Verwaltungsrat verweigert Frontex-Chef die Entlastung

Die Seite wird erstellt Horst-Adolf Schütte
 
WEITER LESEN
Verwaltungsrat verweigert Frontex-Chef die Entlastung
Skandal um griechische Pushbacks

Verwaltungsrat verweigert Frontex-Chef die
Entlastung
Was wusste Frontex von den Pushbacks im Mittelmeer? Das Kontrollgremium
der Agentur schreckt davor zurück, Rechtsverstöße klar zu benennen. Doch die
Kritik an Frontex-Chef Leggeri ist harsch.
Von Giorgos Christides, Steffen Lüdke und Maximilian Popp

04.03.2021, 11.55 Uhr

Unter Druck: Frontex-Chef Fabrice Leggeri                              Foto: FLORION GOGA / REUTERS

Fabrice Leggeri hat viel zu tun in diesen Tagen, ständig muss der Chef der europäischen
Grenzagentur Frontex sich gegen den Vorwurf verteidigen, die griechischen Pushbacks in der Ägäis zu
dulden und sogar zu vertuschen. Am Donnerstag stellt sich Leggeri erstmals den Fragen einer
Untersuchungsgruppe im Europaparlament. Viele Abgeordneten hatten zuvor das Gefühl, von Leggeri in
die Irre geführt zu werden.
Am Freitag wird eine Arbeitsgruppe des Frontex-Verwaltungsrates ihren Untersuchungsbericht vorlegen.
In dem Report, den der SPIEGEL gelesen hat, spricht der Verwaltungsrat Frontex ausdrücklich nicht von
den Vorwürfen frei. Zugleich üben die Autoren harsche Kritik an den Strukturen der Organisation und an
Leggeri selbst.
Verwaltungsrat verweigert Frontex-Chef die Entlastung
Recherchen zeigen, wie Frontex in die Pushbacks verwickelt ist
Anlass für die Untersuchung sind Recherchen des SPIEGEL. Gemeinsam mit weiteren Medienpartnern
konnten die Rechercheure nachweisen, dass die griechische Küstenwache in der Ägäis systematisch
Flüchtlingsboote stoppt, die Motoren kaputt macht und die hilflosen Migrantinnen und Migranten in
türkischen Gewässern aussetzt – manchmal auf manövrierunfähigen Booten, manchmal auf aufblasbaren
Rettungsflößen.
Frontex war den Recherchen zufolge bei mindestens sieben dieser sogenannten Pushbacks in der Nähe,
zum Teil stoppten die europäischen Grenzschützer die Flüchtlingsboote gar selbst und übergaben sie
dann der griechischen Küstenwache.
Pushbacks im Mittelmeer: Wie Frontex in Verbrechen verstrickt ist
Griechische Grenzschützer schleppen Flüchtlinge systematisch aufs offene Meer zurück. Recherchen des
SPIEGEL und seiner Partner zeigen, wie Frontex in die illegalen Operationen verwickelt ist.
Aus dem Untersuchungsbericht geht nun hervor, dass Frontex die Pushbacks selbst detailliert
dokumentiert hat. Interne Unterlagen zu den untersuchten Vorfällen zeigen, dass die griechische
Küstenwache Flüchtlingsboote stoppt, mitunter in hoher Geschwindigkeit an ihnen vorbeifährt, die zum
Teil völlig überfüllten Boote Richtung Türkei schleppt und die Menschen dann auf dem Meer aussetzt. Der
Bericht weist auch nach, dass die Frontex-Führung davon Kenntnis hat. Entsprechende
Überwachungsbilder wurden live ins Hauptquartier der Agentur gestreamt.
Die griechischen Behörden baten Frontex wiederholt darum, die Aktionen nicht aus der Luft zu
beobachten. Wenn europäische Grenzbeamte im Frontex-Einsatz Rechtsverletzungen melden wollten,
führte das innerhalb der Agentur zu Widerstand. Ein Frontex-Mitarbeiter versuchte, die Meldung einer
schwedischen Crew zu erschweren.
Ein Untersuchungsbericht als politischer Kompromiss
Der Rat schreckt allerdings davor zurück, diese Rechtsverletzungen klar zu benennen. Im Bericht werden
die Frontex-Informationen einem Sammelsurium von Ausreden der griechischen Regierung
gegenübergestellt. So gibt die griechische Küstenwache zwar zu, Seile an den Schlauchbooten
anzubringen, die Schutzsuchende würden dann nach griechischer Darstellung aber von allein in türkische
Gewässer zurückfahren. Angeblich würden die Migrantinnen und Migranten auch nicht nach Asyl fragen.
Frontex-Bilder zeigen zwar, dass die Schlauchboote nach dem Eingriff der griechischen Küstenwache
keinen Motor mehr haben. Das liege aber sicherlich an dem Winkel der Aufnahmen, behaupten die
griechischen Behörden. Möglicherweise sei der Motor auch temporär nicht an Bord gewesen. Man selbst
zerstöre die Motoren nicht.
Verwaltungsrat verweigert Frontex-Chef die Entlastung
Türkischer Offizier mit geflüchteter Frau nach einem der Pushbacks               Foto: Emrah Gurel / AP

Erklären lässt sich diese merkwürdige Herangehensweise durch die Struktur der Arbeitsgruppe. Die
Untersuchung war nicht unabhängig. Im Verwaltungsrat sind vor allem die EU-Mitgliedsstaaten vertreten,
die den Großteil der Frontex-Grenzbeamten stellen. Der Arbeitsgruppe gehören Repräsentanten
Deutschlands, Frankreichs, Griechenlands, Ungarns, Norwegens, Rumäniens, Schwedens, der Schweiz und
der EU-Kommission an. Auch die griechische Regierung hat also an dem Report mitgeschrieben. Zu einem
gewissen Grad ermittelte die Agentur gegen sich selbst.
Fünf Vorfälle kann der Verwaltungsrat nicht aufklären
Das Ergebnis ist ein politischer Kompromiss: Die offensichtlichen Schutzbehauptungen der griechischen
Küstenwache nehmen die Autoren des Berichts explizit genauso ernst wie Frontex-Videos. Die
Konsequenz: Auf Basis der vorliegenden Informationen könne man in sieben Fällen keine Rechtsverstöße
feststellen, fünf mutmaßliche Pushback-Vorfälle jedoch konnten nicht aufgeklärt werden, die
vorliegenden Informationen seien zu widersprüchlich, heißt es.
Die Autoren des Berichts üben trotzdem harsche Kritik an Frontex und Agenturchef Leggeri. Der
Verwaltungsrat sieht sich offensichtlich genötigt klarzustellen, dass Boote nicht manövrierunfähig auf
dem Meer zurückgelassen werden dürfen. Jede mögliche Grundrechtsverletzung müsse sofort an die
Grundrechtsbeauftragte der Agentur gemeldet werden. In solchen Fällen dürften die Ermittlungen nicht
verschleppt werden. Auch dürften die Daten nicht im Nachhinein geschönt werden, worauf griechische
Grenzbeamte in mindestens einen Fall gedrängt hatten.
»Die Agentur muss in dieser Hinsicht dringend Verbesserungen vornehmen.«
Aus dem internen Untersuchungsbericht der Frontex-Arbeitsgruppe
Im Entwurf für eine Erklärung des Verwaltungsrates, die dem SPIEGEL ebenfalls vorliegt, wird Agenturchef
Leggeri persönlich gerügt. Nachdem Frontex am 19. April einen Pushback aus der Luft aufgezeichnet
hatte, legte er den Fall nach einem Briefwechsel mit der griechischen Regierung zu den Akten, die
Verwaltungsrat verweigert Frontex-Chef die Entlastung
Grundrechtsbeauftragte der Agentur informierte er erst spät. Der Verwaltungsrat begrüße zwar, dass
Leggeri der griechischen Regierung einen Brief geschrieben habe. Man »bedauert« aber, dass Leggeri
danach nicht weitere Maßnahmen ergriffen habe.
Der Verwaltungsrat stellt zudem »mit Besorgnis« fest, dass die derzeit bestehenden Meldesysteme nicht
funktionierten und auch nicht systematisch angewandt würden. Frontex kenne deshalb die Fakten bei
Fällen von möglichen Grundrechtsverletzungen gar nicht. So könne keine systematische Analyse von
Grundrechtsbedenken stattfinden. »Die Agentur muss in dieser Hinsicht dringend Verbesserungen
vornehmen«, heißt es.

Die »Uckermark« im Hafen von Samos: Auch deutsche Grenzschützer übergaben Flüchtlinge an die griechische Küstenwache
Foto: Christian Charisius/ dpa

Leggeri, gegen den auch die EU-Antibetrugsbehörde Olaf ermittelt, steht seit Monaten in der Kritik. Unter
anderem hatte er versäumt, fristgerecht 40 Grundrechtsbeobachter einzustellen. Nach SPIEGEL-
Recherchen ignorierte der Frontex-Chef in der Vergangenheit zudem systematisch die eigene
Grundrechtsbeauftragte. Insbesondere EU-Kommissarin Ylva Johansson, die die Aufklärung der Vorwürfe
seit Monaten vorantreibt, hatte Leggeri deswegen persönlich Vorwürfe gemacht und auf Reformen
gedrängt.
Artikel 46 der Frontex-Regularien verpflichtet Leggeri, Missionen zu beenden, wenn er von
schwerwiegenden und anhaltenden Menschenrechtsverletzungen erfährt. Nach Ansicht vieler Experten
erfüllen die systematischen griechischen Pushbacks diese Definition.
Muss Frontex sich aus der Ägäis zurückziehen?
Ein Frontex-Rückzug aus der Ägäis wäre ein Eklat. Die Ägäis ist die wichtigste Migrationsroute
nach Europa.
Der Bericht des Verwaltungsrates diskutiert einen möglichen Rückzug offen. Dieser hätte zahlreiche
negative Konsequenzen, heißt es. So wirke der Präsenz der Agentur angeblich »deeskalierend und
präventiv«. Frontex könne dazu beitragen, dass EU-Staaten sich an Menschenrechte halten. Die Agentur
könne »in gewisser Weise eine Kontrollinstanz für die beteiligten Stellen und Einheiten verkörpern«.

Türkische Grenzschützer mit gerettetem Flüchtlingskind und einer der griechischen Rettungsflöße Foto: Emrah Gurel / AP

Bisher erfüllt Frontex diese Rolle offensichtlich nicht. Trotzdem rät der Verwaltungsrat von einem Rückzug
aus der Ägäis ab. Stattdessen müsse Frontex in Zukunft auch weniger weitreichende Möglichkeiten als
den des vollständigen Rückzuges aus der Mission bekommen, um auf Menschenrechtsverstöße von EU-
Staaten zu reagieren. Bisher ist der Abbruch der Mission die einzige Möglichkeit. Frontex-Flugzeuge sollen
zudem künftig griechische Grenzschutzmaßnahmen genau dokumentieren, indem sie über dem
Flüchtlingsboot verweilen. Generell sollen nach Möglichkeit alle Frontex-Operationen im Video
dokumentiert werden.
Die Passage allein legt nahe, dass man auch im Frontex-Verwaltungsrat weiß, was in der Ägäis vor sich
geht. Man möchte die Verbrechen nur nicht also solche benennen.
Für Fabrice Leggeri jedoch wird das von Tag zu Tag schwieriger. Jüngst hat ihm die türkische Botschaft
in Warschau einen USB-Stick mit Videos übergeben. Die Videos zeigen laut Leggeri, »zahlreiche
angebliche Pushbacks und Grundrechtsverletzungen«, das geht aus einer Rede hervor, die Leggeri bei
einem Treffen der Frontex-Arbeitsgruppe gehalten hat; das Manuskript liegt dem SPIEGEL vor. Die
türkische Küstenwache filmt die Menschenrechtsverletzungen der Griechen systematisch, vor allem, weil
sie die EU unter Druck setzen möchte. Die griechische Küstenwache versucht solche Aufnahmen zu
vermeiden. Leggeri aber wiegelt bereits ab: »Es scheint schwer zu sein, zu erkennen, wann und wo die
Szenen stattfinden.«
Sie können auch lesen