-
sem Zeitraum auch die mittleren Einkommen ange- und reiche Haushalte unterrepräsentiert sind. Das
stiegen sind (vgl. Abb. 3). Der Anteil der sehr ein- bedeutet, dass ostdeutsche Haushalte zumindest
kommensreichen Haushalte hingegen bleibt über relativ häufiger von Armut betroffen sind und rela-
den gesamten Zeitraum hinweg sehr konstant bei tiv seltener reich sind.
2 %.

                                                                                                        WSI Report Nr. 62, November 2020   Seite 9
Abbildung 4
                                                                                                                                                   Abbildung 4

                        Einkommensarmut und Einkommensreichtum, 2010–2017
                     Einkommensarmut und Einkommensreichtum, 2010–2017
                        Angaben
                     Angaben     in Prozent
                              in Prozent

                          18
                                                                           16,5          16,2
                          16
                                   14,3
                          14                                     arm
                          12
                                                                           10,2
                          10                                                                9,8                               8,4
                                                                                                  7,6                                                 7,0
                            8 7,9

                            6
                                                              sehr arm                                                   reich

                            4
                                                                                                                       2,0
                            2
                                                                                                1,8                                                     1,7
                                                                                                                       sehr reich
                            0
                                   2010        2011   2012   2013   2014   2015   2016   2017     2010   2011   2012   2013   2014   2015   2016     2017

                     Quelle: SOEP Welle v35; eigene Berechnung
                        Quelle: SOEP v35; eigene Berechnungen

                           Hinsichtlich des Erwerbsstatus lassen sich kla- lichkeit zusammenhängt, arm oder reich zu sein.
                        re Zusammenhänge beobachten. Wenig überra- So haben 83,3 % der Einkommensreichen keinen
                        schend machen arbeitslose Personen knapp ein Migrationshintergrund, obwohl sie nur 75,9 % der
                        Viertel der einkommensarmen Bevölkerung aus, Bevölkerung ausmachen. Hingegen sind Personen
                        obwohl nur 5,2 % der Bevölkerung arbeitslos sind. mit einem Migrationshintergrund (eigener oder der
                        Im Gegensatz dazu sind 19,6 % der reichen Bevöl- der Eltern) – in Relation zu ihrem Anteil an der Be-
                        kerung selbstständig, während sie nur 5,9 % der völkerung – häufiger arm. Zudem zeigt sich, dass
                        deutschen Bevölkerung insgesamt ausmachen. das Armutsrisiko noch größer ist, wenn man selbst
                        Zudem sind Beamte und Angestellte unter der rei- migriert ist, als wenn die Eltern migriert sind.
                        chen Bevölkerung eher überrepräsentiert, während               Somit lässt sich zusammenfassend festhalten,
                        Arbeiter*innen und Rentner*innen  7 unter den Ein- dass in Deutschland die Einkommen – insbesonde-
                        kommensarmen deutlichen stärker vertreten. Au- re an den Rändern – ungleich verteilt sind. Zwar ist
                        ßerdem lässt sich feststellen, dass Hochschulab- die Einkommensungleichheit in den letzten Jahren
                        solventen unter den Einkommensreichen deutlich wieder leicht zurückgegangen, dies ist aber zum
                        überrepräsentiert sind.                                     großen Teil auf steigende Einkommen in der Mitte
                           Weiterhin zeigen sich deutliche Unterschiede der Verteilung zurückzuführen; die untersten Ein-
                        bei den Haushaltstypen: Alleinerziehende sind wie kommensgruppen hingegen konnten von diesem
                        Singles – gemessen an ihrem Anteil an der Bevöl- Anstieg kaum profitieren. Insbesondere Ostdeut-
                        kerung (4,3 % bzw. 21,4 %) – unter den Einkom- sche, Arbeitslose, Personen ohne Hochschulab-
                        mensarmen mit 12,0 % bzw. 33,9 % deutlich über- schluss, Alleinerziehende und Singles sowie Per-
                        repräsentiert. Des Weiteren besteht mehr als jeder sonen mit Migrationshintergrund waren 2017 am
                        zweite einkommensreiche Haushalt aus einem Paar häufigsten von Einkommensarmut betroffen. An
                        ohne Kinder, obwohl dieser Haushaltstyp nur ein dieser Stelle muss einschränkend erwähnt werden,
                        Drittel aller Haushalte ausmacht.                           dass es wünschenswert gewesen wäre auf aktuelle
                           Zudem weisen die Ergebnisse darauf hin, dass Daten zur Einkommensverteilung zurückzugreifen,
                        ein Migrationshintergrund eng mit der Wahrschein- die den Zustand vor Ausbruch der Corona-Krise
                                                                                    adäquat widergeben. Leider liegen zum Zeitpunkt
                                                                                    des Verfassens des Berichts keine aktuelleren Da-
                                                                                    ten vor. Daher fehlen die Jahre 2018 und 2019 bei
                         7 Erwartungsgemäß verfügen Rentner*innen über geringe-     der hier skizzierten Einkommensentwicklung, aller-
                           re Einkommen, allerdings können sie häufiger auf Erspar-
                           nisse zurückgreifen als Personen jüngerer Altersgruppen  dings gibt es wenig Grund zur Annahme, warum
                           (Bundesbank 2019). Jedoch führen geringe Einkommen       sich die Einkommensungleichheit zwischen 2017
                           während des Erwerbslebens neben geringen Renten          und 2019 deutlich verändert haben sollte, sodass
                           auch dazu, dass Personen weniger Einkommen ansparen
                           können. Damit ist Altersarmut meist die Folge geringer   die oben dargestellten Befunde nicht auch in dieser
                           Erwerbseinkommen (Blank 2017; Tiefensee 2017).           Zeit auftraten.

WSI Report Nr. 62, November 2020    Seite 10
Tabelle 1

Sozialprofil der Einkommensarmen und -reichen und der Gesamtbevölkerung in Deutschland 20171
Sozialprofil der Haushalte, deren Nettoäquivalenzeinkommen 2017 unter 60 % (arm, linke Spalte) bzw. über 200 %
                                Tab 1
(reich, mittlere Spalte) des Medianeinkommens   lag im Vergleich zur Gesamtbevölkerung (rechte Spalte).

                                                                                                    Anteil in Prozent2
    Dimension                                                                arm                      reich                 Gesamtbevölkerung
    …nach Region
    Ost                                                                       23,4                        6,5                      17,2
    West                                                                      76,6                      93,5                       82,8
    …nach beruflicher Stellung
    Selbstständige*r                                                           2,6                      19,6                        5,9
    Beamte*r                                                                   0,4                        9,0                       3,9
    Angestellte*r                                                             24,7                      51,2                       41,9
    Arbeiter*in                                                               16,4                        2,2                      13,6
    Rentner*in                                                                31,9                      17,0                       29,5
    Arbeitslose*r                                                             24,0                        1,0                       5,2
    …nach Hochschulabschluss
    Kein Hochschulabschluss                                                   88,9                      41,1                       77,4
    Universität                                                               11,1                      58,9                       22,6
    …nach Haushaltstyp
    Single                                                                    33,9                      13,9                       21,4
    Paar ohne unterhaltsberechtigte Kinder                                    19,4                      50,5                       31,3
    Alleinerziehende                                                          12,0                        0,7                       4,3
    Paar mit Kind                                                             23,0                      21,2                       27,5
    Sonstige                                                                  11,7                      13,6                       15,5
    …nach Migrationshintergrund
    Kein Migrationshintergrund                                                57,9                      83,3                       75,9
    Migrationshintergrund der Eltern                                          15,9                        7,0                       9,9
    Eigener Migrationshintergrund                                             26,2                        9,7                      14,1

Lesebeispiel: 2,6 % der einkommensarmen Haushalte haben einen selbstständigen Haushaltsvorstand, bei den Reichen sind es 19,6 %,
in der Gesamtbevölkerung sind es 5,9 %
1
 Angaben beziehen sich auf den Haushaltsvorstand.
Quelle: SOEP v35, Welle 2018; eigene Berechnungen

                                       Seite 2                                                                Nr. 000 · Monat Jahr · Hans-Böckler-Stiftung

                                                                                                                                   WSI Report Nr. 62, November 2020   Seite 11
5 UNGLEICHHEITSENTWICKLUNGEN                                                 A1 im Anhang). Es zeigt sich, dass knapp ein Drit-
                                                                                                     tel aller befragten Erwerbspersonen in Deutschland
                          WÄHREND DER CORONA-KRISE                                                   (31,8 %) im Juni 2020 angab, Einbußen beim Haus-
                        Im Folgenden werfen wir einen Blick auf die jüngs-                           haltseinkommen während der Corona-Pandemie
                        ten Entwicklungen der sozialen Ungleichheit in                               verzeichnet zu haben. Dies lässt auf eine weite Ver-
                        Deutschland im Jahr 2020, welche massiv durch                                breitung von Verlusten in der Bevölkerung schlie-
                        die Corona-Pandemie geprägt sind. Dazu ziehen                                ßen. Detailliertere Analysen anhand statistischer
                        wir die Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böck-                              Regressionen zeigen jedoch, dass diese keines-
                        ler-Stiftung heran. Um Aussagen über die jüngste                             wegs gleichmäßig in der Bevölkerung verteilt sind,
                        Entwicklung sozialer Ungleichheit tätigen zu kön-                            sondern vielmehr bestimmte Gruppen besonders
                        nen werden wir in diesem Abschnitt betrachten,                               häufig treffen.
                        wer finanziell besonders von der Corona-Krise be-                               Hier fällt vor allem das Einkommen auf: Befragte,
                        troffen ist und Verluste beim Haushaltseinkommen                             die im Juni angaben, niedrige Einkommen zu ha-
                        hinnehmen musste. Dazu werden wir in einem ers-                              ben, erlitten bedeutend häufiger Einkommensein-
                        ten Schritt analysieren, wer besonders häufig von                            bußen als Befragte mit höherem Haushaltseinkom-
                        Einkommenseinbußen betroffen ist. Im zweiten                                 men (Abb. 5).  8 Dieser Zusammenhang bleibt auch
                        Schritt betrachten wir dann, wer besonders hohe                              dann bestehen, wenn in den Regressionen weitere
                        Haushaltseinkommenseinbußen zu verzeichnen                                   Erklärungsfaktoren konstant gehalten werden. Bei
                        hatte, also besonders hart von den wirtschaftlichen                          gleichem Alter, Geschlecht, Bildungsstand oder
                        Folgen der Corona-Pandemie betroffen ist.                                    zahlreicher weiterer Faktoren haben Befragte mit
                                                                                                     niedrigeren Einkommen deutlich häufiger Einbu-
                        Wer hat besonders häufig                                                     ßen hinnehmen müssen als Befragte mit ursprüng-
                        Einkommensverluste?                                                          lich höheren Einkommen.
                                                                                                        Der Abbildung und dem linearen Effekt ist jedoch
                        Zur Beantwortung der ersten Frage, orientieren wir                           ebenfalls zu entnehmen, dass in etwa jede*r dritte
                        uns an den Analysen von Hövermann und Kohl-                                  Befragte mit mittleren Einkommen (1.500 Euro bis
                        rausch (2020), die Einkommenseinbußen mit den                                4.500 Euro) Einbußen hinnehmen musste.
                        hier ebenfalls verwendeten Daten analysierten.
                        Anders als Hövermann und Kohlrausch (2020), die
                        hierfür das Individualeinkommen der Befragten zu-
                                                                                                      8 In einer früheren Version des Berichts hieß es „bereits vor
                        grunde legten, werden wir im Folgenden jedoch
                                                                                                        der Krise“. Die Einteilung in die Einkommensklassen in
                        auf das Haushaltseinkommen fokussieren (vgl. Tab.                               Abb. 5 beziehen sich aber auf Einkommensangaben aus
                                                                                                        der 2. Befragungswelle.

                                                                                                                                                             Abbildung 5

                                                                                                                                                           Abbildung 5

                        Haushalte mit und ohne Einkommenseinbußen durch Corona, nach Höhe des monatlichen Nettoeinkommens
                        Haushalte mit und ohne Einkommenseinbußen durch Corona, nach Höhe des monatlichen Nettoeinkommens
                        Ein- und Mehrpersonenhaushalte, Anteile in Prozent
                        Ein- und Mehrpersonenhaushalte, Anteile in Prozent
                                                                                              Einbußen
                                                                                              keine Einbußen

                                                                                                                                              26,1
                                                                                                      31,4                 31,3
                                                                                 36,5
                                                            41,3
                                         49,3

                                         50,7               58,7                 63,5                 68,6                 68,7               73,9

                                   unter 900 Euro   900 bis 1500 Euro    1500 bis 2000 Euro    2000 bis 2600 Euro    2600 bis 4500 Euro   über 4500 Euro

                        Quelle: Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung, Welle 2; N = 5184; Gewichtung nach Welle 2
                        Quelle: Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung, Welle 2; N = 5184; Gewichtung nach Welle 2

WSI Report Nr. 62, November 2020   Seite 12
Damit hatte diese Einkommensgruppe seltener Gruppen in besonders stark betroffenen Branchen,
Einbußen als Befragte mit niedrigen Einkommen, Einkommensgruppen oder Beschäftigungsverhält-
die mit 41 % (900 Euro – 1.500 Euro) bzw. 49 % nissen zurückzuführen sind, sondern fortbestehen,
(bis 900 Euro) deutlich häufiger Einbußen hatten. wenn diese Faktoren konstant gehalten werden.
Allerdings verdeutlicht sich auch, dass Befragte In anderen Worten äußern Eltern und Personen
mit mittleren Einkommen häufiger von der Krise mit Migrationshintergrund bei gleichem Einkom-
betroffen waren als Befragte mit hohen Einkom- men, Bildungsstand oder Beschäftigungsverhältnis
men, denn nur eine*r von vier Befragten mit einem häufiger Einbußen als Befragte ohne Kinder oder
Haushaltsnettoeinkommen von über 4.500 Euro er- ohne Migrationshintergrund. Während ersteres
litt durch die Krise einen Einkommenseinbruch.      aller Wahrscheinlichkeit nach auf den durch die
    Befragte mit atypischen oder prekären Arbeits- Schul- und Kitaschließungen entstandenen Betreu-
verhältnissen – etwa als Leiharbeiter*innen oder ungsengpass zurückzuführen ist, lässt letzteres auf
Minijobber*innen – haben ebenfalls häufiger Ein- Diskriminierungsprozesse schließen (ebd.).
kommen einbüßen müssen als stabil Beschäftigte.        Betrachten wir diese Befunde unter dem Ge-
Zudem zeigt sich, dass insbesondere Selbststän- sichtspunkt von Ungleichheitsentwicklungen, so
dige und Freiberufler*innen Einbußen hinnehmen deutet sich hier an, dass sich bereits bestehende
mussten, während dies für Beamt*innen äußerst Ungleichheiten weiter verstärken werden. Mit pre-
selten der Fall war. Ebenso sind es insbesondere kär Beschäftigten, Personen mit niedrigeren Ein-
Erwerbstätige im Gastgewerbe, die besonders häu- kommen oder Personen mit Migrationshintergrund
fig Einbußen hatten (vgl. Hövermann/Kohlrausch sind insbesondere diejenigen Gruppen besonders
2020).                                              häufig betroffen, die ohnehin benachteiligt sind.
    Regional lässt sich eine Differenz zwischen Be-
fragten in ostdeutschen und in westdeutschen Wer hat besonders große
Bundesländern aufweisen, insofern als Befragte in Einkommensverluste?
westdeutschen Bundesländern häufiger Einbußen
hinzunehmen hatten. Wesentlich markanter sind Aufbauend auf den zuvor dargestellten Befunden
jedoch zwei andere Faktoren: Eltern mit Kindern zu den Erwerbspersonengruppen, die besonders
oder Jugendlichen im Haushalt sowie Befragte mit häufig Einbußen hinzunehmen hatten, wird in die-
Migrationshintergrund berichten häufiger von Ein- sem Schritt analysiert, welche Gruppen besonders
bußen beim Haushaltseinkommen. Hier ist wich- hart von Verlusten getroffen wurden und einen
tig zu betonen, dass diese Differenzen nicht auf besonders hohen prozentualen Anteil ihres Haus-
eine etwaige besonders starke Verbreitung dieser haltseinkommens einbüßen musste.

                                                                                                                                            Abbildung 6
                                                                                                                                          Abbildung 6

Haushaltemit
Haushalte mitEinkommenseinbußen
              Einkommenseinbußendurch durchCorona,
                                            Corona,nach
                                                    nachHöhe
                                                         Höheder
                                                              derEinbußen
                                                                   Einbußenund
                                                                            undmonatlichem
                                                                                monatlichem Nettoeinkommen
                                                                                           Nettoeinkommen
Mehrpersonenhaushalte,Anteile
Mehrpersonenhaushalte, AnteileininProzent
                                   Prozent

                               spürbare Einbußen (bis 25 %)          große Einbußen (25-50 %)           sehr große Einbußen (50-99 %)        100 %
 über 4500 Euro

                                71,5                                                                                     21,5                6,4

 2600 bis 4500 Euro

                                67,1                                                                                   26,6                   6,2

 2000 bis 2600 Euro

                                53,9                                                                            39,9                         4,8

 1500 bis 2000 Euro

                                50,7                                                                         40,6                         6,4

 900 bis 1500 Euro

                                47,8                                                                     44,0                               7,1

 unter 900 Euro

                                40,3                                                        40,3                              9,7           9,7

Quelle:Erwerbspersonenbefragung
Quelle: Erwerbspersonenbefragungder
                                 derHans-Böckler-Stiftung,
                                     Hans-Böckler-Stiftung,Welle
                                                            Welle2;2;N N= =1614;
                                                                             1614;Gewichtung
                                                                                   Gewichtungnach
                                                                                              nachWelle
                                                                                                   Welle22

                                                                                                                                        WSI Report Nr. 62, November 2020   Seite 13
Konkret betrachten wir hierzu die in der HBS-Er- Vermögensverteilung zur Folge haben, denn wäh-
                        werbspersonenbefragung erhobene Frage nach der rend die bereits Bessergestellten über die Krise hin-
                        Höhe der finanziellen Einbußen auf Haushaltsebe- weg kaum Einbußen haben und sich somit durch
                        ne sind. Allerdings wurde diese Frage nicht an al- die Krise wohl nur selten verschulden, verschärft
                        leinstehende Personen gestellt, sodass diese nicht sich die Situation bei Personen im unteren Einkom-
                        in den folgenden Analysen berücksichtigt werden mensdezil, die bereits vor der Krise eine negative
                        konnten. Dementsprechend verringert sich die Fall- Sparquote aufwiesen (Späth/Schmid 2016).
                        zahl auf 1851 Befragte mit Einbußen, von denen die        Ein wesentlicher Grund für hohe Einkommen-
                        Höhe der Einbußen wie folgt angegeben wurde: seinbußen während der Krise ist die Kurzarbeit.
                        61 % gaben Einbußen des Haushaltseinkommens Im April lag der Anteil der Personen, die in Kurz-
                        bis zu 25 % an, 31 % „zwischen 25-50 %“, 7 % „zwi- arbeit waren, mit 18 % (ca. 6 Millionen sozialversi-
                        schen 50 und 99 %“ und 1 % gab an, dass das kom- cherungspflichtig Beschäftigte) deutlich über dem
                        plette Haushaltseinkommen verloren wurde.              vorherigen Allzeithoch von 1,5 Millionen Kurzarbei-
                           Die folgenden Regressionsmodelle ermögli- tenden oder 5,5 % der Beschäftigten (Pusch/Seifert
                        chen verschiedene Einflussfaktoren statistisch zu 2020). Dabei zeigt sich, dass auch hier vor allem
                        kontrollieren und potenzielle Scheinzusammen- Personen in den geringeren Einkommensgruppen
                        hänge weitgehend aufzudecken. Die Befunde der deutlich häufiger von Kurzarbeit betroffen sind
                        verschiedenen Modelle ergeben ein eindeutiges (Abb. 7). Denn insbesondere Befragte mit Nettoein-
                        Bild (vgl. Tabelle A2 im Anhang). Erneut sticht der kommen bis 1.700 Euro berichten häufig von Kurz-
                        durchgehend sehr relevante Effekt des niedrigen arbeit, gefolgt von Befragten mit Nettoeinkommen
                        Haushaltseinkommens ins Auge – Befragte mit bis 3.200 Euro. Befragte, die noch höhere Netto-
                        niedrigeren Haushaltseinkommen zeigen häufiger einkommen aufweisen, beziehen deutlich seltener
                        bedeutende Einbußen ihres ohnehin schon gerin- Kurzarbeitsgeld.
                        geren Einkommens.                                         Dieser Zusammenhang zwischen Kurzarbeit und
                           Außerdem sind es insbesondere jüngere Befrag- persönlichem Nettoeinkommen lässt sich vor allem
                        te, die höhere Einbußen hinnehmen mussten. Wei- verstehen, wenn man vergleicht, welche Betriebe
                        tere demografische Faktoren wie das Geschlecht, und Branchen von Kurzarbeit betroffen sind. Auf
                        der Migrationshintergrund oder ob die Befragten Basis der HBS-Erwerbspersonenbefragung ver-
                        Eltern sind, spielen hier jedoch keine Rolle. Glei- deutlichen die Ergebnisse von Pusch und Seifert
                        ches gilt für regionale Faktoren, wie beispielsweise (2020), dass insbesondere Befragte in kleinen oder
                        der Differenzierung nach Ost- und Westdeutsch- Kleinstbetrieben häufig in Kurzarbeit gingen. Wei-
                        land. Ein Faktor, der bislang in den obigen Analy- terhin zeigen die Autoren, dass Befragte aus dem
                        sen noch nicht auffiel, ist die Gemeindegröße, die Gastgewerbe besonders häufig – konkret fast die
                        sich hier durchgehend als relevant erweist: je grö- Hälfte der dort beschäftigten Befragten – angaben,
                        ßer die Gemeinde/Stadt, in der die Befragten leben, Kurzarbeitsgeld beantragt zu haben. Auch Beschäf-
                        desto höher die erlittenen Einbußen.                   tigte im verarbeitenden Gewerbe sowie im Verkehr-
                           Des Weiteren zeigen sich folgende Merkmale und Logistik-Sektor waren überdurchschnittlich
                        als bedeutend: Es sind insbesondere Selbststän- häufig in Kurzarbeit. Kaum von Kurzarbeit betrof-
                        dige und Freiberufler*innen, die mit hohen Einbu- fen waren demnach Beschäftigte im öffentlichen
                        ßen auffallen. Zudem sind es vor allem Befragte Dienst oder im Finanz- und Versicherungsdienst-
                        im Gastgewerbe, die nicht nur besonders häufig, leistungssektor. Somit traf die Krise insbesondere
                        sondern auch besonders ausgeprägte Einbußen die Betriebe und Sektoren, die bereits vorher un-
                        hinnehmen mussten. Schließlich zeigen sich Be- terdurchschnittliche Löhne hatten (Statistisches
                        fragte in verschiedenen atypischen und prekären Bundesamt 2020; Frodermann et al. 2018). Damit
                        Beschäftigungsverhältnissen (nicht-sozialversiche- verdeutlichen die Ergebnisse, dass die Kurzarbeit,
                        rungspflichtig, befristet, bei Leih-/Zeitarbeitsfirma, die ein geeignetes Mittel ist, Arbeitslosigkeit in Kri-
                        Werkvertrag) als durchgehend ausgeprägter von senphasen abzuwenden, vor allem diejenigen trifft,
                        Einbußen betroffen, während Befragte in mitbe- die davor bereits sehr niedrige Einkommen bezo-
                        stimmten Betrieben mit Betriebsrat geringere Ein- gen. Zwar ist das Kurzarbeitsgeld – außer bei Kurz-
                        bußen hinzunehmen hatten.                              arbeit Null – höher als das Arbeitslosengeld (Pusch
                           Fasst man nun abschließend die dargestellten und Seifert, 2020), dennoch können Einkommens-
                        Befunde zu den aktuellen Entwicklungen zusam- einbußen von mindestens 25 % gerade bei dieser
                        men, erscheint ein relativ einheitliches Bild der Gruppe bedeuten, dass ihr Einkommen unterhalb
                        besonders starken Belastung vor allem derjenigen des Existenzminimums liegt. Dies ist ein Hinweis
                        Gruppen, die ohnehin benachteiligt sind. Hier ist darauf, dass das Kurzarbeitergeld für niedrigere
                        vor allem herauszustellen, dass Personen mit oh- Einkommensgruppen zu gering ist.
                        nehin niedrigen Einkommen nicht nur besonders             Was bedeuten diese Ergebnisse also für die
                        häufig, sondern auch besonders hart von der Krise zukünftige Einkommensentwicklung? Zum letz-
                        getroffen wurden, wie auch noch einmal in Abb. 6 ten Zeitpunkt vor der Krise war zu erkennen, dass
                        deutlich wird. Dies könnte weiter fortschreitende insbesondere die mittleren Einkommen Zuwächse
                        Ungleichheitsprozesse insbesondere bezüglich der erfuhren, während die unteren Einkommen kaum

WSI Report Nr. 62, November 2020   Seite 14
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